gPDF - SFB 580 - Friedrich-Schiller-Universität Jena
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<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
Gesellschaftliche Diskontinuität<br />
Entwicklungen Tradition<br />
nach dem Systemumbruch<br />
Strukturbildung<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> - Pr o j e k t C3 (2007) ISSN 1619-6171
eg I o N e N, Ak t e u r e, er e I g N I S S e<br />
DIe eN t w I C k l u N g De r<br />
erz I e h u N g S h I l F e N NA C h De r<br />
eIN F ü h r u N g De S kI N D e r- u N D<br />
jug e N D h I l F e g e S e t z e S 1990/91<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, Dorett Funcke, Bruno Hildenbrand<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> MI t t e I l u N g e N 2007<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
Gesellschaftliche Diskontinuität<br />
Entwicklungen Tradition<br />
nach dem Systemumbruch<br />
Strukturbildung<br />
23
23 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> MI t t e I l u N g<br />
Heft 23, November 2007<br />
Sonderforschungsbereich <strong>580</strong><br />
„Regionen, Akteure, Ereignisse<br />
Die Entwicklung der Erziehungshilfen nach der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes<br />
1990/91“<br />
Sprecher: Prof. Dr. Everhard Holtmann<br />
Martin-Luther-<strong>Universität</strong> Halle-Wittenberg,<br />
Institut für Politikwissenschaft,<br />
Emil-Abderhalden-Str. 7, 06108 Halle/Saale,<br />
Tel: +49 (0) 345/ 5524211,<br />
E-mail: everhard.holtmann@politik.uni-halle.de<br />
Verantwortlich für dieses Heft:<br />
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand<br />
<strong>Friedrich</strong>-<strong>Schiller</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong><br />
Institut für Soziologie<br />
<strong>Jena</strong> 07743<br />
Tel.: +49 (0) 3641-945551 (945550 Sekr.)<br />
Fax: +49 (0) 3641-945552<br />
E-Mail: Bruno.Hildenbrand@uni-jena.de<br />
Logo: Elisabeth Blum; Peter Neitzke (Zürich)<br />
Cover & Satz: Sabrina Laufer; Jarno Müller<br />
Druck: <strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong><br />
ISSN: 1619-6171<br />
Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich <strong>580</strong> „Gesellschaftliche<br />
Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“<br />
entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung<br />
der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten<br />
Mittel gedruckt. Alle Rechte vorbehalten.
eg I o N e N, Ak t e u r e,<br />
ere I g N I S S e<br />
DIe eN t w I C k l u N g De r<br />
erz I e h u N g S h I l F e N NA C h De r<br />
eIN F ü h r u N g De S kI N D e r- u N D<br />
jug e N D h I l F e g e S e t z e S 1990/91<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
Gesellschaftliche Diskontinuität<br />
Entwicklungen Tradition<br />
nach dem Systemumbruch<br />
Strukturbildung
1<br />
2<br />
3<br />
Seite 6<br />
Wandel Inhaltsverzeichnis<br />
in Ereignissen<br />
Beiträge<br />
Wandel in Ereignissen – Die Vermittlung von Struktur und<br />
Handeln in der Analyse von Prozessen sozialen Wandels<br />
Bruno Hildenbrand ............6<br />
Soziographische Analyse der sozialen Entwicklung in den unter-<br />
suchten Kreisgebieten Heidenheim, Ostholstein, Rügen und<br />
Saalfeld-Rudolstadt<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler ..........44<br />
Akteure der Transformation<br />
Dorett Funcke .........102
4<br />
5<br />
Bruno Inhaltsverzeichnis<br />
Hildenbrand<br />
Literaturverzeichnis ........153<br />
Autoren<br />
Angaben zu den Autoren ..........159<br />
Seite 7
Seite 8<br />
Beitrag 1<br />
wA N D e l IN er e I g N I S S e N - DIe<br />
Ve r M I t t l u N g V o N St r u k t u r u N D<br />
hA N D e l N IN D e r AN A ly S e V o N<br />
Pr o z e S S e N S o z I A l e N wA N D e l S 1<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Wandel in Ereignissen<br />
1. üB e r S I C h t<br />
2. IN t e r A k t I o N u N D St r u k t u r IM AN S At z<br />
V o N AN S e l M St r A u S S<br />
3. wA N D e l IN er e I g N I S S e N – AM Be I S P I e l<br />
D e r tr A N S F o r M At I o N D e r kI N D e r- u N D ju-<br />
g e N D h I l F e IN e I N e M th ü r I N g e r lA N D k r e I S<br />
4. IN t e r P r e tAt I o N D I e S e r er g e B N I S S e A u F<br />
D e r gr u N D l A g e D e S BA S I S-Mo D e l l S Ch A l-<br />
l e N g e & reSPoNSe (hA rt M u t ro S A u N D<br />
St e F F e N SC h M I D t)<br />
1. üB e r S I C h t<br />
Mit diesem Beitrag verfolgen wir<br />
eine dreifache Zielsetzung: Erstens<br />
möchten wir zeigen, wie in einer<br />
sinnverstehenden Soziologie sozialen Wandels<br />
Struktur und Handeln (Makro- und Mikroperspektive)<br />
miteinander verknüpft werden. Unser<br />
Ansatz besteht darin, sowohl der strukturellen<br />
als auch der Akteursseite von Wandel Rechnung<br />
zu tragen und eine Theorie zu entwickeln,<br />
die beide Aspekte tragfähig miteinander<br />
verknüpft. In Orientierung an der Grounded<br />
Theory (Glaser & Strauss 1967, Strauss 1994,<br />
Hildenbrand 2007) und an anderen Positionen<br />
der sinnverstehenden Sozialforschung halten<br />
wir daran fest, dass eine solche Theorie aus<br />
empirischen Daten zu entwickeln ist und an<br />
diesen sich zu bewähren hat. Zweitens werden<br />
wir die Tragfähigkeit dieses Ansatzes für unser<br />
Forschungsthema im Rahmen des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
demonstrieren. Dieses Thema bezieht sich<br />
auf die Neuorientierung der Kinder- und Ju-
gendhilfe in Ost- und Westdeutschland nach<br />
dem Paradigmenwechsel der Kinder- und<br />
Jugendhilfe aufgrund der Einführung des<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG-<br />
SGBVIII) 1990/1991. Hierzu bedienen wir<br />
uns eines Fallbeispiels, von dem aus wir zentrale<br />
Elemente einer Theorie sozialen Wandels<br />
in diesem Wirklichkeitsbereich skizzieren. 2<br />
Drittens werden wir unsere Befunde auf das<br />
von Hartmut Rosa und Steffen Schmidt vorgelegte,<br />
als Heuristik für die Forschung des<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> intendierte Basis-Modell Challenge<br />
& Response beziehen, um dessen Tragfähigkeit<br />
zu erkunden (Rosa und Schmidt 2007).<br />
Über eine Skizze werden wir im Rahmen<br />
dieses Beitrags nicht hinauskommen, auch<br />
wenn unsere Arbeiten schon wesentlich weiter<br />
vorangeschritten sind. Aber immerhin können<br />
wir die Richtung angeben, in die sich unsere<br />
Theoriebildung bewegt:<br />
• Der Widerspruch zwischen einem implementierten<br />
Institutionengefüge, das einem<br />
spezifischen, in gesellschaftlichen Selbstverständnissen<br />
verankerten Geist, nämlich dem<br />
Geist, „dass die Betroffenen mit eigenen Mitteln<br />
(Hervorhebung i. O.) dem Risiko begegnen<br />
oder sich mit dem Eintreten der Risiken einfach<br />
abfinden“ (Offe 1994, S. 101), entspricht,<br />
auf der einen Seite, und Alltagsroutinen von<br />
Institutionen und Akteuren, die diesem Geist<br />
widersprechen, auf der anderen Seite führt<br />
dazu, dass sich Trajekte des Beharrens einrichten.<br />
• Diese Trajekte können in ihrer Richtung beeinflusst<br />
werden, d. h. sie können von Trajekten<br />
des Beharrens in solche des Wandels dadurch<br />
umgelenkt werden, dass maßgebliche Akteure<br />
vorhandene Ereignisse aufgreifen bzw. solche<br />
Bruno Hildenbrand<br />
erzeugen, die krisenträchtig sind und damit<br />
Herausforderungen für Akteure und Institutionen<br />
darstellen. Entsprechend lautet unser<br />
Schlüsselkonzept: Wandel in Ereignissen.<br />
• Die Herausforderung der maßgeblichen<br />
institutionellen Akteure besteht im weiteren<br />
Verlauf darin, Gelegenheiten zu schaffen,<br />
damit die in der Bewältigung der erwähnten<br />
Schlüsselereignisse gefundenen Problemlösungen<br />
Eingang in die Routinen der Institution<br />
und in die Habitus der Mitglieder der<br />
Institution finden, und dafür den passenden<br />
Zeitpunkt zu entdecken.<br />
Das Schlüsselkonzept Wandel in Ereignissen<br />
haben wir aus dem Material rekonstruiert<br />
und erst danach an bestehende grundlagentheoretische<br />
Konzepte angeschlossen, die kurz<br />
erwähnt sein sollen: George Herbert Mead als<br />
einer der Hauptvertreter des amerikanischen<br />
Pragmatismus konzipiert Welt als „Welt von<br />
Ereignissen“ (Mead 1969, S. 229), in welcher<br />
dann gehandelt wird, wenn Herausforderungen<br />
auftreten. Anselm Strauss hat dieses Konzept<br />
zur Grundlage seiner Version der Grounded<br />
Theory gemacht (Strauss 1993). Bernhard<br />
Waldenfels hat in seiner phänomenologischen<br />
Studie über die Produktion und Reproduktion<br />
sozialer Ordnung die zentrale Rolle von<br />
Ereignissen beim Entstehen von Neuem (=<br />
Produktion von Ordnung) herausgearbeitet.<br />
Solche Ereignisse sind zunächst „herrenlos“ in<br />
dem Sinne, als sie sich „nicht in einen<br />
bestehenden Kontext einordnen lassen,<br />
sondern selber Szenarien bilden Seite 9<br />
und Geschichten auslösen, solche<br />
‚Urstiftungen’, in denen Geltung und<br />
Genesis untrennbar verknüpft sind“ (Waldenfels<br />
1987, S. 151). Jedes „eingebürgerte“<br />
(Waldenfels 1987, S. 153) habe zur Kehrseite
Wandel in Ereignissen<br />
„ein ‚reflektierendes’, wildes Denken, das der<br />
Erfahrung nicht vorweg ist, sondern mit ihr<br />
anhebt“ (Waldenfels 1987, S. 153). Solche Ereignisse<br />
werden dann zu „Übergangsereignissen“<br />
(Waldenfels 1987, S. 155), wenn sie Neues<br />
anstoßen, das in Abgrenzung zu bestehenden<br />
Ordnungen „Anomalien“ bzw. „Irregularitäten“<br />
(Waldenfels 1987, S. 156) mit sich bringt.<br />
Die Konzepte von Mead und Waldenfels sind<br />
nicht empirisch gegründet. Wandel in Ereignissen<br />
wurde aber als Bewegungsprinzip in<br />
der Entwicklung von Unternehmen empirisch<br />
untersucht. Cope & Watts (2000) schreiben,<br />
dass kritische Ereignisse „einen Prozess des<br />
Lernens und des wachsenden Selbstbewusstseins<br />
beschleunigen, weshalb sich diese<br />
Ereignisse als bedeutende Momente in einem<br />
Prozess des Wandels herausstellten“ (Cope &<br />
Watts 2000, S. 113).<br />
2. IN t e r A k t I o N u N D Str u k t u r IM AN S At z<br />
V o N AN S e l M St r A u S S<br />
Wir kommen zum ersten Teil dieses Beitrags,<br />
der Frage nach der Verknüpfung von Struktur<br />
und Handeln, von Makro- und Mikroperspektive<br />
in einer sinnverstehenden Soziologie.<br />
In einer Studie von Sterbeverläufen in Krankenhäusern<br />
arbeiteten Barney Glaser und<br />
Anselm Strauss heraus, dass Organisationen<br />
im Allgemeinen Strukturen im Prozess<br />
darstellen (Glaser & Strauss 1968,<br />
Seite 10 S. 240). Strukturen sind demnach<br />
nicht statisch, sondern sie werden<br />
durch ständige Übergänge gekennzeichnet,<br />
die in Handlungen erzeugt werden.<br />
Andererseits differenziert Strauss an anderer<br />
Stelle zwischen unterschiedlichen Graden der<br />
Stabilität bzw. Wandelbarkeit von Strukturen.<br />
Wir werden darauf zurückkommen. Vorerst<br />
gilt: In diesem Prozess sind Wandel und Beharren<br />
dialektisch aufeinander bezogen: „Die<br />
Handlung wird gestaltet von Bedingungen,<br />
die ihrerseits wieder von aktiven Handelnden<br />
geformt werden“ (Strauss 1993, S. 47).<br />
Im Alltagsleben von Organisationen wird<br />
Ordnung beständig ausgehandelt. Der hierfür<br />
zunächst geschaffene Begriff lautet negotiated<br />
order. Strauss ersetzt ihn nach dem Vorwurf<br />
eines „astructural bias“ (Farberman 1991, S.<br />
481) durch den des structural ordering (Strauss<br />
1993, S.250). Zusammenfassend schreibt<br />
Strauss zum Verhältnis von Struktur und<br />
Wandel:<br />
• „Ordnung bezieht sich auf relativ vorhersehbare<br />
Ereignisse“;<br />
• „Unordnung wird erzeugt durch Ereignisse,<br />
die entweder unvorhersagbar oder nicht vorhergesagt<br />
sind“;<br />
• „Ordnen findet ständig statt“;<br />
• daher betont eine interaktionistische Handlungstheorie<br />
„Kontingenzen und unvermeidbare<br />
Veränderungen, die durch diese erzeugt<br />
werden. Aber gleichzeitig kann und darf es<br />
nicht unterlassen werden, die Kontingenzen<br />
und die Handlung mit den langsamer sich<br />
bewegenden, stabileren Elementen der sozialen<br />
Umgebung, die von vielen Generationen<br />
geschaffen und manchmal erhalten wurden, zu<br />
verknüpfen“ (Strauss 1993, S. 261).<br />
• Und schließlich: „Reduziert der Forscher die<br />
strukturellen Bedingungen (…) auf ein Mindestmaß,<br />
oder lässt er sie einfach weg, dann<br />
sind die Schlussfolgerungen zu kurz gegriffen.<br />
Umgekehrt wird die Überbetonung struktureller<br />
Bedingungen den reichen interaktionellen
Daten nicht gerecht, die Leben und eine<br />
Vorstellung von Unmittelbarkeit (manche sagen<br />
Realität) in die Analyse bringen“ (Zitate<br />
jeweils in Strauss 1994, S. 119).<br />
Hier zeigt sich Strauss als ein Vertreter einer<br />
Position, in welcher Struktur und Handeln<br />
miteinander verknüpft werden. Von einem<br />
„astructural bias“ ist er weit entfernt. 3<br />
Das Konzept, das diese spezifische Form der<br />
Verknüpfung von Struktur und Handeln in der<br />
Grounded Theory methodologisch umsetzt,<br />
ist das der conditional matrix. Darauf bezogene<br />
Konzepte sind: event, conditional path, trajectory,<br />
social world, arena (Strauss 1993, S. 52; Strauss<br />
& Corbin 1990, Kapitel 10). Diese Konzepte<br />
sollen im Folgenden erläutert werden, bevor<br />
wir ihre Tragfähigkeit anhand eines Beispiels<br />
prüfen.<br />
Conditional matrix: Sie bezieht sich auf einen<br />
Kontext von sozialen Rahmen, in denen soziale<br />
Interaktionen entstehen und sich entwickeln.<br />
Der Hauptzweck der conditional matrix besteht<br />
darin, „den Forschern zu helfen, jenseits<br />
von Mikrostrukturen und unmittelbaren<br />
Interaktionen die umfassenderen sozialen Bedingungen<br />
und Konsequenzen zu bedenken“<br />
(Charmaz 2006, S. 118).<br />
Conditional path bezieht sich auf die Rekonstruktion<br />
des Verlaufs, den ein event durch die<br />
verschiedenen Ebenen der conditional matrix<br />
nimmt. Der Zusammenhang des Ereignisses<br />
mit diesen Ebenen wird rekonstruiert, ebenso<br />
der Zusammenhang dieser Ebenen untereinander,<br />
bezogen auf das untersuchte Ereignis.<br />
Event: Wenn Gesellschaft im Wesentlichen<br />
Bruno Hildenbrand<br />
sich aus Interaktionen zusammensetzt bzw.<br />
sich in Interaktionen entwickelt, dann bedeutet<br />
das, dass events, in denen sich Interaktionen<br />
zeigen, den zentralen Fokus soziologischer<br />
Analyse bilden. Menschliches Handeln in<br />
seiner Fähigkeit, Strukturen nicht nur zu reproduzieren,<br />
sondern auch zu transformieren<br />
(Sewell 1992), kann der pragmatistischen<br />
Position Strauss’ zufolge ausschließlich in<br />
Ereignissen identifiziert werden. 4 Allerdings<br />
hinterlässt Handeln in der sozialen Wirklichkeit<br />
Spuren, sog. objektive Daten. Sie werden<br />
als „conditional matrix“ (dazu weiter unten)<br />
erfasst.<br />
Trajectory: Strauss benutzt diesen Begriff in<br />
zweierlei Weise. Einmal bezieht er sich auf die<br />
Entwicklung eines Phänomens im Zeitverlauf,<br />
er bezieht sich aber auch auf die Interaktionen,<br />
die zu dieser Entwicklung beitragen (Strauss<br />
1993, S. 53). Ein Trajekt wird in seinem gesamten<br />
Verlauf gestaltet, denn es besteht „die<br />
Möglichkeit, dass Folgen von Handlungen<br />
ihrerseits Bedingungen für weiteres Handeln<br />
werden, die dann wiederum weitere Folgen<br />
erzeugen“ (Strauss 1993, S. 56).<br />
Social worlds: Adele Clarke, auf die sich<br />
Strauss bezieht, wenn er dieses Konzept<br />
erläutert, definiert social worlds als „Gruppen,<br />
die gemeinsam Verpflichtungen gegenüber<br />
bestimmten Handlungen teilen und die ebenso<br />
Ressourcen teilen, um ihre Ziele zu<br />
erreichen und die des weiteren über<br />
gemeinsam geteilte Sinndeutungen Seite 11<br />
zum Erreichen dieser Ziele verfügen“<br />
(Clarke 1991, S. 131, zitiert in Strauss<br />
1993, S. 212). Gerson definiert Gesellschaft<br />
als ein „Mosaik sozialer Welten, die sich berühren<br />
und gegenseitig durchdringen“ (zitiert
nach Clarke 1991, S. 131).<br />
Wandel in Ereignissen<br />
Social arenas entstehen aus Konflikten über<br />
wesentliche Themen und bilden „whirlpools<br />
argumentativer Handlungen; sie liegen im<br />
Zentrum von Dauer und Wandel jeder sozialen<br />
Welt“ (Strauss 1993, S. 227). Diese<br />
Konflikte können sich sowohl innerhalb als<br />
auch zwischen sozialen Welten entwickeln.<br />
Aus diesen Konflikten (Krisen) entwickeln<br />
sich soziale Ordnung und sozialer Wandel<br />
zugleich: structural ordering.<br />
Diese Konzepte hängen wie folgt zusammen:<br />
• Die soziologische Analyse beginnt in einer<br />
social world.<br />
• Die Herstellung sozialer Ordnung und sozialen<br />
Wandels findet statt in events und diese<br />
in arenas, welche innerhalb und zwischen social<br />
worlds Gestalt annehmen.<br />
• Die conditional matrix lokalisiert die jeweils<br />
analysierten social worlds im Hinblick auf ihre<br />
Verknüpfung mit anderen (relevanten) sozialen<br />
Welten.<br />
• Auf diese Weise ist es möglich, die Spaltung<br />
zwischen mikrosoziologischer und makrosoziologischer<br />
Analyse zu überwinden.<br />
• Der conditional path bezieht die Kontexte<br />
der Bedingungen eines strukturierenden Prozesses,<br />
welcher sich innerhalb einer arena in<br />
einer social world oder zwischen social worlds<br />
ereignet.<br />
Seite 12 Diese Konzepte sind jeweils im Verbund<br />
zu verwenden. Dieser Verbund<br />
stellt aus unserer Sicht einen angemessenen<br />
methodologischen Rahmen für die<br />
Analyse von Prozessen sozialen Wandels dar.<br />
Weder wird Struktur auf Handeln, noch wird<br />
Handeln auf Struktur reduziert. Stattdessen<br />
werden beide Perspektiven einer soziologischen<br />
Analyse im Kontext eines processual ordering<br />
berücksichtigt.<br />
3. wA N D e l IN er e I g N I S S e N – AM Be I S P I e l<br />
D e r tr A N S F o r M At I o N D e r kI N D e r- u N D ju-<br />
g e N D h I l F e IN e I N e M th ü r I N g e r lA N D k r e I S<br />
Im zweiten Teil dieses Beitrags befassen wir uns<br />
mit der Tragfähigkeit des im vorigen Kapitel<br />
entwickelten Ansatzes für die Analyse von Prozessen<br />
sozialen Wandels in einem spezifischen<br />
Bereich: der Kinder- und Jugendhilfe. Der<br />
soziale Wandel in der Kinder- und Jugendhilfe<br />
seit 1990 besteht sowohl in Ost- als auch in<br />
Westdeutschland darin, dass ein altes durch ein<br />
neues Gesetz ersetzt wurde. Das Kinder- und<br />
Jugendhilfegesetz (KJHG/SGBVIII) wurde<br />
am 3. Oktober 1990 in den damals so genannten<br />
neuen Bundesländern und am 1. Januar<br />
1991 in den damals so genannten alten Bundesländern<br />
eingeführt. Dem liegt ein Wechsel<br />
im Paradigma zugrunde. Vor 1990 war sowohl<br />
in Ost- wie in Westdeutschland die Logik der<br />
Kinder- und Jugendhilfe als paternalistische<br />
Fürsorge angelegt. Klienten wurden nicht betrachtet<br />
als Personen, mit denen man arbeitet,<br />
sondern als solche, für die Entscheidungen<br />
getroffen und Handlungen vorgenommen<br />
werden. In der Sprache der Akteure selbst<br />
formuliert: „Während das JWG ( Jugendwohlfahrtsgesetz,<br />
B. H.) eher eingriffs- und<br />
ordnungsrechtlich orientiert war, ist das KJHG<br />
als Leistungsrecht konzipiert. Es verzichtet<br />
weitestgehend auf Eingriffmaßnahmen in die<br />
elterliche Erziehungsverantwortung. Jugendhilfe<br />
soll die Erziehung in der Familie unterstützen<br />
und ergänzen“ (Petermann & Schmidt
1995, S. 13). Pimiere des KJHG legen Wert auf<br />
die Feststellung, daß die Jugendhilfepraxis in<br />
der alten Bundesrepublik den entsprechenden<br />
Formulierungen weit voraus war.<br />
Zwischen der Kinder- und Jugendhilfe in West-<br />
und Ostdeutschland bestehen entscheidende<br />
Unterschiede. In Westdeutschland waren die<br />
Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe seit den<br />
60er Jahren einem kontinuierlichen Professionalisierungsprozess<br />
ausgesetzt, während in<br />
Ostdeutschland eine fachliche Expertise nicht<br />
explizit erforderlich war. Der Grund für letzteres<br />
bestand darin, dass angenommen wurde,<br />
dass Probleme von Kindern und Jugendlichen,<br />
die traditionell Gegenstand der Kinder- und<br />
Jugendhilfe sind, vom Kapitalismus erzeugt<br />
wurden und daher in dem Maße, in dem der<br />
Sozialismus sich entwickelte, verschwinden<br />
würden. Das Ergebnis dieser Annahme<br />
war, dass sich in der DDR die Kinder- und<br />
Jugendhilfe in einer Nische bewegte. 5 Die<br />
Verantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe<br />
waren mithin im Jahr 1990 gleichermaßen mit<br />
erheblichen strukturellen Änderungen ihres<br />
Fachgebiets konfrontiert, jedoch handelten<br />
sie unter weitgehend unterschiedlichen Bedingungen,<br />
wenn es darum ging, die Zumutungen<br />
des Wandels zu bewältigen. Während<br />
im Westen über Jahrzehnte hinweg sich die<br />
„sozialpolitische Normalität“ (Offe 1994,<br />
S. 101) von Wohlfahrtsstaaten im Kontext<br />
kapitalistischer Marktwirtschaften einrichten<br />
konnte, hatten die Akteure im Osten<br />
noch mit der Bewältigung der „Erfahrungen<br />
und Erbschaften der realsozialistischen<br />
Vergangenheit“ (Offe 1994, S. 103) zu tun.<br />
Während der ersten Jahre des Transformationsprozesses<br />
nach dem Zusammenbruch des<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Kommunismus wurde angenommen, dass<br />
es reichen würde, die in der Bundesrepublik<br />
Deutschland entwickelten Institutionen zu<br />
transferieren, um den für erforderlich gehaltenen<br />
Wandel in der ehemaligen DDR zu<br />
realisieren. Dies würde genügen, so das Argument,<br />
um den mit den Institutionen verbundenen<br />
Geist des Gesetzes, nämlich die Einbeziehung<br />
von Klienten in den Hilfeprozess als<br />
Ausdruck einer Neudefinition der Klienten als<br />
autonom handlungsfähigen Subjekten, zu verpflanzen.<br />
Diese sowohl von Politikern als auch<br />
Sozialwissenschaftlern geteilte Vorstellung<br />
erwies sich rasch als überaus naiv. Ettl und<br />
Wiesenthal weisen darauf hin, dass von der<br />
formalen Ausweitung des Geltungsbereichs<br />
institutioneller Normen andere Effekte zu erwarten<br />
sind als von Prozessen der interaktiven<br />
Institutionalisierung, die im Ursprungskontext<br />
stattfanden und dort zu Formen einer sozialen<br />
Identifikation führten. Ein wirkungsgleicher<br />
Transfer gewachsener Institutionen in einen<br />
anderen Kontext gelebter Institutionen sei daher<br />
unwahrscheinlich: „Institutionentransfer<br />
ist nicht identisch mit Institutionalisierung“<br />
(Ettl & Wiesenthal 1994, S. 442).<br />
Institutionentransfer mit Institutionalisierung<br />
zu verwechseln war naiv in zweierlei Hinsicht:<br />
Erstens theoretisch, weil er unterstellte, dass<br />
Handlungen aus Strukturen abzuleiten seien,<br />
anstatt die Strukturierungsprozesse, also<br />
den Beitrag der Akteure selbst, zu<br />
berücksichtigen. Zweitens war bereits<br />
auf der Ebene des alltäglichen<br />
praktischen Handelns, also noch<br />
vor jeder soziologischen Analyse,<br />
Seite 13<br />
nicht zu übersehen, dass der Institutionentransfer<br />
in seiner „Reinform“, ohne die damit<br />
verbundenen kulturellen Grundlagen, nicht
Seite 14<br />
Wandel in Ereignissen<br />
funktionierte. Dass er je nach gesellschaftlichem<br />
Segment auf je unterschiedliche Weise<br />
nicht funktionierte, in manchen besser, in<br />
manchen schlechter, sei hier zugestanden.<br />
Nehmen wir als Beispiel die Ökonomie: Dort<br />
entscheidet über Erfolg oder Misserfolg die<br />
Bilanz. Sie kann allerdings durch staatliche<br />
Transferleistungen so überlagert werden, dass<br />
die Orientierung an den Grundsätzen der<br />
Marktwirtschaft nicht mehr überprüft werden<br />
kann. In der Kinder- und Jugendhilfe können<br />
Institutionen in Übereinstimmung mit dem<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ab<br />
1990 in Ost und West aufgebaut werden, ohne<br />
dass sich der mit dem Gesetz verbundene<br />
Geist Geltung verschafft. Konsequenzen für<br />
das Handeln der Kinder- und Jugendhilfe<br />
hat diese Diskrepanz zwischen Gesetz und<br />
Handeln in der Regel nicht. Zum Vorschein<br />
kommt diese Diskrepanz nur dann, wenn<br />
aufgrund eines Vorfalls, der vermittelt über<br />
die Medien in die Öffentlichkeit gelangt und<br />
so zum Skandal wird, eine parlamentarische<br />
Untersuchungskommission das Handeln<br />
eines Allgemeinen Sozialen Diensts (ASD)<br />
in einem Jugendamt genauer unter die Lupe<br />
nimmt. Es entspricht dem Gesetz medialer<br />
Skandalisierung, dass die Öffentlichkeit sich<br />
alsbald neuen Skandalen zuwendet, während<br />
die Kinder- und Jugendhilfe zu ihren vorherigen<br />
Praktiken zurückkehrt: Änderungen<br />
auf der Ebene der Institutionenkultur benötigen<br />
Zeit, die nicht einfach vergeht,<br />
sondern in dem von uns untersuchten<br />
Handlungsfeld, der Kinder- und Jugendhilfe,<br />
durch ständige Professionalisierungsprozesse<br />
gefüllt werden muss.<br />
Wir werden nun anhand eines Ereignisses<br />
die mit der Transformation der Kinder- und<br />
Jugendhilfe in einem Jugendamt in Thüringen<br />
verbundenen Interaktionsprozesse mit den<br />
Mitteln der Grounded Theory rekonstruieren<br />
und uns dabei auf die konditionelle Matrix<br />
konzentrieren. Strauss definiert acht Ebenen<br />
der konditionellen Matrix, die konzentrisch<br />
angeordnet sind. Wir haben diese für unsere<br />
Untersuchungszwecke bereits modifiziert.<br />
• Der äußere Kreis (8) betrifft die internationale<br />
Ebene mit den politischen und sozioökonomischen<br />
Bedingungen (Strauss & Corbin<br />
1990), d. h. die politischen Praktiken, die Werte,<br />
die Philosophien und die internationalen<br />
Probleme (Strauss 1993).<br />
• Daran schließt sich die nationale Ebene an<br />
(7). Sie betrifft die nationalen politischen Praktiken<br />
und Verfahren, Kultur und Geschichte,<br />
Werte, ökonomische Faktoren, Themen und<br />
Probleme.<br />
• Auf Ebene 6 werden die regionale Sozialwelt<br />
und deren milieuweltlichen Eigenheiten behandelt.<br />
• Die Ebene 5 betrifft Institutionen und Organisationen<br />
sowie ihre Untergliederungen, ihre<br />
Strukturen, Regeln und Probleme sowie deren<br />
Geschichte. Für das Untersuchungsfeld der<br />
Jugendhilfe ist die einschlägige Erhebungseinheit<br />
der Stadt- oder Landkreis.<br />
• Auf der Ebene 4 geht es um die Gruppen<br />
und kleinen Gemeinschaften, die sich in der<br />
sozialen Welt der Kinder- und Jugendhilfe herausbilden.<br />
Beleuchtet werden die Biographien,<br />
alltagsweltliches und fachliches Wissen und<br />
alltagsweltliche wie auch fachliche Erfahrung<br />
der Akteure.<br />
• Die Ebene 3 betrifft die Familie mit ihren<br />
familiengeschichtlich gewachsenen Interaktions-<br />
und Kommunikationsmustern.<br />
• Fokus der Ebene 2 sind die Interaktionen.
• Im Zentrum der konditionellen Matrix (1)<br />
stehen die aktuellen strategischen und Routinehandlungen<br />
oder, allgemeiner gesprochen:<br />
die Arbeit (verstanden in dem Sinne, den<br />
Strauss diesem Begriff gibt, nämlich im pragmatistischen<br />
Sinne von Praxis).<br />
Zunächst aber werden im Forschungsprozess<br />
konditionelle Pfade rekonstruiert. Dabei wird<br />
wie folgt vorgegangen: „Man beginne mit<br />
einem Ereignis oder einem Vorfall und versuche<br />
dann, herauszufinden, warum dies auftrat,<br />
welche Bedingungen wirksam waren, wie<br />
die Bedingungen sich manifestierten und welche<br />
Konsequenzen dies hatte“ (Strauss 1993, S.<br />
62). Diese Fragen bilden in ihrem Zusammenhang<br />
das Kodierparadigma (Strauss 1994, S.<br />
56ff.), welches eine habituelle Weise darstellt,<br />
sich einem zu untersuchenden soziologischen<br />
Material zu nähern. Als nächstes sind folgende<br />
Fragen zu stellen: “Welche Ebenen der konditionellen<br />
Matrix wurden erfasst? Mit welchen<br />
Ergebnissen?” (Strauss 1993, S. 62).<br />
Ereignisse des Umbruchs erzeugen Unterbrechungen<br />
von Routinehandlungen und werden<br />
so zu initiierenden Ereignissen für das Entstehen<br />
von Neuem. Wenn Neues entsteht, dann<br />
führt dies zu Debatten und zu Konflikten.<br />
Diese ereignen sich wiederum in Arenen, die<br />
sich im Zuge dieser Konflikte herausbilden. Es<br />
sind diese Arenen, in denen soziale Ordnung<br />
etabliert und verändert wird. Sie gilt es im Forschungsprozess<br />
zu entdecken, und dies gelingt<br />
in dem Maße, in dem die Forscher mit ihrem<br />
Feld und den dortigen Interaktionen vertraut<br />
sind, d. h., dies gelingt in dem Maße, in dem sie<br />
Ethnographie (Hildenbrand 2005) betreiben.<br />
Wir haben nun die Begriffe und die Verfahren<br />
Bruno Hildenbrand<br />
bereitgestellt, mit denen wir Veränderungen<br />
der Kinder- und Jugendhilfe in Ost und West<br />
nach 1990 untersuchen. Nun wenden wir uns<br />
einem Beispiel zu, das uns zu zweierlei Zwecken<br />
dient: Einmal geht es darum, die Tauglichkeit<br />
dieses Vorgehens zu erproben und<br />
festzustellen, welche Bereiche der Analyse von<br />
Tradition, Diskontinuität und Strukturbildung<br />
in einem bestimmten Gegenstandsbereich es<br />
abdeckt. Des Weiteren wird dieses Beispiel<br />
die Grundlage für die Integration unserer<br />
Forschungsergebnisse bilden.<br />
„Beginne mit einem Ereignis oder einem Vorfall“<br />
Wir haben oben darauf hingewiesen, dass<br />
Ereignisse des Umbruchs im Unterschied zu<br />
Routineereignissen der Vorzug bei der Auswahl<br />
für Analysen gegeben werden soll, denn<br />
dort findet in besonderem Maße das statt,<br />
was Strauss processual bzw. structural ordering<br />
nennt. Nun könnte man sagen, dass man es<br />
durchweg mit Situationen des Krisenhaften<br />
bzw. der Situation von challenge & response zu<br />
tun hat, wenn der Forschungsgegenstand die<br />
Implementierung des KJHG in einem Feld<br />
ist, das mit dem Geist dieses Gesetzes und<br />
dem damit verbundenen, sich erst noch einzurichtenden<br />
Habitus partiell (Westdeutschland)<br />
bzw. überhaupt nicht (Ostdeutschland)<br />
vertraut ist, und dass deshalb jedes Ereignis<br />
im Feld für eine gewisse Zeit eine Krise<br />
konstituiert. Dies hieße allerdings,<br />
davon auszugehen, dass zwischen<br />
Krisensituationen bzw. Situationen Seite 15<br />
des challenge und Reaktionen darauf<br />
eine lineare Beziehung besteht.<br />
Wenn aber die Akteure mit den durch das<br />
KJHG erzeugten Vorgängen weder thematische,<br />
Motivations- noch Auslegungsrelevanz
Wandel in Ereignissen<br />
(Schütz 1971) verbinden, im Klartext: wenn<br />
sie das Gesetz ganz oder teilweise ignorieren<br />
(vgl. das Zitat, das Dorett Funcke ihrem Beitrag<br />
in diesem Band voranstellt), dann muss<br />
der Sachverhalt der Krise bzw. der challenge<br />
aus dem Material rekonstruiert werden, er darf<br />
nicht vorweg angenommen werden. Anders<br />
gesprochen: Ob etwas eine Krise ist bzw. sich<br />
zu einer solchen entwickelt, ereignet sich im<br />
Dreieck von: etwas (ein Ereignis) ereignet sich<br />
als etwas (krisenträchtig oder nicht, als Krise<br />
erkannt, aber abzuwehren oder nicht, etc.) für<br />
jemanden (einen mit spezifischen Interessen,<br />
d. h. Relevanzsetzungen ausgestatten Akteur<br />
bzw. Akteursgruppe). Es gilt also, nach entsprechenden<br />
Ereignissen zu suchen bzw. dafür<br />
offen zu sein, sie als einschlägige Ereignisse zu<br />
erkennen, wenn sie im Material erscheinen.<br />
Hier nun das Ereignis, das wir im Folgenden<br />
im Rahmen des von Anselm Strauss vorgeschlagenen<br />
Vorgehens analysieren werden:<br />
Im Jahr 2003 ist im Allgemeinen Sozialen<br />
Dienst (ASD), also in jener Abteilung, der<br />
u. a. der Schutz des Kindeswohls obliegt, des<br />
von uns untersuchten Thüringer Jugendamts<br />
die Stelle eines Sozialarbeiters zu besetzen.<br />
Diese Stelle soll nach Auffassung der Amtsleitung<br />
überregional ausgeschrieben werden,<br />
denn es sei nicht zu erwarten, dass im Landkreis<br />
sich geeignete Bewerberinnen oder Bewerber<br />
finden würden. Dem verweigert sich<br />
der Personalrat. Er fordert die Aus-<br />
Seite 16 schreibung der frei gewordenen Stelle<br />
innerhalb des Landratsamtes, obwohl<br />
allgemein bekannt ist, dass eine für<br />
die Stelle geeignete Person dort nicht zu finden<br />
sein würde. Zunächst kann sich der Personalrat<br />
durchsetzen. Die Stelle wird innerhalb<br />
des Landratsamts ausgeschrieben. Es meldet<br />
sich eine Köchin. Die Leiterin des Jugendamts,<br />
die wenige Jahre zuvor ihre Tätigkeit begonnen<br />
hat, nachdem zuvor Jahre der Untätigkeit im<br />
Aufbau einer fachlichen Jugendhilfe ins Land<br />
gegangen waren, weigert sich, die Bewerbung<br />
anzunehmen, woraufhin der Personalrat eine<br />
Begründung fordert. Diese wird gegeben, zentrales<br />
Argument ist die im KJHG enthaltene<br />
Forderung, die Stellen im ASD seien durch<br />
Fachpersonal zu besetzen. Die Vorsitzende<br />
des Personalrats ist jedoch der Auffassung,<br />
jede Frau, die Kinder großgezogen habe, sei<br />
in der Lage, die Tätigkeit eines Sozialarbeiters<br />
im ASD auszuführen. Damit stößt sie sogar<br />
auf Widerspruch der lokalen Gewerkschaft.<br />
„ … und versuche dann, herauszufinden, warum<br />
dies auftrat, welche Bedingungen wirksam waren,<br />
wie die Bedingungen sich manifestierten und welche<br />
Konsequenzen dies hatte“<br />
Dies sind die Fragen nach den Bedingungen,<br />
Konsequenzen, Interaktionen und Strategien, die<br />
mit einem Ereignis verbunden sind (Kodierparadigma)<br />
(Strauss 1987, S. 27-28; Strauss &<br />
Corbin 1990, S. 99ff.). Fragen wir also:<br />
Was muss geschehen, damit eine Köchin sich<br />
auf eine freie Sozialarbeiterstelle bewirbt?<br />
Dies ist die Frage nach den Bedingungen des<br />
Auftretens eines Ereignisses. Eine Möglichkeit<br />
wäre, dass die Köchin die Erfordernisse für die<br />
Tätigkeit auf der fraglichen Stelle fehlinterpretierte.<br />
Dieser Irrtum wäre leicht aufzulösen.<br />
Eine zweite Interpretation würde dahin gehen,<br />
einen seelischen Verwirrtheitszustand zu unterstellen,<br />
wie man ihn beispielsweise bei einer<br />
manisch gefärbten affektiven Störung kennt.
