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Der Gral und das Abendmahl

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A. SCHICK, MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DER ISRAELISCHEN<br />

ANTIKENVERWALTUNG UND DES ROCKEFELLER MUSEUMS JERUSALEM<br />

Kalksteingefäss, ausgegraben am<br />

Tempelberg. Aus solchen Gefässen<br />

wurde zur Zeit Jesu getrunken.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Gral</strong> in der<br />

Mitte von Artus’<br />

Tafelr<strong>und</strong>e;<br />

französische<br />

Handschrift<br />

des 14. Jh.<br />

Viele sind heute verwirrt, wenn sie<br />

hören, <strong>das</strong>s es mehr «Evangelien»<br />

gab, als die bekannten vier aus dem<br />

Neuen Testament. Aber die Bezeichnung<br />

«Evangelium» (gute Nachricht)<br />

war nicht nur eine christliche Formulierung,<br />

sondern wurde in der griechisch-römischen<br />

Welt auch vorher<br />

schon benutzt, wenn z. B. ein Herrscher<br />

ein grosse Schenkung machte<br />

oder einen Triumph im Krieg erzielte,<br />

so war dies eine «gute Nachricht», ein<br />

Evangelium.<br />

Als die frühen Christen den Begriff<br />

«Evangelium» aufgriffen, meinten sie<br />

damit die Berichte von dem Wirken<br />

<strong>und</strong> Leben Jesu. Später wurde dieser<br />

Begriff aber auch für erf<strong>und</strong>ene Berichte<br />

oder Spruchsammlungen über<br />

Jesus benutzt, so beim Thomas- oder<br />

dem Philippus-Evangelium. Auch <strong>das</strong><br />

Ju<strong>das</strong>-Evangelium, <strong>das</strong> zu Ostern 2006<br />

für weltweite Schlagzeilen <strong>und</strong> Irritationen<br />

gesorgt hat, ist historisch wertlos.<br />

Es stammt auch nicht von dem Verräter<br />

Ju<strong>das</strong> (vgl. FACTUM 4/2006).<br />

Aus dem 4. Jh. ist uns <strong>das</strong> sog. Nikodemus-Evangelium<br />

überliefert, <strong>das</strong> die<br />

Legende kolportiert, Joseph von Arimathia<br />

habe bei der Kreuzigung <strong>das</strong> Blut<br />

Jesu im <strong>Abendmahl</strong>sgefäss aufgefangen.<br />

Die Evangelien berichten zwar, wie<br />

dem jüdischen Ratsherrn der Leich-<br />

Mystische Darstellung<br />

des <strong>Gral</strong>s.<br />

nam Jesu von Pilatus zur Bestattung<br />

überlassen wurde (Johannes 19,38),<br />

mehr aber nicht. An keiner Stelle wird<br />

berichtet, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Blut Christi bei der<br />

Kreuzigung in einem Gefäss aufgefangen<br />

worden sei.<br />

Die Christen späterer Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

begnügten sich aber nicht mit diesen<br />

biblischen Berichten, sondern erfanden<br />

Legenden, welche die Geschehnisse<br />

bei der Kreuzigung stark<br />

ausschmückten. Dabei wurden Begebenheiten<br />

erf<strong>und</strong>en, die sogar heute<br />

noch die katholische <strong>und</strong> auch die orthodoxe<br />

Frömmigkeit prägen, wie z. B.<br />

die Geschichte von dem Schweisstuch<br />

der Veronika. In der Bibel findet sich<br />

nichts davon.<br />

Dennoch prägten diese <strong>und</strong> andere<br />

apokryphe (= verborgene, von der Kirche<br />

nicht anerkannte ausserbiblische)<br />

Schriften ganz massiv über Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

die christliche Kunst <strong>und</strong> die<br />

Glaubensvorstellungen. (Dazu gehört<br />

auch der Ochs <strong>und</strong> Esel in unseren<br />

Krippenspielen – nur die apokryphen<br />

Schriften berichten von Ochs <strong>und</strong> Esel<br />

bei der Geburt Jesu im Stall [Pseudo-<br />

Matthäusevangelium, Kapitel 14],<br />

nicht die biblischen Evangelien! Ebensowenig<br />

werden im Neuen Testament<br />

die Namen der Heiligen Drei Könige<br />

verraten. Aber im Volksglauben sind<br />

diese Dinge fest verankert.)<br />

Typische Darstellung des «Heiligen <strong>Gral</strong>»: Wunschdenken<br />

des Mittelalters.<br />

Das Nikodemus-Evangelium war «ein<br />

immens populäres Buch <strong>und</strong> wurde<br />

von einer lateinischen Übersetzung im<br />

5. Jahrh<strong>und</strong>ert ausgehend in jede europäische<br />

Sprache übersetzt. Eine dieser<br />

Übersetzungen wurde vollständig<br />

in einem späteren Artusroman (...) integriert».<br />

(Barber, <strong>Der</strong> Heilige <strong>Gral</strong>, S.<br />

152).<br />

Im Nikodemus-Evangelium 16,7<br />

wird auch zum ersten Mal der Name<br />

des römischen Soldaten – Longinus –<br />

überliefert, der mit seiner Lanze in die<br />

Seite Jesu gestochen hat. In einer späteren<br />

Legende ist Longinus ein blinder<br />

römischer Soldat.<br />

«Als <strong>das</strong> Blut Jesu den Lanzenschaft<br />

hinunter auf seine Hand läuft, führt<br />

er die blutige Hand zu seinen Augen<br />

<strong>und</strong> wird auf der Stelle von seiner<br />

Blindheit geheilt.» (Barber, <strong>Der</strong> Heilige<br />

<strong>Gral</strong>, S. 153)<br />

Neben dem angeblichen <strong>Abendmahl</strong>skelch,<br />

dem Heiligen <strong>Gral</strong>, wurde deshalb<br />

auch die Heilige Lanze verehrt.<br />

Wer sie in der Schlacht mit sich führte,<br />

der meinte auf Gottes Beistand im<br />

Krieg rechnen zu können. <strong>Der</strong> <strong>Gral</strong>shistoriker<br />

Barber urteilt:<br />

«Heute sind die Reliquien, mit wenigen<br />

Ausnahmen, Teil einer fernen Vergangenheit<br />

(...) Im Mittelalter dagegen<br />

waren Reliquien immens machtvolle<br />

factum 6 I 2006 ‹ 27

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