Diese beiden Hypothesen beziehen sich allerdings<br />
auf Handlungen von Personen und<br />
führen hier nicht weiter. Denn wenn eine Stelle<br />
intern in einer Landkreisverwaltung ausgeschrieben<br />
wird, in der es bekanntermaßen keine<br />
abkömmlichen Mitarbeiter mit der fraglichen<br />
Qualifikation gibt, handelt es sich nicht um<br />
ein persönliches, sondern um ein strukturelles<br />
Problem. Die Antwort auf die Frage nach den<br />
Bedingungen dieses Ereignisses lautet: Dieses<br />
Ereignis kann nur dann auftreten, wenn Professionalität<br />
für den Personalrat keine relevante<br />
Entscheidungsgröße darstellt.<br />
Weiterhin ist die Tatsache zu interpretieren,<br />
dass der Personalrat sich über gesetzliche<br />
Vorgaben hinwegsetzt. Wenn der Personalrat<br />
die Gesetzeslage nicht kennt, kann er darauf<br />
hingewiesen werden, und die Angelegenheit<br />
ist erledigt. Wenn der Personalrat aber die Gesetzeslage<br />
kennt, dann stellt er sich mit seinem<br />
Handeln bewusst dagegen. Dies wiederum kann<br />
in einer provokativen Haltung gegründet sein<br />
oder aber in einer Praxis, die in der fraglichen<br />
Landkreisverwaltung üblich ist. In letzterem<br />
Fall muss angenommen werden, dass diese<br />
Haltung des Personalrats in der Vergangenheit<br />
bereits erfolgreich war, mit anderen Worten:<br />
dass das Ignorieren von Gesetzen zumindest im<br />
Personalbereich in dieser Landkreisverwaltung<br />
üblich ist. Wenn dem so ist, dann muss es ein<br />
gewisses Ausmaß an Übereinkunft zwischen<br />
dem Personalrat und der Landkreisverwaltung<br />
geben. Möglicherweise besitzt der Personalrat<br />
in dieser Verwaltung eine Machtstellung derart,<br />
dass die Landkreisverwaltung die Kosten<br />
eines Gesetzesverstoßes niedriger einschätzt als<br />
die einer Konfrontation mit dem Personalrat.<br />
Eine weitere Interpretation ginge dahin, dass<br />
der Personalrat mit seinem Veto bewusst einen<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Konflikt inszeniert, um im Verhältnis zur<br />
Amtsleiterin die Machtfrage zu stellen. Diese<br />
Interpretationen führen zu zwei Hypothesen:<br />
(1) Die Amtsleiterin agiert in einem Feld, in<br />
welchem Rechtssicherheit nicht gegeben ist; (2) sie<br />
befindet sich in einem Machtkampf.<br />
Die nächste Frage bezieht sich darauf, wie diese<br />
Bedingungen sich manifestieren. Nachdem<br />
der Personalrat wiederholt in einem ausführlichen<br />
Briefwechsel seine Position vorgetragen<br />
hat, eine externe Ausschreibung nicht zu akzeptieren,<br />
und die Amtsleiterin nicht gewillt<br />
ist, von ihrer (gesetzeskonformen) Position<br />
abzurücken, beantragt der Personalrat eine<br />
Organisationsanalyse, die überprüfen soll, ob<br />
die ausgeschriebene Stelle überhaupt nötig<br />
ist. In anderen Worten: Zwar ignoriert der<br />
Personalrat das Gesetz, greift aber selbst<br />
zu Verfahren der Bürokratie. Dazu kommt,<br />
dass der Personalrat mit seiner Strategie, die<br />
fehlende Notwendigkeit der Stellenbesetzung<br />
nachzuweisen, den Personalinteressen zuwiderhandelt.<br />
Dafür ist er nicht gewählt worden.<br />
Auch dient es nicht den Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeitern des ASD, wenn diese Stellenbesetzung<br />
über viele Monate hinausgezögert<br />
wird, denn unterdessen muss die anfallende<br />
Arbeit von den Kolleginnen und Kollegen<br />
mit erledigt werden – es handelt sich, daran<br />
sei zu erinnern, u. a. um das Tätigwerden im<br />
Falle von Kindeswohlgefährdung im<br />
Speziellen und um die Unterstützung<br />
von im Erziehungsbereich in Not Seite 17<br />
geratenen Familien im Allgemeinen.<br />
Wenn also der Personalrat, wie<br />
berichtet, die Stellenbesetzung verzögert und<br />
dabei unsachliche, der Sache sogar schädliche<br />
Gründe ins Feld führt, dann gilt zusätzlich
Hypothese 3: Es handelt sich um einen Machtkampf<br />
jenseits der Grenzen der Vernünftigkeit.<br />
Wandel in Ereignissen<br />
Mit welchen Konsequenzen? Wir beziehen uns<br />
nun auf weitere Entwicklungen im Zusammenhang<br />
dieses Ereignisses. Eine neue Situation<br />
entsteht, als eine Klientin aus dem Bezirk,<br />
in dem die Stelle einer Sozialarbeiterin vakant<br />
wurde und durch den erwähnten Streit nicht<br />
wieder besetzt werden konnte, im Jugendamt<br />
selbst einen Suizidversuch unternimmt, der<br />
nur knapp scheitert. In der Folge weist die<br />
Amtleiterin „jede fachliche Verantwortung<br />
für die Fälle der Jugendhilfe“ im fraglichen<br />
Bezirk von sich. In einem weiteren Brief droht<br />
sie dem Personalrat eine Klage an, falls dieser<br />
weiterhin die externe Stellenausschreibung<br />
behindern sollte. Sie weist den Personalrat des<br />
weiteren darauf hin, dass seine Aufgabe darin<br />
bestehe, das Personal der Landkreisverwaltung<br />
in seinen Interessen gegenüber dem Arbeitgeber<br />
zu vertreten, und nicht darin, die Personalorganisation<br />
in der Landkreisverwaltung in<br />
eigener Regie zu betreiben.<br />
Die Leiterin des Jugendamts bewegt sich<br />
mit ihrer Argumentation auf der Basis der<br />
geltenden Gesetzeslage. Damit beschreitet sie,<br />
folgen wir unserer Hypothese, gegenüber bisheriger<br />
Praxis des Ignorierens von Gesetzen in<br />
dieser Landkreisverwaltung neue Wege, und<br />
zwar auf der Leitungsebene und nicht auf der<br />
Ebene alltäglicher Praxis. Dies führt<br />
zur Hypothese 4:<br />
Seite 18<br />
Der hier zu beobachtende Machtkampf<br />
ist ein Stellvertreterkampf, in welchem<br />
die Jugendamtsleiterin Belange der Landrätin<br />
vertritt. Er dient dazu, gesetzeskonforme Handlungsstrukturen<br />
im Landkreis gegen Widerstände<br />
(im vorliegenden Fall: des Personalrats) durchzusetzen.<br />
(Es sei daran erinnert, dass sich dieses<br />
Ereignis dreizehn Jahre nach der Wende und<br />
damit lange nach vollzogenem Institutionentransfer<br />
zugetragen hat).<br />
Dass die Jugendamtsleiterin einen Kurswechsel<br />
einschlägt und sich davon auch nicht abbringen<br />
lässt, als sie auf eherne informelle Machtstrukturen<br />
stößt, hat mit der Notsituation zu tun, die<br />
im Amt entstanden ist: Ohne den erwähnten<br />
Suizidversuch wäre der Fall möglicherweise<br />
anders ausgegangen.<br />
Hypothese 5: Erst in einer Notsituation wird es<br />
möglich, gegen die Praxis der Landkreisverwaltung,<br />
Gesetze zu ignorieren, zu handeln.<br />
Wir fassen die bisherige Hypothesenbildung<br />
zusammen:<br />
(1) Mangelnde Rechtssicherheit im jugendamtlichen<br />
Handeln (2) führt zu einem Machtkampf<br />
zwischen der Amtleitung und dem Personalrat,<br />
welcher (3) jenseits der Grenzen der Vernünftigkeit<br />
administrativen Handelns ausgefochten wird<br />
und (4) ein Stellvertreterkampf ist, in welchem<br />
die Jugendamtsleiterin Belange der Landrätin<br />
vertritt. Er dient dazu, gesetzeskonforme Handlungsstrukturen<br />
im Landkreis gegen Widerstände<br />
(im vorliegenden Fall: des Personalrats) durchzusetzen.<br />
Es wird (5) erst bei Anlass eines Notfalls<br />
bei einer Klientin möglich, gegen die herkömmliche<br />
Praxis der Landkreisverwaltung, Gesetze zu<br />
ignorieren, zu handeln.<br />
Wir haben damit einen Strukturbildungsprozess<br />
analysiert, bei dem bisher noch offen ist,<br />
ob er nachhaltig sein wird. Immerhin hat es das<br />
beschriebene Ereignis möglich gemacht, stell-
vertretend eine über ein Jahrzehnt betriebene<br />
Praxis der Ignoranz gegenüber einem neu eingeführten<br />
Gesetz zu konterkarieren. An dieser<br />
Stelle der Analyse ist nicht zu entscheiden,<br />
ob es sich um ein Scharmützel oder um eine<br />
Entscheidungsschlacht gehandelt hat. 6<br />
Bis zu dieser Stelle wurden in der Fallstudie<br />
alle Ebenen der konditionellen Matrix implizit<br />
berührt. Wir werden im Folgenden die einzelnen<br />
Ebenen systematisch diskutieren und auf<br />
Ebene 8 beginnen.<br />
Ebene 8 bezieht sich auf den Zusammenhang<br />
der Praktiken der Kinder- und Jugendhilfe<br />
in der Bundesrepublik Deutschland mit den<br />
Standards der Kinder- und Jugendhilfe in<br />
der westlichen Welt. In den industrialisierten<br />
Gesellschaften der westlichen Welt wie den<br />
USA, Großbritanniens und Deutschlands<br />
setzte im 20. Jahrhundert ein massiver Prozess<br />
der Professionalisierung der Sozialen Arbeit<br />
ein, dessen augenfälligstes Zeichen die Akademisierung<br />
ist. 7 Sie wurde in Westdeutschland<br />
systematisch ab den 60er Jahren betrieben. Um<br />
einen Vergleich anzuführen: In der Schweiz<br />
wurden erst in den 90er Jahren die damaligen<br />
Fachschulen zu Fachhochschulen umgewandelt.<br />
Eine Erneuerung der Kinder- und<br />
Jugendhilfe auf der Ebene der Gesetzgebung<br />
in Europa findet im Zusammenhang mit der<br />
Formulierung einer Konvention über die Rechte<br />
des Kindes im Jahre 1989 statt. In deren Präambel<br />
heißt es zum einen: „ … überzeugt, dass<br />
der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft<br />
und natürlicher Umgebung für das Wachsen<br />
und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere<br />
der Kinder, der erforderliche Schutz und<br />
Beistand gewährleistet werden sollte, damit<br />
sie ihre Aufgaben innerhalb der Gemein-<br />
Bruno Hildenbrand<br />
schaft voll erfüllen kann, in der Erkenntnis,<br />
dass das Kind zur vollen und harmonischen<br />
Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer<br />
Familie und umgeben von Glück, Liebe und<br />
Verständnis aufwachsen sollte.“ 8 Dieser Teil<br />
der Präambel stellt die herausragende Rolle<br />
der Familie beim Aufwachsen von Kindern<br />
heraus. Der folgende Teil der Präambel grenzt<br />
diese Dominanz der Familie wieder ein: „ …<br />
eingedenk dessen, dass „das Kind wegen seiner<br />
mangelnden körperlichen und geistigen Reife<br />
besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge,<br />
insbesondere eines angemessenen rechtlichen<br />
Schutzes vor und nach der Geburt, bedarf.“ 9<br />
Im ersten Teil wird der Schutz der Familie, im<br />
zweiten der Schutz des Kindes herausgestellt,<br />
und beide können zueinander in Widerspruch<br />
geraten. Dieser Widerspruch zwischen Elternrecht<br />
und Kindeswohl strukturiert u. a.<br />
das Handeln des ASD.<br />
Einschlägige Gesetze treten in England<br />
1989, in Spanien 1996, in der Bundesrepublik<br />
Deutschland 1990/91 in Kraft. Erhebliche<br />
Variationen bestehen in der Einschätzung<br />
der Frage, wie das Verhältnis zwischen Elternrecht<br />
und Kindeswohl gewichtet werden<br />
soll. Staaten aus dem Mittelmeerraum stärken<br />
eher die Familie, nördlich gelegenere Staaten<br />
stärken eher die Rechte des Kindes und haben<br />
weniger Skrupel als die südlicher gelegenen<br />
Staaten, Familiengrenzen zu überschreiten.<br />
Franz-Xaver Kaufmann arbeitet mit<br />
Bezug auf Esping-Andersen heraus,<br />
dass eine spezifisch moderne „Wohl- Seite 19<br />
fahrtsproduktion“ nur in Nord-,<br />
West- und Mitteleuropa entwickelt<br />
wurde, nicht aber in Südeuropa, wo das Modell<br />
des Familialismus (vgl. exemplarisch Lepsius<br />
1965) nach wie vor eine Rolle spielt. Während
Wandel in Ereignissen<br />
südeuropäische Gesellschaften in traditionaler,<br />
wenngleich zunehmend mit schwächerer Legitimation<br />
ausgestatteten Weise soziale Hilfe<br />
über die Zugehörigkeit zu Haushalten und<br />
Gemeinschaften regeln, die ihrerseits einen<br />
eindeutigen Platz in der Gesellschaftsordnung<br />
haben, ist es eine zwangsläufige Folge des Modernisierungsprozesses,<br />
dass die Teilhabe an<br />
sozialstaatlichen Leistungen universalistisch<br />
und als Gewährleistung individueller Rechte,<br />
auch von Kindern gegenüber ihren Eltern,<br />
geregelt ist (Kaufmann 2003, S. 41ff.). 10<br />
Im Unterschied zu den Entwicklungen in<br />
der westlichen Welt beobachten wir in der<br />
Deutschen Demokratischen Republik einen<br />
gegenläufigen Trend. Während die Kinder-<br />
und Jugendhilfe im Westen ab den 80er<br />
Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erfährt<br />
– nicht zufällig, sondern unter dem Eindruck<br />
spezifischer, auf das Kindes- und Jugendalter<br />
bezogener Probleme – wird in der DDR die<br />
Auffassung vertreten, dass auf lange Sicht die<br />
Kinder- und Jugendhilfe entfalle. Denn ihre<br />
Grundlagen, die spezifischen Probleme von<br />
Kindern und Jugendlichen, seien mit dem<br />
Verschwinden des Kapitalismus und parallelem<br />
Voranschreiten des Sozialismus nicht<br />
mehr gegeben.<br />
Der Konflikt zwischen der Jugendamtsleiterin<br />
und dem Personalrat in unserem Beispiel der<br />
Einstellung einer Köchin auf eine<br />
Sozialarbeiterstelle im Allgemeinen<br />
Seite 20 Sozialen Dienst des Jugendamts<br />
reflektiert somit den Konflikt zwischen<br />
zwei politischen Systemen, von<br />
denen eines im Jahre 1990 aufgehört hat zu<br />
existieren, während das andere versucht, durch<br />
entsprechende Institutionenbildung Fuß zu<br />
fassen. Unser Beispiel aus dem Jahr 2003 zeigt,<br />
dass dies auch noch 13 Jahre nach der Wende<br />
keinesfalls selbstverständlich ist. Wir haben<br />
es hier mit einem lang andauernden Transformationsproblem<br />
zu tun. Dieses Problem ist auf<br />
der Ebene der Habitusformation verankert.<br />
Damit liegt es auf der Ebene der Umsetzung<br />
des Geists des KJHG in professionelle Handlungs-<br />
und Deutungsmuster, die als solche<br />
routinehaft im fachlichen Alltag verankert sind<br />
und präreflexiv wirksam werden. Entsprechend<br />
schwer wiegt dieses Problem in Bezug auf den<br />
Transformationsprozess.<br />
Von hier aus fassen wir nun die Ebene 7 ins<br />
Auge, das ist die nationale Ebene mit ihrer<br />
Gesetzgebung, Kultur, Geschichte und ökonomischen<br />
Rahmenbedingungen in Bezug auf<br />
das Herangehen an die Probleme von Kindern<br />
und Jugendlichen. Nicht nur die frühere DDR,<br />
auch die alte Bundesrepublik Deutschland war<br />
von einer gesetzlichen Neubestimmung im Jahr<br />
1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, betroffen.<br />
Diese Neubestimmung geht einher mit<br />
einem Wechsel im Paradigma der Kinder- und<br />
Jugendhilfe, der dem Geist der auf internationaler<br />
Ebene (Ebene 8) eingeleiteten Neuorientierung<br />
entspricht. Vor 1990 war die Logik<br />
der Kinder- und Jugendhilfe paternalistisch,<br />
und zwar sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland.<br />
Verantwortliche der Kinder- und<br />
Jugendhilfe arbeiteten nicht mit den Klienten<br />
(Kindern, Jugendlichen und ihren Familien),<br />
sondern für sie. Der Unterschied zwischen<br />
beiden Landesteilen vor 1990 ist folgender:<br />
Im Westen entzieht die seit den 60er Jahren<br />
einsetzende Professionalisierung einem paternalistischen<br />
Klientenverhältnis (zumindest<br />
partiell) zunehmend die Grundlage. Im Osten<br />
verschwindet die Kinder- und Jugendhilfe auf-
grund politischer Grundsatzentscheidungen<br />
(siehe oben: der entwickelte Sozialismus<br />
benötigt keine Kinder- und Jugendhilfe) in<br />
einer Nische, in welcher vorwiegend fachlich<br />
auf ihre spezifische Aufgabe nicht vorbereitete<br />
Personen ihres Amtes walten. Aufgabe des Jugendamtes<br />
im westlichen Verständnis ist es, mit<br />
den Klienten zusammen in einer spezifischen<br />
Notlage geeignete Hilfen zur Erziehung zu<br />
finden und dabei über die geeignete, vor allem<br />
auch rechtliche Expertise im jeweiligen Fall<br />
zu verfügen. Des Weiteren wird erwartet, dass<br />
sie den Einzelfall im Kontext allgemeinen<br />
wissenschaftlichen Wissens einschätzen. Dafür<br />
bedarf es eines fachlichen Zugangs. Die<br />
ostdeutsche Variante des Jugendamts, der Jugendhilfeausschuss<br />
als das zentrale „Organ“ der<br />
Jugendhilfe, verfügte dem gegenüber autoritär<br />
über die Hilfemaßnahmen. Dieser Ausschuss<br />
wies eine fachliche Zusammensetzung auf, die<br />
in der Regel erzieherisch geprägt war. 11 Das<br />
Strukturproblem dieser Konstruktion bestand<br />
darin, Hilfe zur Erziehung mit Erziehung<br />
selbst zu verwechseln. Gebahnt wurde dieses<br />
Strukturproblem dadurch, dass in der DDR<br />
die Jugendhilfe der Abteilung „Volksbildung“<br />
zugeordnet war. 12<br />
Wir formulieren dieses Strukturproblem<br />
nun in Termini der soziologischen Professionalisierungstheorie:<br />
Während die ärztliche<br />
Profession mit der Restrukturierung beschädigter<br />
Autonomie befasst ist, richtet sich das<br />
pädagogische Handeln auf die Erweiterung<br />
bestehender Handlungsspielräume. Gegenstand<br />
der Sozialarbeit (in der Kinder- und<br />
Jugendhilfe, andere Felder sozialarbeiterischen<br />
Handelns interessieren hier nicht) kann sowohl<br />
Intervention bei beschädigter Autonomie oder<br />
bedrohter Autonomie als auch bei nicht ausrei-<br />
Bruno Hildenbrand<br />
chend entwickelter Autonomie sein, insofern<br />
grenzt ihr Aufgabenfeld sowohl an das der<br />
Psychotherapie als auch an das der Pädagogik<br />
an. Was aber bei der Sozialarbeit im Fall der<br />
Kinder- und Jugendhilfe im Unterschied zur<br />
Psychotherapie und Pädagogik dazu kommt,<br />
ist der explizite Kontrollauftrag im Dienst<br />
des Kinderschutzes und des Kindeswohls, zu<br />
dem im neu formulierten KJHG von 1990<br />
noch der Präventionsauftrag kommt: „Das<br />
KJHG ist, im Gegensatz zum JWG als seinem<br />
Vorgänger von 1922, nach den Vorstellungen<br />
des Gesetzgebers ein präventiv orientiertes<br />
Leistungsgesetz“ (Gröschner 2004, S. 818).<br />
Aufgrund dessen kann es dazu kommen, dass<br />
Beratung, die im professionellen Handeln<br />
grundsätzlich auf einem wechselseitig zu<br />
schließenden Arbeitsbündnis beruht, mitunter<br />
in einem Zwangskontext stattfindet. Dieser<br />
Widerspruch macht nicht, wie vielfach angenommen<br />
wird, fachliches Handeln unmöglich,<br />
sondern stellt an dieses spezifische Herausforderungen<br />
Seite 21<br />
13 (Hildenbrand 2006, Bohler 2006).<br />
Dass die Sozialarbeit in Krisenfällen nicht<br />
immer diesen Herausforderungen gewachsen<br />
ist, also Fachlichkeitsdefizite aufweist, zeigt<br />
der Bremer Fall Kevin. Es handelt sich dabei<br />
um einen zweijährigen Jungen, dessen Leiche<br />
am 10. Oktober 2006 in der Wohnung seines<br />
(Zieh-)Vaters aufgefunden wurde, als er von<br />
Mitarbeitern des Jugendamts in Obhut genommen<br />
werden sollte. Der von der Bremer<br />
Bürgerschaft eingesetzte Untersuchungsausschuss<br />
kommt zu der<br />
Schlussfolgerung, dass die Kinderund<br />
Jugendhilfe aufgrund fachlicher<br />
Inkompetenz der maßgeblichen Akteure<br />
völlig versagt habe, während die finanzielle<br />
Ausstattung der Bremer Kinder- und<br />
Jugendhilfe für ein angemessenes fachliches
Wandel in Ereignissen<br />
Handeln völlig ausgereicht habe (Bremer Bürgerschaft<br />
Drucksache 16/1381, 2007, S. 310). 14<br />
Um welche fachlichen Defizite im Einzelnen<br />
es sich gehandelt hat, führt Ludwig Salgo<br />
aus: Defizite im Bereich der Diagnostik bzw.<br />
Falleinschätzung, im Bereich der Festlegung<br />
des Zeitpunkts einer Intervention, im Bereich<br />
der Interdisziplinarität und Kooperativität der<br />
Jugendhilfe bzw. der Vernetzung der Behörden<br />
bzw. Einrichtungen sowie schließlich im<br />
Bereich des Fehlermanagements (Salgo 2007,<br />
S. 2). Für unsere Thematik ist entscheidend,<br />
dass Salgo die Bremer Jugendhilfe nicht als<br />
Einzelfall betrachtet, sondern hier allgemeine<br />
Professionalisierungsdefizite der Sozialen<br />
Arbeit aufscheinen sieht: „Bremen ist überall“<br />
(Salgo 2007, S. 1).<br />
Der Fall Kevin aus Bremen ist ein Beispiel<br />
dafür, dass den Eltern zuviel an Verantwortlichkeit<br />
zugemutet wurde, während das Gegenbeispiel,<br />
dass den Eltern zuwenig an Verantwortung<br />
zugemutet und in Situationen der<br />
Kindeswohlgefährdung ein Arbeitsbündnis<br />
erst gar nicht versucht wird, eher an ostdeutschen<br />
Jugendämtern mit ihrer aus der DDR<br />
übernommen Persistenz paternalistischer<br />
Haltungen den Eltern gegenüber vorzufinden<br />
ist. 15<br />
Das in diesem Beitrag zu analysierende Beispiel<br />
der Einstellung einer Köchin im Jugendamt,<br />
um darauf zurück zu kommen,<br />
reflektiert die Struktur der Kinder-<br />
Seite 22 und Jugendhilfe zu DDR-Zeiten.<br />
Die Vorsitzende des Personalrats im<br />
untersuchten Landkreis geht noch<br />
einen Schritt hinter die DDR-Praxis zurück,<br />
die immerhin Fürsorgerinnen vorsah, wenn sie<br />
äußert: „Jede Frau, die Kinder großgezogen<br />
hat, kann die Arbeit einer Sozialarbeiterin im<br />
ASD eines Jugendamts erledigen“.<br />
Kein Wunder also, wenn in manchen ostdeutschen<br />
Jugendämtern eine Tätigkeit im<br />
Jugendamt als Ruheplatz für ausgebrannte<br />
Heimerzieherinnen angesehen und damit der<br />
Strukturfehler, das aufgrund einer fachlichen<br />
Diagnose und einer angemessenen Klientenbeziehung<br />
erfolgende Gewähren einer Hilfe<br />
zur Erziehung mit Erziehung selbst zu verwechseln,<br />
auf die Spitze getrieben wird.<br />
Wir skizzieren nun die Grundzüge der Kinder-<br />
und Jugendhilfe in der DDR, um deren bisher<br />
aufgewiesenen strukturellen Eigenheiten näher<br />
nachzugehen: Eingeschränkter Respekt vor<br />
Familiengrenzen, Entmündigung der Eltern<br />
als Erziehungsverantwortliche, geringer Grad<br />
an Fachlichkeit.<br />
Die Arbeitsfelder und Strukturen der DDR-<br />
Jugendhilfe waren bestimmt durch die Grundsätze<br />
des einheitlichen Bildungssystems, des<br />
Familienrechts und durch die Jugendpolitik<br />
(Ministerium für Volksbildung 1985, S. 13).<br />
Angelegt war die DDR-Jugendhilfe auf Unterstützung<br />
und Hilfe im Einzelfall, d.h. sie<br />
war auf den Aspekt der Krisenintervention<br />
reduziert ( Jörns 1997, S. 33), die sich praktisch<br />
auf den Kreis- und Gemeindeebenen vollzog:<br />
Hier wurde Jugendhilfearbeit durch Jugendfürsorgerinnen<br />
und Jugendhelfer in den Referaten<br />
Jugendhilfe geleistet. Mannschatz beschreibt<br />
ihre Tätigkeit als Einzelfallbearbeitung und<br />
Entscheidungsfindung mit dem Ziel, die Lebenspraxis<br />
von Kindern und Jugendlichen „im<br />
Sinne der Gewährleistung einer positiven Persönlichkeitsentwicklung“<br />
(Mannschatz 2003, S.<br />
424) zu verbessern: „Der Bezugspunkt für das
operative, entscheidungsunterlegte und koordinierte<br />
Vorgehen war jeweils ein `Individuelles<br />
Erziehungsprogramm`“, um die familiengelösten<br />
und elternlosen Kinder und Jugendlichen,<br />
wie sie im Duktus der DDR-Jugendhilfe<br />
bezeichnet wurden, in problematischen und<br />
krisenhaften Lebenssituation zu unterstützen<br />
und ihnen zu helfen. 16 Dieses Erziehungsprogramm<br />
17 „umfasste die pädagogische Zielstellung<br />
für den Einzelfall und den Komplex<br />
von Festlegungen und staatlichen Maßnahmen<br />
zu ihrer Verwirklichung“ (Mannschatz 2003,<br />
S. 424). Auf Kreis- und Bezirksebene waren<br />
Jugendfürsorger, d. h. ausgebildete Fachkräfte,<br />
tätig; die Mitglieder der Jugendhilfekommissionen<br />
in den Gemeinden, Stadtkreisen und<br />
Stadtbezirken waren ehrenamtlich als Jugendhelfer<br />
in der Jugendhilfe aktiv. 18 Sie hatten die<br />
Aufgabe, sich mit Einzelfällen im Rahmen von<br />
Rechtsmittelentscheidungen (vgl. Mannschatz<br />
1994, S. 21) zu befassen. Methodisch war die<br />
Tätigkeit der Jugendfürsorger und Jugendhelfer<br />
auf die „Organisation des gesellschaftlichen<br />
Einflusses“ ausgerichtet, das heißt, die Mitarbeiter<br />
der DDR-Jugendhilfe nahmen die „Jugendhilfe<br />
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“<br />
wahr; sie wurden „in das Betreuungsgeschehen<br />
und in die Verantwortung einbezogen“ (Mannschatz<br />
1994, S. 22), deren vorrangige Aufgabe<br />
die Kontrollfunktion im ordnungspolitischen<br />
Kontext (Sozialismus) war.<br />
Die Jugendhilfe umfasst die rechtzeitig korrigierende<br />
Einflussnahme bei Anzeichen der<br />
sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung<br />
und Beseitigung der Vernachlässigung und<br />
Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen,<br />
die vorbeugende Bekämpfung der<br />
Jugendkriminalität, die Umerziehung von<br />
schwererziehbaren und straffälligen Minder-<br />
Bruno Hildenbrand<br />
jährigen sowie die Sorge für elternlose und<br />
familiengelöste Kinder und Jugendliche“ ( Jugendhilfe<br />
1985, S. 13), so heißt es in §1 I der<br />
Jugendhilfeverordnung der DDR vom 3. März<br />
1966. Die Jugendhilfeverordnung ( JHVO)<br />
bildet zusammen mit dem Familiengesetzbuch<br />
(FGB), der Verfassung der DDR, dem<br />
Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung die<br />
Rechtsgrundlage der DDR-Jugendhilfe. 19<br />
Der Minister für Volksbildung war für die<br />
staatliche Leitung der Jugendhilfe verantwortlich,<br />
ihm oblag die Abteilung Jugendhilfe im<br />
Ministerium für Volksbildung. Tätig wurden<br />
die „Organe“ der Jugendhilfe, „wenn die Erziehung<br />
und Entwicklung oder die Gesundheit<br />
Minderjähriger gefährdet und auch bei gesellschaftlicher<br />
und staatlicher Unterstützung<br />
der Erziehungsberechtigten nicht gesichert<br />
sind, wenn für Minderjährige niemand das<br />
elterliche Erziehungsrecht hat oder wenn sie<br />
in gesetzlich besonders bestimmten Fällen die<br />
Interessen Minderjähriger vertreten müssen“<br />
(§1 IV JHVO/Jugendhilfe 1985:13f.). In §1<br />
IV JHVO wurde der Zuständigkeitsbereich<br />
der DDR-Jugendhilfe beschrieben, deren<br />
Aufgaben von Jugendfürsorgern und Jugendhelfern<br />
wahrgenommen wurden. In Städten<br />
und Gemeinden über 1.000 Einwohnern<br />
musste eine Jugendhilfekommission ( JHK)<br />
Seite 23<br />
20<br />
gebildet werden. Die Mitarbeiter der Jugendhilfekommissionen,<br />
also die Jugendhelfer, die<br />
von den Räten der Gemeinden, Stadtkreisen<br />
oder in den Stadtbezirken von<br />
den Leitern der Referate Jugendhilfe<br />
berufen wurden und ehrenamtlich<br />
in den Jugendhilfekommissionen<br />
arbeiteten, hielten den Kontakt zu den zu betreuenden<br />
Familien im Rahmen der Jugendhilfe.<br />
Sie waren für die Betreuung der Kinder,
Wandel in Ereignissen<br />
Jugendlichen und deren Familien zuständig.<br />
Einmal im Jahr hatten sie in der Jugendhilfekommission<br />
über den Entwicklungsstand<br />
des Kindes und über die Arbeit in und mit der<br />
Familie zu berichten. Hausbesuche waren laut<br />
Verordnung regelmäßig durchzuführen und<br />
Kontakte zu den Bildungseinrichtungen zu<br />
unterhalten.<br />
Die Jugendhilfe“organe“ waren hierarchisch<br />
aufgebaut, d.h. die übergeordneten „Organe“<br />
der Jugendhilfe hatten eine anleitende Funktion<br />
gegenüber den nachgeordneten, und<br />
ihre Zuständigkeit sowie Arbeitsweise war<br />
unterschiedlichen Ebenen zuzuordnen. „Die<br />
Organe der Jugendhilfe bei den Räten der Gemeinden,<br />
Städte, Stadtbezirke bzw. Kreise und<br />
Bezirken sind den jeweiligen Räten unterstellt<br />
und ihnen rechenschaftspflichtig“ (Seidenstücker<br />
1990, S. 339). Zu den „Organen“ der<br />
Jugendhilfe gehörten (1) das Ministerium für<br />
Volksbildung, (2) die Referate Jugendhilfe bei<br />
den Räten der Bezirke, Kreise, Gemeinden bzw.<br />
Stadtbezirk, (3) die Jugendhilfekommissionen<br />
bei den Räten der Städte bzw. Stadtbezirke<br />
und Gemeinden, (4) der zentrale Jugendhilfeausschuss<br />
beim Ministerium für Volksbildung,<br />
(5) die Jugendhilfeausschüsse bei den Räten<br />
der Bezirke, Kreise, Gemeinden bzw. Stadtbezirk<br />
und (6) die Vormundschaftsräte bei<br />
den Referaten Jugendhilfe bei den Räten der<br />
Kreise bzw. Stadtkreise oder Stadtbezirke und<br />
Gemeinden (Seidenstücker 1990, S.<br />
339).<br />
Seite 24<br />
Auf der Ebene 6 geht es um den lokalen<br />
Kontext des hier zu analysierenden<br />
Ereignisses, also um den Landkreis und seine<br />
sozialgeographischen und demographischen<br />
Spezifika. Behandeln wir die Jugendhilfe im<br />
ländlichen Raum, dann sind die agrarsozialen<br />
Faktoren zu berücksichtigen, die zwar in der<br />
Vergangenheit liegen und längstens nach dem<br />
zweiten Weltkrieg verschwunden sind, aber<br />
immer noch einen beachtlichen Einfluss auf<br />
die lokalen Mentalitäten und mithin auch<br />
auf die lokalen Praktiken ausüben (Bohler &<br />
Hildenbrand 2006). Mit diesem Thema befasst<br />
sich Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler ausführlich in<br />
diesem Band, daher können wir uns hier kurz<br />
fassen:<br />
Der hier in Frage stehende Landkreis liegt am<br />
Rand des Thüringer Mittelgebirges. Agrarsozialgeschichtlich<br />
ist er gekennzeichnet durch<br />
zwei unterschiedliche, jedoch miteinander<br />
verbundene sozialgeschichtliche Muster, die<br />
typisch sind für den Westen, den Süden und<br />
das mittlere Deutschland (in den aktuellen<br />
Grenzen). In den Ebenen finden wir vor der<br />
Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in<br />
der DDR mittelgroße und große landwirtschaftliche<br />
Familienbetriebe, die von einer<br />
Generation zur anderen weitergegeben werden.<br />
Für die nichterbenden Kinder solcher Höfe bedeutet<br />
das, dass sie dazu gezwungen (oder frei)<br />
sind, sich außerhalb ihres Hofes zu orientieren.<br />
Eine mögliche Strategie (Bourdieu 1993, S.<br />
264ff.) würde – aus der Sicht eines männlichen<br />
weichenden Erben - darin bestehen, eine Hoferbin<br />
zu heiraten, als life cycle servant (Laslett<br />
& Wall 1972, Burguière & Lebrun 1997) zu<br />
arbeiten und ausreichend zu sparen, um zusammen<br />
mit einer gleichermaßen Tätigen einen<br />
Hof zu kaufen, oder die Landwirtschaft überhaupt<br />
zu verlassen und ins Dorfhandwerk bzw.<br />
in die von der sich entwickelnden Industriegesellschaft<br />
eröffneten Möglichkeiten zu wechseln.<br />
Diese Optionen fördern im Allgemeinen<br />
die Entwicklung von mentalen Strukturen der
Autonomie. In den Bergregionen und in den<br />
industrialisierten Talgebieten des untersuchten<br />
Landkreises herrschen dem gegenüber kleine<br />
Höfe und Realteilung vor, was bedeutet, dass<br />
der Hof bei Todesfall des Betriebsleiters jeweils<br />
unter deren Kinder aufgeteilt wird. Dadurch<br />
werden spezifische Heiratsstrategien erforderlich,<br />
um zu einem lebensfähigen Hof zu gelangen.<br />
Eine andere Strategie bestünde darin,<br />
Nebenerwerbslandwirtschaft mit einer außerlandwirtschaftlichen<br />
Tätigkeit zu kombinieren.<br />
Auch in den Realteilungsgebieten fördert die<br />
ländliche Sozialstruktur die Herausbildung<br />
von mentalen Strukturen, die durch Autonomieorientierung<br />
geprägt sind. 21 Gebiete mit<br />
kleinen Höfen entwickeln sich tendenziell zu<br />
Gewerbelandschaften und zur Ausprägung<br />
entsprechender Mentalitäten und Fertigkeiten.<br />
In Deutschland sind diese Gegenden für ihre<br />
technologischen Innovationen (z. B. Glas- und<br />
Uhrenindustrie, Feinmechanik, Elektronik<br />
im Thüringer Wald und im Schwarzwald)<br />
bekannt. Eine nicht-fachliche Orientierung,<br />
die typisch ist für die DDR-Jugendhilfe und<br />
die noch im Jahr 2003, wie das Beispiel zeigt,<br />
im untersuchten Landkreis dominant ist, steht<br />
demnach in einem scharfen Widerspruch zu<br />
den tradierten lokalen Mentalitäten.<br />
Hier können wir zurückkehren zu der Bemerkung<br />
von Anselm Strauss, dass eine<br />
interaktionistische Handlungstheorie „Kontingenzen<br />
und Handlung mit den langsamer<br />
sich bewegenden, stabileren Elementen einer<br />
sozialen Umgebung, die manchmal vor vielen<br />
Generationen geschaffen und aufrechterhalten<br />
wurden“ (Strauss 1993, S. 261) nicht übersehen<br />
dürfe. Stabilere Elemente finden wir in dreierlei<br />
Hinsicht (Matthiesen 1994, S. 103, Sewell<br />
1993, S. 22-24):<br />
Bruno Hildenbrand<br />
• Zunächst die elementaren Strukturen, die<br />
gegeben und nicht zu ändern sind, selbst wenn<br />
die Akteure mit ihnen strategisch umgehen.<br />
Ein Beispiel wäre die elementare Struktur<br />
von Reziprozität (Mead 1969, Schütz 1971a,<br />
Mauss 1968); ein anderes das Inzest-Tabu<br />
(Lévi-Strauss 1981).<br />
• Es folgen die regionalen Strukturen, die<br />
einen anhaltenden Einfluss innerhalb eines<br />
nationalen Territoriums wie auch innerhalb<br />
sozialer Milieus haben. Diese haben wir hier<br />
behandelt in Bezug auf die regionalhistorisch<br />
unterschiedlichen Agrarstrukturen, die<br />
hinsichtlich ihrer Prägung autonomer Handlungs-<br />
und Mentalitätsmuster differieren.<br />
• Schließlich geht es um Handlungssysteme<br />
in einem konkreten Fall, der durch spezifische<br />
Strukturen seiner Akteure ( Jugendamt, Landkreisverwaltung,<br />
Personalrat) charakterisiert<br />
ist. An dieser Stelle kommt das Konzept<br />
des Trajekts ins Spiel, denn auf der Ebene<br />
des individuellen Falls lösen Handlungen<br />
Strukturierungsprozesse aus, die ihrerseits den<br />
Rahmen für künftige Handlungs- und Strukturierungsprozesse<br />
bilden. Anders gesprochen:<br />
In Ereignissen werden Trajekte geformt.<br />
Aber auch die langsamer sich bewegenden<br />
Elemente einer Gesellschaft können nicht<br />
einfach vorausgesetzt werden. Wir betrachten<br />
sie als einen Rahmen, der relevant sein kann,<br />
aber nicht muss. Daher haben sie in der Forschung<br />
den Status einer Hypothese.<br />
In unserem Forschungsprojekt haben<br />
wir zum Beispiel angenommen,<br />
dass in gutswirtschaftlich geprägten<br />
Seite 25<br />
Regionen Mentalitätsstrukturen befördert<br />
werden, die auf Heteronomie ausgelegt sind.<br />
Diese gründen u. a. in einer unterschiedlich
Wandel in Ereignissen<br />
ausgeprägten Grenze zwischen Familie und<br />
Öffentlichkeit. In den ehemaligen Gutsbezirken<br />
liegt die Grenze innerhalb der Familie,<br />
daher kommt es hier schon früh zu sozialen<br />
Hilfen. In den stärker autonomieorientierten<br />
Gebieten liegt diese Grenze außerhalb der<br />
Familie, aufkommende Probleme werden so<br />
lange wie möglich nach außen verschwiegen<br />
und innen zu lösen versucht. Entsprechend<br />
kommt soziale Hilfe oft zu spät, und die<br />
ergriffenen Maßnahmen sind massiv (z. B.<br />
Vorrang auf stationären Hilfen). Wir haben<br />
nun dem entsprechend angenommen, dass die<br />
Zahl der Fälle der Kinder- und Jugendhilfe in<br />
ehemaligen Gutslandschaften größer ist als in<br />
den Gewerbelandschaften und ehemals vollbäuerlichen<br />
Gebieten mit ihrer Autonomieorientierung.<br />
Die Auszählung eines Jahrgangs<br />
von Fällen der Kinder- und Jugendhilfe bestätigte<br />
dies: Auf Rügen werden 2,9 % der Kinder<br />
unter 18 Jahren zu Klienten der Jugendhilfe,<br />
im Thüringer Landkreis sind dies 1,55 %, also<br />
fast die Hälfte davon. 22<br />
Auf der Ebene 5 geht es um die Strukturen,<br />
Regelungen und Geschichte der jeweiligen<br />
Organisation und ihrer Untergliederungen. In<br />
Deutschland ist die Kinder- und Jugendhilfe<br />
auf Landkreisebene angesiedelt. Sozialarbeiter<br />
gehen ihren entsprechenden Aufgaben<br />
im Rahmen des ASD, Allgemeiner Sozialer<br />
Dienst des Jugendamts, nach. Der Aufbau<br />
dieser Institutionen ist zwingend.<br />
Fallspezifisch für den von uns un-<br />
Seite 26 tersuchten und hier diskutierten<br />
Landkreis ist die Diskontinuität in<br />
der Amtsleitung, d. h. hinsichtlich der<br />
maßgeblichen Akteure der Transformation<br />
(vgl. Beitrag von Dorett Funcke in diesem<br />
Band). 1994 wurde dieser Landkreis aus zwei<br />
bestehenden Kreisen zusammengefügt. In dem<br />
einen der beiden Altkreise gab es zwischen<br />
1990 und 1994 zwei Amtsleiter, im anderen<br />
drei. Der im letztgenannten Landkreis amtierende<br />
Amtsleiter wird 1995 Amtsleiter des<br />
neu gebildeten Kreises, dazwischen amtiert für<br />
sieben Monate ein anderer, der in der Liste<br />
der zwischen 1990 und 1994 amtierenden<br />
Amtsleiter in den Altkreisen nicht erschienen<br />
ist. Die Stelle bleibt im Jahr 1995 für sechs<br />
Monate unbesetzt, bis der neue Amtsleiter für<br />
beide Kreise zuständig wird. Er bleibt dies mit<br />
zwei Unterbrechungen bis zum 14.2.2000. Seit<br />
dem 15.11.2000 (nach einer weiteren neunmonatigen<br />
Vakanz) amtiert die Amtsleiterin,<br />
die in unserem Köchinnen-Beispiel eine der<br />
maßgeblichen Akteurinnen ist. Lassen schon<br />
die häufigen Wechsel und Vakanzen in der<br />
Amtsleitung auf Diskontinuität in der Führungsposition<br />
schließen, so zeigt die Politik<br />
des Jugendamtsleiters für den neu gebildeten<br />
Kreis seit 1995 eine klare Verhinderungsstrategie<br />
bei der Ausbildung fachlicher Strukturen.<br />
Nach Auskunft der heutigen ASD-Leiterin<br />
hat er nicht nur die fachliche Weiterbildung<br />
des ASD-Personals auf bürokratische Belange<br />
reduziert, er soll sie selbst auch systematisch<br />
daran zu hindern versucht haben, sich auf eigene<br />
Kosten angemessen weiter zu bilden.<br />
Ebene 4 betrifft informelle Gruppen innerhalb<br />
und zwischen Organisationen (ASD im Jugendamt,<br />
Jugendhilfeausschuss, Arbeitsgruppen<br />
mit Mitgliedern aus der Kreisverwaltung<br />
und den freien Trägern etc.). Sie spielen im<br />
vorliegenden Beispiel keine explizit erkennbare<br />
Rolle.<br />
Auf der Ebene 3 geht es um die Biographien,<br />
Handlungs- und Deutungsmuster der Ak-
teure vor dem Hintergrund ihrer familialen<br />
Herkunft. Die hauptsächlichen Akteure in<br />
unserem Beispiel sind die Jugendamtsleiterin<br />
(vgl. Beitrag von Dorett Funcke, in diesem<br />
Band) auf der einen und die Vorsitzende des<br />
Personalrats auf der anderen Seite. Die Handlungsstrategie<br />
und das Deutungsmuster der<br />
Personalratsvorsitzenden ist deutlich: Konform<br />
mit der DDR-Praxis vertritt sie ein Konzept<br />
der Jugendhilfe, das von deren Entbehrlichkeit<br />
ausgeht. Sie selbst stammt, das sei nebenbei<br />
bemerkt, aus der DDR-Elite, hat einen medizinischen<br />
Hilfsberuf gelernt und wurde nach<br />
der Wende Pressesprecherin des ersten Landrats.<br />
Mit berufsfremder Tätigkeit kennt sie sich<br />
also aus.<br />
Das Gesetz sieht für die Tätigkeit im ASD<br />
Fachlichkeit vor, und zwar schon deshalb, weil<br />
hier Eingriffe in grundgesetzlich garantierte,<br />
unveräußerliche Rechte der Eltern sowie diagnostische<br />
und beziehungsgestalterische Kompetenzen<br />
zwingend erforderlich sind. Das hat<br />
für die Personalratsvorsitzende im Einklang<br />
mit den einschlägigen Regularien der DDR<br />
keine Bedeutung. In Übereinstimmung mit der<br />
Logik der internen betrieblichen Arbeitsmärkte,<br />
die wir aus dem Bereich Wirtschaft kennen<br />
(vgl. <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Bereich B, Beschäftigung<br />
und Arbeitsmarkt), steht für sie die Aufgabe im<br />
Vordergrund, für die Arbeitsplatzbesitzenden<br />
in ihrem Sprengel zu sorgen. Davon können sie<br />
auch nicht mahnende Worte der Gewerkschaft<br />
Verdi abhalten, nach deren Ansicht sie im vorliegenden<br />
Fall „den Bogen überspannt“ hat.<br />
Was ist, im Gegensatz dazu, die Position der<br />
Jugendamtsleiterin? Welcher biographische<br />
Hintergrund beeinflusst sie in ihrer Handlungsstrategie,<br />
die auf Konfrontation mit über-<br />
Bruno Hildenbrand<br />
kommenen DDR-Strukturen hin angelegt<br />
ist?<br />
Wenn wir uns mit solchen Fragen befassen, rekonstruieren<br />
wir die Familienbiographien der<br />
jeweiligen Akteure über mindestens drei Generationen<br />
hinweg (Hildenbrand, 2004, 2005).<br />
Wir gehen davon aus, dass Genogramme<br />
in ihrer Abfolge objektiver Daten wie Geburtsdatum,<br />
Todestag, Beruf(e), Wohnort(e),<br />
Heirat(en) das Ergebnis strukturierter Wahlen<br />
sind, die zum einen in Krisensituationen, zum<br />
zweiten im Kontext objektiver Wahlmöglichkeiten<br />
getroffen werden. Im Rahmen einer Sequenzanalyse<br />
(Oevermann 1991, Hildenbrand<br />
2005) rekonstruieren wir diese Wahlentscheidungen<br />
Schritt für Schritt, indem wir zuerst<br />
die objektiv gegebenen, rekonstruierbaren<br />
Möglichkeiten auf der Grundlage von „ontologischem“<br />
und „nomologischem“ Wissen 23<br />
bestimmen und dann erst mit den tatsächlich<br />
getroffenen Wahlen vergleichen. Auf diese<br />
Weise können wir das Muster von Autonomie<br />
bestimmen, das in Sozialisationsprozessen in<br />
einem gegebenen Familienmilieu über drei<br />
Generationen entwickelt werden konnte. In<br />
einem zweiten Schritt kann dieses aus objektiven<br />
Daten rekonstruierte Muster mit den<br />
eigenen Interpretationen der untersuchten<br />
Person verglichen werden.<br />
Die Jugendamtsleiterin aus unserem Beispiel<br />
(vgl. dazu detaillierter den Beitrag<br />
von Dorett Funcke in diesem Heft)<br />
zeigt eine Biographie, die dem auto- Seite 27<br />
nomie- und auf Fachlichkeit bezogenen<br />
Habitus dieser Region entspricht<br />
und insgesamt dem einschlägigen Deutungssystem<br />
der DDR widerspricht. 24 Wenn die<br />
Landkreisverwaltung, vertreten durch die
Wandel in Ereignissen<br />
Landrätin, im Jahr 2000 sich entschlossen hat,<br />
diese Fachfrau mit der Aufgabe der Jugendamtsleitung<br />
zu betrauen, dann wird damit der<br />
Weg zu einer Transformation der Kinder- und<br />
Jugendhilfe in diesem Landkreis geebnet.<br />
Ebenen 2 und 1. Wenn die Jugendamtsleiterin<br />
mit ihrer auf Durchsetzung neuer Handlungsmuster<br />
ausgelegten Strategie in Konflikt<br />
gerät mit den beharrenden Tendenzen der<br />
Vorsitzenden des Personalrats, dann wirken<br />
Kräfte im Hintergrund, die ihre Interaktion<br />
beeinflussen. Der interessante Punkt hier ist<br />
die Frage, wie es geschehen konnte, dass 10<br />
Jahre nach der Wende immer noch 82 % der<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD<br />
dieses Jugendamts keine angemessene fachliche<br />
Qualifikation aufweisen. 25 Allgemein<br />
gesprochen: Wie ist es möglich, dass das vom<br />
Gesetz geforderte Kriterium der Professionalität<br />
in einer öffentlichen Einrichtung, welche<br />
verpflichtet ist, in die grundgesetzlich garantierte<br />
Autonomie einer Familie einzugreifen,<br />
wenn das Kindeswohl gefährdet ist, und ggf.<br />
das Kind aus der Familie herauszuholen, missachtet<br />
werden kann? Wie kann dies über ein<br />
Jahrzehnt hinweg geschehen, ohne dass dafür<br />
ein Notstand geltend gemacht werden kann?<br />
Wo bleibt die Aufsicht durch das Landesjugendamt?<br />
Und weshalb hat sich die Weigerung<br />
der Amtsleiterin, eine Köchin einzustellen,<br />
krisenhaft entwickelt?<br />
Die provisorische Antwort auf diese<br />
Seite 28 letzte Frage lautet: weil das Beharren<br />
auf Professionalität bei der Rekrutierung<br />
einer neuen ASD-Mitarbeiterin<br />
eine neue Perspektive in die Handlungsarena<br />
einführt und dadurch die bestehende Praxis<br />
der mangelnden Fachlichkeit in Zweifel zieht.<br />
Die beschriebene, selbst erzeugte Krise hat damit<br />
die Qualität einer „Vorbotin von Wandel“<br />
(Welter-Enderlin 2003, S. 235 ff.).<br />
Dieser letzte Befund soll nun allgemeiner<br />
formuliert werden: Am exemplarischen Thema<br />
Fachlichkeit hat die Amtsleiterin einen Konflikt<br />
angestoßen und beharrlich verschärft, der<br />
schlaglichtartig die Transformationsbedürftigkeit<br />
der Kinder- und Jugendhilfe in diesem<br />
Landkreis zum öffentlichen Thema macht.<br />
Heißt das aber auch, dass nur Krisen bzw.<br />
Herausforderungen Wandel erzeugen können?<br />
Auf der Grundlage des Pragmatismus, aber<br />
auch der Evolutionstheorie, die diesem ja nicht<br />
fremd ist, wäre diese Frage mit ja zu beantworten.<br />
Aus Routine könne demnach kein Wandel<br />
entstehen. Der Unterschied bestehe nur darin,<br />
ob die Wandel erzeugenden Krisen von außen<br />
auf das jeweilige Handlungsfeld zukommen<br />
oder von internen Akteuren selbst erzeugt werden.<br />
In unserem Beispiel ist letzteres der Fall.<br />
In unseren Studien über Modernisierungsprozesse<br />
in der Landwirtschaft (Hildenbrand et al.<br />
1992, Bohler und Hildenbrand 1997, Hildenbrand<br />
2007a) konnten wir einen Typus herausarbeiten,<br />
in welchem Wandel durch Ignorieren<br />
von Krisen im Stil eines Handelns Als Ob (Vaihinger<br />
1924) herbeigeführt wird. Ehemalige<br />
Vollerwerbslandwirte des Typus „Traditionale<br />
Bauern an der Rentabilitätsgrenze“ bleiben<br />
auch nach der Reduktion des Hofes auf einen<br />
Nebenerwerbsbetrieb mental selbständige Bauern,<br />
obwohl sie längst ihr Haupteinkommen<br />
aus abhängiger Beschäftigung beziehen. Eine<br />
Generation später kann dann der Übergang<br />
auch auf der mentalen Ebene vollzogen werden.<br />
Dieses Beispiel zeigt, dass Wandel durch<br />
Bewältigung von Herausforderungen, selbst<br />
erzeugt oder von außen kommend, nur eine
von mehreren Möglichkeiten ist bzw. ein Typus<br />
neben anderen Typen sozialen Wandels ist.<br />
Unser Köchinnen-Beispiel steht dafür, dass in<br />
einem Kontext, in welchem Professionalität<br />
gefordert ist, ein weitgehend unprofessioneller<br />
Ansatz maßgeblich ist. Wir können nun eine<br />
Antwort auf jene Frage geben, die weiter oben<br />
schon gestellt wurde: Ist die mangelnde Gesetzeskonformität<br />
typisch für die Personalratsvorsitzende,<br />
oder ist sie typisch für die allgemeine<br />
Praxis der untersuchten Landkreisverwaltung? 26<br />
Handelt es sich um ein individuelles oder um<br />
ein strukturelles Problem? Wir beantworten<br />
diese Frage zugunsten der letztgenannten<br />
Option: es handelt sich um ein strukturelles<br />
Problem. Demnach ist diese Praxis nun auf der<br />
Ebene der Organisation in eine Krise geraten,<br />
sie kann nicht mehr individualisiert werden. Es<br />
geschieht somit Neues auf der Strukturebene.<br />
Wir stellen nun die Frage nach den sozialen<br />
Welten und den Arenen, innerhalb derer sich<br />
das hier erörterte Beispiel ereignet. Dabei beschränken<br />
wir uns auf einige Hinweise.<br />
In unserem Beispiel treffen zwei soziale Welten<br />
aufeinander, jene der Kinder- und Jugendhilfe<br />
und jene der Landkreisverwaltung. Zur Welt<br />
der Kinder- und Jugendhilfe gehört nicht<br />
nur das Jugendamt als Behörde, sondern dazu<br />
gehören auch die Klienten, die freien Träger<br />
der Kinder- und Jugendhilfe im Landkreis und<br />
darüber hinaus und schließlich der Jugendhilfeausschuss,<br />
welcher für die Entwicklung der<br />
Jugendhilfe im Landkreis auf der Ebene der<br />
Policy verantwortlich ist und sich mehrheitlich<br />
aus gewählten Vertretern des Kreistags zusammensetzt.<br />
Die andere soziale Welt ist die der<br />
Landkreisverwaltung mit ihren Prioritäten auf<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Finanzen, Ordnung und Personalangelegenheiten,<br />
in anderen Worten: Hier liegen die<br />
Prioritäten außerhalb des Bereichs der Kinder-<br />
und Jugendhilfe. Mit dem Streit über die<br />
Besetzung einer ASD-Stelle mit einer Köchin<br />
haben wir eine zentrale Arena erreicht, an der<br />
die beiden sozialen Welten aufeinander treffen<br />
und in der es um andere Rationalitäten geht:<br />
um jene der Kreispolitik. 27<br />
Wir gehen nun noch einen Schritt weiter<br />
und entwickeln anhand des Beispiels eines<br />
letztlich erfolglosen Versuchs, eine Köchin<br />
mit den Aufgaben einer Sozialarbeiterin in<br />
einem ASD zu betrauen, Elemente einer<br />
Theorie zu Prozessen des sozialen Wandels.<br />
Dabei handelt es sich nicht um eine formale<br />
Theorie, sondern um eine bereichsbezogene<br />
(substantive) Theorie, und sie hat, wie alle<br />
sozialwissenschaftlichen Theorien, den nicht<br />
hintergehbaren Status einer Hypothese<br />
(Glaser & Strauss 1967, S. 79-99, vgl. aber<br />
auch Weber 1988, S. 214): Des Theoretikers<br />
„soziologische Perspektive kommt niemals<br />
an ein Ende, nicht einmal, wenn er die letzte<br />
Zeile seiner Monographie schreibt“ (Glaser &<br />
Strauss 1967, S. 256).<br />
Unsere Theorie bezieht sich auf die Struktur<br />
des Prozesses eines auferlegten Wandels in<br />
Organisationen und besteht – zum jetzigen<br />
Stand der Theoriebildung in unserem Forschungsprojekt<br />
– aus folgenden<br />
Elementen:<br />
Seite 29<br />
• Die Entscheidung im untersuchten Jugendamt,<br />
nach der Wende die Praktiken<br />
der DDR teilweise beizubehalten und die vom<br />
Gesetz vorgeschriebenen organisatorischen Veränderungen<br />
zu ignorieren, führt zur Entwicklung
Wandel in Ereignissen<br />
eines stabilen Trajekts der Beharrung.<br />
• Ein Wechsel in der Leitung auf der Landkreisebene<br />
(Landrätin) führt zur Rekrutierung<br />
einer Akteurin ( Jugendamtsleiterin), die Wandel<br />
gegenüber offen ist und bereit ist, diesen Wandel<br />
zu befördern.<br />
• In einer zentralen Arena (Personalverwaltung/<br />
Personalvertretung) führt diese Maßnahme zu<br />
Folgen, die einen Konflikt auslösen. An dessen<br />
Beginn ist es jedoch nicht abzusehen, ob dieser<br />
Konflikt zu einer Veränderung des Trajekts führen<br />
wird.<br />
• Nur ein zufälliges Ereignis in Form einer<br />
Notlage (Suizidversuch einer Klientin in den<br />
Räumen des Jugendamts) leitet eine Veränderung<br />
des Trajekts ein.<br />
• Fazit: Wandel in Organisationen, im Sinne<br />
einer Veränderung der Richtung eines Trajekts,<br />
wird durch die Kombination folgender Maßnahmen<br />
hervorgebracht: a) spezifische Prozesse<br />
administrativer Praktiken anstoßen, b) zentrale<br />
Positionen mit Akteuren besetzen, die bereit sind,<br />
Wandel zu fördern und, c) sich in geeigneten Arenen<br />
in Konflikte begeben. Entscheidend ist dann<br />
noch, dass diesem Prozedere d) ein nicht planbares<br />
Ereignis zu Hilfe kommt, dessen Bewältigung darüber<br />
entscheidet, ob die eingeschlagene Richtung<br />
des Trajekts beibehalten werden kann. Wandel<br />
ist daher auch von kontingenten Bedingungen<br />
begleitet.<br />
Diese Elemente einer Theorie beziehen sich<br />
nur auf die Ebene der Organisation<br />
und ihrer Leitung und nicht auf das<br />
Seite 30 alltägliche Routinehandeln auf der<br />
operativen Ebene. Anders gesprochen:<br />
Diese Elemente einer Theorie<br />
betreffen nicht alltägliches Routinehandeln,<br />
also den Habitus professionellen Handelns,<br />
sondern deren Rahmenbedingungen. Wie<br />
aber kann Wandel so angestoßen werden, dass<br />
er auch die akteursrelevante Routineebene der<br />
Handlungs- und Deutungsmuster erreicht?<br />
Aus einem anderen Bereich als dem hier verhandelten,<br />
der Therapie, gibt es Hinweise auf<br />
eine Antwort: a) Krankheiten werden nicht<br />
nur unter dem Aspekt einer zu beseitigenden<br />
Krise, sondern auch unter dem Aspekt eines<br />
„Einbruchs in eine Stagnation des Werdens“<br />
(v. Gebsattel) verstanden, woran sich die<br />
Frage anschließt: „Wozu wird diese Krankheit<br />
einmal gut gewesen sein?“ (Blankenburg<br />
1985, 1997). Eine Krise wird demnach – wir<br />
greifen auf eine weiter vorne schon erwähnte<br />
Formel zurück - als „Vorbote von Wandel“<br />
(Welter-Enderlin 2003, S. 235ff.) betrachtet.<br />
Dieses Krisenverständnis geht auf die griechische<br />
Medizin zurück und wurde auch in<br />
den Geschichtswissenschaften rezipiert. So<br />
schreibt der Historiker Randolph Starn: „Krisensituationen<br />
wurden, neben Angelpunkten<br />
in Prozessen des Wandels, zu Momenten der<br />
Wahrheit, in denen die Bedeutsamkeit von<br />
Menschen und Ereignissen als Licht kam.“<br />
Das bedeute, so Starn weiter, dass die Griechen<br />
„von Krisen innewohnenden Möglichkeiten“<br />
gesprochen haben (Starn 1973, S. 56). b) Auf<br />
dieser Grundlage arbeiten Therapeuten auf<br />
eine exemplarische Krisenbewältigung im<br />
Verlauf der Therapie hin. c) Um diese auf der<br />
Ebene routinehafter Handlungs- und Deutungsmuster<br />
zu verankern, bieten sich mehrere<br />
Vorgehensweisen an. Eine besteht darin, in<br />
einem geschützten Rahmen so lange Krisen zu<br />
erzeugen, bis die Bewältigung sich habitualisiert<br />
hat. 28 Ein anderer Zugang besteht in den<br />
übenden Verfahren der Verhaltenstherapie. In<br />
professionellen Handlungsfeldern wie dem der<br />
Sozialarbeit im ASD würde eine mögliche Vorgehensweise<br />
darin bestehen, in regelmäßigen,
wöchentlichen Fallbesprechungen „Krisen<br />
durch Muße“ (Oevermann 2004) zu erzeugen<br />
und exemplarisch Bewältigungsstrategien zu<br />
entwickeln.<br />
Diese Elemente einer (grounded) Theorie<br />
sozialen Wandels in Organisationen sind in<br />
weiteren Schritten mittels eines Verfahrens des<br />
theoretical sampling (Glaser & Strauss 1967, S.<br />
45-77, Hildenbrand 2005, S. 65-70) zu testen.<br />
Ein maximal kontrastierender Fall ist das Jugendamt<br />
des Landkreises Rügen, in welchem<br />
unmittelbar im Anschluss an die Wende mit<br />
Professionalisierungsprozessen begonnen<br />
wurde. 29<br />
Diesem Punkt gehen wir jedoch hier nicht weiter<br />
nach, sondern beziehen unsere provisorische<br />
Theorie sozialen Wandels in Organisation<br />
auf das Basis-Modell Challenge & Response<br />
(BMC&R) (Rosa/Schmidt).<br />
Bruno Hildenbrand<br />
4. IN t e r P r e tAt I o N D I e S e r ergeBN I S S e<br />
A u F D e r gru N D l A g e D e S BAS I S-Mo D e l l S<br />
Ch A l l e N g e & reSPoNSe (hA rt M u t ro S A<br />
u N D St e F F e N SC h M I D t)<br />
Im letzten Teil dieses Beitrags geht es um die<br />
Verknüpfung unserer eigenen Theoriebildung<br />
mit dem als heuristisch angelegten Basismodell<br />
Challenge & Response (BMC&R) von<br />
Hartmut Rosa und Steffen Schmidt. Dieses<br />
Modell geht von Alltagshandelnden aus. Im<br />
Falle des Untersuchungsgegenstands Kinder-<br />
und Jugendhilfe müssen Erweiterungen<br />
vorgenommen werden, die die Komponenten<br />
gesellschaftliche Selbstbeschreibung/reflexives<br />
Selbstbild/Soziale Institutionen und Praktiken/Habitus<br />
in eine professionstheoretische<br />
Perspektive rücken.<br />
Seite 31
Seite 32<br />
KJHG:<br />
„autonom<br />
Handlungsfähi<br />
ges Subjekt<br />
als Klient“<br />
Zentrale<br />
Aufgabe<br />
B1<br />
Inst.<br />
Verfahren:<br />
z. B. Hilfeplan/<br />
Formulare<br />
Institutionelle<br />
Praktiken:<br />
Routine/ prof.<br />
Habitus<br />
B2<br />
mittels<br />
Aufgabe der Behörde:<br />
1. Akteure (JA Leitung)<br />
2. Vorgaben vom Land<br />
(Förderung von Prof.)<br />
Wandel in Ereignissen<br />
Basismodell Challenge & Response und die Systematisierung nach dem C3 Projekt<br />
Makroebene Mikroebene<br />
A<br />
Gesellschaftliche<br />
Selbstbeschreibung/<br />
Leitbilder<br />
explizit<br />
1<br />
B<br />
Soziale Institution<br />
und Praktiken<br />
implizit<br />
5<br />
2<br />
4<br />
6<br />
C<br />
Reflexives<br />
Selbstbild<br />
explizit<br />
Selbstbild des<br />
Klienten<br />
3<br />
D<br />
Habitus<br />
implizit<br />
Habitus der Klienten<br />
Prof.<br />
Handlungsmodell/<br />
Verwaltungs<br />
handeln<br />
Pers.<br />
Habitus<br />
Prof.<br />
Habitus<br />
Systemische<br />
Therapie als<br />
Begegnung
Unsere erste Aufgabe bei der Diskussion des<br />
BMC&R besteht darin, die über dieses Basismodell<br />
zu legende Professionsfolie zu erläutern.<br />
Wir beginnen mit der linken vertikalen Achse<br />
und damit mit der Makro-Ebene.<br />
Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung (Leitbilder)<br />
bezieht sich im Fall der Kinder- und<br />
Jugendhilfe auf das 1990 eingeführte neue<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das,<br />
wie erwähnt, vom autonom handlungsfähigen<br />
Klienten ausgeht. Dieser Geist ist als solcher<br />
von den professionell Handelnden der<br />
Kinder- und Jugendhilfe anzuerkennen, und<br />
es sind geeignete Institutionen zu schaffen,<br />
um ihm Geltung zu verschaffen. Diese Form<br />
gesellschaftlicher Selbstbeschreibung (eine<br />
Gesellschaft von autonomen Subjekten, deren<br />
Autonomie selbst noch in der Beschädigung<br />
anzuerkennen ist 30 ) kontrastiert explizit zum<br />
Fürsorgegedanken sowohl des Jugendwohlfahrtsgesetzes<br />
der BRD als auch den Vorgaben<br />
der DDR-Kinder- und Jugendhilfe. In den<br />
sogenannten alten Bundesländern gibt es<br />
allerdings einen Vorlauf dieser Leitbilder in<br />
Form einer seit den 60er Jahren einsetzenden<br />
Akademisierung der Sozialarbeit.<br />
Soziale Institutionen und Praktiken dienen der<br />
routinemäßigen Umsetzung gesellschaftlicher<br />
Selbstbeschreibungen in den Alltag, hier in<br />
den Alltag der Kinder- und Jugendhilfe. Diese<br />
in toto zu untersuchen ist nicht nur aufwendig,<br />
sondern auch unnötig. Es reicht, eine<br />
Untersuchung in zwei Schlüsselbereichen der<br />
Kinder- und Jugendhilfe durchzuführen: a) im<br />
Bereich „Hilfen zur Erziehung“, in welchem<br />
bei Unterstützungsbedürftigkeit von Familien<br />
in Erziehungsfragen die Beteiligung der<br />
Betroffenen in einem eigenen Paragraphen (§<br />
Bruno Hildenbrand<br />
36, Mitwirkung, Hilfeplan) geregelt wird, und<br />
b) im Bereich des Kindeswohls, wenn dieses<br />
gefährdet ist (Inobhutnahme von Kindern<br />
und Jugendlichen, Herausnahme des Kindes<br />
oder des Jugendlichen ohne Zustimmung des<br />
Personensorgeberechtigten). Beide Bereiche<br />
(weitere Kandidaten wären: Adoptions- und<br />
Pflegekinderwesen, die teils in Spezialdiensten,<br />
teils im ASD organisiert sind) machen den<br />
Schwerpunkt der Tätigkeiten des Allgemeinen<br />
Sozialen Diensts aus, wobei in den genannten<br />
Paragraphen das Grundgesetz tangiert ist, es<br />
sich also um einen Eingriff in unveräußerliche<br />
Rechte der Betroffenen handelt, der besonderer<br />
Vorkehrungen bedarf.<br />
Auf der zweiten vertikalen Achse, der<br />
Mikroebene, geht es zunächst um reflexive<br />
Selbstbilder der Akteure. Bei unserem<br />
Untersuchungsgegenstand handelt es sich<br />
wiederum um zwei Klassen von Akteuren:<br />
Klienten und Professionelle. Wir beginnen<br />
bei den Klienten. Ihnen wird im KJHG die<br />
Fähigkeit zu einem autonomen Handeln auch<br />
im Kontext von Beschädigung erwartet, dies<br />
entspricht dem gesellschaftlichen Leitbild der<br />
Autonomie. Je nach Region ist diese Fähigkeit<br />
jedoch unterschiedlich ausgeprägt (vgl. den<br />
Beitrag von Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, in diesem<br />
Band). Unsere Befunde werden bestätigt<br />
durch die Ergebnisse des Projekts C6. Dort<br />
werden individuelle und soziale Ressourcen<br />
beim Umgang mit Wandel in einen<br />
Zusammenhang mit Opportunitäten<br />
in den jeweiligen Regionen gesehen. Seite 33<br />
Allgemein lautet hier der Befund,<br />
dass ein aktiv zupackender, problemfokussierender<br />
Umgang insgesamt stärker<br />
ausgeprägt ist als problemdistanzierende<br />
Verhaltensweisen wie Aufgeben oder entla-
Wandel in Ereignissen<br />
stende Interpretationen für Misserfolg suchen<br />
(Pinquart und Silbereisen 2007). Dies weist<br />
auf eine grundlegende Übereinstimmung der<br />
beiden vertikalen Achsen auf der Mikro- und<br />
auf der Makroebene im BMC&R hin, anders<br />
gesprochen: Der autonomieorientierten<br />
Selbstbeschreibung auf der Gesellschaftsebene<br />
entspricht eine Autonomieorientierung<br />
auf der Ebene der Selbstbeschreibung der<br />
Akteure. Damit ist aber unsere Hypothese<br />
von der unterschiedlichen Ausprägung von<br />
Autonomie je nach Region noch nicht hinfällig<br />
geworden. Gemäß den Ergebnissen<br />
des Projekt C6 besteht ein größerer Zusammenhang<br />
zwischen problemfokussierender<br />
Bewältigung und positivem Befinden beim<br />
Wohnen in opportunitätsreicheren Regionen,<br />
während wandelbezogene Anforderungen<br />
schlechtes Befinden dann weniger prägen,<br />
wenn eine Person in einer opportunitätsarmen<br />
Region lebt. Soziologisch ausgedrückt: Der<br />
personenspezifische Habitus ist verankert in<br />
makrostrukturellen (regionalen) Gegebenheiten.<br />
Oder: Gesellschaftliche Leitbilder und<br />
individuelle Selbstbilder sind jeweils auf den<br />
Typus des autonom handlungsfähigen, mit<br />
sich selbst identischen Subjekts zentriert, aber<br />
dessen Ausprägung folgt makrostrukturell<br />
verankerten Varianten der historisch tradierten<br />
regionalen Gegebenheiten. 31<br />
Reflexive Selbstbilder der Professionellen. Um<br />
diese Komponente ist das BMC&R<br />
zu erweitern. Professionen sind Spe-<br />
Seite 34 zialisten der Krisenbewältigung, sie<br />
dienen nicht sich selbst, sondern der<br />
gesellschaftlichen Integration. Folgen<br />
wir dem soziologischen Konzept der Struktur<br />
professionellen Handelns (Parsons 1968,<br />
Oevermann 1996, Stichweh 1996, Welter-<br />
Enderlin & Hildenbrand 2004), dann bedeutet<br />
professionelles Handeln stellvertretende Deutung<br />
mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen<br />
für die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit<br />
des Subjekts (der Familie etc.) zu<br />
schaffen. Professionelles Handeln bedient<br />
sich dabei einer reflexiven Basis theoretischen<br />
Wissens und geeigneter Handlungsregeln. Im<br />
Zentrum steht aber das „Fallverstehen in der<br />
Begegnung“ (Welter-Enderlin & Hildenbrand<br />
2004), welches in einem langwierig zu erwerbenden<br />
professionellen Habitus verankert ist.<br />
Dieser Habitus erlaubt es dem Professionellen,<br />
in Krisensituationen gestaltsicher handeln<br />
zu können im Vertrauen darauf, dass er/sie<br />
dieses Handeln im Nachhinein, wenn die<br />
Entscheidungen gefällt sind, begründen kann.<br />
In Organisationen, deren Mitglieder Professionelle<br />
sind und deren Tätigkeit professionalisierungsbedürftig<br />
ist (z. B: Krankenhaus), werden<br />
die fachlichen Voraussetzungen standardisiert,<br />
während die konkreten Vorgehensweisen individualisiert<br />
sind. Demgegenüber werden in<br />
Organisationen mit Mitgliedern, die schwach<br />
oder gar nicht ausgebildet sind, die Verfahren<br />
(extrem: Fließband) standardisiert (Mintzberg<br />
1983).<br />
Professionelles Handeln ist derzeit auf<br />
breiter Front bedroht. An erster Stelle der<br />
Bedrohungsfaktoren ist das Vordringen einer<br />
evidence based medicine zu nennen, die sich auf<br />
Manuale statt auf ärztliche Erfahrungsbildung<br />
stützt. Sie lässt der Einzelfallentscheidung<br />
keinen Spielraum mehr lässt, anders gesprochen:<br />
professionelles Handeln kann sich im<br />
medizinischen Alltag zunehmend nur noch<br />
systemwidrig durchsetzen (vgl. dazu vor allem<br />
auch Projekt C5, Behrens).
Ein Beispiel: Würde ein Notarzt vor einem<br />
unumgehbaren Luftröhrenschnitt erst neuere<br />
evidenzbasierte medizinische Verfahren im<br />
Internet recherchieren, bevor er das Messer<br />
ansetzt, würde der Patient zwischenzeitlich<br />
sterben. Außerdem würden diese Verfahren<br />
alleine auch nichts nützen, denn die Aufgabe<br />
des Professionellen besteht darin, diese<br />
Verfahren dadurch fruchtbar zu machen, dass<br />
er sie auf den Einzelfall bezogen anwendet<br />
und mithin modifiziert. Um das individuelle<br />
Urteil kommt der Notarzt also nicht herum.<br />
Ähnlich dramatisch sind manche Situationen<br />
der Kinder- und Jugendhilfe beschaffen. Im<br />
Falle dringender Gefahr der Kindeswohlgefährdung<br />
besteht die Aufgabe darin, in das<br />
Recht der Eltern einzugreifen, ohne darüber<br />
lange diskutieren zu können, und zwar auf eine<br />
Weise, die die Beziehung zu den Eltern nicht<br />
nachhaltig verstört. Denn auf eine Handlung,<br />
die der unmittelbaren Gefahrenabwehr dient,<br />
folgt in der Regel eine Handlung, die der Hilfe<br />
zur Erziehung dient – und zwar gegebenenfalls<br />
durch dieselbe Person, den Professionellen. Ihre<br />
Aufgabe ist es, mit den Klienten selbst sowie<br />
mit den freien Trägern im Hilfeplangespräch<br />
(§ 36 KJHG) geeignete Hilfen zu finden.<br />
Unter dem Eindruck der bundesweit bekannt<br />
gewordenen Skandale in Jugendämtern quer<br />
durch die Republik bestehen, wie erwähnt,<br />
derzeit Bemühungen, das Kindeswohl besser<br />
zu sichern. In das KJHG wurde ein neuer Passus<br />
zur Konkretisierung des Schutzauftrags des<br />
Jugendamts eingefügt (§ 8a), und es werden<br />
Versuche unternommen, die Kontroll“organe“<br />
auszuweiten und neben Kindertagesstätten<br />
Hebammen und Kinderärzte einzubeziehen.<br />
Alle diese Bemühungen werden, wie am Beispiel<br />
des Notarztes gezeigt, das Problem der<br />
Bruno Hildenbrand<br />
individuellen Verantwortung des Professionellen<br />
der Kinder- und Jugendhilfe im jeweils<br />
individuellen Fall nicht beseitigen, allenfalls<br />
nützliche Hilfestellungen geben. Bedenken<br />
sind vor allem hinsichtlich der Berufsgruppen,<br />
die als „Frühwarnsysteme“ eingesetzt werden<br />
sollen, angebracht. Bei Hebammen mangelt<br />
es an Kompetenz im Erkennen und Deuten<br />
von Familienstrukturen und -interaktionen<br />
vor allem auch im Kontext ordnungsrechtlichen<br />
Vorgehens, und Hebammen wie Ärzte<br />
zerstören ihre Beziehung zu den Patienten,<br />
wenn sie sich als Seh- und Horchposten des<br />
Jugendamts einsetzen lassen.<br />
Gerade das Beispiel Kindeswohlgefährdung<br />
macht die beständige Gratwanderung der<br />
Jugendhilfe zwischen dem Elternrecht, d. h.<br />
der Wahrung der Autonomie der Familie,<br />
und dem Kindeswohl deutlich. Beide gehören<br />
zusammen, wie auch schon die Konvention<br />
zum Schutz des Kindes festgestellt hat. Diese<br />
Gratwanderung ist nicht hintergehbar, sie<br />
erfordert Fachkompetenz, die im ASD eines<br />
Jugendamts ihren Ort hat. Vom Jugendamt<br />
ist gefordert, potentielle Problemfälle in<br />
ständiger, vigilanter Wachsamkeit zu begleiten<br />
und fallbezogen auf das Kindeswohl orientiert<br />
die nötigen Entscheidungen zu treffen.<br />
Unsere eigenen Ergebnisse der Analyse des<br />
Vorgehens bei Kindeswohlgefährdung in den<br />
untersuchten Jugendämtern zeigen, dass die<br />
Haltung der vigilanten Wachsamkeit<br />
eher selten ist, während das Gewährenlassen<br />
für westdeutsche, rasche<br />
Kindesherausnahme für ostdeutsche<br />
Jugendämter typisch ist.<br />
Fahren wir fort in der Diskussion des<br />
BMC&R. Alltagsweltlich verankerter und<br />
Seite 35
Wandel in Ereignissen<br />
professioneller Habitus stehen zueinander in<br />
einem Verhältnis der Wechselwirkung. Ein<br />
heteronomieorientierter alltagsweltlicher<br />
Habitus ist mit einem professionellen Habitus<br />
inkompatibel. Kann er sich aber durchsetzen,<br />
dann deformiert er den professionellen<br />
Habitus und formt ihn in der Weise, dass<br />
die Auslegung fachlicher Anforderungen die<br />
Heteronomieseite betont. Hat jemand jedoch<br />
einen professionellen Habitus erworben,<br />
schlägt dies auf seinen persönlichen Habitus<br />
durch, auch wenn dieser zunächst eher heteronomieorientiert<br />
ist (Kohn 1981). Im Fall<br />
der Kinder- und Jugendhilfe in den von uns<br />
untersuchen Landkreisen beobachten wir im<br />
Übrigen, dass es zu einer personeninternen<br />
Konfrontation von heteronomieorientiertem<br />
persönlichen Habitus und autonomieorientiertem<br />
professionellen Habitus nicht kommt,<br />
da die jeweiligen Fachkräfte (angefangen mit<br />
den Amtsleitern) aus autonomieorientierten<br />
Milieus kommen (vgl. den Beitrag von Dorett<br />
Funcke, in diesem Band).<br />
Wir kommen nun zu den im BMC&R angelegten<br />
potentiellen Krisenkonstellationen.<br />
(1) Der Konflikt gesellschaftliche Leitbilder/<br />
soziale Institutionen und Praktiken führt zu<br />
einer institutionellen oder ideologischen Krise.<br />
In dem in diesem Beitrag verhandelten Fall<br />
der Rekrutierung einer Köchin zeigt es sich,<br />
dass ein vorgegebenes Institutionengefüge<br />
ohne die damit verbundene<br />
Seite 36 gesellschaftliche Selbstbeschreibung<br />
übernommen wurde. Dazu liegen uns<br />
weitere Belege aus den Daten vor, von<br />
denen einige genannt werden sollen (für Details<br />
verweisen wir auf künftige Publikationen<br />
aus dem Projekt C 3):<br />
• Dominanz von Heimeinweisung gegenüber<br />
weicheren, das Recht der Familie stärker<br />
sichernden Maßnahmen wie ambulante oder<br />
teilstationäre Hilfen;<br />
• parallel dazu Vernachlässigung des Aufbaus<br />
von Einrichtungen, die solche Hilfen anbieten;<br />
• Behinderung von Fortbildungsbestrebungen<br />
von mindestens einer Mitarbeiterin des ASD;<br />
minimaler Austausch nicht-fachlichen Personals<br />
durch fachliches Personal (das Verhältnis<br />
beträgt im Jahr 2002 ca. 82 % : 18 %, inzwischen<br />
kommt es allmählich zu einer Verjüngung des<br />
Personals, bei Neueinstellungen wird auf Fachlichkeit<br />
geachtet);<br />
• Austausch der Sprache in den Jugendamtsakten<br />
bei Beibehaltung des fürsorgerischkontrollorientierten<br />
Duktus in der Fallarbeit; 32<br />
• Unfähigkeit, die menschenrechtswidrige<br />
Praxis der DDR-Gerichtsbarkeit und deren<br />
Umsetzung im fürsorgerischen Handeln zu<br />
erkennen oder sich gar davon zu distanzieren.<br />
In Bezug auf die Transformation der Jugendhilfe<br />
nach der Wende und auf die Einführung<br />
des KJHG im Jahr 1990 ist also zu beobachten,<br />
dass bei einem Teil der entscheidenden<br />
lokalen Akteure im untersuchten Landkreis,<br />
der uns das Köchinnen-Beispiel geliefert hat,<br />
(incl. des unmittelbar nach der Wende aus<br />
einer ehemaligen Gutslandschaft des Westens<br />
verpflichteten zeitweiligen Sozialdezernenten<br />
und Amtsleiters),<br />
• das im KJHG sich niederschlagende gesellschaftliche<br />
Leitbild des autonom handlungsfähigen<br />
Subjekts nicht zur Kenntnis genommen<br />
wird; 33<br />
• der mit diesem Leitbild verbundene Apparat<br />
sozialer Institutionen übernommen wurde,<br />
soweit dies unvermeidlich war;
• die mit diesen Institutionen verbundenen<br />
Praktiken nur auf der Basis persönlicher Sonderleistungen<br />
realisiert werden.<br />
Der beschriebene Konflikt entsteht in diesem<br />
Landkreis, als ein neuer Akteur auf eine entscheidende<br />
Stelle berufen wird, der versucht,<br />
dem eigenen reflexiven Selbstbild und individuellem<br />
Habitus entsprechend gesellschaftliche<br />
Selbstbeschreibung und institutionelle<br />
Praxis in Einklang zu bringen.<br />
Dieser Befund einer zumindest bis 2000<br />
weitgehend verhinderten Transformation –<br />
in einer Region, die sozialhistorisch zu den<br />
autonomieorientierten Regionen zu zählen<br />
ist – kontrastiert auffällig mit den Ergebnissen<br />
des Projekts A3 (Best, Schmitt), denen zufolge<br />
ein reibungsloses Angleichen der ostdeutschen<br />
Parlamente an das parlamentarische System<br />
der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen<br />
ist. Das parlamentarische Institutionengefüge<br />
steuere das Handeln der Akteure in einem<br />
Maße, dass deren sozialer Hintergrund kaum<br />
noch eine Rolle spiele. Dieser Befund, der<br />
allerdings nichts über den Habitus der parlamentarischen<br />
Akteure aussagt, ist für uns von<br />
besonderem Interesse, weil sowohl politisches<br />
als auch sozialarbeiterisches Handeln ein<br />
professionalisierungsbedürftiges Handeln ist.<br />
Warum trotz dieser Gemeinsamkeit erhebliche<br />
Unterschiede herrschen, ist hier die entscheidende<br />
Frage. Anders formuliert: Weshalb<br />
gelingt der Institutionentransfer auf der parlamentarischen<br />
Ebene der Länder, nicht aber<br />
auf der Ebene des Jugendamts? Eine mögliche<br />
Antwort besteht darin, dass parlamentarische<br />
Vorgänge von einer aufmerksamen Öffentlichkeit<br />
verfolgt werden, während die Kinder- und<br />
Jugendhilfe sich schon zu DDR-Zeiten in<br />
Bruno Hildenbrand<br />
einer Nische befand und öffentlicher Aufmerksamkeit<br />
entzogen war. Erst im Notfall<br />
(und auch dann nur kurzzeitig) erreicht sie<br />
das Licht der Öffentlichkeit. Des Weiteren<br />
ist die Rekrutierung von Sachverstand auf der<br />
Landesebene leichter zu bewerkstelligen als<br />
auf der kommunalen Ebene. Schließlich war<br />
der Aufbau der Länder eine Gemeinschaftsaufgabe,<br />
während bei der Neugestaltung<br />
der Kinder- und Jugendhilfe jedes Land<br />
seine eigenen Wege gehen konnte. Thüringen<br />
z. B. setzte auf den Generationenaustausch<br />
und vernachlässigte dadurch die Nachqualifikation,<br />
nicht bedenkend, dass die<br />
vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
nicht einfach entlassen werden können.<br />
(2) Der Konflikt gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen<br />
mit reflexiven Selbstbildern führt<br />
zur Legitimationskrise. Ob dieser Konflikt zu<br />
einem challenge wird, welcher einen response<br />
nach sich zieht, hängt von den Relevanzstrukturen<br />
(Alfred Schütz 1971) der Akteure<br />
ab. Es müsste sich in unseren Beispielen um<br />
einen internen Konflikt bei Menschen handeln,<br />
für die der Widerspruch ihrer reflexiven<br />
Grundlagen, die noch dem Geist der DDR-<br />
Gesellschaft verpflichtet sind, mit dem Selbstverständnis<br />
einer bürgerlich-demokratischen<br />
Gesellschaft offenbar und zum Problem wird.<br />
Dies würde aber bedingen, dass man sich mit<br />
diesen anders als defensiv auseinandersetzt,<br />
also offen überkommene Wertemu-<br />
ster der DDR gegen diejenigen der<br />
Bundesrepublik Deutschland nach<br />
der Wende verteidigt.<br />
Ein solcher Fall ist uns noch nicht begegnet.<br />
Erst durch die Amtsleiterin, die sich im Fall<br />
der Köchin auf die Grundlage des Gesetzes<br />
Seite 37
Seite 38<br />
Wandel in Ereignissen<br />
beruft, wird dieser Konflikt zum challenge.<br />
Darüber hinaus ist die Frage, für wen eine<br />
Legitimationskrise entsteht. In dem hier<br />
diskutierten Beispiel der (am Ende gescheiterten)<br />
Einstellung einer Köchin sind es zwei<br />
maßgebliche Akteure, die Landrätin und die<br />
Jugendamtsleiterin, für die gesellschaftliche<br />
Selbstbeschreibung und reflexives Selbstbild<br />
als fachliche Akteure im Einklang stehen.<br />
Damit geraten sie aber in Widerspruch zu<br />
Akteuren, bei denen beides zueinander in<br />
Widerspruch steht. Weil dieser Widerspruch<br />
aber nicht offen thematisiert, sondern tabuisiert<br />
wird, findet er nur im politischen<br />
Machtkampf eine Lösung. Dieser, so erscheint<br />
es derzeit, wird zugunsten derjenigen Akteure<br />
ausgehen, die bisher als Verhinderer von Wandel<br />
aufgetreten sind. Die beiden Agentinnen<br />
des Wandels hingegen haben entweder bereits<br />
das Feld geräumt oder werden es vermutlich<br />
räumen müssen.<br />
(3) Konflikt des reflexiven Selbstbildes mit dem<br />
Habitus des Professionellen: Identitätskrise.<br />
Es müsste in unseren Beispielen um einen<br />
Konflikt gehen, bei dem reflexiv im Westen<br />
angekommene Personen mit ihren Gewohnheitsmustern<br />
eines fachlichen und alltäglichen<br />
Handelns in einen Konflikt geraten. Auch<br />
einen solchen Konflikt konnten wir bisher als<br />
explizit formulierten nicht feststellen.<br />
(Die unter 2) und 3) beschriebenen<br />
Konflikte bedürfen demnach noch<br />
weiterer sorgfältiger Untersuchung<br />
im Material).<br />
(4) Der Konflikt des individuellen Habitus mit<br />
den sozialen Institutionen und Praktiken führt<br />
zu klinischer Pathologie und zu deviantem Ver-<br />
halten. Hier scheint es sich um den Konflikt<br />
mit der größten Tragweite zu handeln. Denn<br />
während es sich bei den (aus der Sicht der<br />
Akteure) durch kognitive Dissonanz zwischen<br />
reflexivem Selbstbild und Praxis erzeugten<br />
Widersprüchen um solche handelt, die durch<br />
Umdeutungen still zu stellen sind, greifen<br />
Widersprüche zwischen impliziten Praktiken<br />
und Habitusformationen der sozialen Institution<br />
unmittelbar in die individuelle habituelle<br />
Akteursorganisation ein. So lässt sich die (theoretisch<br />
abgeleitete) Hypothese von klinischer<br />
Pathologie bzw. deviantem Verhalten erklären.<br />
Auch hier sind wieder beide Perspektiven, die<br />
individuelle und die der institutionellen Praxis,<br />
getrennt zu behandeln:<br />
Individuelle Perspektive: Scheitert der Versuch,<br />
eine individuelle Professionalisierung im Kontext<br />
einer aus der DDR übernommenen Praxis<br />
zu realisieren, und fehlt es an Möglichkeiten,<br />
dieses Scheitern öffentlich zu diskutieren, weil<br />
der Sachverhalt nicht thematisiert, mehr noch:<br />
tabuisiert ist, dann führt der Weg direkt in<br />
eine Selbstzuschreibung des Scheiterns oder<br />
in Verzweiflung. Wir kennen den Fall eines als<br />
Sozialarbeiter im ASD beschäftigten Lehrers.<br />
Er fiel durch meist gelungene Versuche auf,<br />
mit eigenen, jedoch nicht fachlich fundierten<br />
Mitteln seinen Aufgaben gerecht zu werden.<br />
Jedoch sah er sich als gescheitert an, geriet in<br />
eine persönliche Krise und wurde schließlich<br />
an eine andere Stelle innerhalb der Landkreisverwaltung<br />
versetzt.<br />
Allerdings halten wir es für problematisch,<br />
eine 1:1-Relation bzw. eine Kausalbeziehung<br />
zwischen Stressor und Reaktion anzunehmen.<br />
Dies entspricht nicht dem Stand der Stress-<br />
Coping-Forschung (Hill Rice, 2005). Nimmt
man eine solche Relation an, werden Umstände,<br />
die geeignet sind, die entsprechenden Stressoren<br />
abzufedern, z. B. individuelle oder kollektive<br />
Deutungen, individuelle oder kollektive<br />
Ressourcen, übersehen (Welter-Enderlin &<br />
Hildenbrand 2006). Wir plädieren hier dafür,<br />
statt von einer kausalen Beziehung von einem<br />
Rahmen i. S. Goffmans zu sprechen, welcher<br />
Scheitern oder Verzweiflung dann begünstigt,<br />
wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen.<br />
Zu bestimmen ist dann fallbezogen, was<br />
denn solche Alternativen (gewesen) wären. 34<br />
Die Perspektive der institutionellen Praxis: Wird<br />
die institutionelle Praxis in Übereinstimmung<br />
mit der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung<br />
gebracht, folgt dem aber der Habitus<br />
der Akteure nicht, und kann dies nicht offen<br />
angesprochen werden (z. B. wegen der o. e.<br />
Tabuisierung), dann führt dies dazu, dass der<br />
betreffende ASD diese Personen (aus falsch<br />
verstandener Loyalität) mitschleppt, notfalls<br />
bis zur Berentung. Auch kann dies die Entwicklung<br />
einer erheblichen Erkrankung nach<br />
sich ziehen und die Berentung beschleunigen.<br />
Für beide möglichen Verläufe haben wir Anhaltspunkte<br />
aus unserem Material. Die Kosten<br />
dafür tragen jeweils die Klienten. Die fachlichen<br />
Akteure verfügen allerdings notfalls über<br />
ein einfaches Erklärungsmuster, um sich bzw.<br />
ihre Organisation zu entlasten: Sie führen das<br />
Scheitern jugendamtlicher Interventionen auf<br />
die „Unfähigkeit“ der Klienten zurück und<br />
lokalisieren die Verantwortlichkeit für das<br />
Scheitern außerhalb ihres Einflussbereichs.<br />
(5) Der Konflikt zwischen reflexivem Selbstbild<br />
und sozialen Institutionen und Praktiken führt<br />
zur Entfremdung und/oder zum Zerfall der<br />
Institutionen. In den von uns beobachteten<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Jugendämtern unabhängig von der Ost-West-<br />
Differenzierung gibt es eine Reihe von Mitarbeitern,<br />
die den hier zu behandelnden Konflikt<br />
„aussitzen“. Dies wird vor allem dadurch<br />
möglich, dass die Einführung einer KJHGkompatiblen<br />
institutionellen Praxis bisher nur<br />
mehr oder weniger fragmentarisch gelungen<br />
ist. Ein Beispiel dafür ist, dass der Hilfeplan<br />
als das Kernstück der KJHG-Reform außer in<br />
Modellprojekten ausgewählter Jugendämter<br />
als Instrument der Betroffenenbeteiligung<br />
kaum umgesetzt ist. In dem Maße, in dem es<br />
in der Führung und auf der operativen Ebene<br />
Mitarbeiter gibt, die versuchen, überkommene<br />
institutionelle Praktiken zu tolerieren, werden<br />
die „Aussitzer“ nicht zu einem Problem.<br />
Sicherheit gibt auch der Umstand, dass Jugendämter<br />
nicht einfach geschlossen werden<br />
können, und schließlich steht die Kinder- und<br />
Jugendhilfe nicht im Zentrum der Kreispolitik.<br />
Ein Zerfall der Institution ist daher nicht<br />
zu erwarten, was schon daran zu erkennen<br />
ist, dass überregional in die Schlagzeilen gekommene<br />
und durch Gutachten im Detail in<br />
ihrer Inkompetenz bloßgestellte Jugendämter<br />
immer noch bestehen (Bremen), und, wie erwähnt:<br />
„Bremen ist überall“. Anders ist der<br />
Fall der Wirtschaft, in der der Markt über<br />
den Bestand eines Unternehmens entscheidet<br />
(oder aber die Subventionspolitik, wie z. B. in<br />
der Landwirtschaft).<br />
Der ASD im untersuchten Thüringer<br />
Jugendamt wird in Zukunft ein interessanter<br />
Fall sein, weil wir es hier Seite 39<br />
– wie das Köchinnen-Beispiel zeigt<br />
– mit zentralen Akteurinnen zu tun<br />
haben, die sich darum bemühen, gesellschaftliche<br />
Leitbilder, Praktiken sozialer Institutionen<br />
und reflexive Selbstbilder sowie Habitus
Wandel in Ereignissen<br />
in Einklang zu bringen und es ihnen zudem<br />
immer mehr gelingt, den Mitarbeiterstamm<br />
entsprechend umzubauen. Ob diese Strategie<br />
auch nach Ausscheiden der wesentlichen<br />
Akteurinnen des Wandels (vgl. Anmerkung 5)<br />
weiter trägt - anders formuliert: ob es bereits<br />
gelungen ist, den Wandel auf der Mitarbeiter-<br />
Ebene zu verankern - wird die Zukunft zeigen.<br />
(6) Unvereinbarkeit der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung<br />
mit reflexiven Selbstbildern führt<br />
zu politischem Terror. Diesen Fall konnten wir<br />
bisher in unserem Projekt nicht beobachten.<br />
Gedankenexperimentell müsste es sich um<br />
einen Landkreis handeln, bei dem alle Akteure<br />
offensiv dem DDR-Denken verhaftet sind<br />
und den Aufbau eines institutionellen Gefüges<br />
der Kinder- und Jugendhilfe systematisch<br />
hintertreiben.<br />
Als Beispiel außerhalb unseres Datenkorpus<br />
können wir den Fall Görgülü vs. Jugendamt<br />
Weißenfels, Sachsen-Anhalt, anführen. „Der<br />
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />
(EGMR) rügte am 26. Februar 2004 den<br />
Eingriff der Behörden in das Familienleben<br />
und sprach Herrn Görgülü Schadensersatz<br />
zu“ (DIJuF S. 4). Das Naumburger Tagblatt<br />
spricht am 14.07.2004 von „Staatlichem<br />
Kindesraub - Naumburger Gericht schert<br />
sich nicht um Straßburger Urteil“. Derzeit<br />
(7/2007) unternimmt die fragliche<br />
Pflegefamilie, unterstützt vom Ver-<br />
Seite 40 band der Pflegefamilien (PFAD),<br />
neue Versuche, dem Vater den Kontakt<br />
zu seinem Kind zu verwehren.<br />
Es wäre die Aufgabe des Jugendamts gewesen,<br />
diese Pflegefamilie, deren Ziel die Adoption<br />
des Kindes war, von ihrer Aufgabe zu entbin-<br />
den und eine Pflegefamilie zu beauftragen, die<br />
bereit ist, das Pflegeverhältnis gesetzeskonform<br />
zu gestalten.<br />
Zu politischem Terror würde der Fall Görgülü<br />
führen, wenn sich ein offener Kampf um die<br />
gesetzlichen Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens<br />
außerhalb der parlamentarischen<br />
Demokratie entwickeln würde, anders gesprochen:<br />
wenn sich Gruppen organisieren<br />
würden, die dem KJHG den Kampf unter<br />
Inanspruchnahme außergesetzlicher Gewalt<br />
unter Berufung auf übergesetzlichen Notstand<br />
ansagen. 35 Die Kinder- und Jugendhilfe dürfte<br />
jedoch kaum ein geeignetes Handlungsfeld für<br />
solche Aktionen bieten. Zynisch und pointiert<br />
gesprochen: Die Kinder- und Jugendhilfe in<br />
Ostdeutschland ist auf der praktischen Ebene<br />
noch so sehr vom Geist der DDR-Fürsorge<br />
geprägt, die Vertreterinnen und Vertreter<br />
BRD-kompatibler Selbstbeschreibungen sind<br />
noch derart in der Verteidigung aus einer<br />
Minderheitenposition heraus, dass es keinen<br />
Handlungsbedarf für derlei Aktionen gibt.<br />
Wir kommen zum Schluss: Im bisher vorliegenden<br />
BMC&R sind die vier Ebenen<br />
durch unterschiedliche Geschwindigkeiten<br />
gekennzeichnet. Während sich die Ebene der<br />
reflexiven Leitbilder sowohl auf der Makro- als<br />
auch auf der Mikroebene relativ rasch entwickeln<br />
kann, unterliegt die Ebene der institutionellen<br />
Praktiken bzw. der Habitusformierung<br />
auf angemessener kultureller Grundlage einem<br />
Prozesscharakter der langen Dauer, sowohl im<br />
Bereich alltäglichen wie auch professionellen<br />
Handelns. In dieser Dissonanz sehen wir die<br />
größten Einflussfaktoren für die Gestaltung<br />
von Prozessen von challenge & response. Ihr<br />
gilt unser vorrangiges Interesse bei der Analyse
von Veränderungen der Kinder- und Jugendhilfe<br />
in Ost und West nach 1990.<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Seite 41
Seite 42<br />
Endnoten<br />
Wandel in Ereignissen<br />
1 An diesem Beitrag haben Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, Anna Engelstädter,<br />
Tobias Franzheld, Dorett Funcke und Anja Schierbaum<br />
mitgearbeitet. Für Anregungen danken wir Hartmut Rosa und<br />
Steffen Schmidt.<br />
2 Diese ersten beiden Kapitel basieren auf meinem Beitrag im<br />
Handbook of Grounded Theory (2007) und wurden für die<br />
Zwecke dieses Aufsatzes aktualisiert.<br />
3 Wer Strauss nur über die deutsche Rezeption der Grounded<br />
Theory kennt, wird sich über diese Seite der Grounded Theory<br />
wundern. Vgl. die Kontroverse Strübing/Hildenbrand, Sozialer<br />
Sinn 2006.<br />
4 Demzufolge ist ein ethnographischer Zugang mit Beobachtungen<br />
von Handlungsverläufen und Rekonstruktion von<br />
Handlungsverläufen anhand von Dokumenten die Methode<br />
der Wahl. Die exklusive Verwendung von Material, das auf<br />
Fragebögen gestützt ist, halten wir für problematisch, weil dadurch<br />
die Analyse von Handeln durch die Analyse von Reden<br />
über Handeln ersetzt wird (Cicourel 1970). Diese Daten, als<br />
Gaben („data donation“) empfangen, sind mit der entsprechenden<br />
Vorsicht zu behandeln, zumal, wenn die – strukturell<br />
verpflichtende – Gegengabe konzeptuell bei der Empfängerseite<br />
nicht vorgesehen ist.<br />
5 Der Fokus auf Nichtfachlichkeit war allerdings keine Spezialität<br />
der Kinder- und Jugendhilfe in der DDR. Zu erinnern sei<br />
an die Neulehrer. Eindrückliche Belege für das Laienhandeln in<br />
der Rechtsprechung gibt die Studie eines vollständigen Gerichtsarchivs<br />
einer DDR-Kleinstadt: „Wenn ich die Akten richtig lese,<br />
sehen die Lüritzer Richter dieser Jahre (der Anfangsjahre der<br />
DDR, B. H.) sich selbst nicht in erster Linie als Juristen (die<br />
sie in begrenztem Maße auch nur sind), sondern als Handlanger<br />
einer neuen Zeit“ (Markovits 2006, S. 33). Familienrichter<br />
„tendieren dazu, die Klienten der Justiz nicht als autonome Bürger<br />
zu behandeln, sondern als Patienten“ (Markovits<br />
2006, S. 106).<br />
6 Die Amtsleiterin wird Mitte 2007 ihre Tätigkeit<br />
aufgeben und eine Professur für Sozialarbeit antreten.<br />
Ihrem eigenen Bekunden zufolge ist die Schlacht um die<br />
Bildung neuer Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe<br />
im fraglichen Landkreis noch nicht geschlagen; deren weiterer<br />
Gang hängt von politischen Entwicklungen in den kommenden<br />
Jahren ab, insbesondere von der Wiederwahl der derzeit amtierenden<br />
Landrätin, die aufgrund der gegebenen politischen Kon-<br />
stellationen fraglich ist. Auch hier ist die Personalratsvorsitzende<br />
wieder beteiligt, sie wirft der Landrätin Führungsschwäche vor<br />
und arbeitet nach Ansicht der Amtsleiterin zusammen mit der<br />
lokalen CDU auf deren Abwahl hin. Diese Koalition deutet eher<br />
auf eine Gefährdung der im Jugendamt seit der Amtszeit der<br />
Jugendamtsleiterin erzielten Fortschritte hin.<br />
7 Professionalisierung geht in der Akademisierung nicht auf,<br />
jedoch gehört letztere zwingend dazu. Vgl. für eine ausführliche<br />
Diskussion der Professionalisierungstheorie in Bezug auf beraterische<br />
und therapeutische Handlungsfelder Welter-Enderlin &<br />
Hildenbrand (2004), Kap. 1.<br />
8 Zitiert nach der amtlichen Übersetzung, hier: www.tdh.de/<br />
content/themen/schwerpunkte/kinderrechte/kinderrechtskonvention.htm#a1<br />
9 Vgl. Fußnote 8.<br />
10 Hier sei an Srubars Arbeit über den vormodernen Charakter<br />
des real existierenden Sozialismus erinnert. Vgl. Srubar (1991).<br />
11 Der Jugendhilfeausschuss I im Stadtbezirk Nord in Magdeburg<br />
setzte sich 1980 zusammen aus einer Fürsorgerin, einer Lehrerin<br />
und einem Lehrer, zugeordnet waren in einem spezifischen<br />
Fall: eine weitere Lehrerin, der FDJ-Sekretär der Klasse, die<br />
Vertreterin des Betriebs der Mutter, ein Schulpsychologe und eine<br />
Jugendfürsorgerin. Diese Gruppe legte autoritär eine spezifische<br />
Hilfe (meist: Heimeinweisung) fest (Quelle: Aktenauszug, aus<br />
Anonymisierungsgründen nicht weiter belegt).<br />
12 In Großbritannien wurde dieser Strukturfehler jüngst wiederholt,<br />
als die Kinder- und Jugendhilfe vom Department of<br />
Health in das Department of Education verlagert wurde. Ein<br />
genauer Kenner der Szene, Roger Bullick von der Dartington<br />
Social Research Unit zur Erforschung kindlicher Entwicklung im<br />
Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, beschreibt den Unterschied<br />
so: Im Gesundheitswesen bestehe eine grundsätzliche Sympathie<br />
für Kinder in Not, während sich das Erziehungswesen vor allem<br />
mit den Schülern an der Spitze der Leistungshierarchie befasse<br />
(pers. Mitteilung).<br />
13 Schütze nennt dies „besondere Schwierigkeiten“ (Schütze<br />
1996). Damit ist der Weg in einen Erleidensdiskurs vorgezeichnet,<br />
anders gesprochen: Die Profession wird in eine Opferrolle<br />
gedrängt. Uns interessiert dem gegenüber, wie die Sozialarbeit,<br />
ähnlich wie die Medizin, die mitunter ebenfalls in Zwangskontexten<br />
(Forensik, Gesundheitsamt) tätig werden muss (Brücher<br />
1988), sich zwischen Hilfe und Kontrolle fachlich angemessen zu<br />
organisieren.
14 Zu einer anderen Einschätzung kommt Ute Backer (2007, S.<br />
283ff.), die auf finanzielle Kürzungen im Bereich der Kinder-<br />
und Jugendhilfe des Landes Bremen verweist.<br />
15 Dr. Peter Voll, Hochschule für Soziale Arbeit Luzern, teilt uns<br />
mit, dass in der Schweiz ein entsprechender Unterschied zwischen<br />
dem deutschsprachigen Landesteil und dem französischsprachigen<br />
Landesteil besteht. Dem wird nach Erscheinen seines<br />
umfassenden Untersuchungsberichts über den Kinderschutz für<br />
den Schweizer Nationalfonds (NRP 52, Childhood, Youth and<br />
Intergenerational Relationships) nachzugehen sein. Derzeit liegt<br />
uns nur eine nicht zitierfähige Kurzfassung vor.<br />
16 Die „Organe“ und Einrichtungen der Jugendhilfe haben<br />
die Ansprüche zu erfüllen, „elternlosen, familiengelösten sowie<br />
gefährdeten Kindern und Jugendlichen günstige Bedingungen<br />
für ihre bestmögliche Persönlichkeitsentwicklung zu sichern“<br />
(Rehwald 1989, S. 81).<br />
17 Als pädagogisches Ziel galt die Ausarbeitung eines „individuellen<br />
Erziehungsprogramms“ für jeden Einzelfall, dass von<br />
den Mitgliedern der Jugendhilfekommissionen zu erarbeiten<br />
war („Richtlinie Nr.2 des Zentralen Jugendhilfeausschusses<br />
zur Sicherung einer zielstrebigen und kontinuierlichen Entscheidungstätigkeit<br />
der Jugendhilfeorgane in den Fällen des §50<br />
FGB auf der Grundlage individueller Erziehungsprogramme“,<br />
vgl. Mannschatz 1969, S. 274f.; Jugendhilfe 1985, S. 36f.).<br />
Das individuelle Erziehungsprogramm „steht nicht neben der<br />
Entscheidungstätigkeit, sondern dient ihr als Hauptsteuerungsinstrument.<br />
(…) Das individuelle Erziehungsprogramm<br />
umfasst die pädagogische Zielstellung für den Einzelfall und<br />
den Komplex von Festlegungen und staatlichen Maßnahmen zu<br />
ihrer Verwirklichung. Es ist kollektiv zu erarbeiten, entsprechend<br />
den sich verändernden Bedingungen fortzuschreiben, in seiner<br />
Durchführung zu verfolgen und zu kontrollieren“ (Mannschatz<br />
1969, S. 269).<br />
18 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die Jugendhelfer, werden<br />
als Bürger beschrieben, „die sich für diese Tätigkeit interessierten<br />
und bereit waren, sich dafür zu engagieren. Sie erhielten keine<br />
Vergütung und übten diese Funktion (…) über viele Jahre aus“<br />
(Mannschatz 2003, S. 424). Bezeichnend ist für Jugendhelfer,<br />
die von den ausgebildeten Jugendfürsorgern angeleitet wurden,<br />
dass ihre Kompetenz in der Jugendhilfearbeit der DDR als Laienkompetenz<br />
und Laienwissen gründet.<br />
19 Aufgaben, Zuständigkeit und Arbeitsweise der Jugendhilfeorgane<br />
wurden ausschließlich durch die Jugendhilfeverordnung<br />
( JHVO) geregelt: Erziehungshilfe, Vormundschaft und der<br />
Rechtsschutz für Kinder und Jugendliche waren in der JHVO als<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Aufgabengebiete der Jugendhilfe formuliert. Erziehungshilfen<br />
konnten durch den Jugendhilfeausschuss angeordnet werden<br />
(Maßnahmen zur Sicherung der Erziehung oder der Gesundheit<br />
Minderjähriger §23 JHVO/Jugendhilfe 1985, S. 19). Um Kindern<br />
und Jugendlichen in problematischen Lebenssituationen zu<br />
helfen und diese zu unterstützen, konnten durch Beschlüsse des<br />
Jugendhilfeausschusses den Erziehungsberechtigten bestimmte<br />
Pflichten auferlegt werden (§§23, 27 I JHVO), den Minderjährigen<br />
Weisungen erteilt werden, die Erziehungsaufsicht<br />
für den Minderjährigen arrangiert werden (§24 JHVO), für<br />
ein Kind bzw. Jugendlichen Familienerziehung (§25 JHVO)<br />
in einer anderen Familie oder Heimerziehung (§26 JHVO)<br />
angeordnet werden.<br />
20 Die Jugendhilfekommission war ein „Organ“ der Jugendhilfe<br />
in den Gemeinden, kreisangehörigen Städten und den Wohngebieten<br />
der Stadtkreise und Stadtbezirke (§11 JHVO), deren<br />
Zuständigkeit durch §12 JHVO und Maßnahmen durch §13<br />
JHVO formuliert und rechtlich festgeschrieben wurde (vgl.<br />
Jugendhilfe 1985:16).<br />
21 Im Unterschied dazu herrschen im nördlichen bzw. nordöstlichen<br />
Teil Deutschlands (von Ostholstein bis Vorpommern, vgl.<br />
Landkarte in Bohler & Hildenbrand 2006) gutslandschaftliche<br />
Strukturen vor. Dort sind die Landarbeiter, Pächter etc. in ihrer<br />
Lebensplanung von der Gutsherrschaft abhängig. Dies fördert<br />
die Entwicklung mentaler Strukturen, die geprägt sind durch<br />
die Erfahrung von Heteronomie, wenn es darum geht, die<br />
Verantwortung für das eigene Leben zu entwickeln.<br />
22 In der DDR waren im Schnitt 1 % der unter 18jährigen<br />
Klienten der Kinder- und Jugendhilfe (Seidenstücker 1990).<br />
Wir teilen diese Zahl mit, ohne von ihr überzeugt zu sein, denn<br />
wir kennen nicht die Vorgaben des Berichtswesens in der Nische<br />
der DDR-Kinder- und Jugendhilfe. Von unserem Vergleich<br />
handausgezählter Daten mit den Daten der offiziellen Jugendhilfestatistik<br />
der Bundesrepublik Deutschland (Dortmunder<br />
Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik) wissen wir,<br />
dass auch ausgeklügelte Systeme fehlerbehaftet sein können.<br />
23 “Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur<br />
‘historischen Situation’ gehörigen ‚Tatsachen’<br />
(‚ontologisches’ Wissen), anderseits (…) Wissen<br />
von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, wie<br />
Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren<br />
pflegen (‚nomologisches Wissen’)“, vgl. Weber 1988,<br />
S. 276f.<br />
24 Alle vier der von uns untersuchten leitenden Akteure der<br />
Kinder- und Jugendhilfe weisen in ihrer Herkunftsgeschichte<br />
eine Selbständigkeitstradition auf, die von Frauen (!) aufrechterhalten<br />
wurde.<br />
Seite 43
Seite 44<br />
Wandel in Ereignissen<br />
25 Es ist undenkbar, dass die Stelle eines Amtsarztes nach dem<br />
Muster: Jeder, der schon einmal einen grippalen Infekt erfolgreich<br />
behandelt hat, ist in der Lage, eine Operation am offenen Herzen<br />
durchzuführen, besetzt würde. Die sich hier anschließende Frage<br />
nach dem Verhältnis der „alten“ Profession Medizin zu der „neuen“<br />
(schwachen, weichen, Semi-, bescheidenen, oder wie immer<br />
die Etikette lautet, die Professionalisierungsforscher für die<br />
Sozialarbeit in der Vergangenheit erfunden haben (Nagel 1997,<br />
Schütze 1996, Rabe-Kleberg 1996), soll hier nicht behandelt<br />
werden. Wir gehen insgesamt davon aus, dass die Sozialarbeit in<br />
der Kinder- und Jugendhilfe professionalisierungsbedürftig und<br />
zugleich professionalisierungsfähig ist (vgl. zu dieser Unterscheidung<br />
Oevermann 1996).<br />
26 Folgen wir dem Juristen Salgo, dann ist die Irrelevanz von<br />
Gesetzen für die Institutionenbildung und für das Handeln in<br />
deutschen Jugendämtern der Regelfall. Vgl. das Zitat von Dorett<br />
Funcke am Beginn ihres Beitrags in diesem Band.<br />
27 Vgl. dazu die Graphik in Bohler (2006, S. 15).<br />
28 Wir verfügen aus dem Bereich der Drogen- und Psychosentherapie<br />
über mehrjährige Verlaufsprotokolle, die solche Prozesse<br />
rekonstruierbar machen. Vgl. Equal-Projekt des Europäischen<br />
Sozialfonds „Verbesserung berufsfördernder Integration durch<br />
Information und Kommunikation“, Leiter: Bruno Hildenbrand.<br />
29 Die Ergebnisse dieses Vergleichs werden wir an anderer Stelle<br />
publizieren. Erste Hinweise finden sich in den Beiträgen von<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler und Dorett Funcke in diesem Band.<br />
30 Hier geht es um den Zentralwert Freiheit. Meinungsforscher<br />
beobachten in den letzten Jahren, dass Gleichheit, die in der<br />
ehemaligen DDR immer höher bewertet wurde als Freiheit, nun<br />
auch in der alten Bundesrepublik die Freiheit überholt. Bei der<br />
Entscheidung zwischen „möglichst wenig Eingriffe des Staates“<br />
und „möglichst große soziale Gerechtigkeit“ plädierten 1990 65<br />
% der Westdeutschen und 46 % der Ostdeutschen für Freiheit, 22<br />
% bzw. 42 % für Gleichheit. Im Jahr 2006 plädierten 43 % der<br />
Westdeutschen und 31 % der Ostdeutschen für Freiheit<br />
und 48 % bzw. 59 % für Gleichheit. Die Einheit<br />
kommt voran, aber in anderer Richtung, als viele in<br />
Ost und West sich das 1989 vorgestellt haben. Quelle:<br />
Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen.<br />
31 Wir untersuchen derzeit unter Bezug auf das Material von<br />
C6, ob folgende Gleichungen stimmen: opportunitätsreiche Regionen<br />
= Anerben- und Gewerbelandschaften; opportunitätsarme<br />
Regionen = Gutslandschaften. Vgl. dazu den Beitrag von Karl<br />
<strong>Friedrich</strong> Bohler in diesem Band.<br />
32 Als Beispiele hierfür dienen uns Äußerungen altgedienter<br />
Fürsorgerinnen bzw. heute Sozialarbeiterinnen im Rahmen<br />
von Interviews zum § 249 StGB der DDR, dem sog. Asozialenparagraphen,<br />
in welchen über dessen Vollzug neutral<br />
berichtet, der Paragraph selber aber nicht in den Kontext der<br />
heutigen Rechtsauffassung gestellt wird. In der Fassung vom<br />
28. Juni 1979 lautet dieser Paragraph: „Beeinträchtigung der<br />
öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten.<br />
(1) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder<br />
die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem<br />
er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl<br />
er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung,<br />
Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.<br />
(2) Ebenso wird bestraft, wer der Prostitution nachgeht oder<br />
in sonstiger Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch<br />
eine asoziale Lebensweise beeinträchtigt. (3) In leichteren Fällen<br />
kann von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
abgesehen und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht<br />
erkannt werden. (4) 1988 aufgehoben. (5) Zusätzlich kann auf<br />
Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht<br />
erkannt werden.“ Weiteres Beispiel: der ebenso<br />
unkommentiert bleibende Umgang mit Kindern nach gelungener<br />
oder gescheiterter „Republikflucht“. Der einzige kritische Kommentar<br />
in diesen Interviews bezieht sich auf das KJHG(!).<br />
33 Als Fazit ihrer empirischen Studie über die Folgen der Kindschaftsrechtsreform<br />
für das jugendamtliche Handeln stellt Nina<br />
Oelkers fest: „Der Zuwachs an Freiheit und Autonomie (…)<br />
erweist sich als fremdbestimmte oder erzwungene Autonomie<br />
(…) Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit<br />
wird vorausgesetzt“ (Oelkers 2007, S. 409) (Hervorh. i. O.).<br />
Was in dieser Studie fehlt, ist ein angemessenes, d. h. dialektisches<br />
Konzept „beschädigter Autonomie“, in welchem die Selbstbestimmung<br />
nicht einfach als Gegenstück zur Fremdbestimmung<br />
angesetzt wird.<br />
34 Soziologen neigen zu solchen 1:1.Relationen, weil ihnen<br />
das klinische Wissen und damit die Fähigkeit der umfassenden<br />
Einordnung eines Krankheitsgeschehens in eine psychische und<br />
soziale Organisation einer Biographie fehlt. Anders gesprochen:<br />
Fernab sozialer Wirklichkeiten lassen sich leicht weitreichende<br />
Diagnosen stellen, was aber mangels Patient zum Glück folgenlos<br />
bleibt.
35 Der ehemalige Marburger Oberbürgermeisterkandidat der<br />
PDS/Marburger Linke, Pit Metz, hat jüngst Vorabmeldungen<br />
über eine mögliche gerichtliche Einschätzung in einem Verfahren<br />
wegen der Straßenblockade einiger Marburger Studenten als<br />
Protest gegen Studiengebühren wie folgt kommentiert: „Gefängnisstrafe<br />
für Protestierer? Das kann doch nicht wahr sein, dass der<br />
zivile Ungehorsam gegen einen offensichtlichen Verfassungsbruch<br />
so geahndet wird“ (OP 27.7.2007). Dies wäre ein Beispiel für<br />
ein mögliches Konfliktfeld, das hier relevant sein könnte, wenn<br />
auch ein harmloses. Aufschlussreich daran ist die Bereitschaft,<br />
das hohe Gut des staatlichen Gewaltmonopols je nach politischer<br />
Opportunität zur Disposition zu stellen.<br />
Bruno Hildenbrand<br />
Seite 45
Seite 46<br />
Beitrag 2<br />
So z I o g r A P h I S C h e AN A ly S e D e r<br />
S o z I A l e N eN t w I C k l u N g IN D e N<br />
u N t e r S u C h t e N kr e I S g e B I e t e N<br />
he I D e N h e I M, oS t h o l S t e I N, rü g e N<br />
u N D SA A l F e l D-ru D o l S tA D t<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Soziographische Analyse<br />
1. üB e r S I C h t<br />
2. DIe V I e r kr e I S g e B I e t e IN S o z I A l S t r u k-<br />
t u r e l l e r u N D M e N tA l I t ä t S g e S C h I C h t l I C h e r<br />
SI C h t:<br />
Fo l g e N D e r P o l I t I S C h e N Sy S t e M D I F F e r e N z<br />
V o N 1945 B I S 1990<br />
ko N t r A S t I e r u N g z w e I e r ty P e N V o N lA N D-<br />
g e B I e t e N<br />
3. Au S w I r k u N g e N V o N r e g I o N A l e N oPPort<br />
u N I t ä t S S t r u k t u r e N A u F D I e ju g e N D h I l F e:<br />
re g I o N A l e re S S o u r C e N l A g e N, FA M I l I e N-<br />
F o r M e N u N D er z I e h u N g S S t I l e<br />
Au S w I r k u N g e N A u F D e N Be D A r F A N S o z I-<br />
A l e N hI l F e N IN D e N V I e r uN t e r S u C h u N g S-<br />
g e B I e t e N<br />
4. er g e B N I S S e D e r Be F r A g u N g V o N Pr o j e k t<br />
C 6 u N D I h r e IN t e r P r e tAt I o N IM rA h M e N<br />
D e S er k e N N t N I S I N t e r e S S e S V o N C 3<br />
1. üB e r S I C h t<br />
Die soziologische Analyse, die sich<br />
methodisch an der Grounded Theory<br />
und der Bedingungsmatrix von<br />
A. Strauss orientiert, beginnt mit der Untersuchung<br />
einer social world, wie Bruno Hildenbrand<br />
oben ausgeführt hat. Die soziographischen<br />
Darstellungen des folgenden Kapitels<br />
haben in diesem Kontext deshalb den Sinn, den<br />
sozialräumlichen Bedingungsrahmen professionellen<br />
Handelns in der Jugendhilfe unserer<br />
Untersuchungsgebiete in einigen wichtigen<br />
Dimensionen zu explizieren. Es geht also um<br />
die sozialen Einbettungsverhältnisse 1 dieses<br />
Handlungskreises, wie sie insbesondere in den
ersten drei Ebenen unserer konditionellen Matrix<br />
thematisiert werden – d.h. der internationalen<br />
Systemebene, der Ebene der nationalen<br />
Vergesellschaftung sowie der regionalen und<br />
lokalen Charakteristika der Sozialwelt. Die<br />
Herausforderungen des Systemumbruchs in<br />
Ostdeutschland und die Herausforderungen<br />
des KJHG für die Jugendhilfe im wiedervereinigten<br />
Deutschland werfen zu allererst die<br />
Frage auf nach den sozialökonomischen und<br />
kulturellen Ressourcen, die in den einzelnen<br />
untersuchten Regionen für die Bewältigung<br />
dieser challenges aktiviert werden können.<br />
Um dieser Frage nach sozialen Ressourcen<br />
nachgehen zu können, so unsere These, ist<br />
zum einen die Rekonstruktion idealtypischer<br />
partikularweltlicher Kollektivbiographien mit<br />
ihren sozialhistorischen Verlaufskurven und<br />
zum anderen der Nachweis milieuspezifischer<br />
Konstitutionsbedingungen der sozialen Identitätsmuster<br />
und Handlungstypik notwendig<br />
(Bohler 2004). Denn nur mit Bezug auf die<br />
Dimensionen der sozialen Konstitution und<br />
Handlungsmotivierung lassen sich die Krisen<br />
und Problemlösungen in den konkreten Fällen<br />
der Kinder- und Jugendhilfe angemessen – und<br />
nicht in einem schlechten Sinne abstrakt – interpretieren<br />
(Schumann 2004). Für die Frage<br />
nach den Beziehungen zwischen strukturellen<br />
Ausgangslagen der Lebensbedingungen und<br />
konkreten subjektiven Lebenslagen gewinnt<br />
schließlich die vermittelnde Ebene der regionalen<br />
und milieuspezifischen Lebenswelten<br />
eine entscheidende Bedeutung (Vester et<br />
al. 2001). Sie wirkt gleichsam als Filter oder<br />
Verstärker bei den Auswirkungen struktureller<br />
Lebensbedingungen auf die Lebenspraxis einzelner<br />
Akteure oder Akteursgruppen, die vor<br />
allem auf der Ebene 4 der Bedingungsmatrix<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
analysiert werden.<br />
Damit treten für unseren soziographischen<br />
Untersuchungsteil drei Ebenen der sozialen<br />
Praxis bzw. unserer konditionellen Matrix in<br />
den Vordergrund:<br />
• Die Ebene der regionalen Teilhabe an der<br />
Abfolge der drei Sozialstrukturformationen:<br />
Agrar-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft<br />
sowie des Sonderfalls der politischen<br />
Teilung von 1945 bis 1990 (Ebene 7 und 8 der<br />
Bedingungsmatrix);<br />
• die Ebene der Milieus mit ihren Wertemustern,<br />
dem jeweiligen kulturellen Anregungspotential<br />
und dem durchschnittlichen sozialen<br />
und ökonomischen Kapital (Ebene 6 der<br />
konditionellen Matrix);<br />
• und auf der individuellen Ebene mit Bezug<br />
auf die sozialen und demographischen<br />
Charakteristika die Frage nach dem Maß<br />
an lebens- und arbeitsweltlicher Integration<br />
(Ebene 3 und 6 der Bedingungsmatrix).<br />
Angesichts dieser Vorgaben ist es eine erste<br />
Aufgabe unseres Kreisvergleichs, die<br />
sozialstrukturellen/-historischen und mentalitätsgeschichtlichen<br />
Daten mit Blick auf<br />
die regionalen Konstitutionsbedingungen der<br />
(potentiellen) Klienten von Jugendhilfe hin<br />
zusammenzustellen und zu analysieren. Wir<br />
fragen dann im Weiteren, mit welchen Deutungsformeln<br />
und welcher Handlungstypik<br />
üblicherweise im Alltag<br />
soziale Probleme wahrgenommen Seite 47<br />
und anerkannt werden bzw. mit welchem<br />
Arsenal an Hilfemöglichkeiten<br />
die jeweilige regionale Lebenswelt auf solche<br />
Schwierigkeiten reagiert.
Soziographische Analyse<br />
2. DIe V I e r kr e I S g e B I e t e IN S o z I A l S t r u kt<br />
u r e l l e r u N D M e N tA l I t ä t S g e S C h I C h t-<br />
l I C h e r SI C h t<br />
Wir werden unter dieser Perspektive im Folgenden<br />
zunächst den kollektivbiographischen<br />
Durchschnitts- oder Gesamthabitus (so die<br />
Formulierungen bei Max Weber) in den von<br />
uns untersuchten ländlichen Kreisgebieten<br />
rekonstruieren, wie er vom Lebensduktus<br />
der historischen Agrarverfassung und einer<br />
möglichen gewerblichen Entwicklung in der<br />
jeweiligen Region hervorgebracht und geprägt<br />
wird. Da sich die regionale Sozialwelt gemäß<br />
des jeweils herrschenden Systems sozialer Ungleichheit<br />
ausdifferenziert, können bestimmte<br />
wiederkehrende Muster an Lebenschancen<br />
festgestellt werden, die einen im engeren<br />
Sinne milieutypischen Habitus hervorbringen.<br />
Mit der Sinnlogik seiner Deutungs- und Wertemuster<br />
ist dieser ein zentraler Bestimmungsfaktor<br />
der Handlungsorientierung.<br />
Um die habitualisierte milieuspezifische<br />
Handlungsorientierung zu erschließen, werden<br />
wir auf die prägenden Lebensbedingungen in<br />
den vier Kreisgebieten rekurrieren. Einen ersten<br />
Aufschluss ergeben hierbei die Fragen:<br />
• über die Zugehörigkeit zu den Grundtypen<br />
der ländlichen Sozial- und regionalen<br />
Agrarverfassung (bäuerliche Anerbengebiete,<br />
Realteilungsgebiete/ländliche Gewerbelandschaften<br />
und (ehemalige)<br />
Seite 48 Güterprovinzen);<br />
• über die Schichtungssysteme, ob sie<br />
der Logik der besitzständischen Abstufung<br />
in bäuerlichen Gebieten, der individuellen<br />
Lebenslage in Realteilungsgebieten und<br />
nichtindustrialisierten Gewerbelandschaften<br />
oder der Klassenschichtung in Gutsbezirken<br />
und Industrieregionen folgen;<br />
• über die typischen Erwerbsstellen und<br />
Formen der Unterschicht: in bäuerlichen Regionen<br />
insbesondere Familienbetriebe mit Gesinde<br />
und Tagelöhnern/Dorfhandwerkern als<br />
Ergänzung; in den Realteilungsgebieten und<br />
Gewerbelandschaften Erwerbskombinationen<br />
aus landwirtschaftlichen Subsistenzbetrieben<br />
(mehr in agrarischen Realteilungsgebieten)<br />
und gewerblicher Arbeit (mehr in Gewerbelandschaften:<br />
dort entweder selbständig in<br />
Heimarbeit oder unselbständig in Fabriken<br />
beschäftigt); und in Güterprovinzen unselbständige<br />
Formen der Landarbeit mit Deputatstellen<br />
und Saisonarbeitern.<br />
Folgen der politischen Systemdifferenz von<br />
1945 bis 1990<br />
Mit dieser Ausrichtung der Untersuchung<br />
bewegen wir uns zumeist auf den Ebenen 3 bis<br />
6 der Bedingungsmatrix. Allerdings kommen<br />
wir nicht umhin, die Ebenen 7 und 8 kurz zu<br />
beleuchten, da die beiden deutschen Staaten<br />
auf Grund der internationalen Ordnung der<br />
politischen Systeme in der Phase des Kalten<br />
Krieges von 1945 bis 1990 unterschiedlichen,<br />
z.T. gegensätzlichen politischen und ökonomischen<br />
Bedingungen unterworfen waren.<br />
Während in der Bundesrepublik nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg die Marktwirtschaft wieder<br />
zur Geltung kam, wurden die Betriebe in der<br />
DDR bis 1972 zum größten Teil kollektiviert,<br />
während also in Westdeutschland das Bürgertum<br />
seine wirtschaftliche Basis behielt, verlor<br />
die DDR mit der Enteignung und der Abwanderung<br />
dieser Bevölkerungsschicht für ihre<br />
Entwicklung wichtige Träger von Humankapital.<br />
So wurde spätestens seit den 1970er Jahren
die Sozialstruktur der DDR durch eine relativ<br />
homogene Gesellschaft der Staatsangestellten,<br />
der unmittelbar Abhängigen und ökonomisch<br />
Unselbständigen geprägt. Während also in der<br />
alten Bundesrepublik der „organische Entwicklungspfad“<br />
moderner Gesellschaften in Gestalt<br />
eines fortschreitenden Differenzierungs- und<br />
Individualisierungsprozesses beschritten wurde,<br />
fand in der DDR „ein machtpolitisch durchgesetzter<br />
sozialer Entdifferenzierungsprozess<br />
statt, der die ökonomischen, wissenschaftlichen,<br />
rechtlichen oder kulturellen Subsysteme ihrer<br />
Eigenständigkeit beraubte, ihre spezifischen<br />
Rationalitätskriterien außer Kraft setzte oder<br />
politisch-ideologisch überlagerte“ (Meuschel<br />
1992, S. 10). Dass in diesem Kontext die Gesellschaft<br />
und nicht der Staat „abstarb“, wie es<br />
abschließend an der zitierten Stelle heißt, zeigt<br />
sich in der Jugendhilfe paradigmatisch am<br />
Fehlen der freien, zivilgesellschaftlichen Träger<br />
und Akteure der Jugendwohlfahrt.<br />
Brachte schließlich die „Kulturrevolution“ von<br />
1968 in Westdeutschland einen politischen<br />
Demokratisierungs- und zivilgesellschaftlichen<br />
Entwicklungsschub hervor, so reproduzierte<br />
sich in Ostdeutschland trotz oder gerade wegen<br />
der „penetranten Politik der Mobilisierung der<br />
Massen“ durch die SED-Herrschaft die für das<br />
Deutschland in der obrigkeitsstaatlichen Phase<br />
typische unpolitische Haltung. Sie schlug sich<br />
in der DDR in zunehmenden Formen des<br />
Privatismus und der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit<br />
nieder. Mit ihr verloren die<br />
Einzelnen den Sinn für soziale Heterogenität,<br />
für „naturwüchsigen“ sozialen Wandel und einen<br />
vernünftigen Umgang mit allem Fremden<br />
(Meuschel 1992, S. 20). Es ist von daher zu erwarten,<br />
dass insbesondere in politiknahen und<br />
zivilgesellschaftlichen Bereichen die DDR-<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Strukturen von mittlerer Dauer die jeweiligen<br />
regionaltypischen Sozialstrukturen von langer<br />
Dauer überlagern oder doch stark modifizieren<br />
werden, was sich in den sozialen Indikatoren<br />
entsprechend niederschlagen kann. Bei der<br />
folgenden Kontrastierung unterschiedlicher<br />
ländlicher Regionaltypen orientieren wir uns<br />
allerdings an den tiefer liegenden Strukturen<br />
von langer Dauer und nicht an den zwar noch<br />
merklich nachwirkenden, aber auf längere<br />
Sicht sich abschwächenden Einflussfaktoren<br />
der mittelfristigen Phase der politischen Spaltung.<br />
Kontrastierung zweier Typen von Landgebieten<br />
Da bäuerliche Gebiete ihre „sozialen Probleme“<br />
lange Zeit durch Bevölkerungsabgabe<br />
„aus der Welt geschafft“ haben und der bäuerliche<br />
Familienbetrieb seine Probleme vor<br />
allem intern regelt, waren und sind in diesen<br />
Regionen die Anforderungen an die sozialen<br />
Hilfen und die Notwendigkeit ihrer Bereitstellung<br />
durch öffentliche Träger unterdurchschnittlich<br />
(Bohler 1995). Wir haben uns deshalb<br />
bei der Wahl der Untersuchungsgebiete<br />
auf Landkreise konzentriert, die mehrheitlich<br />
entweder dem Typus der Gewerbelandschaft<br />
und des Realteilungsgebiets zugehören<br />
(Saalfeld-Rudolstadt, Heidenheim) oder dem<br />
einer ehemaligen Gutslandschaft (Rügen,<br />
Ostholstein).<br />
a) Die Landkreise Heidenheim und Seite 49<br />
Saalfeld-Rudolstadt<br />
Wir beginnen die Analyse mit einem<br />
Vergleich der beiden gewerblich entwickelten<br />
Kreisgebiete in Baden-Württemberg und<br />
Thüringen. (Hinsichtlich der in Aufsätzen und
Soziographische Analyse<br />
Büchern publizierten Quellen, die hier insbesondere<br />
aus stilistischen und Platzgründen<br />
nicht im Einzelnen angeführt sind, verweisen<br />
wir auf die Auswahl der wichtigsten ausgewerteten<br />
Arbeiten zu den einzelnen Kreisgebieten<br />
am Ende des jeweiligen Unterkapitels.)<br />
(1) Naturraum: Die Gemeinsamkeiten hinsichtlich<br />
der naturräumlichen Lage der Landkreise<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
sind offensichtlich: Beides sind Gebiete in und<br />
am Rande von Mittelgebirgen (Schwäbische<br />
Alb und Thüringer Wald), die durch ausgeprägte<br />
Tallandschaften (Brenz und Saale)<br />
gekennzeichnet sind. Was bedeutet das für die<br />
regionalen Entwicklungsressourcen? In allen<br />
Mittelgebirgsregionen finden bzw. fanden sich<br />
Metallvorkommen, und Flüsse sind im System<br />
der vormodernen Technik eine der wichtigsten<br />
nutzbaren Energiepotentiale. So ist es nicht<br />
verwunderlich, dass es in beiden Landkreisen<br />
zeitweise und schon seit dem Mittelalter (im<br />
Lkr. Heidenheim z. B. seit 1365) Bergbau gab<br />
– allerdings im Kreis Saalfeld-Rudolstadt seit<br />
dem 15. Jahrhundert deutlich mehr, während<br />
im Fall Heidenheim der Schwerpunkt des<br />
Bergbaus im benachbarten Ostalbkreis lag.<br />
(2) Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerungsentwicklung<br />
verläuft in beiden<br />
Landkreisen im 19. und 20. Jahrhundert<br />
bis 1945 parallel. Aufgrund der industriellgewerblichen<br />
Entwicklung zeigt sich<br />
insgesamt eine kontinuierliche Be-<br />
Seite 50 völkerungszunahme – auch wenn es<br />
vor 1900 immer wieder zu kleineren<br />
Auswanderungswellen, vor allem in<br />
die USA, kam. Sowohl der Landkreis Heidenheim<br />
(er hat den höchsten Anteil in Baden-<br />
Württemberg nach dem Kreis Böblingen)<br />
als auch insbesondere der Altkreis Saalfeld<br />
(Zunahme um ca. 1/3 von 1944 bis 1946, im<br />
Altkreis Rudolstadt in diesem Zeitraum noch<br />
eine um 22%) verzeichnen nach 1945 deutlich<br />
über dem Landesdurchschnitt liegende Zuzüge<br />
an Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgesiedelten.<br />
Danach macht sich die unterschiedliche<br />
politische Entwicklung bemerkbar: Bis<br />
1950 fällt die Bevölkerungszahl im Gebiet des<br />
heutigen Landkreises Saalfeld-Rudolstadt von<br />
ca. 210.000 auf etwa 145.000, somit unter die<br />
von 1939. Es ist davon auszugehen, dass hier<br />
teilweise ein Bevölkerungsaustausch stattfand:<br />
Geflohene „bürgerliche Schichten“ wurden<br />
durch eher untere Schichten aus der Flüchtlings-<br />
und Vertriebenenpopulation ersetzt. Im<br />
Landkreis Heidenheim dagegen blieben die<br />
Zugezogenen (von 62.500 im Jahr 1939 auf<br />
92.000 im Jahr 1950) nicht nur im Kreisgebiet,<br />
sondern der Bevölkerungszuwachs setzt sich –<br />
wenn auch mit Unterbrechungen – weiter fort<br />
(1961: 113.500, 1970: 127.000). Dabei wird<br />
der Geburtenrückgang vor allem durch Zuzüge<br />
von Gastarbeitern und ihren Familien, später<br />
von Spätaussiedlern mehr als ausgeglichen. Im<br />
Landkreis Heidenheim ist weiter davon auszugehen,<br />
dass die Unterschicht in den letzten 40<br />
Jahren zum großen Teil ausgetauscht wurde:<br />
An die Stelle einer deutschen treten Unterschichtpopulationen<br />
„mit Migrationshintergrund“.<br />
Etwa zur letzten Jahrhundertwende<br />
kreuzen sich die Bevölkerungsentwicklungen:<br />
Hatte der Landkreis Saalfeld-Rudolstadt bei<br />
seiner Gründung 1994 noch 140.000 Einwohner,<br />
sind es 1999 134.000 und 2005 noch<br />
125.000. Im Landkreis Heidenheim steigt die<br />
Bevölkerungszahl dagegen von 127.000 (1970)<br />
auf 136.000 (im Jahr 2005). Was sich im Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt nach 1945 (bis 1961)<br />
schon einmal ereignet hat, reproduziert sich –
allerdings in kleinerem Ausmaß – nach 1990<br />
noch einmal: Es ist ein Verlust von mobilen,<br />
leistungsorientierten Teilen der Bevölkerung<br />
und eine relative Zunahme „problematischer“,<br />
da immobiler, Unterschichtmilieus zu vermuten.<br />
Im Kreis Heidenheim dagegen dürfte ein<br />
größerer Teil sozialer Hilfebedürftigkeit mit<br />
der Migration „importiert“ worden sein.<br />
(3) Historische Agrarverfassung: Der Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt liegt in einem klein-<br />
und mittelbäuerlich geprägten Teil Thüringens,<br />
in dem ursprünglich Anerbenrecht galt. Der<br />
mit dieser Struktur verbundene Betriebstyp<br />
- der sog. rationellen Bauernwirtschaft mit<br />
Getreidebau und Viehhaltung - hat sich in<br />
den bäuerlichen Gemeinden bis zur Zeit der<br />
Kollektivierung in der DDR als vorherrschend<br />
erhalten. In den Gemeinden mit Gewerbeentwicklung,<br />
vor allem in den Tälern, setzte sich<br />
seit dem 19. Jahrhundert die Teilung von landwirtschaftlichen<br />
Betrieben bis zur Größe von<br />
arbeiterbäuerlichen Subsistenzwirtschaften<br />
durch. Auf den Höhen des Thüringer Schiefergebirges<br />
dominierten von Beginn an bei der<br />
Versorgung der Familien Erwerbskombinationen<br />
und landwirtschaftliche Zwergwirtschaft<br />
auf karger Basis.<br />
Der größte Teil des Landkreises Heidenheim<br />
gehört seit dem Ende des 15. Jahrhunderts (mit<br />
kurzen Unterbrechungen im 16. und 17. Jh.)<br />
zum Herzogtum Württemberg und damit zu<br />
einem „klassischen“ Territorium des südwestdeutschen<br />
Realteilungsgebietes. Das östliche<br />
Viertel des Kreisgebietes, ehemals klösterliche<br />
und ritterschaftliche Besitzungen, zählt zu den<br />
neuwürttembergischen Anerbengebieten. Die<br />
dortigen Dörfer blieben bis heute relativ klein,<br />
lange landwirtschaftlich strukturiert und ohne<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
nennenswerte gewerbliche Entwicklung. Insgesamt<br />
gesehen war von daher die strukturelle<br />
Notwendigkeit zur Suche nach außerlandwirtschaftlichen<br />
Erwerbschancen aus Gründen<br />
des Naturraums und der historischen Agrarverfassung<br />
im Thüringer Schiefergebirge bzw.<br />
im Saaletal im Falle des Landkreises Saalfeld-<br />
Rudolstadt und im altwürttembergischen Teil<br />
des Kreises Heidenheim am größten.<br />
Wenig berührt von dieser Entwicklung blieben<br />
die peripheren bäuerlichen Gemeinden<br />
in beiden Landkreisen. Genauer gesagt: Diese<br />
werden vor allem im späten 19. und im 20.<br />
Jahrhundert durch den Wegzug nichtlandwirtschaftlich<br />
gebundener Bevölkerungsgruppen<br />
einen Prozess der sekundären Verbäuerlichung<br />
durchgemacht haben – mit dem Resultat, dass<br />
zumeist nur noch die am bäuerlichen Wertemuster<br />
orientierten Dorfbewohner ansässig<br />
blieben.<br />
(4) Gewerbeentwicklung und Industrialisierung:<br />
Die neuzeitliche Gewerbeentwicklung<br />
im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt kann<br />
insbesondere als eine Folge des endogenen<br />
Wirtschaftsfaktors Erzabbau gesehen werden,<br />
während sie im Kreis Heidenheim auch<br />
stark durch den exogenen sozialrechtlichen<br />
Faktor Realerbteilung in der Landwirtschaft<br />
angetrieben wurde. Ansonsten zeigen sich<br />
große Gemeinsamkeiten. Der bedeutendere<br />
Bergbau im Landkreis Saalfeld-<br />
Rudolstadt (seit der ersten Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts befindet sich in Seite 51<br />
Unterwellenborn das einzige Eisenund<br />
Stahlwerk Thüringens) taucht<br />
wie bereits erwähnt auch in Heidenheim auf.<br />
In beiden Kreisgebieten entwickelt sich daraus<br />
eine bedeutende Maschinenbauindustrie (in
Soziographische Analyse<br />
der Stadt Heidenheim, im 19. Jahrhundert das<br />
„schwäbische Manchester“ genannt, bereits<br />
seit 1825). Im damaligen Oberamt Heidenheim<br />
kam als zweite gewerbliche Basis die<br />
Textilindustrie hinzu, die sich aus der heimgewerblichen<br />
Leinenverarbeitung für den<br />
Ulmer Handel in den Donauraum („Ulmer<br />
Barchent“) heraus entwickelte (u.a. erster mechanischer<br />
Baumwollwebstuhl 1825 und erste<br />
Wollspinnereifabrik in Württemberg 1830,<br />
erste Dampfmaschine in einer württembergischen<br />
Kattunmanufaktur 1841) – allerdings<br />
gab es auch in Saalfeld eine Nähmaschinenfabrik,<br />
1860 als erste in Thüringen gegründet,<br />
und später in Schwarza ein Chemiefaserwerk<br />
(Textilindustrie dagegen in den benachbarten<br />
Städten Pößneck, Neustadt/Orla und Gera).<br />
In beiden Landkreisen gab und gibt es leichtindustrielle<br />
Gewerbezweige wie Porzellan-<br />
und Spielzeugherstellung (erste Porzellanmanufaktur<br />
in einem Vorort von Rudolstadt<br />
1762), die handwerkliches Geschick und (wie<br />
in der Maschinenbau- und elektrotechnischen<br />
Industrie) eine hohe Präzision in der Arbeit<br />
abfordern.<br />
Das heißt zusammengefasst: Die Gewerbeentwicklung<br />
findet in beiden Kreisgebieten<br />
gemessen am Durchschnitt deutscher Regionen<br />
und Territorien sehr früh statt (vgl.<br />
Fremdling & Tilly 1979, Pollard 1980), sie<br />
ist in ihren Formen und Branchen vielfältig,<br />
die Industrialisierung schließt z.T.<br />
unmittelbar an die alte Gewerbe-<br />
Seite 52 entwicklung an, sie reicht von „proletarischen“<br />
Tätigkeiten in Bergbau<br />
und Schwerindustrie bis zu sehr<br />
anspruchsvollen Facharbeiterberufen z. B.<br />
in der Schreibmaschinenbau-, elektrotechnischen<br />
und Porzellanindustrie. Beide Land-<br />
kreise haben schon im 19. Jahrhundert einen<br />
der landesweit höchsten Gewerbeanteile in<br />
der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur<br />
(Saalfeld-Rudolstadt im Gebiet des heutigen<br />
Thüringen und Heidenheim im ehemaligen<br />
Kgr. Württemberg). Aus diesem relativ hohen<br />
Anteil alter Gewerbe- und Industriezweige<br />
ergeben sich seit 30 bis 40 Jahren Anpassungsprobleme<br />
– z. B. schleichende Auszehrung des<br />
noch 1960 zweitwichtigsten Industriesektors<br />
Textilherstellung im Landkreis Heidenheim<br />
und Abbau von Arbeitsplätzen im wichtigsten<br />
und großbetrieblich organisierten Bereich des<br />
Maschinenbaus (deshalb hat der Kreis Heidenheim<br />
2005 mit 8,6 Prozent die höchste<br />
Arbeitslosenrate in Baden-Württemberg)<br />
oder der Kollaps der Chemiefaserindustie in<br />
Rudolstadt-Schwarza und der Rückgang der<br />
Beschäftigung in der Stahl- (ehemals Maxhütte)<br />
und optischen Industrie (erstes Zweigwerk<br />
der Zeissbetriebe außerhalb <strong>Jena</strong>s) in Saalfeld<br />
nach 1990. Die Arbeitslosenrate verharrt im<br />
Landkreis Saalfeld-Rudolstadt seit Jahren<br />
(trotz der Nähe zum Nachbarland Bayern)<br />
etwas über dem Durchschnitt des Freistaats<br />
Thüringen (vgl. unten Abschnitt 6).<br />
(5) Innere Differenzierung nach Wirtschaftsschwerpunkten<br />
und Gemeindetypen: Beide<br />
Landkreise sind durch Zentralorte mit einem<br />
hohen Industrialisierungsgrad geprägt (Heidenheim,<br />
Herbrechtingen und Giengen (ehem.<br />
Reichsstadt) auf der einen Seite, Saalfeld und<br />
Rudolstadt-Schwarza auf der anderen – davon<br />
insbesondere Saalfeld und Heidenheim mit<br />
Großbetrieben).<br />
Die Täler weisen ergänzende Gewerbeorte (mit<br />
arbeiterbäuerlicher Bevölkerung) auf. Insbesondere<br />
seit dem Zweiten Weltkrieg kommen
in diesem Teilraum Pendlerwohngemeinden<br />
bzw. Mischformen zwischen diesen beiden<br />
Gemeindeformen hinzu.<br />
Auf den Höhen der Mittelgebirge (zwischen<br />
500 und 700 m hoch) finden wir alte, mehr<br />
oder weniger aufgegebene Bergbau- und<br />
Schieferabbaugemeinden (z. B. Königsbronn<br />
im Lkr. Heidenheim und Lehesten im Lkr.<br />
Saalfeld-Rudolstadt) oder ursprünglich stark<br />
forstwirtschaftlich geprägte Orte.<br />
An der Peripherie beider Landkreise gibt es bis<br />
heute bäuerlich geprägte Gemeinden: Im Kreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt im Südosten (zwischen<br />
Saaletalsperren und Frankenwald) sowie im<br />
Nordosten (zwischen Rudolstadt und Weimar);<br />
im Kreis Heidenheim im neuwürttembergischen<br />
östlichen Viertel des Kreisgebiets.<br />
(6) Soziale Situation und Arbeitsmarktlage 2 :<br />
Die Kehrseite der Wirtschaftskraft einer Region<br />
stellt gewissermaßen die – relative oder<br />
absolute – Belastung durch die notwendigen<br />
Sozialleistungen dar. Zwar gibt es einerseits<br />
keine direkt wirkende und deshalb unmittelbar<br />
„gesetzmäßige“ Beziehung zwischen materieller<br />
Notlage und Erziehungsproblemen, für die<br />
Jugendhilfe in Anspruch genommen werden<br />
muss. Doch andererseits ist die statistische<br />
Wahrscheinlichkeit dieses Zusammenhangs<br />
schon seit langem nachgewiesen. Der Sozialdezernent<br />
im Landratsamt Heidenheim zum<br />
Beispiel geht wie selbstverständlich davon<br />
aus, dass der besondere Sozialbelastungsindex<br />
des Landkreises sich insgesamt auf die Interventionsnotwendigkeiten<br />
des Jugendamtes<br />
auswirkt. Die in der amtlichen Statistik gängigsten<br />
Indikatoren für die soziale Situation<br />
eines Landkreises, seine sozialökonomischen<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Milieubedingungen und die jeweilige wohlfahrtsstaatliche<br />
Belastung sind die Arbeitslosenstatistik<br />
und die regionalen Quoten des<br />
Bezugs von ALG I (Arbeitslosengeld) nach<br />
SGB III und ALG II (früher: Arbeitslosen-<br />
und Sozialhilfe) nach SGB II. Es ist auf Grund<br />
der allgemeinen Entwicklung in Ost- und<br />
Westdeutschland zu erwarten, dass nach wie<br />
vor auf dieser wohlfahrtsstaatlichen Ebene der<br />
Sozialstruktur - und zwar insbesondere in den<br />
Quoten der Arbeits- und Sozialstatistik – vordringlich<br />
die Ost-West-Differenz zum Ausdruck<br />
kommt. Der verzögerte Strukturwandel<br />
der Industrie in der DDR vor 1990 und der<br />
ökonomische „Transformationsschock“ in den<br />
Neuen Bundesländern nach 1990 mussten eine<br />
altindustrielle Region wie den Kreis Saalfeld-<br />
Rudolstadt besonders treffen. Andererseits<br />
wurde auch der Landkreis Heidenheim nach<br />
1992 mit einer ersten – noch schwächeren,<br />
eher rezessionsbedingten – Deindustrialisierungswelle<br />
konfrontiert, der nach 2001 eine<br />
zweite – eher strukturelle, da vor allem auch<br />
globalisierungsbedingte – folgte. Um diese<br />
Zusammenhänge zu verdeutlichen, führen<br />
wir ausgewählte und zugängliche Daten der<br />
Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik von<br />
1989 bis 2006 an. Betrachten wir zuerst die<br />
regionale Arbeitslosenstatistik. Aus Tabelle<br />
1 sind die Arbeitslosenquoten in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
zwischen 1989 und 2004 und die jeweils<br />
geringste Zahl an Arbeitslosen im<br />
Sommerhalbjahr und die höchste im<br />
Winterhalbjahr zwischen 1997 und<br />
2004 zu entnehmen.<br />
Seite 53
Seite 54<br />
Soziographische Analyse<br />
Tabelle 1: Arbeitslosenquote der Landkreise Heidenheim und<br />
Saalfeld-Rudolstadt im Jahresdurchschnitt und im saisonalen Vergleich<br />
Arbeitslosenquote aller abh. Erwerbspersonen im Jahresdurchschnitt,<br />
sowie Minimum im Sommer- und Maximum im Winterhalbjahr in %<br />
Heidenheim Saalfeld-Rudolstadt<br />
Jahr Min. Max. Jahr Min. Max.<br />
1989 4,4 3,9 5,2 - - -<br />
1997 9,8 9,5 10,3 20,1 18,9 20,9<br />
2001 6,3 5,9 6,8 16,9 15,4 18,7<br />
2002 7,0 6,4 7,5 17,3 16,3 18,7<br />
2003 8,3 7,8 8,7 18,6 17,1 20,5<br />
2004 8,9 8,4 9,2 18,2 16,7 19,9<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />
Deutlich und nicht überraschend ist der Ost-<br />
West-Gegensatz in der durchschnittlichen Höhe<br />
der Arbeitslosigkeit, allerdings vor dem Hintergrund<br />
einer großen strukturellen Gemeinsamkeit.<br />
Letztere ist zum Beispiel aus einer Art von<br />
„Gleichklang“ der Quoten im Jahresdurchschnitt<br />
zu ersehen. In der zweiten Tabelle geben wir<br />
die Arbeitslosenzahlen der beiden Landkreise<br />
getrennt nach Beziehern von Arbeitslosengeld<br />
I und II wieder. Und zwar beispielhaft für den<br />
Dezember 2005 und Juni 2006.<br />
Arbeitslosenquote aller zivilen Erwerbspersonen nach SGB II und SGB III<br />
Arbeitslosenquote<br />
Dezember<br />
2005 in %<br />
SGB II SGB III<br />
Arbeitslosenquote<br />
Juni<br />
2006 in %<br />
SGB II SGB III<br />
Heidenheim 8,6 4,2 4,4 7,5 4,0 3,5<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Tabelle 2: Arbeitslosenquote nach SGB II und SGB III in den<br />
Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
16,8 9,3 7,5 15,2 9,1 6,2<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“
Wir können dem Datentableau entnehmen,<br />
dass im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt – im<br />
Gegensatz zum Landkreis Heidenheim – die<br />
Zahl der Langzeitarbeitslosen (in der Spalte<br />
SGB II) das ganze Jahr über höher ist als<br />
die der bis zu einem Jahr Arbeitslosengeld I<br />
Beziehenden. Darüber hinaus schwankt die<br />
jahreszeitliche Arbeitslosenquote im Kreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt stärker als im Heidenheimer<br />
Kreisgebiet, was unter anderem auf den<br />
höheren Anteil des Baugewerbes zurück ge-<br />
25,0<br />
20,0<br />
15,0<br />
10,0<br />
5,0<br />
0,0<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
führt werden kann. Die jahreszeitlichen<br />
Schwankungen in der Beschäftigungslage<br />
stellen für Familien eine Quelle von „Stress“<br />
in der Paar- und Eltern-Kind-Beziehung dar,<br />
den es zu bewältigen gilt. (Dies wird in einigen<br />
der von uns untersuchten Jugendämtern<br />
so wahrgenommen und als Problem gesehen.)<br />
Die Charakteristik der Beschäftigung im<br />
jahreszeitlichen Ablauf in den beiden Kreisgebieten<br />
wird im folgenden Schaubild noch<br />
deutlicher:<br />
Schaubild 1: Arbeitslosenquote der Landkreise Heidenheim und<br />
Saalfeld-Rudolstadt im jahreszeitlichen Ablauf (2001-2004)<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
2001 2002 2003 2004<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />
Im Folgenden betrachten wir die aktuellsten<br />
uns vorliegenden Zahlen zur Arbeitslosigkeit<br />
von Jugendlichen und jungen<br />
Erwachsenen im Alter zwischen 16 und<br />
25 Jahren in den Landkreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt. Dabei<br />
Kreis Saalfeld-Rudolstadt Kreis Heidenheim<br />
beschränken wir uns auf die Häufig- Seite 55<br />
keit des Bezugs von ALG II in beiden<br />
Kreisgebieten. Denn sie ist mehr<br />
als die Häufigkeit von ALG I ein Indikator<br />
für belastete Lebenslagen und belastende Lebenssituationen.
Soziographische Analyse<br />
Tabelle 3: Arbeitslose unter 25 Jahre nach SGB II Juni 2006: Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
Bestand insgesamt<br />
Darunter:<br />
Männer<br />
Frauen<br />
Ausländer<br />
Davon nach Schulabschluss:<br />
Kein Schulabschluss<br />
Hauptschule/mittlere Reife<br />
FH/HS-Reife<br />
Heidenheim<br />
Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />
Insgesamt<br />
11,5<br />
5,9<br />
5,6<br />
1,8<br />
2,3<br />
8,9<br />
0,3<br />
Auffallend an diesem Vergleich ist, dass zum<br />
einen der Gesamtbestand an Arbeitslosen<br />
unter 25 Jahren im Landkreis Heidenheim<br />
leicht höher liegt als in Thüringen, während<br />
dort die Langzeitarbeitslosigkeit (in Gestalt<br />
des ALG II-Bezugs) ein größeres Problem<br />
darstellt. Das erstere hätte man nicht erwartet,<br />
das letztere, das auf prekärere Lebensverhältnisse<br />
schließen lässt, dagegen sehr wohl.<br />
Allerdings weichen die Verhältniszahlen nicht<br />
sehr voneinander ab. Sollte der Gesamtbestand<br />
an arbeitslosen Jugendlichen<br />
und jungen Erwachsenen in den<br />
Seite 56 Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
sich eher entsprechen<br />
als der zu den Kreisen Ostholstein und<br />
Rügen, dann würde dies für Chancenprofile der<br />
von Arbeitslosigkeit und prekärer Lebenslage<br />
betroffenen Problemgruppen sprechen, die<br />
im Rechtskreis<br />
SGB II<br />
6,2<br />
3,1<br />
3,1<br />
1,2<br />
Saalfeld-Rudolstadt<br />
Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />
Insgesamt<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslose unter 25 Jahren nach dem Rechtskreis SGB II<br />
1,6<br />
4,4<br />
0,2<br />
11,0<br />
6,9<br />
4,1<br />
0,1<br />
1,9<br />
7,7<br />
1,4<br />
im Rechtskreis<br />
SGB II<br />
7,7<br />
4,7<br />
3,0<br />
0,1<br />
1,7<br />
5,2<br />
0,8<br />
sich mehr auf die sozialgeschichtliche Situation<br />
und den regionalen Habitus als auf die politische<br />
Systemdifferenz vor allem in der zweiten<br />
Hälfte des letzten Jahrhunderts beziehen. Ob<br />
dies zutrifft, wird der Vergleich unter und<br />
mit den norddeutschen Kreisgebieten zeigen.<br />
Ein hoher Sozialbelastungsindex, wie er für<br />
den Landkreis Heidenheim im Vergleich aller<br />
baden-württembergischen Kreise und für den<br />
Landkreis Saalfeld-Rudolstadt am bundesdeutschen<br />
Durchschnitt gemessen vorliegt,<br />
hat für die Jugendhilfe auch unmittelbare<br />
finanzielle Folgen. So stellt zum Beispiel das<br />
Sozialdezernat in Heidenheim fest, dass sich<br />
die Zahl der Leistungsempfänger der Unterhaltsvorschusskasse<br />
aus dem Bereich der wirtschaftlichen<br />
Jugendhilfe seit einigen Jahren auf<br />
einem hohen Niveau hält. Die Verantwortlichen<br />
sehen die Gründe hauptsächlich in der
vorhandenen hohen Arbeitslosenquote und der<br />
daraus resultierenden mangelnden Leistungsfähigkeit<br />
der Unterhaltsverpflichteten. Aber<br />
auch der Hilfe- und Beratungsbedarf ist davon<br />
betroffen. Wenn nämlich bei eingetretener<br />
oder drohender Arbeitslosigkeit drängende<br />
Überschuldungsprobleme häufig und im Einzelfall<br />
erhebliche Existenzprobleme darstellen,<br />
so ist die Einrichtung einer Schuldnerberatung<br />
sozialpolitisch unabdingbar. Wenn solche Zusammenhänge<br />
und Probleme schon im Landkreis<br />
Heidenheim als gravierend und belastend<br />
gesehen werden, dann ist davon auszugehen,<br />
dass die anderen von uns untersuchten Kreisgebiete<br />
mit ihren an Heidenheim gemessen<br />
höheren Sozialbelastungsindices entsprechend<br />
massiver hiervon betroffen sind.<br />
(7) Regionale Opportunitäten für soziale Entwicklung<br />
3 : Bruno Hildenbrand hat in seinem<br />
Einleitungsteil bereits darauf hingewiesen, dass<br />
wir bei unseren Analysen des Zusammenhangs<br />
von Region und Mentalität auch die für uns<br />
interessanten Ergebnisse des C 6-Projekts (vgl.<br />
Silbereisen et al. 2006) mit einbeziehen werden.<br />
In wie weit bestätigt eine Betrachtung unter<br />
der Kategorie von Opportunitätsstrukturen<br />
in den jeweiligen Regionen die von uns bisher<br />
rekonstruierten Strukturdifferenzen zwischen<br />
ehemaligen Gutslandschaften auf der einen<br />
Seite und bäuerlichen sowie gewerblich entwickelten<br />
Gebieten auf der anderen Seite? Aber<br />
auch umgekehrt: In wie weit bestätigen unsere<br />
Ergebnisse die konzeptionellen Überlegungen<br />
im Projekt C 6? Die Arbeitsgruppe in diesem<br />
Projekt zielt mit ihrem Untersuchungsdesign<br />
auch auf die Bildung von vier Teilgruppen, die<br />
anhand der Merkmalskombination von Betroffenheit<br />
von sozialem Wandel (niedrig versus<br />
hoch) und dem Ausmaß von Ressourcen (eben-<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
falls niedrig versus hoch) ausgewählt werden.<br />
Beziehen wir unsere bisherigen Analysen und<br />
Überlegungen auf diese sozialen Merkmale, so<br />
ist zu erwarten, dass im ostwürttembergischen<br />
Raum um Heidenheim die Betroffenheit von<br />
sozialem Wandel niedriger und die strukturellen<br />
Ressourcen zur Bewältigung höher<br />
als im Ostthüringer Raum um Saalfeld und<br />
Rudolstadt sind. Dahinter steht die einfache<br />
Überlegung: Ostdeutsche lebten zwischen<br />
1945 und 1989 einerseits unter – vorsichtig<br />
ausgedrückt – „formierten“ Gesellschaftsbedingungen<br />
und konnten damit weniger<br />
Kompetenzen zum Umgang mit sozialem<br />
Wandel erwerben. Sie hatten andererseits aber<br />
im Zusammenhang mit dem Systemumbruch<br />
und dem sozialökonomischen Ressourcenverlust<br />
ein höheres Ausmaß an sozialem Wandel<br />
zu bewältigen als Westdeutsche. Auf dieses<br />
Spannungsfeld bezogen sind in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
entsprechende Muster bei der Ausprägung<br />
der Bewältigungsressourcen und des daraus<br />
resultierenden sozialökonomischen Leistungsprofils<br />
zu erwarten. Allerdings ist bei<br />
der Betrachtung der Konzeption von C 6 zu<br />
berücksichtigen, dass der Ressourcenbegriff in<br />
der Entwicklungspsychologie ein anderer ist<br />
als in der strukturtheoretischen Soziologie.<br />
Geht letztere davon aus, dass sich durch die<br />
Spezifik des Systemumbruchs in Ostdeutschland<br />
die Ressourcenlage in einem strukturellen<br />
Sinne verschlechtert hat, schließt erstere<br />
von einem höheren Ausmaß an<br />
sozialem Wandel auf mehr Gelegen- Seite 57<br />
heiten, Handlungsressourcen zur Bewältigung<br />
des Wandels zu erwerben,<br />
also zuerst einmal auf eine potentielle Verbesserung<br />
der subjektiv relevanten Ressourcen.<br />
Eine Konvergenz der soziologischen und ent-
Soziographische Analyse<br />
wicklungspsychologischen Wirklichkeitsdeutung<br />
zeigt sich erst bei einem zweiten Schritt,<br />
der die Opportunitäten mit berücksichtigt.<br />
Denn die strukturelle Situation der jeweiligen<br />
regionalen Opportunitäten setzt im einen Fall<br />
den Entfaltungschancen der Akteure mit hohen<br />
Bewältigungsressourcen von Krisen enge<br />
Grenzen und motiviert jene tendenziell zum<br />
Wegzug, während im anderen Fall Gebiete<br />
mit günstigen Opportunitäten bessere<br />
Deutlich wird an Tabelle 4, welche die Landkreise<br />
Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt vergleicht, ein unmittel-<br />
Seite 58 bar plausibler Zusammenhang von<br />
sozialökonomischen Opportunitäten<br />
(BIP, durchschnittlich verfügbares<br />
Haushaltseinkommen) und Bevölkerungsentwicklung<br />
(einschließlich Wanderungssaldo):<br />
Der wirtschaftsstärkere Kreis Heidenheim hat<br />
Bevölkerungsentwicklunga<br />
Wanderungssaldob Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) c<br />
Verfügbares Haushaltseinkommen<br />
d<br />
Heidenheim 7,8 -38,4 26.217 17.395<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
-95,7 -48,1 16.868 14.004<br />
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />
a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />
b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />
c BIP je Einwohner 2004<br />
Bedingungen für Entwicklungen bieten,<br />
aktivere Personen anziehen und damit ihre<br />
strukturelle Ressourcensituation weiter verbessern.<br />
Ein Indiz für diesen strukturellen<br />
Zusammenhang sind die von den Statistischen<br />
Ämtern erhobenen Kennziffern für die regionale<br />
Wirtschaftskraft (BIP) und die statistisch<br />
dokumentierte Bevölkerungsentwicklung in<br />
den Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt. 4<br />
d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />
eine günstigere Bevölkerungsentwicklung als<br />
der vom Systemumbruch 1989/90 betroffene<br />
Kreis Saalfeld-Rudolstadt. Allerdings weisen<br />
die Zahlen des Wanderungssaldos darauf hin,<br />
dass die Verhältnisse nicht so einfach liegen,<br />
wie sie zu erwarten wären, wenn man unmittelbar<br />
kausal von der Wirtschaftskraft (BIP)<br />
und dem verfügbaren Haushaltseinkommen<br />
auf den Wanderungssaldo schließen könnte.
Wir hatten bereits festgestellt, dass der Landkreis<br />
Heidenheim im regionalen Maßstab<br />
Baden-Württembergs fast eine Krisenregion<br />
darstellt: Unter diesem Gesichtspunkt gesehen<br />
ist die unerwartet hohe Abwanderung<br />
ein Indiz für subjektive Handlungsressourcen<br />
und eine Haltung aktiver Krisenbewältigung.<br />
Fraglich ist weiter, wer bzw. aus welchen<br />
Motiven Personen ab- und zuwandern.<br />
Auf solche Fragen müssen wir beim abschließenden<br />
Vergleich aller vier Kreisgebiete<br />
im nächsten Unterkapitel eingehen.<br />
(8) Politisches System: Die gewerbliche Entwicklung<br />
im marktwirtschaftlichen System<br />
stützt sich auf der Akteursebene auf eine<br />
autonome Handlungsorientierung oder<br />
In dieser Tabelle drückt sich zunächst mehr<br />
der Ost-West-Gegensatz durch. Unseren Erwartungen<br />
entspricht nur das Wahlergebnis im<br />
Kreis Heidenheim, nicht jedoch das im Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt. Allerdings hatten<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Tabelle 5: Wahlergebnisse der Kommunalwahlen 2004<br />
Partei Heidenheim a Saalfeld-Rudolstadt b<br />
CDU 34,6 40,1<br />
SPD 26,4 21,1<br />
FDP - -<br />
Grüne 13,1 5,5<br />
PDS - 20,4<br />
Fr. Wähler/BI 21,1 12,9<br />
Sonstige 4,7 -<br />
a Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg)<br />
b Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Thüringer Landesamt für Statistik)<br />
Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, die sich in<br />
entsprechenden strukturaffinen Wählerpräferenzen<br />
widerspiegeln müsste. Auf der Ebene<br />
der Kommunalparlamente sehen wir als Indikator<br />
für eine Autonomieorientierung den<br />
jeweiligen Anteil der freien und unabhängigen<br />
Wählervereinigungen. Unsere These an dieser<br />
Stelle ist, dass die Gewerbelandschaften einen<br />
relativ hohen Anteil an „freien Wählern“ –<br />
und signifikant höheren als in den ehemaligen<br />
Güterprovinzen – haben müssten. Betrachtet<br />
man in dieser Hinsicht nur den Anteil der<br />
freien Wählervereinigungen bei den letzten<br />
Kommunalwahlen, so zeigt sich für unsere<br />
beiden industriell-gewerblich entwickelten<br />
Landkreise das folgende Bild:<br />
Seite 59<br />
wir bereits oben darauf hingewiesen,<br />
dass in diesem Bereich die Folgen<br />
der politischen Spaltung wahrscheinlich<br />
noch deutlich zu spüren sein werden. Man<br />
könnte an dieser Stelle auch von einer
Soziographische Analyse<br />
besonderen Deformation dieses Typs von<br />
Regionalgesellschaft in der ehemaligen DDR<br />
sprechen. Eine endgültige Überprüfung der<br />
Ausgangsthese ist deshalb erst nach einer Betrachtung<br />
der entsprechenden Zahlen aus den<br />
nordostdeutschen Vergleichskreisen möglich.<br />
Noch eine Bemerkung zur politischen Jugendkultur:<br />
Eine auffallende Gemeinsamkeit<br />
beider Kreisgebiete in diesem Bereich ist,<br />
dass sowohl die Stadt Heidenheim als auch<br />
die Städte Saalfeld und Rudolstadt in ihren<br />
jeweiligen Bundesländern „prominente“ Orte<br />
einer rechtsradikalen Jugendszene darstellen.<br />
In diesem Sachverhalt drückt sich angesichts<br />
der unterschiedlichen Geschichte von 1945<br />
bis 1990 dann doch wieder die Gemeinsamkeit<br />
einer durch fürsorglich-großbetriebliche<br />
Strukturen formierten und nun – wenn auch<br />
aus unterschiedlichen Gründen – in ihren<br />
Erwartungen enttäuschten Mentalität durch.<br />
Es ist dann eine jugendamtsrelevante Frage,<br />
wie auf dem Feld der Jugendarbeit mit dieser<br />
Problematik umgegangen wird.<br />
(9) Kulturelle Prägungen: Welche mentalen<br />
Prägungen hat die sozialökonomische Entwicklung<br />
in den Realteilungsgebieten und früheren<br />
Gewerbelandschaften hervorgebracht, wenn<br />
wir davon ausgehen, dass eine regionalspezifische<br />
Mentalität verstanden werden sollte<br />
als die kollektive Bewusstseinsformung und<br />
habituelle Prägung einer Bevölkerungsgruppe<br />
durch ihre Lebenswelt<br />
Seite 60 sowie den von ihr ausgehenden und<br />
in ihr gemachten Erfahrungen? Das<br />
Besondere in der Entwicklung von<br />
Regionen wie den Landkreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt besteht in dieser<br />
Sichtweise darin, dass schon früh die bauern-<br />
weltliche, an der Stelle haftende Orientierung<br />
durch eine subjektive Leistungsorientierung<br />
relativiert – also ergänzt oder sogar ersetzt<br />
– wurde. Denn durch Besitzteilung und den<br />
Aufbau immer kleinerer Nebenerwerbs- und<br />
Gewerbestellen werden die unteren Schichten<br />
– in früheren Zeiten machten diese die Mehrzahl<br />
der Bevölkerung aus – an den Rand des<br />
potentiellen Subsistenzniveaus gedrückt. Sie<br />
haben mit dem Problem der Subsistenzfalle zu<br />
kämpfen, das als strukturell ungelöstes (im Gegensatz<br />
zur „Stellenordnung“ in der klassischen<br />
Bauernwelt, die eine Stelle „von vornherein“ an<br />
die Sicherung der „Familiennahrung“ bindet)<br />
durch subjektive Anstrengungen bewältigt<br />
werden muss.<br />
Diese Bewältigungsleistungen implizieren<br />
einen subjektiven Bewährungsdruck. So kann<br />
es nicht verwundern, wenn in beiden Landkreisen<br />
pietistische Einflüsse, also Formen von<br />
„Erweckungsbewegungen“, nachweisbar sind.<br />
Der Hof der Herzöge von Sachsen-Saalfeld<br />
war bereits Ende des 17. Jahrhunderts eine<br />
„Hochburg“ des Pietismus in Thüringen. Der<br />
pietistische „Reformator“ im Hzt. Württemberg,<br />
Bengel, war im 18. Jahrhundert zeitweise<br />
Pfarrer in Heidenheim. Entsprechend alt sind<br />
die sozialen Einrichtungen vor allem der evangelischen<br />
Landeskirche bzw. der diakonischen<br />
Anstalten. Die Jugendhilfe wird sich hier eher<br />
– anders als in ehemaligen Güterprovinzen –<br />
auf einen überkommenen Bestand an freien<br />
Trägern und ihren Einrichtungen stützen<br />
können. Im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt<br />
stellen allerdings die DDR-Jahre, wie bereits<br />
angedeutet, eine massive Unterbrechung der<br />
historisch motivierten „organischen“ Pfadentwicklung<br />
dar.
(10) Ehrenamtliches Engagement: Die politische<br />
und kulturelle Prägung durch einen<br />
Sozialraum und die dort vorherrschende<br />
Mentalität schlägt sich, so unsere These, in regional<br />
unterschiedlichen Entwicklungsformen<br />
der Bürger- oder Zivilgesellschaft nieder. Die<br />
unterschiedliche Prägung durch die vorherrschende<br />
Form der Daseinsbewältigung führt<br />
zu positiven oder negativen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen<br />
(self-efficacy beliefs). Die<br />
Entwicklung in die eine oder andere Richtung<br />
spiegelt sich gesellschaftspraktisch im jeweiligen<br />
Umfang und in der unterschiedlichen<br />
Intensität eines ehrenamtlichen bürgerschaftlichen<br />
Engagements wider. Dieses Engagement<br />
hat im Bereich des Sozialwesens seine<br />
Relevanz für die Bestandsdauer, die Dichte<br />
und den institutionellen Geist der freien Träger<br />
der Jugendwohlfahrt. Auch hier müssen<br />
wir – wie im Fall freier Wählervereinigungen<br />
im politischen Feld – zum einen vermuten,<br />
dass in den alten Gewerbelandschaften mit<br />
einer breiten bürgerlichen Schicht sowie einer<br />
verbürgerlichten Facharbeiterschicht dieses<br />
zivilgesellschaftliche Engagement signifikant<br />
höher ist als in den ehemaligen Güterprovinzen.<br />
Und zum anderen können wir wieder erwarten,<br />
dass die entsprechenden politischen Maß-<br />
Baden-<br />
Württemberg<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
nahmen der SED-Machthaber die zivilgesellschaftliche<br />
Infrastruktur für bürgerschaftliches<br />
Engagement in Ostdeutschland weitgehend<br />
zerstört haben werden.<br />
Um diese Fragen zu beantworten, ziehen wir<br />
die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung<br />
zum ehrenamtlichen Engagement in<br />
Deutschland heran, die 1999 und 2004 durchgeführt<br />
wurden. 5<br />
Da sich die Auswertung der Befragung auf<br />
die Anteile des ehrenamtlichen Engagements<br />
der einzelnen Länder im Bundesgebiet bezog,<br />
können wir hier nur die Prozentzahlen<br />
von Baden-Württemberg und Thüringen<br />
heranziehen. Diese sind unseres Erachtens<br />
relativ aussagekräftig, da sich die Landkreise<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt, was<br />
Sozialstruktur und Mentalität betrifft, nur<br />
unwesentlich vom jeweiligen Landesdurchschnitt<br />
unterscheiden. Wir betrachten aus der<br />
Gesamtheit der erhobenen Engagementbereiche<br />
die folgenden vier für das Sozialwesen<br />
relevanten: Soziales, Gesundheit, Schule/<br />
Kindergarten und Jugend-/Bildungsarbeit<br />
(sowie die Vergleichszahlen für das Ehrenamt<br />
insgesamt).<br />
Tabelle 6: Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Bereichen (Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesländer in %)<br />
Soziales Gesundheit<br />
Schule/<br />
Kindergarten<br />
Jugend-/<br />
Bildungsarbeit<br />
Ehrenamt<br />
Insgesamt<br />
1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004<br />
8,71 11,53 4,17 2,94 7,61 11,27 7,61 8,39 38,29 41,91<br />
Thüringen 4,12 6,36 1,34 2,22 8,16 7,80 8,16 5,46 27,91 31,69<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon<br />
Seite 61
Seite 62<br />
Soziographische Analyse<br />
Die Unterschiede sind auffallend deutlich und<br />
sprechen für unsere Ausgangsthese in diesem<br />
gesellschaftlichen Handlungsfeld. Einzelne<br />
Verschiebungen zwischen den Jahren 1999<br />
und 2004 deuten allerdings auch an, dass die<br />
Aussagekraft dieser Erhebung sich auf die generelle<br />
Größenordnung und die allgemeinen<br />
Entwicklungstendenzen beschränkt. Bezieht<br />
man sie in diesem Sinne einer vorsichtigen<br />
Generalisierung auf das regionale Sozialkapital<br />
(i.S. Putnams), dann wird an den Zahlen<br />
des Freistaats Thüringen wieder manifest,<br />
dass die südlichen, gewerblich-industriell<br />
entwickelten Bezirke der DDR viel mehr<br />
unter den Folgen der Entbürgerlichung durch<br />
die sozialistische Politik gelitten haben als die<br />
nördlichen mit ihrem hohen Anteil an ehemaligen<br />
Güterdistrikten, die keine bedeutenden<br />
bürgerlichen Bevölkerungsteile kannten.<br />
Weitere Aufschlüsse versprechen wir uns<br />
wieder vom Vergleich mit den norddeutschen<br />
Untersuchungsgebieten.<br />
(11) Bildungssektor: Es zeigt sich in Gewerbegebieten<br />
früh und allgemein ein hoher Stellenwert<br />
von Bildung und Ausbildung – sowohl<br />
auf Seiten der Herrschaft wie der Wirtschaft<br />
(z. B. erste Elementarschulordnung im Hzt.<br />
Württemberg 1559, Gewerbeschulen und<br />
sog. Industrieschulen im Kgr. Württemberg<br />
bzw. Heidenheim seit der ersten Hälfte des<br />
19. Jahrhunderts oder der erste Kindergarten<br />
überhaupt im Kreis Saalfeld-Rudolstadt im 19.<br />
Jahrhundert). Interessant ist für uns zu fragen,<br />
ob sich diese Geschichte des Bildungssektors<br />
entsprechend auf die aktuellen Zahlen der<br />
Schüler in den verschiedenen Schultypen<br />
auswirken wird. Wie sieht die aktuelle Schulstatistik<br />
in den beiden Landkreisen aus?<br />
Tabelle 7: Verteilung der Schüler auf die besuchten Schulformen 2005<br />
Schulformen Heidenheim Saalfeld-Rudolstadt<br />
Gesamtanzahl der Schüler<br />
nach Schulform a 8369 6387<br />
Hauptschule k.A. b wird in Regelschule<br />
zusammengefasst<br />
Realschule/Regelschule 43,02% 47,50%<br />
Gymnasium 49,13% 39,13%<br />
Förderschule/Sonderschule 7,83% 13,37%<br />
Quelle: Berichte der Statistischen Landesämter von Baden-Württemberg und Thüringen 2006<br />
a Die Gesamtzahl bezieht sich nur auf die hier abgefragten Schulformen. Grundschule sowie integrative Gesamtschulen<br />
werden nicht mit einbezogen.<br />
b In Heidenheim werden Grund- und Hauptschule zusammengefasst. Somit besteht keine Möglichkeit, die Hauptschüler<br />
gesondert zu quatifizieren.
Betrachtet man diese schulstatistischen<br />
Zahlen aus den Landkreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt, dann fällt auf,<br />
dass der Anteil an Regel-/Haupt- und<br />
Realschülern am wenigsten differiert. Die<br />
großen Unterschiede zeigen sich zum einen<br />
beim Gymnasium. Der Anteil der Gymnasiasten<br />
liegt im Landkreis Heidenheim<br />
um etwa 10 Prozent höher als im Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt. Und zum anderen bei<br />
den Förderschülern, wo im Landkreis Saalfeld-<br />
Rudolstadt fast der doppelt so hohe Anteil<br />
(7,83 zu 13,37 Prozent) festzustellen ist. Der<br />
Malus einer „Sonderschulkarriere“ belastet im<br />
Thüringer Kreisgebiet also mehr Kinder und<br />
Jugendliche als im Württembergischen. Entsprechend<br />
höher ist die Wahrscheinlichkeit<br />
einer sozialen und sozialpädagogischen Hilfebedürftigkeit<br />
zu veranschlagen. Der größere<br />
Anteil an Gymnasiasten im Landkreis Heidenheim<br />
korreliert mit dem höheren Urbanisierungsgrad<br />
in der Siedlungsweise. Von daher<br />
deutet dieser Vergleich auf einen höheren Peripherisierungsgrad<br />
des Saalfeld-Rudolstädter<br />
Kreisgebiets hin.<br />
Allerdings sind solche „nackten“, kontextfreien<br />
Zahlen für einen tieferen regionalen Vergleich<br />
nur sehr bedingt aussagekräftig. Schon die<br />
Bedeutung und die Qualität der Hauptschule<br />
ist insbesondere in Stadt und Land sowie von<br />
Bundesland zu Bundesland verschieden. Des<br />
Weiteren gibt es innerhalb gewisser Grenzen<br />
der Verteilung nach unten und nach oben zum<br />
Beispiel keinen eindeutigen Zusammenhang<br />
vom Anteil der Hauptschüler unter den Schulabgängern<br />
eines Jahrgangs und der regionalen<br />
Arbeitslosenrate sowie der Wirtschaftskraft<br />
eines Bundeslandes oder einer Region. Die<br />
süddeutschen Bundesländer, insbesondere<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Bayern, haben einen relativ hohen Anteil an<br />
Hauptschülern, gleichzeitig aber die niedrigste<br />
Arbeitslosenrate und, zum Beispiel am<br />
Länderfinanzausgleich gemessen, die höchste<br />
Wirtschafts- und Steuerkraft. Die entscheidende<br />
Variable scheint hier das Passungsverhältnis<br />
der Verteilung von Absolventen der<br />
verschiedenen Schulformen zum Anforderungsprofil<br />
des regionalen Arbeitsmarktes bzw.<br />
der vorhandenen Betriebs- und Produktionsformen<br />
zu sein. Generell ist aber davon auszugehen<br />
– und wird in den Expertengesprächen<br />
bestätigt – , dass die Zahl der Arbeitsplätze für<br />
Förderschüler und Schulabbrecher gerade auch<br />
in industrialisierten Gewerbelandschaften abnimmt<br />
und weiter abnehmen wird. Der hohe<br />
Anteil an Realschülern und Gymnasiasten,<br />
vor allem im Landkreis Heidenheim, „passt“<br />
dagegen zu den gestiegenen Anforderungen<br />
im kaufmännischen und technischen Bereich<br />
moderner Produktionsbetriebe. Auf die Probleme<br />
dieses Passungsverhältnisses wird bei<br />
der Betrachtung der norddeutschen Kreisgebiete<br />
zurückzukommen sein. Die zum Teil<br />
großen regionalen Differenzen beim Besuch<br />
der verschiedenen Schulformen deuten jedoch<br />
darauf hin, dass das pädagogische Feld einer<br />
eigenlogischen, die regionale Sozialstruktur<br />
nicht unmittelbar „abbildenden“ politischen<br />
Gestaltung zu unterliegen bzw. für diese offen<br />
zu sein scheint.<br />
Ausgewählte Literatur zur Entwicklung<br />
in den Kreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt<br />
Landkreis Heidenheim<br />
Assion, P. (1978) Altes Handwerk und frühe<br />
Industrie im deutschen Südwesten. Ein Litera-<br />
Seite 63
Seite 64<br />
turbericht. Freiburg i.Br.<br />
Soziographische Analyse<br />
Beschreibung des Oberamts Heidenheim (1844)<br />
(hrsg. vom königlich statistisch-topographischen<br />
Büreau). Stuttgart und Tübingen.<br />
Boelcke, W.A. (1987) Wirtschaftsgeschichte<br />
Baden-Württembergs von den Römern bis heute.<br />
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Borchardt, Chr. (1991) Baden-Württemberg.<br />
Eine Geographische Landeskunde. Darmstadt.<br />
Borscheid, P. (1978) Textilarbeiterschaft in der<br />
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in Württemberg (19. Jahrhundert). Stuttgart.<br />
Borst, O. (Hrsg.) (1989) Wege in die Welt. Die<br />
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des 18. Jahrhunderts. Stuttgart.<br />
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Grees, H. (1961) Die bäuerliche Kulturlandschaft<br />
der Ostalb (Diss.). Tübingen.<br />
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der ländlichen Siedlungen. Berichte zur deutschen<br />
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Grees, H. (1975) Ländliche Unterschichten<br />
und ländliche Siedlung in<br />
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Gysin, J. (1986) „Fabriken und Manufakturen“<br />
in Württemberg während des ersten Drittels des<br />
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Cattun-Manufaktur Heidenheim/Brenz. Ihre<br />
Entstehung und Entwicklung 1856-1906. Stuttgart.<br />
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Tübinger geographische und geologische Abhandlungen<br />
I Heft 24.<br />
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Bd. 2: Amtliche Beschreibung<br />
nach Kreisen und Gemeinden. Nordwürttemberg.<br />
Teil 1 (hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung<br />
Baden-Württemberg). Stuttgart, S. 600-623.<br />
Landkreis Heidenheim (1989) In: Das Land<br />
Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach<br />
Kreisen und Gemeinden. Bd. 4: Regierungsbezirk<br />
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(hrsg. von der Landesarchivdirektion<br />
Baden-Württemberg). Stuttgart, S. 559-633.<br />
Schädle, E. (1920) Die Entwicklung der Textilindustrie<br />
im Oberamt Heidenheim (Diss.).<br />
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Scharfe, M. (1980) Die Religion des Volkes. Kleine<br />
Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus.<br />
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Theiß, K., Schleuning, H. (Hrsg.) (1979) Der<br />
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Landkreis Saalfeld-Rudolstadt<br />
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(hrsg. vom Verband für Agrarforschung und<br />
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der gegenwärtigen Agrarverfassung Thüringens.<br />
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Jahrhundert. Rudolstadt.<br />
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seit über 100 Jahren (Diss.). Münster.<br />
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Jonscher, R. (1993) Kleine thüringische Geschichte.<br />
<strong>Jena</strong>.<br />
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in einer Thüringer Familie. Münster.<br />
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und ihre Auflösung. Stuttgart.<br />
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Thüringen. <strong>Jena</strong>.<br />
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Eine wirtschaftskundliche Darstellung, zugleich<br />
ein Beitrag zur Lehre von den Standortfaktoren<br />
der Fertigindustrie. <strong>Jena</strong>.<br />
Patze, H./Schlesinger, W. (Hrsg.) (1968-1979)<br />
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und Besitzverhältnisse der ländlichen<br />
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Jahrhundert. Weimar.<br />
Ullrich, W. (1986) Studien zur industriellen<br />
Entwicklung Süd- und Ostthüringens in den<br />
Seite 65
Soziographische Analyse<br />
30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. <strong>Jena</strong>.<br />
Vesper, J. (1992) Strukturwandel in Thüringen.<br />
Erfurt.<br />
Wotschke, T. (1929) Der Pietismus in Thüringen.<br />
Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte<br />
und Kunst Jg. 18.<br />
b) Kreis Ostholstein und Landkreis Rügen<br />
Wir wenden uns im Folgenden den Sozialverhältnissen<br />
in den beiden norddeutschen<br />
Untersuchungsgebieten zu. (Zur relevanten,<br />
für diesen Abschnitt ausgewerteten Literatur<br />
verweisen wir wieder auf das Verzeichnis am<br />
Ende des Unterkapitels.)<br />
(1) Naturraum: Die naturräumliche Lage an<br />
der Ostsee ist das Gemeinsame der Kreisgebiete<br />
Ostholstein und Rügen. Während der<br />
Landkreis Rügen aber nur das Gebiet der<br />
Insel umfasst, liegt der größte Teil des Kreises<br />
Ostholstein auf dem Festland und nur mit<br />
Fehmarn ein kleiner auf einer Insel. Bodenschätze<br />
wie in den deutschen Mittelgebirgen,<br />
die zum Kristallisationskern für eine gewerblich-industrielle<br />
Entwicklung werden konnten,<br />
fehlen in den beiden Regionen (sieht man vom<br />
Sonderfall der lokalen Kreidevorkommen auf<br />
Rügen ab). Neben der Landwirtschaft eröffnet<br />
die natürliche Lage nur noch die Möglichkeit<br />
der Nutzung der Ostsee – zuerst vor allem<br />
für den Fischfang, in der letzten Zeit eher für<br />
den Tourismus. Allerdings sind die<br />
Synergien von Landwirtschaft und<br />
Seite 66 Fischfang für die moderne sozialökonomische<br />
Entwicklung denkbar gering.<br />
Sie schlagen sich eigentlich nur<br />
in den – entwicklungstheoretisch gesehen: defensiven<br />
– Strategien zur Subsistenzsicherung<br />
bei kleinen Familienbetrieben des primären<br />
Wirtschaftssektors nieder.<br />
(2) Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerungsentwicklung<br />
auf Rügen zeigt von 1738<br />
bis 1919 (51.000 Einw.) etwas mehr als eine<br />
Verdopplung der Einwohnerzahl – das ist<br />
vergleichsweise wenig und hat wohl etwas<br />
mit der gutsherrschaftlichen Bevölkerungskontrolle<br />
(d.h. im Gutsbezirk durfte nur mit<br />
Zustimmung des Gutsherrn geheiratet und<br />
eine Familie gegründet werden) zu tun. Der<br />
größte Zuwachs findet nach 1945 auf 85.000<br />
Einwohner statt. Anders als im Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt erweist sich diese Zunahme<br />
in der DDR-Zeit als stabil. Zwischen 1990<br />
und 2002 geht die Bevölkerungszahl dann<br />
kontinuierlich von 85.200 auf 73.600 Einwohner<br />
zurück. Die Geburtenrate sinkt stärker<br />
als im Land Mecklenburg-Vorpommern. Zu<br />
fragen bleibt, ob dies mit dem Wegzug junger<br />
Familien aus ehemaligen Militärstützpunkten<br />
zu tun hat. Rügen gehört nach Angaben des<br />
Statistischen Bundesamts bzw. seiner Statistischen<br />
Jahrbücher deutschlandweit zu den<br />
Kreisen mit den höchsten Scheidungsraten<br />
(derzeitiger Bundesdurchschnitt 23,5 pro<br />
10.000 Einwohner, Rügen: 31,3). Den größten<br />
Bevölkerungsverlust haben nach 1990 nicht<br />
die Landgemeinden, sondern die Stadt Bergen<br />
aufzuweisen. Das ergibt insgesamt für die Insel<br />
Rügen ein sehr negatives demographisches<br />
Bild.<br />
Wie sieht die Situation in Ostholstein aus?<br />
Der heutige Kreis hat 1950 mit seiner Bevölkerung<br />
nach dem Kreis Flensburg den höchsten<br />
Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen: Der<br />
Altkreis Eutin 44,2% (= 47.200 von 107.000<br />
Einwohnern) und der Altkreis Oldenburg i.H.<br />
42,9% (= 39.900 von 93.000 Einwohnern).
Der Anteil in Ostholstein nahm bis 1961 nur<br />
wenig auf 39,5% im Altkreis Eutin (35.100 von<br />
89.000) und etwas mehr auf 33,2% (26.400<br />
von 79.500) im Altkreis Oldenburg i.H. ab.<br />
Die Flüchtlinge aus den Gebieten östlich von<br />
Oder und Neiße mit ländlicher Herkunft verblieben<br />
am längsten am Ort der Ankunft nach<br />
der Flucht - Notunterkünfte wurden zum Teil<br />
erst um 1970 verlassen. Seit 1970 hat die Bevölkerungszahl<br />
zwar um etwa 15.000 auf über<br />
200.000 zugenommen. Von dieser geringen<br />
Zunahme sind die einzelnen Kreisteile jedoch<br />
sehr unterschiedlich betroffen: Sie konzentriert<br />
sich auf die suburbanen Vorortgemeinden von<br />
Lübeck (Zuwachs ca. 25%); dagegen findet<br />
sich vor allem im Nordteil eine kontinuierliche<br />
Abnahme (was eine deutliche Parallele zu<br />
Rügen darstellt), während die Bevölkerungszahl<br />
im Mittelteil des Kreises fast konstant<br />
bleibt. Die geringe Zahl von Zuwanderern (bei<br />
denen die über 50jährigen, die Ausländer und<br />
die Erwerbstätigen zwischen 30 und 50 Jahren<br />
überrepräsentiert sind), die sehr niedrige<br />
Geburtenrate und eine überdurchschnittlich<br />
hohe Zahl an Gestorbenen (u.a. Rentiers in<br />
den Bädergemeinden) führt (wie auf Rügen)<br />
zu einer Überalterung der Kreisbevölkerung.<br />
Während jedoch auf Rügen mehr junge Frauen<br />
fort ziehen, sind es (jedenfalls 1990 in unserer<br />
ersten Untersuchung) in Ostholstein überdurchschnittlich<br />
viele junge Männer im Alter<br />
zwischen 18 und 30 Jahren. Der Anteil der<br />
ausländischen Wohnbevölkerung liegt (2004)<br />
im Kreis Ostholstein mit insgesamt 2,7% nur<br />
wenig über dem in den Landkreisen Saalfeld-<br />
Rudolstadt (2,1%) und Rügen (1,9%) – ganz<br />
im Gegensatz zum Landkreis Heidenheim mit<br />
10,1% Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung.<br />
In Ostholstein wurde schließlich der Bevölkerungsschwund<br />
seit 1990 vor allem durch<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
eine Zuwanderung aus dem benachbarten<br />
Mecklenburg-Vorpommern gestoppt.<br />
(3) Historische Agrarverfassung: Ostholstein<br />
und Rügen zählen zu den ehemaligen Güterprovinzen<br />
mit einer scharf ausgeprägten Form<br />
der Gutsherrschaft. Über 50% der Landfläche<br />
wurde vor dem letzten Weltkrieg von Gütern<br />
bewirtschaftet (in Ostholstein waren es etwa<br />
55%, auf Rügen hatte dieser Anteil auf seinem<br />
Höhepunkt um 1800 sogar ca. 80% betragen,<br />
um von da an mehr oder weniger langsam zu<br />
sinken). Die Folgen beschreiben zeitgenössische<br />
Beobachter aus dem 19. Jahrhundert:<br />
Das „physische und moralische Elend“ hatte<br />
sich den Gesichtszügen und der ganzen Haltung,<br />
also dem Habitus, der Leibeigenen und<br />
Landarbeiter „tief und gewissermaßen erblich<br />
eingeprägt“. Auf den ersten Blick waren sie<br />
von den Einwohnern „freier Landdistrikte“<br />
zu unterscheiden (Hanssen 1975). Allerdings<br />
schreibt Max Weber (1988) in seiner Enquete<br />
zur Lage der ostelbischen Landarbeiter, dass<br />
die durch Deputate und Überlassung kleiner<br />
Wirtschaftsflächen versorgten Landarbeiter in<br />
den Gutsbezirken Ostholsteins – insbesondere<br />
wegen des hohen Anteils der Viehhaltung<br />
und der damit verbundenen besseren Chance<br />
auf ganzjährige Beschäftigung – die relativ<br />
günstigsten Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
unter allen ostelbischen Güterprovinzen<br />
Preußen-Deutschlands gehabt und die Landarbeiter<br />
auf Rügen, zum Beispiel bei<br />
der Wohnraumversorgung, merklich<br />
besser gestanden hätten als ihre Stan- Seite 67<br />
desgenossen auf den festländischen<br />
Gütern Vorpommerns und erst recht<br />
als in Hinterpommern. Von dieser allgemeinen<br />
Charakteristik eines Güterdistrikts wichen<br />
sowohl auf Rügen wie in Ostholstein nur
Soziographische Analyse<br />
zwei kleine Teile der heutigen Kreisgebiete<br />
ab: Mönchgut sowie Ummanz auf Rügen<br />
und die Insel Fehmarn sowie das ehemalige<br />
Klostergebiet um Cismar in Ostholstein.<br />
Die vorhandenen Bauernhöfe wurden allgemein<br />
geschlossen vererbt. Auf Rügen gab es<br />
die Kombination Bauer und Fischer öfter,<br />
während sich in Ostholstein die Fischerei in<br />
den kleinen Hafenstädten wie Heiligenhafen<br />
oder Neustadt i.H. konzentrierte, weshalb die<br />
lokale kollektive Orientierung auf das Land<br />
oder auf das Meer hin sozialräumlich klarer<br />
differenziert waren als auf Rügen.<br />
(4) Gewerbeentwicklung und Industrialisierung:<br />
In den Gutsbezirken beschränkte<br />
sich die Gewerbeentwicklung auf die für den<br />
landwirtschaftlichen Betrieb notwendigen<br />
Handwerkszweige. In einigen Hafenstädten<br />
Ostholsteins gab es kleine Werften und anderes<br />
Gewerbe im Umfeld von Fischerei und<br />
Schifffahrt – auf Rügen bis in die DDR-Zeit<br />
hinein noch weniger desselben; hier eröffneten<br />
sich nur für Pendler Beschäftigungschancen<br />
in der Stralsunder Werft, während sich der<br />
in den 1980er Jahren gebaute Fährhafen<br />
Mukran schon nicht mehr richtig entfalten<br />
konnte. Industrialisierung fand in Ostholstein<br />
auf der Basis von kleinen mittelständischen<br />
Unternehmen eigentlich erst nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg im Lübecker Umland und<br />
punktuell in den anderen größeren Orten<br />
des Kreisgebiets statt. Industrie und<br />
Gewerbe schafften es jedoch nur<br />
Seite 68 ein oder zwei Jahre in der Mitte der<br />
1960er Jahre, größter Wirtschaftssektor<br />
im Kreis Ostholstein zu werden.<br />
Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre bilden<br />
die Dienstleistungen den wichtigsten Sektor,<br />
insbesondere im Umfeld des Tourismus. Auf<br />
Rügen beginnt der Fremdenverkehr im 19.<br />
Jahrhundert noch früher und intensiver als in<br />
Ostholstein. Das erste Ferienzentrum wurde<br />
in Deutschland von den Nationalsozialisten<br />
in Prora auf Rügen geplant und zu bauen<br />
begonnen, die meisten Ferienzentren im Altbundesgebiet<br />
gibt es seit etwa 1970 im Kreis<br />
Ostholstein. Industrie ist auf Rügen nur punktuell<br />
vorhanden (z. B. Fischfabrik in Sassnitz).<br />
Wie in Ostholstein dominiert der tertiäre<br />
Sektor. Die Neugründung von Betrieben nach<br />
1990 konzentriert sich neben dem Handwerk<br />
auf diesen Bereich. Beide Kreisgebiete haben<br />
die prägende Formationsphase durch einen<br />
vorherrschenden Industrie- und Gewerbesektor<br />
so gut wie übersprungen. Die Integration<br />
in ein entsprechendes Berufssystem wurde nie<br />
zum selbstverständlichen Bestandteil des regionalen<br />
Handlungs- und Erziehungsmusters.<br />
Es ist davon auszugehen, dass dieser Mangel<br />
sich auf die Familienstruktur der unteren Bevölkerungsschichten<br />
auswirken wird. Besonders<br />
für die Vaterrolle scheint auch noch in der<br />
modernen Gesellschaft die stabile Verbindung<br />
von Familie und Beruf(sstelle) eine wichtige<br />
Voraussetzung zu sein. (Der relativ hohe Anteil<br />
an alleinerziehenden Müttern und Scheidungen<br />
in Ostholstein und auf Rügen unter<br />
den Klienten der Jugendhilfe scheint die These<br />
von einer „sekundären Entfamilialisierung“ des<br />
Vaters durch den Verlust seines Berufsstatus zu<br />
bestätigen.)<br />
(5) Innere Differenzierung nach Wirtschaftsschwerpunkten<br />
und Gemeindetypen: Wie zum<br />
Teil schon aus dem Vorhergehenden ersichtlich<br />
wurde, teilt sich Rügen in vier und Ostholstein<br />
in fünf Gemeindetypen mit unterschiedlichem<br />
sozialökonomischen Profil:
• Ehemalige Gutsdörfer, zum Teil mit Bauernstellen<br />
aufgesiedelt, im größeren Teil der<br />
Kreisgebiete,<br />
• alte Bauerndörfer in den „immer schon freien“<br />
Gemeinden der Kreise,<br />
• städtische Verwaltungs- (Bergen auf Rügen/<br />
Eutin, Oldenburg, Burg a.F. in Ostholstein)<br />
und gewerbliche Zentralorte (Sassnitz auf<br />
Rügen/Neustadt i.H.),<br />
• zahlreiche Badeorte und Ferienzentren in<br />
beiden Kreisgebieten<br />
• und in Ostholstein noch der suburbane Raum<br />
um Lübeck (für entsprechende Suburbanisierungsprozesse<br />
auf Rügen liegen Stralsund und<br />
Greifswald „zu weit weg“, außerdem differieren<br />
diese beiden Städte deutlich mit Lübeck, was<br />
die Größenklasse im sozialgeographischen<br />
Konzept der zentralen Orte anbelangt).<br />
(6) Soziale Situation und Arbeitsmarktlage:<br />
Nach der wirtschaftlichen Situation betrachten<br />
wir wieder die Kehrseite des Sozialbelastungsindexes<br />
und des wohlfahrtsstaatlichen<br />
Leistungsprofils in beiden Landkreisen. In<br />
Nordostdeutschland gab es bis in die 1960er<br />
Jahre im Falle des Kreises Ostholstein und bis<br />
1990 auf Rügen noch zahlreiche Landarbeiter.<br />
Mit der Technisierung und Rationalisierung<br />
der großbetrieblichen Landwirtschaft verloren<br />
von da ab die meisten ihren Arbeitsplatz<br />
im Agrarsektor. Ein Teil der Freigesetzten<br />
fand in der regionalen Bauwirtschaft oder<br />
als Gemeindearbeiter eine neue Stelle. Der<br />
andere blieb arbeitslos, zog – nicht zuletzt aus<br />
einem Mangel an Humanvermögen für Tätigkeiten<br />
in der modernen Industrie und den an<br />
kommunikativem Vermögen ausgerichteten<br />
Dienstleistungen – aber auch nicht „der Arbeit<br />
hinterher“. Nimmt man das Datum hinzu,<br />
dass die anderen regionalen Wirtschaftszweige<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
wie Fischerei und die daran anschließenden<br />
Verarbeitungsbetriebe sowie Kleinindustrie<br />
(z. B. kleine und sehr kleine Werftbetriebe)<br />
ebenfalls seit den 1970er bzw. 1990er Jahren<br />
stark abgenommen haben (allerdings spielt<br />
die Stralsunder Werft für Arbeiterpendler<br />
auf der Insel Rügen nach wie vor eine gewisse<br />
Rolle), müssen wir von einer höheren<br />
durchschnittlichen Arbeitslosigkeit als in den<br />
süddeutschen Landkreisen Heidenheim und<br />
Saalfeld-Rudolstadt ausgehen. Wie sehen die<br />
Quoten der Arbeitslosigkeit in Tabelle 1 im<br />
Kreis Ostholstein und auf Rügen zwischen<br />
1989 und 2006 dann tatsächlich aus?<br />
Seite 69
Seite 70<br />
Soziographische Analyse<br />
Tabelle 1: Arbeitslosenquote der Kreise Ostholstein und Rügen im<br />
Jahresdurchschnitt und im Vergleich<br />
In beiden Kreisgebieten ist eine ausgeprägte<br />
saisonale Schwankung der Arbeitslosenquote<br />
festzustellen. Das gibt die strukturelle Homologie<br />
in der Regionaltypik wieder und ist<br />
mit ihr zu erklären. Dazu gehört insbesondere<br />
die große Bedeutung von Tourismus und<br />
Ferienindustrie. Der Ost-West-Gegensatz<br />
drückt sich wie im Falle der Landkreise<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt durch<br />
eine in etwa doppelt so hohe Arbeitslosen-<br />
Arbeitslosenquote aller abh. Erwerbspersonen im Jahresdurchschnitt,<br />
sowie Minimum im Sommer- und Maximum im Winterhalbjahr in %<br />
Ostholstein Rügen<br />
Jahr Min. Max. Jahr Min. Max.<br />
1989 10,4 7,6 15,5 - - -<br />
1997 11 9,4 13,3 19,5 16,1 23,5<br />
2001 9,9 8,2 12,7 20,4 17,5 25,4<br />
2002 9,9 8,6 12,5 21,1 17,0 26,5<br />
2003 11,1 9,4 13,7 22,7 18,4 29,1<br />
2004 11,1 9,5 13,7 22,9 19,2 27,9<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />
rate des jeweiligen ostdeutschen Kreises aus.<br />
In der nächsten Tabelle betrachten wir wieder<br />
die Anteile der Arbeitslosengeld I (nach SGB<br />
III) und Arbeitslosengeld II (nach SGB II)<br />
Beziehenden im Dezember 2005 (für das<br />
Winterhalbjahr) und im Juni 2006 (für das<br />
Sommerhalbjahr). Sie ermöglichen uns den<br />
Rückschluss auf die jeweilige Langzeitarbeitslosigkeit<br />
in den beiden Kreisgebieten.<br />
Arbeitslosenquote aller zivilen Erwerbspersonen nach SGB II und SGB III<br />
Arbeitslosenquote<br />
Dezember<br />
2005 in %<br />
SGB II SGB III<br />
Arbeitslosenquote<br />
Juni<br />
2006 in %<br />
SGB II SGB III<br />
Heidenheim 8,6 4,2 4,4 7,5 4,0 3,5<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Tabelle 2: Arbeitslosenquote nach SGB II und SGB III in den Kreisen Ostholstein und Rügen<br />
16,8 9,3 7,5 15,2 9,1 6,2<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“
Auf der einen Seite sind aus Tabelle 2 Zahlen<br />
zur regionalen Arbeitslosigkeit zu ersehen,<br />
die man nach allgemeiner Einschätzung so<br />
erwartet. Auf Rügen ist die Quote immer höher<br />
als in Ostholstein. Auf der anderen Seite<br />
zeigt sich aber auch ein auf den ersten Blick<br />
überraschender statistischer Befund: Im Kreis<br />
Ostholstein ist ein zwar kleinerer, aber dafür<br />
stabilerer Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit<br />
festzustellen.<br />
35,0<br />
30,0<br />
25,0<br />
20,0<br />
15,0<br />
10,0<br />
5,0<br />
0,0<br />
Dieses erste Schaubild zeigt anschaulich, dass<br />
auf Rügen nicht nur die durchschnittliche<br />
Arbeitslosenquote höher als in Ostholstein ist,<br />
sondern auch die Ausschläge hinsichtlich Minimum<br />
und Maximum in der jahreszeitlichen<br />
Statistik prägnanter ausfallen. (Obwohl wir<br />
der Tabelle 1 in diesem Abschnitt entnehmen<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Schaubild 1: Arbeitslosenquote der Kreise Ostholstein und Rügen<br />
im jahreszeitlichen Ablauf (2001-2004)<br />
Denn sowohl im Sommer als auch im Winter<br />
(hier anders als auf Rügen) ist der Anteil an<br />
ALG II-Empfängern höher als der der ALG<br />
I-Empfänger. In beiden Kreisgebieten fällt<br />
zuerst wieder die hohe saisonale Schwankung<br />
der Arbeitslosenquoten ins Auge. Dies wird in<br />
unserem nächsten Schaubild noch deutlicher<br />
hervorgehen.<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
2001 2002 2003 2004<br />
Kreis Ostholstein Kreis Rügen<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />
konnten, dass diese Schwankungen in<br />
Ostholstein auch schon einmal größer<br />
waren – vgl. Bohler & Bieback-Diel<br />
2001, S. 71)<br />
Seite 71
Soziographische Analyse<br />
Im Folgenden betrachten wir im Juni 2006 die<br />
Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und jungen<br />
Erwachsenen in den Kreisen Ostholstein und<br />
Rügen. Da wir uns auf die Häufigkeit des<br />
Bestand insgesamt<br />
Darunter:<br />
Männer<br />
Frauen<br />
Ausländer<br />
Davon nach Schulabschluss:<br />
Kein Schulabschluss<br />
Hauptschule/mittlere Reife<br />
FH/HS-Reife<br />
Ostholstein<br />
Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />
Insgesamt<br />
Erwartungsgemäß – allerdings viel weniger<br />
als ursprünglich von uns vermutet – liegen<br />
das Niveau der Arbeitslosigkeit und die<br />
Wahrscheinlichkeit prekärer Lebenslagen in<br />
den Kreisen Ostholstein und Rügen (11,9%<br />
und 13,4%) höher als in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt (11,5%<br />
und 11,0%). Dagegen differieren die Anteile<br />
in den beiden westdeutschen<br />
Kreisgebieten deutlich weniger als<br />
Seite 72 in den ostdeutschen. Erstaunlich ist<br />
jedoch in diesem Zusammenhang,<br />
dass der Anteil der Bezieher von<br />
ALG II im Landkreis Heidenheim – zwar<br />
nur leicht, aber insgesamt doch – höher<br />
liegt als im generell strukturschwächeren<br />
Bezugs von Arbeitslosengeld II beschränken,<br />
erwarten wir mehr als nur einen mittelbaren<br />
Hinweis auf prekäre Lebenslagen in der Altersgruppe<br />
der 16- bis 25-Jährigen.<br />
Tabelle 3: Arbeitslose unter 25 Jahre nach SGB II Juni 2006: Ostholstein und Rügen<br />
11,9<br />
6,8<br />
5,1<br />
0,6<br />
2,4<br />
8,9<br />
0,6<br />
im Rechtskreis<br />
SGB II<br />
5,9<br />
3,5<br />
2,4<br />
0,4<br />
1,6<br />
4,0<br />
0,3<br />
Rügen<br />
Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />
Insgesamt<br />
13,4<br />
8,3<br />
5,1<br />
-<br />
2,7<br />
10,2<br />
0,5<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslose unter 25 Jahren nach dem Rechtskreis SGB II<br />
im Rechtskreis<br />
SGB II<br />
9,1<br />
5,6<br />
3,5<br />
-<br />
2,3<br />
6,6<br />
0,2<br />
Kreis Ostholstein. Um die Gründe für solche<br />
Befunde herausarbeiten zu können, wären<br />
in diesem Bereich weitere Untersuchungen<br />
notwendig. Hier scheinen sich vielfältige<br />
Bedingungsfaktoren (wie zum Beispiel Mobilitätsneigung,<br />
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen<br />
usw.) zu kreuzen. Darauf gehen wir im<br />
nächsten Abschnitt 7 nochmals ein.<br />
Kommen wir an dieser Stelle zu einem Resümee<br />
des gesamten Kreisvergleichs für den Bereich<br />
der Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Wie nehmen<br />
sich die Relationen der Arbeitslosigkeit in<br />
Ostholstein und auf Rügen im Vergleich mit<br />
den süddeutschen Landkreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt aus? Nimmt man
zum Beispiel die Arbeitslosenzahlen von 2004<br />
(jeweils aus Tabelle 1: Heidenheim: 8,9%,<br />
Saalfeld-Rudolstadt: 16,8%, Ostholstein<br />
11,1%, Rügen: 22,9%), so spiegelt sich darin<br />
das aus der allgemeinen gesellschaftlichen<br />
Entwicklung von uns Erwartete:<br />
Es überschneiden sich der Ost-West- und<br />
der Nord-Süd-Effekt. Auf der einen Seite<br />
haben die westdeutschen Kreise (Heidenheim,<br />
Ostholstein) eine geringere Quote als ihr<br />
jeweiliges ostdeutsches Pendant (Saalfeld-<br />
Rudolstadt, Rügen). Auf der anderen Seite<br />
zeigen die süddeutschen Kreise (Heidenheim,<br />
Saalfeld-Rudolstadt) eine niedrigere als ihre<br />
norddeutschen Kontrastgebiete in den alten<br />
und neuen Bundesländern (Ostholstein, Rügen).<br />
Wir hatten im Abschnitt zu den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
oben schon darauf hingewiesen, dass im Allgemeinen<br />
aus einer höheren sozialen Belastung<br />
der Region auf die verstärkte Notwendigkeit<br />
von Interventionen der sozialen Dienste und<br />
Beratung durch Einrichtungen (wie z. B.<br />
Schuldnerberatung) oder eine große Zahl von<br />
Leistungsempfängern der Sozialkassen (wie z.<br />
B. im Bereich der Jugendhilfe die Unterhaltsvorschusskasse)<br />
geschlossen wird. Das entsprechende<br />
Bedarfsprofil der sozialen Dienste und<br />
Einrichtungen verschärft sich auf der Basis der<br />
vier Kreisstatistiken tendenziell von West nach<br />
Ost und von Süd nach Nord. Das bestätigt die<br />
allgemeinen Erwartungen. Unübersichtlicher<br />
ist die Situation in den beiden Tabellen 2. In<br />
ihnen wird neben der Angabe der saisonalen<br />
Schwankungen zwischen Lang- (SGB II) und<br />
Kurzzeitarbeitslosen (SGB III) differenziert.<br />
Und hier zeigt sich bei den norddeutschen<br />
Kreisgebieten, dass der Kreis Ostholstein im<br />
Vergleich zur Insel Rügen zwar die insgesamt<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
geringere Arbeitslosenquote, jedoch den<br />
relativ größeren und stabileren „Sockel“ an<br />
Langzeitarbeitslosen aufweist. Denn nur in<br />
Ostholstein ist auch im Winter der Anteil<br />
der Langzeitarbeitslosen (ALG II) höher<br />
als der der Arbeitslosengeld (ALG I) Beziehenden.<br />
Umgekehrt ist die Relation in den<br />
süddeutschen Kreisgebieten. Der Landkreis<br />
Heidenheim hat nicht nur die geringste saisonale<br />
Schwankung in den Arbeitslosenquoten<br />
– wie aus dem nebenstehenden Schaubild der<br />
saisonell bedingten Schwankung der Arbeitslosenquote<br />
im Vergleich der vier Landkreise<br />
deutlich hervorgeht – , sondern auch die geringste<br />
Sockelarbeitslosigkeit. Allerdings teilt<br />
Heidenheim mit der Insel Rügen dasselbe<br />
Grundmuster in der Verteilung von Kurz- und<br />
Langzeitarbeitslosen, ebenso wie der Kreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt mit Ostholstein. Was<br />
könnte hierfür ein Grund sein? Aus unserer<br />
sozialstrukturellen Betrachtung zu Anfang der<br />
beiden Regionalvergleiche ging bereits hervor,<br />
dass der Arbeitsplatzabbau im primären Sektor<br />
und im Baugewerbe in Ostholstein mindestens<br />
ein bis zwei Jahrzehnte früher einsetzte<br />
als auf Rügen. Die Sockelarbeitslosigkeit<br />
würde diesen zeitlichen Ablauf wiedergeben.<br />
Dazu kontrastiert der Beschäftigungswandel<br />
in den industrialisierten süddeutschen Kreisgebieten.<br />
Der „große“ Abbau gewerblicher<br />
Arbeitsplätze fand im Landkreis Saalfeld-<br />
Rudolstadt – „wendebedingt“ – zu Anfang der<br />
1990er Jahre, im Landkreis Heidenheim<br />
– globalisierungsbedingt – zehn<br />
Jahre später, nämlich zu Anfang Seite 73<br />
des 21. Jahrhunderts statt. Auch<br />
dieses strukturelle Ablaufmuster der<br />
Beschäftigungssituation spiegelt sich in der<br />
Arbeitslosenstatistik wider.
Seite 74<br />
Soziographische Analyse<br />
Schaubild 2: Saisonal bedingte Schwankung der Arbeitslosenquote im Vergleich<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />
Heidenheim 9,2 5,9 3,3<br />
Saalfeld-Rudolstadt 13,5 8,4 5,1<br />
Ostholstein 18,7 13,2 5,5<br />
Rügen 29,1 17,0 12,2<br />
Kreis Max. Min. Diff. Max.-Min.<br />
2001 2002 2003 2004<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Januar<br />
Februar<br />
März<br />
April<br />
Mai<br />
Juni<br />
Juli<br />
August<br />
September<br />
Oktober<br />
November<br />
Dezember<br />
Kreis Saalfeld-Rudolstadt<br />
Kreis Heidenheim<br />
Kreis Ostholstein<br />
Kreis Rügen
(7) Regionale Opportunitäten für soziale Entwicklungen:<br />
Wie im ersten Teil des Kapitels zu<br />
den Regionen um Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt fragen wir auch hier wieder nach<br />
den Ergebnissen des C 6-Projekts zur Entwicklung<br />
und zu den psychosozialen Effekten<br />
im Rahmen der Bewältigung sozialen Wandels.<br />
Dieses Projekt zielt ja mit seinen Analysen<br />
unter anderem auf die Modellierung von vier<br />
Teilgruppen, die sich anhand kontrastierender<br />
Merkmalskombinationen bei der Betroffenheit<br />
durch sozialen Wandel und den Ressourcen zu<br />
dessen Bewältigung ergeben. Wir hatten beim<br />
Vergleich der ostwürttembergischen und ost-<br />
thüringischen Gebiete gesehen, dass diese sich<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
in der typologischen Betrachtung entsprechend<br />
unterscheiden. Beziehen wir nun die Gebiete<br />
des östlichen Holsteins und das nordöstliche<br />
Vorpommern in diese Betrachtung mit ein,<br />
dann müssen wir vor dem Hintergrund unserer<br />
bisherigen Rekonstruktionen zu dem Schluss<br />
kommen, dass wir mit unseren Untersuchungsgebieten<br />
alle vier Teilgruppen, wie sie im<br />
Projekt C 6 herausgestellt werden, „abdecken“.<br />
Das bedeutet, es ergibt sich hinsichtlich der<br />
Betroffenheit von sozialem Wandel (niedrig<br />
versus hoch) und dem Ausmaß an Ressourcen<br />
(niedrig versus hoch) eine Vier-Felder-Matrix,<br />
in die sich unsere Untersuchungsgebiete wie<br />
folgt einfügen:<br />
Schaubild 3: Betroffenheit von sozialem Wandel und Ressourcen zu seiner Bewältigung<br />
hohe Betroffenheit niedrige Betroffenheit<br />
viele Ressourcen Saalfeld-Rudolstadt Heidenheim<br />
wenige Ressourcen Rügen Ostholstein<br />
Diese Anordnung der Untersuchungsgebiete<br />
begründen wir mit folgenden Überlegungen<br />
und Indikatoren. Zuerst einmal spiegelt die<br />
Position in der Matrix die internen Relationen<br />
wider. Die höhere Betroffenheit durch<br />
sozialen Wandel im Falle der Insel Rügen<br />
und des Kreises Saalfeld-Rudolstadt bezieht<br />
sich bei C 6 auf den Systemumbruch<br />
1989/90. Im Vergleich dazu ist der Wandel<br />
mit seinen Folgen für die soziale Belastung<br />
der Kommunen im Landkreis Heidenheim<br />
geringer – obwohl Heidenheim in Relation<br />
zu seinen direkten Nachbarkreisen deutlich<br />
mehr unter den sozialen und wirtschaftlichen<br />
Entwicklungen der letzten 15 Jahre zu leiden<br />
hat. Diese Beziehungen sind unmittelbar<br />
nachzuvollziehen. Hinsichtlich der strukturellen<br />
Ressourcenfrage und ihrer Verbindung<br />
mit der Höhe der Betroffenheit durch Wandel<br />
greifen wir wieder auf unsere Indikatoren<br />
Regionale Wirtschaftskraft und Be-<br />
völkerungsentwicklung zurück. Danach<br />
ergibt sich das in der folgenden<br />
Tabelle wiedergegebene Bild.<br />
Seite 75
Soziographische Analyse<br />
Deutlich kontrastieren in Tabelle 4 die Kreisgebiete<br />
Ostholstein und Rügen – und zwar so<br />
deutlich, dass man einen Moment an ihrer Zugehörigkeit<br />
zu einem Regionaltypus zweifeln<br />
könnte. Allerdings gilt es hier zu bedenken,<br />
um wie viel größer die Strukturdifferenzen<br />
innerhalb des Kreises Ostholstein als die auf<br />
Rügen sind: Der Abstand hinsichtlich der<br />
Wirtschaftskraft des Gebietes des Altkreises<br />
Oldenburg i.H. – wo unser Untersuchungsschwerpunkt<br />
im Kreis Ostholstein liegt – zur<br />
Insel Rügen dürfte merklich geringer sein<br />
als der von Rügen zum südlicher gelegenen<br />
Altkreis Eutin. Auch verliert der Nordteil des<br />
Kreises Ostholstein seit dem Abebben<br />
der „Flüchtlingswelle“ in der Nach-<br />
Seite 76 kriegszeit stetig an Bevölkerung. Dies<br />
war z. B. zwischen 1970 und 1990 der<br />
Fall, wie wir aus früheren Untersuchungen<br />
(Bohler & Bieback-Diel 2001) wissen:<br />
Während der Südteil um Lübeck in dieser<br />
Zeit eine Bevölkerungszunahme von 22% zu-<br />
Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft:<br />
Ostholstein und Rügen im Vergleich<br />
Bevölkerungsentwicklung<br />
a Wanderungssaldo b Bruttoinlands<br />
produkt (BIP) c<br />
Verfügbares Haushaltseinkommen<br />
d<br />
Ostholstein 21,6 58,5 19.219 16.038<br />
Rügen -91,8 -65,0 16.707 13.702<br />
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />
a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />
b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />
c BIP je Einwohner 2004 in Euro<br />
d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 in Euro (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />
verzeichnen hatte, nahm die Einwohnerzahl<br />
des Nordteils ab – in der Mitte des Kreises um<br />
Eutin blieb sie in etwa konstant.Wir hatten<br />
im Abschnitt zu Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt darauf hingewiesen, dass die Frage<br />
nach Ressourcen und regionalen Opportunitäten<br />
nicht einfach zu beantworten ist. Um ein<br />
vollständigeres Bild zu bekommen, fassen wir<br />
in der folgenden Tabelle 5 die Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />
und zur Wirtschaftskraft<br />
aller vier Kreisgebiete zusammen.
In dieser Gesamtübersicht tritt besonders<br />
hervor, dass die beiden altindustriellen Gewerbegebiete<br />
Heidenheim und Saalfeld sich in den<br />
Kennzahlen näher stehen als die beiden nordostdeutschen<br />
Kreise Ostholstein und Rügen.<br />
Des Weiteren fällt auf, dass die Erwartungen<br />
hinsichtlich der Wirtschaftskraft der einzelnen<br />
Landkreise bestätigt werden: Im Nord-Süd-<br />
Vergleich (alte und neue Bundesländer je für<br />
sich betrachtet) haben die Kreisgebiete im<br />
Süden ein höheres BIP und ein höheres durchschnittlich<br />
verfügbares Haushaltseinkommen<br />
als die beiden Vergleichskreise im Norden.<br />
Dass der (Wieder-)Aufbau des gewerblichindustriellen<br />
Sektors in Ostdeutschland<br />
noch nicht abgeschlossen ist, zeigen die unterschiedlichen<br />
Abstände im westdeutschen<br />
Nord-Süd-Vergleich und seinem ostdeutschen<br />
Pendant: Zwischen den Kreisen Heidenheim<br />
und Ostholstein liegen beim BIP ziemlich<br />
genau 2.000 Euro je Einwohner, zwischen<br />
den Landkreisen Saalfeld-Rudolstadt<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Bevölkerungsentwicklunga<br />
Wanderungssaldob Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) c<br />
Verfügbares Haushaltseinkommen<br />
d<br />
Heidenheim 7,8 -38,4 26.217 17.395<br />
Ostholstein 21,6 58,5 19.219 16.038<br />
Rügen -91,8 -65,0 16.707 13.702<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Tabelle 5: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft im Vergleich aller Landkreise<br />
-95,7 -48,1 16.868 14.004<br />
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />
a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />
b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />
c BIP je Einwohner 2004<br />
d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />
und Rügen dagegen nur gut 150 Euro.<br />
Beim verfügbaren Haushaltseinkommen sind<br />
die Verhältnisse zwar nicht in der Reihenfolge,<br />
aber in den internen Relationen zwischen ostund<br />
westdeutschen Kreisgebieten anders: Der<br />
Abstand zwischen Heidenheim und Ostholstein<br />
ist bezogen auf den BIP-Vergleich viel<br />
geringer (nur etwa 1350 Euro je Haushalt),<br />
während hier der Abstand zwischen Saalfeld-<br />
Rudolstadt und Rügen relativ größer wird (ca.<br />
300 Euro). Diese statistischen Befunde zur<br />
Wirtschaftskraft und zum verfügbaren Haushaltseinkommen<br />
lassen sich – zum Beispiel<br />
durch den Hinweis auf den Zuzug relativ wohlhabender<br />
Ruheständler in Ostholstein<br />
– recht schnell plausibel erklären.<br />
Anders sieht es bei der Bevölkerungs- Seite 77<br />
entwicklung, und hier insbesondere<br />
hinsichtlich des Wanderungssaldos,<br />
aus. Je für sich lassen sich die statistischen<br />
Befunde zur Bevölkerungsentwicklung<br />
und zu den Wanderungsbewegungen wie-
Soziographische Analyse<br />
der nachvollziehen: Der Landkreis Heidenheim<br />
zum Beispiel hat im fraglichen<br />
Zeitraum sowohl eine der höchsten Arbeitslosenraten<br />
in Baden-Württemberg als auch den<br />
negativsten Wanderungssaldo (wie ein Blick in<br />
den „Atlas zur Regionalstatistik 2006“ zeigt).<br />
Die Insel Rügen verliert mehr Einwohner<br />
durch Wegzug als durch eine negative Geburtenrate<br />
wie im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt.<br />
Saldo<br />
Arbeitswanderer a<br />
Betrachtet man diese Vergleichszahlen in den<br />
einzelnen Landkreisen, so fällt zuerst auf, dass<br />
überall der Saldo an Arbeitswanderern am<br />
ungünstigsten ist, dass aber jeweils die Kreise<br />
Heidenheim und Ostholstein sowie Saalfeld-<br />
Rudolstadt und Rügen dieselbe Reihenfolge<br />
in den Wanderungssalden aufweisen<br />
(in den beiden westdeutschen Kreisen<br />
Seite 78 ist der Saldo der Familienwanderung<br />
am positivsten, in den ostdeutschen<br />
der Wanderungssaldo der Ruheständler).<br />
Unseren Erwartungen entspricht,<br />
dass die Insel Rügen bei Ruhestands- und<br />
Familienwanderung günstigere Daten als der<br />
Tabelle 6: Wanderungsgruppen in den vier Landkreisen<br />
Wanderungssaldo<br />
Ruheständler b<br />
Saldo<br />
Familienwanderer c<br />
Heidenheim -3,4 1,5 2,7<br />
Ostholstein 3,1 8,7 10,2<br />
Rügen -23,4 -0,1 -2,5<br />
Saalfeld-Rudolstadt -17,8 -2,4 -5,3<br />
Quelle: INKAR - Indikatoren und Karten zur Raumentwicklung 2005<br />
Wie aber sind die auf den ersten Blick nicht<br />
vermuteten Verhältnisse in Ostholstein zu<br />
deuten? Um dieser Frage nachzugehen, ziehen<br />
wir in Tabelle 6 noch die Situation bei unterschiedlichen<br />
Wanderungsgruppen (aus Gründen<br />
des Arbeitsplatzes, des Umzugs in den<br />
Altersitz oder der Familienzusammenführung)<br />
in den Kreisgebieten für unsere Interpretation<br />
heran:<br />
a Arbeitsplatzwanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. von 25 bis unter 30 J. je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />
b Ruhestandswanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. 65j. und älter je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />
c Familienwanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. unter 18 J. und 30 bis unter 50J. je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />
Landkreis Saalfeld-Rudolstadt aufweist (-2,6<br />
: -7,7), und umgekehrt Saalfeld-Rudolstadt<br />
beim Wanderungsverlust durch Arbeitsuchende<br />
günstigere Verhältnisse zeigt (-17,8 : -23,4).<br />
Die Relation im ersten Vergleich von Ruhestands-<br />
und Familienwanderern findet<br />
sich entsprechend beim Vergleich der Kreise<br />
Heidenheim und Ostholstein. Nicht so jedoch<br />
bei der Arbeitswanderung. In diesem Zusammenhang<br />
ist weiter zu bemerken, dass nur der<br />
Kreis Ostholstein in allen drei Wanderungskategorien<br />
eine positive Bilanz aufweist. Bezogen<br />
auf die Wirtschaftskraft und die Arbeitslosenrate<br />
– und das abstrakte Handlungskalkül eines
homo oeconomicus zugrunde gelegt – müsste<br />
dies jedoch der Landkreis Heidenheim sein.<br />
Wir haben hier nicht die Gelegenheit, diesen<br />
unerwarteten Sachverhalt endgültig aufzuklären.<br />
Wir können zuerst einmal nur auf die<br />
bereits angeführten bevölkerungsstatistischen<br />
Aussagen verweisen, wonach die Entwicklung<br />
in den ländlich-peripheren Kreisteilen<br />
Ostholsteins und in den suburbanisierten (vor<br />
allem bei Arbeits-, aber auch bei Familienwanderung)<br />
deutlich differiert sowie der Gemeindetypus<br />
der Ferienorte am meisten durch<br />
den dort oft sehr positiven Wanderungssaldo<br />
an Ruhestandswanderung gewinnt (Bohler<br />
& Bieback-Diel 2001, S. 72ff. – Ein weiterer<br />
Gesichtspunkt, der möglicherweise noch eine<br />
Rolle spielt, wird unten in Abschnitt 11 zur<br />
Situation der Schulbildung angesprochen. Er<br />
würde wieder auf die Bedeutung von Mentalität<br />
und subjektiven Handlungsressourcen<br />
hinweisen.) Der am meisten die Erwartungen<br />
irritierende Befund bei der Arbeitswanderung<br />
in Ostholstein verweist auf der Ebene des<br />
Kreises auf die Disparität und die zunehmende<br />
Dominanz des suburbanisierten Südens, auf<br />
der wirtschaftsstrukturellen Ebene aber auf<br />
den Tatbestand, dass der Dienstleistungssektor<br />
– der in Ostholstein merklich größer ist<br />
als im Landkreis Heidenheim – Arbeitsplätze<br />
aufbaut, während der sekundäre Sektor seit<br />
der Strukturkrise der Massenproduktion in<br />
Deutschland Beschäftigung abbaut. (Letzteres<br />
muss dann die altindustriellen Städte – in<br />
Baden-Württemberg neben Heidenheim vor<br />
allem Mannheim und Heilbronn, die sich<br />
früher und intensiver an der industriellen<br />
Entwicklung beteiligten als der (heute dominierende)<br />
Großraum Stuttgart – in ihrem<br />
Arbeitsplatzbestand besonders treffen.)<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Wenn wir die uns bekannt gewordenen Fälle<br />
der Jugendhilfe in den vier Kreisen unter dem<br />
Gesichtspunkt der Wanderungstypologie<br />
betrachten, so finden wir – außer bei der<br />
Ruhestandswanderung, die sich aus Gründen<br />
der Generationenlage mit der Kinder- und<br />
Jugendhilfe wenig überschneidet – Mobilität<br />
aus Gründen der Arbeitsmöglichkeiten und<br />
der Familienzusammenführung. Diese Wanderungsgruppen<br />
scheinen sich eher auf den<br />
Zuzug vom Land in die Stadt zu konzentrieren.<br />
Dagegen gibt es vor allem in den Jugendamtsakten<br />
Ostholsteins, aber inzwischen auch<br />
schon auf Rügen, immer wieder Fälle von<br />
Klienten aus Ballungsräumen (Ruhrgebiet,<br />
Rhein-Main-Gebiet), die hoffen, ihren Problemen<br />
durch den Umzug in ein Feriengebiet<br />
„entkommen“ zu können. Hier sind dann<br />
gewisse Parallelen zur Ruhestandswanderung<br />
in Regionen wie Ostholstein und Rügen zu<br />
erkennen.<br />
(8) Politisches System: Wir hatten im ersten<br />
Vergleich der Landkreise Heidenheim und<br />
Saalfeld-Rudolstadt darauf hingewiesen, dass<br />
wir im Anteil der freien Wählervereinigungen<br />
bei den letzten Kommunalwahlen einen Indikator<br />
bezüglich des regionalen Autonomiepotentials<br />
sehen. Außerdem haben wir uns vom<br />
Vergleich der Zahlen aus Baden-Württemberg<br />
und Thüringen mit denen aus Mecklenburg-<br />
Vorpommern und Schleswig-Holstein<br />
versprochen, den Einfluss des inter-<br />
venierenden Ost-West-Gegensatzes<br />
eingrenzen zu können. Welches Bild<br />
ergeben die Vergleichszahlen der<br />
letzten Kommunalwahlen in den<br />
Kreisen Ostholstein und Rügen?<br />
Seite 79
Soziographische Analyse<br />
Partei Ostholstein a Rügen b<br />
CDU 52,6 41,1<br />
SPD 30,0 10,7<br />
FDP 5,5 11,7<br />
Grüne 6,2 2,7<br />
PDS - 22,3<br />
Fr. Wähler/BI 5,2 10,5<br />
Sonstige - 1,0<br />
Die Unterschiede in Tabelle 7 bei den freien<br />
Wählern zwischen den Kreisen Heidenheim<br />
(21,1%) und Ostholstein (5,2%) entsprechen<br />
fast schon paradigmatisch unserer Ausgangshypothese,<br />
wonach sich ein größeres regionales<br />
Autonomiepotential in einem signifikant<br />
höheren Anteil an freien und unabhängigen<br />
Wählergemeinschaften niederschlägt. Anders<br />
sieht es beim Vergleich der Insel Rügen mit<br />
dem Landkreis Saalfeld-Rudolstadt aus. Zwar<br />
ist auch hier der Anteil im gewerblich entwickelten<br />
Thüringer Kreis etwas höher als der in<br />
der ehemaligen Güterprovinz, doch er ist nicht<br />
signifikant höher (12,9% zu 10,5%).<br />
Die „Erbschaft“ der DDR scheint<br />
Seite 80 sich hier wieder nachhaltig auszuwirken<br />
– was auch nicht überraschend<br />
ist, wenn man nur an den Verlust<br />
bürgerlicher Schichten denkt, der Thüringen<br />
nach 1945 mehr betreffen musste als Vorpommern<br />
(wir erinnern hier an Abschnitt 2 und<br />
Tabelle 7: Ergebnisse der Kommunalwahlen 2003 und 2004<br />
a Kreistagswahl 2003: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein)<br />
b Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern)<br />
die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung<br />
in beiden ostdeutschen Kreisen zu DDR-<br />
Zeiten).<br />
Betrachtet man die Wahlergebnisse schließlich<br />
noch unter dem Gesichtspunkt politischer<br />
Lager („konservatives“ Lager aus CDU und<br />
FDP sowie ein „linkes“ Lager aus SPD und<br />
PDS), dann fällt auf, dass diese Lager in beiden<br />
Landkreisen fast gleich stark sind – was<br />
auf entsprechende Gemeinsamkeiten der<br />
sozialstrukturellen und mentalen Situation<br />
hindeutet. Hier unterscheiden sich die Landkreise<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />
deutlicher voneinander, was unter anderem mit<br />
einer unterschiedlich intensiven Teilhabe am<br />
Individualisierungsprozess der Moderne zusammenhängen<br />
könnte, der gerade am Abbau<br />
traditioneller politischer Lager als unmittelbare<br />
„Abbildung“ der überkommenen sozialstrukturellen<br />
Situation „arbeitet“ (paradigmatisch
hierfür steht die „postmoderne“ Partei der<br />
„Grünen“).<br />
Zum Abschluss wieder eine Anmerkung<br />
zur politischen Jugendkultur. Während<br />
Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-<br />
Holstein – glaubt man den veröffentlichten<br />
Daten zu diesem Feld – als Bundesländer<br />
einen überdurchschnittlich hohen Anteil an<br />
rechtsradikalen Jugendlichen aufweisen, sind<br />
die hier untersuchten beiden Kreisgebiete im<br />
Gegensatz insbesondere zu den Hauptorten<br />
der Landkreise Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt keine auffallenden Zentren für<br />
solche Entwicklungen. An dieser Stelle muss<br />
allerdings offen bleiben, ob dies eher als Folge<br />
der peripheren Lage oder als ein kollektiver<br />
Charakterzug der sozialen Teilnahmslosigkeit<br />
(in einem übergreifenden lebensweltlichen<br />
Sinne) in der Mentalität und an habitualisierter<br />
Resignation in der Handlungsorientierung<br />
zu interpretieren ist.<br />
(9) Kulturelle Prägungen: Die Mehrzahl der<br />
Bevölkerung in den ostelbischen Gutsbezirken<br />
bestand in der Zeit vor den Weltkriegen aus<br />
Landarbeitern. Für sie gibt es kein alltägliches<br />
Subsistenzproblem, so lange sie arbeitsrechtlich<br />
und deputatswirtschaftlich in eine Gutswirtschaft<br />
eingebunden blieben. Mit dieser<br />
Einbindung und Unterordnung sind bei der<br />
durchschnittlichen Landarbeiter-Existenz<br />
wenig autonome Anteile der Lebensführung<br />
auszumachen. Die Genese von ausgeprägten<br />
Selbstwirksamkeitsüberzeugungen ist in<br />
diesem regionalgesellschaftlichen Kontext –<br />
anders als in einem gewerblich entwickelten<br />
– unwahrscheinlich. Sowohl die Formen der<br />
Unterordnung auf der einen Seite als auch das<br />
Recht auf Fürsorge (auf Grund der Konserva-<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
tionspflicht des Gutsherrn) auf der anderen<br />
hat dieser Bevölkerungsgruppe die selbständige<br />
Sorge um die Daseinsbewältigung<br />
„abgenommen“. Diese ausgesprochen heteronomen<br />
Formen der Kontrolle und Fürsorge<br />
stellen die Landarbeiter vor das Problem der<br />
Autonomiefalle. Im Gegensatz zu den Gewerbe-<br />
und Realteilungsgebieten minimiert diese<br />
lebensweltliche Ordnung den subjektiven<br />
Bewährungsdruck. Von daher „passt“ es geradezu,<br />
dass – obwohl beide Kreisgebiete zum<br />
protestantischen norddeutschen Raum gehören<br />
– hier „Erweckungsbewegungen“ wenig<br />
Spuren hinterlassen haben (und wenn, wie z.B<br />
in Hinterpommern, dann eher im Milieu der<br />
Gutsherren). Da die Pfarrer meist von einem<br />
Patronatsherrn eingesetzt wurden, sahen sie<br />
die Landarbeiter als Teil des Herrschaftsapparates.<br />
Weil die Fürsorgepflicht die soziale<br />
Kehrseite zur Gutsherrschaft darstellte, gab<br />
es des Weiteren bei den Landeskirchen kaum<br />
diakonische Anstrengungen bzw. es entwickelten<br />
sich auf dem Land keine diakonischen<br />
Einrichtungen. Freie Träger im Kernbereich<br />
der Jugendhilfe haben sich so auch erst in den<br />
1980er (Ostholstein) und 90er Jahren (Rügen)<br />
etabliert.<br />
(10) Ehrenamtliches Engagement: Wir hatten<br />
im vorigen Teil bereits darauf hingewiesen, dass<br />
das ehrenamtliche Engagement im Bereich<br />
des Sozialwesens von regional recht unterschiedlicher<br />
Bedeutung war und ist.<br />
Das größere sozial-kulturelle Kapital<br />
der alten gewerblich entwickelten Seite 81<br />
und in ihren zentralen Orten industrialisierten<br />
Kreisgebiete müsste sich<br />
in einem intensiveren und umfangreicheren<br />
bürgerschaftlichen Engagement niederschlagen,<br />
die historischen Sozialverhältnisse
Seite 82<br />
Soziographische Analyse<br />
in den ehemaligen Güterdistrikten in einem<br />
entsprechend schwach ausgeprägten. Weiter ist<br />
zu vermuten, dass sich in diesen Gebieten die<br />
gesellschaftspolitischen Maßnahmen und der<br />
Bevölkerungsverlust (der ja bis 1961 die DDR<br />
massiv betraf ) viel weniger im Hinblick auf einen<br />
regionalen Mentalitätswandel ausgewirkt<br />
haben. Wir vergleichen die Ergebnisse der<br />
oben angeführten Erhebung zum ehren-<br />
Mecklenburg-<br />
Vorpommern<br />
Schleswig-<br />
Holstein<br />
Baden-<br />
Württemberg<br />
Soziales Gesundheit<br />
amtlichen Engagement in Deutschland in<br />
den Jahren 1999 und 2004 in Mecklenburg-<br />
Vorpommern und Schleswig-Holstein.<br />
Darüber hinaus führen wir als maximalen<br />
Kontrast noch einmal die entsprechenden<br />
Zahlen aus Baden-Württemberg an, die sich<br />
auf die Bereiche Soziales, Gesundheit, Schule/<br />
Kindergarten und Jugend-/Bildungsarbeit<br />
sowie das Ehrenamt insgesamt beziehen.<br />
Tabelle 8: Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Bereichen (Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesländer in %)<br />
Schule/<br />
Kindergarten<br />
Jugend-/<br />
Bildungsarbeit<br />
Ehrenamt<br />
insgesamt<br />
1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004<br />
5,44 8,12 1,89 2,67 7,89 7,05 7,89 5,45 27,14 30,16<br />
8,52 8,50 3,13 2,20 6,61 10,44 6,61 5,63 31,49 33,88<br />
8,71 11,53 4,17 2,94 7,61 11,27 7,61 8,39 38,29 41,91<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon
Diese prozentuale Verteilung unter den zum<br />
ehrenamtlichen Engagement Befragten bestätigt<br />
zum einen die anfängliche Hypothese,<br />
dass die „klassischen“ Gewerbelandschaften<br />
ein größeres ehrenamtliches Engagement<br />
zeigen. In allen fünf Feldern zeigt Baden-<br />
Württemberg den mit Abstand höchsten Wert,<br />
während im Vergleich dazu Mecklenburg-<br />
Vorpommern und Schleswig-Holstein relativ<br />
eng beieinander liegen. 6 Tendenziell bestätigt<br />
wird mit den Vergleichszahlen aus Mecklenburg-Vorpommern<br />
und Schleswig-Holstein,<br />
dass die Einflüsse und Maßnahmen der SED<br />
zu DDR-Zeiten im Norden, insbesondere in<br />
den ehemaligen Güterprovinzen mit ihrem an<br />
Sozialdisziplinierung und Fürsorglichkeit orientierten<br />
Gesellschaftsbild, hinsichtlich eines<br />
Mentalitätswandels deutlich weniger stark ins<br />
Gewicht fallen. Entsprechend geringer sind<br />
die Unterschiede zwischen Mecklenburg-Vorpommern<br />
und Schleswig-Holstein, während<br />
das beim Vergleich von Baden-Württemberg<br />
und Thüringen ganz anders aussah.<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
(11) Bildungssektor: Die Bildungssituation<br />
in den Gutsdörfern war im Allgemeinen<br />
schlecht bis katastrophal. Sie sind auch in<br />
diesem Bereich ein maximaler Kontrast zu den<br />
Gewerbelandschaften – schon weil der Bedarf<br />
an beruflicher Ausbildung und Fachschulung<br />
in dieser Wirtschaftsform sehr gering ist.<br />
Minimale Anstrengungen gab es durch den<br />
preußischen Staat seit 1815 (Rügen) bzw. 1866<br />
(nördliches Ostholstein). Eine relative Ausnahme<br />
bildet das ehemals oldenburgische Eutin<br />
(also das südliche Ostholstein) mit seinem<br />
alten Landesgymnasium. Wenn wir von diesem<br />
sozialhistorischen Befund ausgehen, dann liegt<br />
zum Beispiel der Schluss nahe, dass der Anteil<br />
der Förderschüler in Ostholstein und auf<br />
Rügen höher sein wird als in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt. Wie sehen<br />
die aktuellen Zahlen im Schulbereich der<br />
beiden norddeutschen Kreisgebiete aus?<br />
Tabelle 9: Verteilung der Schüler auf die besuchten Schulformen 2005<br />
Schulformen Ostholstein Rügen<br />
Gesamtanzahl der Schüler<br />
nach Schulform a 14231 3845<br />
Hauptschule 21,50% 5,07%<br />
Realschule/Regelschule 35,72% 34,22%<br />
Gymnasium 38,89% 48,94%<br />
Förderschule/Sonderschule 3,89% 11,75%<br />
Quelle: Berichte der Statistischen Landesämter von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig- Holstein 2006<br />
a Die Gesamtzahl bezieht sich nur auf die hier abgefragten Schulformen. Grundschule sowie integrative Gesamtschulen werden nicht<br />
mit einbezogen.<br />
Seite 83
Soziographische Analyse<br />
Der Vergleich der Landkreise Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt hatte in gewisser<br />
Weise das übliche Ost-West-Vorurteil bestätigt:<br />
Im westdeutschen Kreis gingen deutlich<br />
mehr Schüler auf das Gymnasium als im ostdeutschen.<br />
Der Vergleich der Schülerzahlen<br />
in den verschiedenen Schulformen der Kreise<br />
Ostholstein und Rügen widerlegt dieses<br />
Vorurteil. Wie in den süddeutschen Ländern<br />
ist der Anteil der Real- und Haupt-/Regelschüler<br />
am ausgeglichensten. Doch bei den<br />
Gymnasiasten werden die von den sozialen<br />
Verhältnissen her gesehen naheliegenden Erwartungen<br />
nachdrücklich enttäuscht. Das in<br />
jeder Hinsicht periphere Rügen zählt deutlich<br />
mehr Gymnasiasten als das in seinem Südteil<br />
suburbanisierte Ostholstein (was immerhin<br />
fast 30 Prozent der Kreisbevölkerung betrifft).<br />
Das bedeutet, dass die im Vergleich zwischen<br />
den Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt unterstellte statistische Korrelation<br />
von Urbanisierungsgrad und Anzahl<br />
an Gymnasiasten sowie periphere Lage und<br />
höherer Anteil an Haupt- und Förderschülern<br />
keine gesetzmäßige ist, sondern unter anderem<br />
etwas mit der Landes- und kommunalen<br />
Schulpolitik zu tun hat.<br />
Betrachtet man den Anteil der Hauptschüler<br />
und der Förderschüler für sich, so wird das<br />
andere landläufige Vorurteil widerlegt, dass in<br />
den Schulen der Neuen Bundesländer mehr<br />
gemeinschaftsorientiert und weniger<br />
leistungsbezogen unterrichtet würde.<br />
Seite 84 Der Anteil der Hauptschüler ist im<br />
Kreis Ostholstein gut vier Mal so<br />
hoch wie auf Rügen. Ein Teil erklärt<br />
sich aus dem höheren Anteil an Gymnasiasten.<br />
Ein anderer Teil verweist jedoch auf den<br />
Unterschied in der Anzahl der Förderschüler.<br />
In dieser Schulform weist die Insel Rügen eine<br />
fast drei Mal so hohe Zahl auf als der Kreis<br />
Ostholstein. Aus diesen Zahlen kann man in<br />
etwa ersehen, dass im „westdeutschen“ Kreis<br />
Ostholstein die Schulpolitik daran interessiert<br />
zu sein scheint, wenig Kinder in den Förderschulen<br />
einzuschulen, während im „ostdeutschen“<br />
Kreis Rügen eine deutlich größere<br />
Tendenz zur „Aussonderung“ oder speziellen<br />
Förderung – beide Lesarten sind möglich –<br />
leistungsschwacher und verhaltensauffälliger<br />
Schüler festzustellen ist.<br />
Am Ende des Vergleichs der Landkreise Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt sowie bei<br />
der Diskussion der Opportunitätsstrukturen<br />
(in Abschnitt 7) wurde bereits das Passungsverhältnis<br />
von Schulformen und regionalem<br />
Arbeitsmarkt angesprochen. Die Zahl an<br />
Arbeitsplätzen im gewerblichen Sektor ist in<br />
Ostholstein und auf Rügen begrenzt. Deshalb<br />
ist ein nicht allzu hoher Anteil an Realschülern<br />
nicht unpassend. Wichtig wird sein, welche<br />
Qualifikation die Tätigkeiten – von Berufen<br />
kann man in diesem Bereich oft nicht sprechen<br />
– im Tourismusgewerbe erfordern, ob sie eine<br />
formal anspruchsvolle Ausbildung voraussetzen<br />
oder nicht. Nehmen die Anforderungen auch<br />
in diesem Sektor zu, ist davon auszugehen, dass<br />
die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen und<br />
jungen Erwachsenen weiter zunehmen wird,<br />
da gering Qualifizierte, statistisch gesehen, die<br />
geringste Neigung zur Mobilität haben.<br />
Anders sieht die Situation bei Gymnasiasten<br />
aus. In den Feriengebieten und Tourismuszentren<br />
mit gehobenen Hotels liegt<br />
ein gewisser Bedarf an Arbeitskräften mit<br />
Fremdsprachenkenntnissen vor. (Stimmt diese<br />
Annahme, sollten die Gymnasien in diesen
Regionen bevorzugt neusprachliche sein.) Im<br />
suburbanisierten Süden Ostholsteins sind für<br />
Gymnasiasten, Abiturienten und Akademiker<br />
durchschnittliche Berufschancen zu erwarten.<br />
Prekär dürfte dagegen die Situation im Nordteil<br />
Ostholsteins und in großen Teilen der<br />
Insel Rügen sein. Die gymnasiale Schulbildung<br />
bekommt hier (außerhalb von Hotellerie u.ä.)<br />
den Charakter einer „Lizenz zum Gehen“.<br />
Während aber der Kreis Ostholstein durch sein<br />
insgesamt niedriges Bildungsniveau „bindet“,<br />
zeigt sich auf Rügen eine Disparität: Auf der<br />
einen Seite wird hier von Seiten der Schule die<br />
Voraussetzung für Bildungs- und berufliche<br />
Mobilität in einem größeren Umfang als in<br />
Ostholstein geschaffen; auf der anderen Seite<br />
aber durch die große Zahl an Förderschülern<br />
die Schicht an potentiellen Bildungs- und<br />
Modernisierungsverlierern vergrößert, die zu<br />
einem gewissen Teil Klienten von Einrichtungen<br />
der sozialen Hilfen sind oder werden<br />
können.<br />
(12) Zwischenresümee: Fassen wir an dieser<br />
Stelle das Weiterführende dieser soziographischen<br />
Übersicht zu unseren Unterersuchungsgebieten<br />
zusammen. Die institutionelle<br />
Ressourcenlage für soziale Hilfen wird in den<br />
einzelnen Landkreisen neben den gesetzlich<br />
geforderten öffentlichen Trägern durch zivilgesellschaftliche<br />
Träger der freien Wohlfahrt<br />
bestimmt. Die Befunde zu freien Wählergemeinschaften<br />
und zum bürgerschaftlichen<br />
Engagement können als Indikator für die zu<br />
erwartende regionale Dichte der freien Träger<br />
der Jugendhilfe in den vier untersuchten Gebieten<br />
dienen. Wir haben demnach im Kreis<br />
Heidenheim die dichteste (insbesondere im<br />
Vergleich zu den ehemaligen Güterprovinzen<br />
Ostholstein und Rügen) und am ehesten<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
kontinuierlich sich entwickelnde „Landschaft“<br />
an freien Trägern zu erwarten (letzteres vor<br />
allem im Vergleich zum Landkreis Saalfeld-<br />
Rudolstadt, für das die DDR mit ihrer Wirtschafts-<br />
und Gesellschaftspolitik den größeren<br />
Strukturbruch als auf Rügen bewirkte).<br />
Das pädagogische Feld scheint zum Zweiten<br />
eine besondere Ansatzstelle für sozialen<br />
Wandel zu sein. Drei Argumente auf unterschiedlichen<br />
Ebenen sprechen dafür. Zuerst<br />
der biographisch-entwicklungspsychologische<br />
Gesichtspunkt, dass Kinder und Jugendliche<br />
noch „bildbar“ sind, wie es in der älteren Pädagogensprache<br />
hieß, und unmittelbare Milieueinflüsse<br />
bei entsprechenden Anstrengungen<br />
noch korrigiert werden können. Auf der<br />
institutionellen Ebene kann der Sachverhalt<br />
angeführt werden, dass das Fachpersonal pädagogischer<br />
Einrichtungen nicht lokal rekrutiert<br />
werden und deshalb nicht unbedingt in die<br />
regionale Mentalität einsozialisiert sein muss.<br />
Und schließlich wird das pädagogische Feld<br />
maßgeblich durch Bundes- und Landesgesetze<br />
mit strukturiert bzw. durch einen übergeordneten<br />
politischen Willen stark beeinflusst.<br />
Aus dieser Konstellation resultiert ein verstärkter<br />
Einfluss des Vergesellschaftungsprozesses<br />
auf Kosten der lebensweltlichen Vergemeinschaftung<br />
und Traditionsbildung, die sich<br />
besonders in den unteren Schichtmilieus<br />
peripherer Regionen wie Ostholstein<br />
und Vorpommern zu einem regionalgesellschaftlichen<br />
und biographischen Seite 85<br />
Zielkonflikt zwischen guter Bildung<br />
und Weggehen auf der einen Seite sowie mangelhafter<br />
Bildung und Bleiben als Form der<br />
Immobilität auf der anderen führen wird – oder<br />
kürzer gesagt: Zu einer Spannung zwischen
Soziographische Analyse<br />
individuell-biographischen und regionalgesellschaftlichen<br />
Entwicklungschancen. Wir<br />
ziehen aus dieser Skizze der Schulsituation,<br />
ihrer Konstitution und gesellschaftlichen Bedeutung<br />
darüber hinaus den grundsätzlichen<br />
Schluss, dass solche Konstellationen für das<br />
gesamte pädagogische Handlungsfeld von entsprechend<br />
großer Bedeutung sein werden, was<br />
eine erste Hypothesenbildung für den besonderen<br />
Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik<br />
erlaubt: Die Konstitution der Klientel<br />
der Jugendhilfe und die praktisch leitenden<br />
Kategorien für die soziale und sozialpädagogische<br />
Arbeit müssen nicht der Logik der nur<br />
auf der alltagsweltlichen Ebene gemeinsamen<br />
Regionalgesellschaft entstammen, sondern<br />
können auf Grund eigenlogischer Entwicklungen<br />
zueinander in Spannung treten.<br />
Ausgewählte Literatur zur Entwicklung in<br />
den Kreisen Ostholstein und Rügen<br />
Kreis Ostholstein<br />
Bohler, K.F., Bieback-Diel, L. (2001) Jugendhilfe<br />
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Kiel.<br />
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Schleswig-Holstein als Problem der<br />
Siedlung. Berlin.<br />
Seite 86<br />
Hanssen, G. (1975) Die Aufhebung<br />
der Leibeigenschaft und die Umgestaltung<br />
der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse<br />
überhaupt in den Herzogtümern Schleswig und<br />
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Hobe-Gelting, G.v. (1974) Die rechtliche Stellung<br />
der adligen Güter und Gutsbezirke in Schleswig-<br />
Holstein in der Zeit von 1805 bis 1928 (Diss.).<br />
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einem holsteinischen Gutsbezirk. Eine Untersuchung<br />
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Kurz, R. (1977) Ferienzentren an der Ostsee.<br />
Geographische Untersuchungen zu einer neuen<br />
Angebotsform im Fremdenverkehrsraum. Zürich<br />
und Frankfurt am Main.<br />
Leister, I. (1952) Rittersitz und adliges Gut in<br />
Holstein und Schleswig. Remagen.<br />
Rohkohl, O. (1989) Neue Chronik von Heiligenhafen.<br />
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Rüdel, H. (1986) Landarbeiter und Sozialdemokratie<br />
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Smits, J.G. (1983) Neubildung deutschen Bauerntums.<br />
Innere Kolonisation im Dritten Reich.<br />
Fallstudien in Schleswig-Holstein. Kassel.<br />
Sohnrey, H. (1896) Die Wohlfahrtspflege auf dem<br />
Lande. In Beispielen aus dem praktischen Leben<br />
dargestellt. Berlin.
Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein<br />
(Hrsg.) (1967) Beiträge zur historischen Statistik<br />
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Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein<br />
(Hrsg.) (1987) Kreisstatistik Schleswig-Holstein.<br />
Kiel.<br />
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Holstein. Berlin-Stuttgart.<br />
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Wehrmann, M. (1919/21) Geschichte von Pommern.<br />
Gotha. 2 Bde. (2. Auflage).<br />
Wiegen, B. bei der (1999) Die Entwicklung der<br />
pommerschen Bevölkerung 1701 bis 1918. Weimar.<br />
3. Au S w I r k u N g e N V o N r e g I o N A l e N oPPort<br />
u N I t ä t S S t r u k t u r e N A u F D I e ju g e N D h I l F e<br />
Nachdem im letzten Kapitel die prägenden<br />
Lebensbedingungen der Kreisgebiete mit ihren<br />
Folgen für die vorherrschende Mentalität<br />
der Bevölkerung in der jeweiligen regionalen<br />
Sozialwelt skizziert wurden, ist für unsere<br />
Fragestellung nach den Entwicklungen in<br />
der Kinder- und Jugendhilfe nun von Interesse,<br />
wie diese Rahmenbedingungen über<br />
das durchschnittliche, regional typische Maß<br />
an Handlungsressourcen und Opportunitäten<br />
sowie das Öffnen und Schließen von Lebenschancen<br />
die jeweiligen Vorstellungen über<br />
Familienleben, Kindererziehung und<br />
Formen der sozialen Unterstützung,<br />
Seite 88 insbesondere der Hilfen zur Erziehung,<br />
beeinflussen. Wir stellen zuerst<br />
in einer idealtypischen Konstruktion<br />
die strukturellen Erwartungen vor, die wir in<br />
dieser Hinsicht mit den jeweiligen sozialen und<br />
mentalen Profilen der einzelnen untersuchten<br />
Regionen verbinden. Vor diesem Hintergrund<br />
betrachten und interpretieren wir die Ergebnisse<br />
unserer Auszählungen in den untersuchten<br />
Jugendämtern zu den Erziehungshilfen und<br />
ziehen abschließend die Befragungsergebnisse<br />
des Projekts C 6 zu Kontakten im Bereich der<br />
sozialen Unterstützung einschließlich der Kinder-<br />
und Jugendhilfe für unsere Analysen und<br />
Schlussfolgerungen heran.<br />
Regionale Ressourcenlagen, Familienformen<br />
und Erziehungsstile<br />
Wir kontrastieren zuerst die für unsere Untersuchung<br />
relevanten Milieus in den Gewerbelandschaften<br />
auf der einen Seite sowie in den<br />
peripheren ehemaligen Güterprovinzen auf der<br />
anderen. 7<br />
a) Realteilungs- und Gewerbelandschaften<br />
Wie ist die Situation in Realteilungsgebieten<br />
und Gewerbelandschaften einzuschätzen? In<br />
Realteilungsgebieten wie im Landkreis Heidenheim<br />
zeigt sich schon früh die Neigung,<br />
die Stellen, die eine Familie bewirtschaftete,<br />
über die Grenzen des Nahrungsspielraums<br />
hinaus zu teilen. So entstehen im 18. und 19.<br />
Jahrhundert immer mehr Stellen, „die zwar<br />
noch einen sozialen Wert hatten – sie blieben<br />
die Voraussetzung für die Familiengründung –,<br />
deren ökonomische Tragfähigkeit aber häufig<br />
kaum noch oder nicht mehr ausreichte, die Familie<br />
vor dem sozialen Abstieg zu bewahren“<br />
(Marschalck 1984, S. 23). Der übliche Ausweg<br />
bestand entweder in einem familiär organisierten<br />
System der Erwerbskombination zur Subsistenzsicherung<br />
oder in einem Übergang von<br />
der besitzständischen Stellenorientierung zu<br />
einer berufsständischen Leistungsorientierung.<br />
Paradigmatisch für ersteres ist die Entwicklung
der ländlichen Hausindustrie vor allem in den<br />
Dörfern im Süden und Westen des Heidenheimer<br />
Kreisgebietes. Die ökonomische<br />
Tragfähigkeit vieler dieser Stellen war wegen<br />
der zu kleinen Landwirtschaft außerordentlich<br />
gering, aufgrund der Konjunkturabhängigkeit<br />
dauernd gefährdet und überhaupt nur dadurch<br />
zu bewahren, dass alle Familienmitglieder in<br />
den Produktionsprozess eingespannt waren.<br />
Der Übergang zur berufsständischen Orientierung<br />
geht typischerweise vom Handwerk<br />
aus und bewährt sich in dem Maße, wie in der<br />
industriellen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts,<br />
im Manufaktur- und Fabriksystem,<br />
die Familiennahrung sichernden, so genannten<br />
vollen, Arbeitsstellen geschaffen werden, deren<br />
Anforderungen nur auf der Grundlage einer<br />
fachlichen Berufsausbildung zu bewältigen<br />
sind. Sowohl das alte Heidenheimer als auch<br />
das Saalfeld-Rudolstädter Kreisgebiet zeigen<br />
schon ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
eine solche für Deutschland insgesamt gesehen<br />
sehr frühe Entwicklung.<br />
Dieser Aufbau (heim-)gewerblich-industrieller<br />
Strukturen hat für die Sozialisationsbedingungen<br />
und die Kindererziehung entsprechende<br />
Konsequenzen. Im landwirtschaftlichheimgewerblichen<br />
Milieu werden Kinder so<br />
früh als möglich und so intensiv als nötig in<br />
die familiäre Arbeitsgemeinschaft bzw. in ihr<br />
System der Erwerbskombination eingereiht.<br />
Sie werden in dieser Lebenswelt mit ihrer<br />
Arbeitsleistung zu einem Bestandteil der<br />
alltäglichen Nutzenökonomie, die hier die<br />
Daseinsbewältigung mental prägt. Radikalisiert<br />
im Sinne einer Subjektivierung der<br />
Leistungsanforderungen wird dieser Sozialisationsmodus,<br />
wenn im System der technisch<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
anspruchsvollen Arbeits- und Berufsstellen<br />
die Notwendigkeit und Qualität der formalen<br />
schulischen Bildung und beruflich-betrieblichen<br />
Ausbildung ein neues Anspruchsniveau<br />
erreicht. Die Sozialisationsbedingungen sind<br />
in diesen Gewerbelandschaften deshalb durch<br />
einen „alltagsweltlichen Funktionalismus“<br />
und arbeitsgemeinschaftliche oder formale<br />
Leistungsanforderungen gekennzeichnet. Die<br />
Erziehung zielt auf Arbeitsamkeit und die<br />
Konstitution eines subjektiven Leistungsvermögens.<br />
Mit der wachsenden Bedeutung eines alltagsweltlichen<br />
Funktionalismus und insbesondere<br />
des technischen Wissens verstärken sich im<br />
milieuweltlichen Deutungssystem die Anteile<br />
eines technokratischen Bewusstseins, die<br />
auch die Deutung psychosozialer Probleme<br />
beeinflussen. Kinder und Jugendliche, die<br />
nicht „funktionieren“, obwohl der milieuweltliche<br />
Duktus der Daseinsbewältigung die<br />
Notwendigkeit funktioneller oder formaler<br />
Leistungserbringung und die Einhaltung<br />
sozialmoralischer Standards unmittelbar<br />
einsichtig zu machen scheint, werden – sehr<br />
zugespitzt formuliert – ein Stück weit gedeutet<br />
als „reparaturbedürftige“ Familienmitglieder,<br />
denen in einem „Spezialbetrieb“ das auffällige<br />
Verhalten und Unvermögen in der Welt<br />
leistungsorientierter Sozialsysteme „entfernt“<br />
und dafür eine positive Einstellung bzw. voll<br />
entfaltete Kompetenzen „eingesetzt“<br />
werden soll. Auch die soziale Unterstützung<br />
und Beratung ist in diesem<br />
Weltbild zuerst einmal eine Form der<br />
instrumentellen Hilfe im weitesten<br />
Sinne.<br />
Seite 89
Soziographische Analyse<br />
Die wichtigsten Folgerungen aus der sozialstrukturellen<br />
und mentalitätsgeschichtlichen<br />
Analyse für die Situation von Familie und<br />
Erziehung in alten Gewerbelandschaften sind<br />
deshalb in einer knappen Zusammenfassung:<br />
• Ausgehend von den Zeiten, in denen die<br />
Subsistenzfrage eine große Rolle spielte, hat die<br />
Familie den Charakter einer Ressource,<br />
• da sie aber keinen hinreichend großen Besitzstand<br />
zu vererben hat, bekommt die Berufsfrage<br />
als Voraussetzung für einen spezifisch subjektiven<br />
Modus der Daseinsbewältigung eine<br />
zentrale Bedeutung.<br />
• Die Kindererziehung ist davon geprägt. Ihr<br />
lebenspraktisches Ziel ist die Ausbildung eines<br />
Leistungsvermögens im Berufs- und Wirtschaftssystem<br />
– verbreitet deshalb die Vorstellung<br />
eines „sozialen Funktionalismus“ auch in<br />
der Familie.<br />
• Dieses funktionale Weltbild beeinflusst auch<br />
die sozialen Hilfevorstellungen: Hilfe ist zuerst<br />
einmal instrumentelle Hilfe im weitesten Sinne;<br />
Kinder werden im Extremfall dem Selbstverständnis<br />
der Sorgeberechtigten nach zur „Reparatur“<br />
abgegeben.<br />
b) Ehemalige Güterdistrikte<br />
Wie sieht dagegen die Situation in den ehemaligen<br />
Güterprovinzen Ostelbiens aus? Landarbeiter<br />
in den ehemaligen Güterdistrikten und<br />
landwirtschaftlichen Produktionsorganisationen<br />
wie in Ostholstein und auf Rügen<br />
bemessen die berufliche Wertschät-<br />
Seite 90 zung nach dem Maß des körperlichen<br />
Krafteinsatzes und der Größe der zu<br />
beherrschenden Maschinen. Es gilt<br />
die Logik eines „natürlichen Wertemusters“.<br />
Ein solcherart normativ strukturiertes Weltbild<br />
und Deutungssystem erschwert den Umstieg<br />
in das moderne, gerade kognitiv immer anspruchsvollere<br />
Berufs- und Beschäftigungssystem.<br />
Hier gibt es nicht das (inzwischen<br />
allerdings eher historische) „Scharnier“ einer<br />
selbständigen betrieblichen Disposition in den<br />
kleinbäuerlich-heimgewerblichen oder dorfhandwerklichen<br />
(Nebenerwerbs-)Stellen wie<br />
in den süd- und mitteldeutschen Landkreisen,<br />
sondern es „wirkt“ die oben skizzierte Autonomiefalle<br />
mentalitätsprägend. In der Milieuwelt<br />
der Landarbeiter herrscht ein dualistisches<br />
Welt- und Gesellschaftsbild, wonach das<br />
äußerst beschränkte Maß an Lebenschancen<br />
natur- oder schicksalsgegeben ist. Eine Veränderung,<br />
ein Aufstieg im Schichtungssystem<br />
der modernen Gesellschaft übersteigt die<br />
überkommene Vorstellung des „normalen“<br />
sozialen Möglichkeitsraumes. Das (implizite)<br />
Nutzenkalkül in der Immanenz der Milieuwelt<br />
der abhängigen Land- oder LPG-Arbeiter<br />
besteht deshalb darin, die Autonomiefalle<br />
gleichsam anzunehmen, aber zu versuchen, sie<br />
durch Leistungsbegrenzung bei stabiler Subsistenzsicherung<br />
und gegebener Fürsorgeberechtigung<br />
zum eigenen Vorteil zu wenden. Dieses<br />
Kalkül mag in den Grenzen des Systems der<br />
LPG- und Gutswirtschaft ein plausibles und<br />
realitätstüchtiges mentales Muster sein. Nur<br />
hat seine Habitualisierung zur Konsequenz,<br />
dass in der Regel kein selbständiges Leistungsbewusstsein<br />
und keine intrinsische Arbeitsmotivation<br />
entstehen, die für die moderne<br />
autonome Daseinsbewältigung zumeist – auch<br />
im Rahmen abhängiger Beschäftigung – notwendige<br />
Voraussetzungen sind, und das mit<br />
weiter zunehmender Bedeutung.<br />
Wer aber aus dem Landarbeitermilieu im 20.<br />
und 21. Jahrhundert das strukturell gegebene<br />
Ansinnen nach selbständiger Daseinsbe-
wältigung weiter ablehnt, nimmt je später<br />
desto mehr nur in negativer Form – durch den<br />
Verlust der überkommenen Subsistenzbasis<br />
an Deputatstellen, LPG-Arbeitsstellen und<br />
betrieblicher Fürsorgeberechtigung – am Autonomisierungsprozess<br />
der Moderne teil. Diese<br />
ländliche Bevölkerungsgruppe in Ostholstein<br />
und auf Rügen zählt dann sozialtypologisch zu<br />
den so genannten Modernisierungsverlierern<br />
(vgl. Allert et al. 1994). Ihr Handlungs- und<br />
Deutungsmuster ist durch ein Festhalten an<br />
traditionellen Milieuwerten gekennzeichnet.<br />
Fatal ist, dass dieses Festhalten bei Klientenfamilien<br />
der sozialen Hilfen oft durch den Verlust<br />
der Stellung im Arbeitsgefüge der Guts- oder<br />
LPG-Wirtschaft oder eine habitualisierte<br />
subjektive Handlungsschwäche verstärkt und<br />
nicht abgebaut wird.<br />
Auf den Verlust an Subsistenzsicherheit und<br />
traditioneller Daseinsgewissheit in einer partikularen<br />
Lebens- bzw. Arbeitswelt reagiert ein<br />
Teil der Akteure mit einem Rückzug in und auf<br />
die Familie sowie einer „Schließung“ des Horizonts<br />
an denkbaren sozialen Veränderungs-<br />
und Handlungsmöglichkeiten. Daraus resultieren<br />
Sozialisationsbedingungen, auf Grund<br />
derer die Bedeutung schulischer Bildung und<br />
fachlicher Berufsausbildung entweder nicht<br />
begriffen wird oder keine „gangbaren Wege“<br />
gesehen werden, damit diese ihrer Rolle für<br />
die biographische Entwicklung von Kindern<br />
und Jugendlichen in einer modernen Gesellschaft<br />
gerecht werden können. Dazu kommt<br />
ein generelles Charakteristikum so genannter<br />
bildungsferner Milieus, auf das wir am Beispiel<br />
Rügens bereits hingewiesen hatten: Ein<br />
Kind aus dieser Lebenswelt „bezahlt“ seinen<br />
Bildungserfolg tendenziell mit dem „Verlust“<br />
seines (Herkunfts-)Milieus.<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
In diesem Milieu bzw. bei der Klientengruppe,<br />
die diesem Unterschichtmilieu entstammt,<br />
wird die Frage der Grenze zwischen der<br />
Privatheit der Familie und der Öffentlichkeit<br />
der Jugendhilfe besonders virulent: Während<br />
in den durch bäuerlich-bürgerliche Werte<br />
geprägten Realteilungs- und Gewerbegebieten<br />
eine klare Grenze zwischen privat und<br />
öffentlich gezogen ist, verläuft diese Grenze<br />
bei Landarbeiterfamilien im System der<br />
Gutswirtschaft und/oder bei Familien, die seit<br />
Generationen mit Hilfeinstitutionen zu tun<br />
haben, innerhalb der Familie. Entsprechend<br />
prekärer ist die Autonomiefrage und ist die<br />
Unterstellung einer für die „Hilfe zur Selbsthilfe“<br />
notwendigen Handlungsautonomie, wie<br />
sie etwa im KJHG stillschweigend unterstellt<br />
und vorausgesetzt wird.<br />
Die wichtigsten Folgerungen der vorausgehenden<br />
Untersuchungen für die Situation von<br />
Familie und Erziehung in den norddeutschen<br />
Untersuchungsgebieten lauten in der Zusammenfassung<br />
wie folgt:<br />
• In der ländlichen Unterschicht der ehemaligen<br />
Güterprovinzen kann die Familie nur<br />
bedingt eine Ressource sein.<br />
• Sie kann aber durch ihre Erziehung oft auch<br />
nicht zur Bildung subjektiven Humankapitals<br />
beitragen; deshalb kommt Schule und<br />
Erziehungshilfe gerade in diesem Milieu die<br />
Aufgabe der Kompensation zu.<br />
• Das Ziel der familiären Kindererziehung<br />
ist wenig bestimmt, da sie Seite 91<br />
als Teil des natürlichen Prozesses des<br />
Wachsens gesehen wird. Letztendlich<br />
entscheidet nach dieser Vorstellung die Natur<br />
über das Gelingen der Kinderaufzucht.<br />
• Außerdem sind die Voraussetzungen für
Soziographische Analyse<br />
eine methodische Lebensführung und einen<br />
hinreichend weiten familiären wie individuellen<br />
Planungshorizont in vielen Fällen kaum<br />
gegeben.<br />
• Von daher fehlt ein durch Milieueinbettung<br />
und Familiendisposition vorgeprägter Weg ins<br />
Bildungs- und Berufssystem.<br />
• Die Erwartungen an Hilfe tragen entweder<br />
Züge einer Fürsorgeorientierung oder sie werden<br />
als Teil der sozialen Kontrolle „erzieherischen<br />
Nichtfunktionierens“ hingenommen.<br />
Auswirkungen auf den Bedarf an sozialen<br />
Hilfen in den vier Untersuchungsgebieten<br />
Versucht man vor diesem soziographisch<br />
und mentalitätsgeschichtlich ausgeleuchteten<br />
Hintergrund der Lebenswelt die Auswirkungen<br />
gewerbelandschaftlicher und ehemals<br />
güterprovinzieller Strukturen auf den Bedarf<br />
an sozialen Hilfen im Allgemeinen und<br />
Erziehungshilfen im Besonderen näher zu<br />
bestimmen, so bieten sich zwei aus der sozialhistorischen<br />
Literatur bekannte Deutungsformeln<br />
an. Eine problemorientierte Sicht auf<br />
die Entwicklungspfade von reinen Land- und<br />
gewerblich entwickelten Gebieten (dafür<br />
stehen z. B. im 19. Jahrhundert Malthus oder<br />
F. Engels) stellt folgenden hypothetischen<br />
Zusammenhang heraus: Je ländlicher und je<br />
kleinräumiger sozial kontrolliert Regionen<br />
sind, desto weniger soziale Hilfen<br />
werden notwendig, je dichter die<br />
Seite 92 Siedlungsform und intensiver das<br />
Wirtschaftsgeschehen, desto mehr<br />
Anomie und damit mehr Bedarf an<br />
sozialen Hilfen können erwartet werden.<br />
Dagegen steht eine ressourcenorientierte<br />
Sicht auf die Entwicklungspfade von Land-<br />
und urbanisierten Gewerbegebieten, die auf<br />
die größere Bildung von ökonomischem und<br />
kulturellem Kapital abhebt (u.a. vertreten von<br />
dem Göttinger Agrar- und Wirtschaftshistoriker<br />
Wilhelm Abel): In dieser Perspektive<br />
ist in „zurückgebliebenen“ Landgebieten ein<br />
größerer sozialer Hilfebedarf zu erwarten als<br />
in „entwickelten“ Gewerbelandschaften. (Wir<br />
lassen an dieser Stelle die Sondersituation<br />
bäuerlicher Anerbengebiete außer Betracht –<br />
sie würde die einfache Kontrastbildung, wie<br />
wir sie hier für unsere Zwecke benötigen, nur<br />
unnötig verkomplizieren.)<br />
In gewisser Weise schließen unsere Untersuchungen<br />
und Überlegungen an die zuletzt<br />
skizzierte Sichtweise an, was bedeuten würde,<br />
dass wir in den ländlich-peripheren Kreisgebieten<br />
von Ostholstein und Rügen einen<br />
größeren Bedarf an Hilfen zur Erziehung erwarten<br />
als in den gewerblich früh entwickelten<br />
Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt. Als Indikator ziehen wir die selbst<br />
erhobenen Fallzahlen in den vier untersuchten<br />
Kreisjugendämtern heran, die im Folgenden<br />
wiedergegeben werden. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />
dass der Erhebungszeitraum mit<br />
dem Fortgang unserer Untersuchung differiert.<br />
So werteten wir im Falle der Landkreise Rügen<br />
und Saalfeld-Rudolstadt die Jugendamtsakten<br />
bezüglich der Hilfen zur Erziehung des Jahres<br />
2001 aus, in Ostholstein lag der Auswertung<br />
das Jahr 2004 zugrunde, und im Kreis<br />
Heidenheim schließlich wurden die Akten<br />
des Jahres 2005 berücksichtigt. Da der Kreis<br />
Ostholstein deutlich größer ist als die anderen<br />
drei Vergleichskreise, haben wir hier nur die<br />
Fallakten aus der Hälfte des Kreis gebiets im<br />
Nordosten – die den Verhältnissen auf Rügen
nach den Kriterien des minimalen Kontrastes<br />
am nächsten kommt – ausgewertet. Dieses<br />
Vorgehen ist trotz der methodischen Nachteile<br />
nicht zu umgehen, da es von Seiten der<br />
Statistischen Ämter keine einheitlichen Daten<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Tabelle 1: Anzahl der Fälle von Hilfen zur Erziehung in den vier<br />
untersuchten Landkreisen (absolut) und relative Häufigkeit (in Prozent)<br />
Die Fall- und Prozentzahlen aus den vier<br />
Kreisgebieten bestätigen weitgehend die<br />
ressourcenorientierte Sichtweise. Der Anteil<br />
Hilfebedürftiger ist in den ländlichen „Feriengebieten“<br />
höher als in den Landkreisen<br />
Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt mit<br />
ihren fast „altindustriellen“ Entwicklungselementen.<br />
Und er ist in den nach modernisierungstheoretischen<br />
Kriterien weniger<br />
entwickelten Rügen höher als im weniger<br />
peripheren Ostholstein. Anders ist die<br />
für einen aussagekräftigen Regionalvergleich<br />
im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gibt.<br />
Eine Sozialforschung wie unsere ist hier nach<br />
wie vor auf die „archaische“ Methode des<br />
„Handauszählens“ angewiesen.<br />
Heidenheim Ostholstein Rügen<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Anzahl der Fälle 471 323 404 355<br />
Anzahl der Kinder und<br />
Jugendlichen unter 18 Jahre<br />
Anzahl der Fälle pro Kinder<br />
und Jugendliche<br />
26975 16987 13378 22907<br />
1,74% 1,90% 3,02% 1,55%<br />
Ausländeranteil in den Landkreise 10,1% 5,4% a 1,9% 2,1%<br />
Prozentzahl der Hilfefälle<br />
vermindert um den Ausländeranteil<br />
1,57% 1,80% 2,96% 1,52%<br />
a Diese Prozentzahl wurde lediglich durch den Mittelwert der ausländischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein gewonnen und auf<br />
den Kreis Ostholstein übertragen, weil der Anteil in Ostholstein dem Mittelwert des Landes Schleswig-Holstein in früheren Jahren<br />
immer relativ nahe lag.<br />
Situation im Vergleich der beiden gewerblich<br />
entwickelten Kreisgebiete. Hier macht sich<br />
ein „Anomiepotential“ auf Grund des höheren<br />
Migrantenanteils (sowohl der innerdeutschen<br />
als auch der internationalen<br />
Wanderungsbewegungen, wie Seite 93<br />
aus einem Überblick der Fallakten<br />
zu ersehen war) bemerkbar. Bei genauerem<br />
Hinsehen sind also die problem- und<br />
die ressourcenorientierte Sichtweise auf die<br />
regionale Entwicklung keine sich ausschlie
Soziographische Analyse<br />
ßenden Perspektiven. Auf der Basis unserer<br />
Untersuchungen und im Hinblick auf die<br />
sozialen Hilfen erweist sich jedoch die Frage<br />
der Ressourcen insgesamt als von größerer<br />
Bedeutung.<br />
Für die Interpretation dieser Vergleichszahlen<br />
spielt aber zum Zweiten die interne Differenzierung<br />
der Kreisgebiete nach Gemeindetypen<br />
mit unterschiedlicher Sozial- und Wirtschaftsstruktur<br />
bzw. das jeweilige „Mischungsverhältnis“<br />
dieser Typen eine nicht unerhebliche,<br />
wenn nicht die ausschlaggebende Rolle.<br />
(Dieser Gesichtspunkt der internen Differenzierung<br />
nach Gemeindetypen gewinnt durch<br />
die Bildung von immer größeren ländlichen<br />
Flächenkreisen, die sich nicht mehr an historischen<br />
Grenzen orientieren, entscheidend an<br />
Bedeutung.) Unseres Erachtens lassen sich erst<br />
aus dem soziographischen „Gemeindeprofil“<br />
konkrete Hypothesen zum typischen sozialen<br />
Hilfebedarf extrapolieren.<br />
Den geringsten Bedarf dürften die in allen<br />
vier untersuchten Kreisgebieten – wenn auch<br />
mehr oder weniger rudimentär – vorhandenen<br />
bäuerlichen Gemeinden zeigen, da hier im Anschluss<br />
an die familienbetriebliche Autonomie<br />
nach wie vor die größten Selbsthilfepotentiale<br />
und eine selbständige Handlungsorientierung<br />
vorzufinden sein werden. Der relative Anteil<br />
bäuerlicher Gemeinden ist in Ostholstein<br />
etwas höher als auf Rügen. Betrachtet<br />
man die „süddeutschen“ Landkreise,<br />
Seite 94 dreht sich das Verhältnis um: Der<br />
Anteil bäuerlicher Gemeinden war<br />
in Saalfeld-Rudolstadt vor der Kollektivierung<br />
in den 1960er Jahren größer als<br />
in Heidenheim. Probleme für die Jugendhilfe<br />
resultieren in diesem Gemeindetyp in der Re-<br />
gel aus dem Zuzug und der Nicht-Integration<br />
bzw. Nicht-Integrierbarkeit der in den letzten<br />
Jahrzehnten Zugezogenen.<br />
Diesem autonomen Orientierungsmuster<br />
(ehemals) bäuerlicher Gemeinden werden<br />
generell die Arbeiterbauern- und Pendlerorte<br />
in Baden-Württemberg und Thüringen am<br />
nächsten kommen, da die typischen Akteure<br />
in dieser Lebensform geringere materielle Ressourcen<br />
wenigstens zum Teil durch größeren<br />
sozialen Behauptungswillen und eine moderne<br />
Handlungsorientierung (wie z. B. einem ausgesprochenen<br />
beruflichen Ehrgeiz) zu kompensieren<br />
suchen. Erziehungsprobleme sind wie in<br />
bäuerlichen Gebieten typischerweise Folgen<br />
psychodynamischer Beeinträchtigungen des<br />
Familienlebens, nicht jedoch von Vernachlässigung<br />
der Kinder und ihrer Aufzucht auf Grund<br />
mangelnder sozialer Kompetenzen.<br />
In den Bäder- und Ferienorten insbesondere<br />
der norddeutschen Kreisgebiete Ostholstein<br />
und Rügen – in Randgebieten auch im Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt, dagegen so gut wie<br />
keine im Kreis Heidenheim – ist wegen der<br />
relativen Überalterung der Einwohnerschaft<br />
in der Kinder- und Jugendhilfe relativ wenig<br />
Bedarf zu sehen; Probleme in diesem Bereich<br />
sind unter anderem negative Folgen der Saisonarbeit<br />
der Mütter auf die Erziehungssituation<br />
und – wie generell – die besondere Lage<br />
nicht integrierter Zugezogener mit Kindern.<br />
Entsprechend vielgestaltig können sich die<br />
Probleme und der Duktus der sozialen Hilfen<br />
zwischen mangelnder Versorgung und emotionaler<br />
Vernachlässigung zeigen.<br />
In den Städten und Gewerbeorten aller vier<br />
Kreise erhebt sich die Frage nach sozialen
Brennpunkten in Plattenbau- und sozialen<br />
Schlichtwohnungssiedlungen (vgl. Keller 2005)<br />
und dem dortigen typischen sozialen Hilfebedarf<br />
(Sichern der Kinderversorgung und Anregungen<br />
für den kognitiven Bildungsprozess).<br />
Die Probleme des suburbanen Raumes in den<br />
süd- und mitteldeutschen Landkreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt resultieren<br />
mehr als in den Badeorten an der Ostsee aus<br />
der mangelnden Integration zugezogener junger<br />
Familien mit Kindern – ein Problem, das<br />
sich verschärft bei Migrantenfamilien zeigen<br />
dürfte. Typisch ist für diesen Gemeindetyp,<br />
dass die soziale Infrastruktur dem Wachstum<br />
der Gemeinden bzw. der Neubaugebiete nur<br />
mit Verzögerung folgt.<br />
Als problematisch ist die Situation in alten<br />
peripheren Gewerbeorten zu sehen, die sich<br />
in der Transformationskrise befinden – die<br />
Orientierung an Tätigkeiten und Tätigkeitsformen<br />
im primären Sektor (wie Bergbau oder<br />
Land- und Forstwirtschaft) behindern mental<br />
die Anpassung an neue Lebensmuster in der<br />
aktuellen Phase des Modernisierungsprozesses.<br />
Dies gilt für bestimmte Teile des Saalfeld-Rudolstädter<br />
Kreisgebietes im Südosten und Südwesten<br />
mehr als für die früher „aufgelassenen“<br />
Bergbaugemeinden im Landkreis Heidenheim.<br />
Die Weltbildkonstruktion im Rahmen<br />
des Erziehungsprozesses ist auf Abgrenzung<br />
zur modernen Umwelt hin ausgerichtet, die<br />
Entfaltung der sozialen Identität entsprechend<br />
verengt, was sich auf die Bildungs- und Ausbildungssituation<br />
negativ auswirken wird. Die<br />
Problematik dürfte sich weniger in der Versorgung<br />
kleiner Kinder zeigen als eher in der<br />
Zeit der Pubertät und Adoleszenz vor allem<br />
männlicher Jugendlicher.<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Generell problematischer dürfte die Situation<br />
der Arbeitermilieus der „alten Industrien“<br />
(insbesondere in den Kreisen Heidenheim<br />
und Saalfeld-Rudolstadt) und der ehemaligen<br />
Gutsbezirke und Landwirtschaftlichen<br />
Produktionsgenossenschaften (in Ostholstein<br />
und auf Rügen) sein, die in allen Kreisgebieten<br />
abgebaut wurden und werden. Hier bilden<br />
sich vereinzelt fast geschlossene Siedlungen<br />
von Modernisierungs- und Wendeverlierern.<br />
Bezüglich der (ehemaligen) Gutsdörfer liegt<br />
die zusätzliche Vermutung nahe, dass die<br />
Erziehungshilfen vor allem die Auswirkungen<br />
des anregungsarmen Milieus der ehemaligen<br />
Landarbeiter auf Kinder und Jugendliche<br />
zu kompensieren haben werden. Der Notwendigkeit<br />
dieser Form der Kompensation<br />
beginnt biographisch gesehen früher als die<br />
typische Problematik im vorher skizzierten<br />
Gemeindetyp.<br />
Sehr problematisch ist die Situation eines<br />
entwurzelten Milieus, das im Zuge der Industrialisierung<br />
bzw. dem schnellen Ausbau<br />
von Großbetrieben nach dem Krieg bis in<br />
die 1960er und 70er Jahre zugewandert ist.<br />
So gibt es in Ostdeutschland im Allgemeinen<br />
und im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt im<br />
Besonderen ein traditionsloses Arbeitermilieu,<br />
dessen Deutungsmuster für eine autonome<br />
Lebensführung zu wenige traditionellwertrationale<br />
Sinnelemente bereit hält (vgl.<br />
Hofmann 1995). Am problematischsten<br />
aber stellt sich die Lage<br />
der nicht oder schlecht integrierten Seite 95<br />
Arbeitsmigranten, Spätaussiedler und<br />
sog. Wirtschaftsflüchtlinge dar. Als<br />
mögliche Gründe dafür sind hervorzuheben:<br />
Wenig Humankapital hinsichtlich der Anforderungen<br />
des modernen Beschäftigungs-
Seite 96<br />
Soziographische Analyse<br />
systems, traditionale Orientierung und soziale<br />
Rückzugstendenzen (mit entsprechenden<br />
Auswirkungen auf die Kindererziehung) sowie<br />
aktuell wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Ihre relative Anzahl bzw. die Bedeutung dieses<br />
Schwerpunkts sozialer Hilfen dürfte von Südwest<br />
nach Nordost abnehmen, das heißt im<br />
Landkreis Heidenheim am größten und auf<br />
Rügen relativ am geringsten sein. Hier zeigt<br />
sich strukturell ein Hilfebedarf in allen Phasen<br />
des kindlichen und jugendlichen Lebenslaufes,<br />
und zwar sowohl auf alltäglicher Versorgungs-<br />
wie auf kognitiver Bildungsebene.<br />
70%<br />
60%<br />
50%<br />
40%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
4. er g e B N I S S e D e r Be F r A g u N g V o N Pr o j e k t<br />
C 6 u N D I h r e IN t e r P r e tAt I o N IM rA h M e N<br />
D e S er k e N N t N I S I N t e r e S S e S V o N C 3<br />
Das Projekt C 6 „Individuelle und soziale<br />
Ressourcen zur Bewältigung des sozialen<br />
Wandels: Entwicklung und psychosoziale Effekte“<br />
unter der Leitung von R.K. Silbereisen<br />
hat im Rahmen seiner Untersuchungen eine<br />
querschnittliche repräsentative Befragung von<br />
16- bis 43-Jährigen durchgeführt. Im Rahmen<br />
dieser Befragung hat die Arbeitsgruppe<br />
dankenswerterweise auch zwei Fragen in<br />
der Erhebung aufgenommen, die sich darauf<br />
beziehen, ob die Befragten – und wenn ja,<br />
dann wie oft – mit Einrichtungen der sozialen<br />
Sicherung und Unterstützung in öffentlicher<br />
und freier Trägerschaft in Kontakt gekommen<br />
sind (vgl. Silbereisen et al. 2006, S. 125f.). Für<br />
die von uns untersuchten Regionen ergibt sich<br />
das folgende Bild:<br />
Schaubild 1: Kontakte mit Einrichtungen der sozialen Sicherung und Unterstützung<br />
Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />
Arbeitsagentur Sozialamt<br />
Jugendamt Familien-/Erziehungsberatung<br />
Suchtberatungsstelle Schuldnerberatung<br />
anderen Einrichtungen
Das vorstehende Schaubild 1 besagt: (1) In der<br />
ostwürttembergischen Region um Heidenheim<br />
8 hatten 19,1% der Stichprobe mindestens<br />
ein Mal Kontakt zur Arbeitsagentur, 7,8% zum<br />
Sozialamt, 2,3% zum Jugendamt, 7% zu den<br />
Familien- und Erziehungsberatungsstellen, 2%<br />
zur Suchtberatung und 1% zur Schuldnerberatung.<br />
(2) Im östlichen Holstein hatten 22% der<br />
Befragten Kontakte zur Arbeitsagentur, 15%<br />
zum Sozialamt, 4,1% zum Jugendamt, 2% zur<br />
Familien- und Erziehungsberatung, niemand<br />
zur Sucht- und Schuldnerberatung gehabt.<br />
(3) Auf der Insel Rügen und im nordöstlichen<br />
Vorpommern waren dies 62,1% mit Kontakten<br />
zur Arbeitsagentur, 26,1% zum Sozialamt,<br />
9% zum Jugendamt, 3% zur Familien- und<br />
Erziehungsberatung, 2% zur Sucht- und 1%<br />
zur Schuldnerberatung. Im östlichen Thüringen<br />
hatten 55,1% der Stichprobe Kontakte<br />
zur Arbeitsagentur, 18,2% zum Sozialamt,<br />
13% zum Jugendamt, 8% zur Familien- und<br />
Erziehungsberatung, 1% zur Sucht- und 4%<br />
zur Schuldnerberatung. Hierzu in einer ersten<br />
Hinsicht nur soviel: Dieses Bild kommt unseren<br />
Ergebnissen trotz der eingeschränkten<br />
Vergleichsmöglichkeiten in vielen Punkten<br />
sehr nahe.<br />
Wir wollen an dieser Stelle weder die Frage<br />
nach der Repräsentativität noch die nach der<br />
spezifischen lokalen Geltung dieser Befragungsergebnisse<br />
aufwerfen, sondern einen anderen<br />
Sachverhalt in den Vordergrund rücken.<br />
Und zwar einen Sachverhalt, hinsichtlich dessen<br />
die eben angeführten rein methodologischen<br />
Fragen nicht von entscheidender Relevanz sind.<br />
Betrachten wir nämlich die Kontakte zu den<br />
einzelnen Einrichtungen genauer – und mit genauer<br />
meinen wir hier den konkreten Bezug zu<br />
unserer regionalen Strukturanalyse –, so stoßen<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
wir auf folgende Besonderheit: Die Ergebnisse<br />
bei den Kontakten zu Arbeitsagentur (ALG I)<br />
und Sozialamt (ALG II) entsprechen unseren<br />
Erwartungen auf der Grundlage sowohl der eigenen,<br />
im vorigen Kapitel zusammengefassten<br />
Analysen als auch der Untersuchung von<br />
Ressourcen und Bewältigungsprozessen bei<br />
der Auseinandersetzung mit sozialem Wandel<br />
im Projekt C 6 (bestätigt durch mündliche<br />
Mitteilung von R.K. Silbereisen): Die geringsten<br />
Kontakte mit diesen Institutionen haben<br />
(analog zur Statistik über Arbeitslosigkeit und<br />
Sozialhilfe-/ALG II-Bezug) die Befragten in<br />
den Regionen Ostwürttemberg (Heidenheim),<br />
danach folgen Ostholstein, Ostthüringen<br />
(Saalfeld-Rudolstadt) und das nordöstliche<br />
Vorpommern (Rügen). Dies wird noch einmal<br />
an dem folgenden Schaubild 2 deutlich:<br />
Seite 97
70%<br />
60%<br />
50%<br />
40%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
Soziographische Analyse<br />
Zum Teil fast willkürlich, zum Teil wenig<br />
aussagekräftig sieht dagegen oft das Bild<br />
bei den Kontakten mit dem Jugendamt und<br />
mit den verschiedenen Beratungsstellen aus.<br />
(Letztere werden in der Regel von Trägern<br />
der freien Wohlfahrt unterhalten und von uns<br />
im folgenden Schaubild zusammengefasst.) In<br />
diesem Bereich der sozialen Hilfen werden die<br />
Erwartungen ohne offensichtliche strukturelle<br />
Gründe je nachdem bestätigt oder enttäuscht.<br />
Relativ am meisten bestätigt werden sie bei<br />
einem Vergleich der Anzahl an Kontakten zum<br />
Jugendamt und zu den Beratungsstellen<br />
in den jeweiligen Regionen. Geht<br />
Seite 98 man von der Überlegung aus, dass<br />
Jugendämter es in der Mehrzahl mit<br />
ressourcenarmen, hilfebedürftigen<br />
Klienten zu tun haben, Beratungsstellen dagegen<br />
schon auf Grund ihrer Komm-Struktur<br />
(Sozialarbeiter eines Jugendamts machen dem<br />
Schaubild 2: Kontakte mit Arbeitsagenturen und Sozialämtern<br />
Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />
Arbeitsagentur Sozialamt<br />
gegenüber in den entsprechenden Hilfefällen<br />
Hausbesuche i.S. einer Geh-Struktur) mehrheitlich<br />
handlungsautonome, an der Lösung<br />
ihrer Probleme aktiv Beteiligte und Interessierte<br />
„ansprechen“, so ist zu erwarten, dass<br />
in den an den Bourdieuschen Kapitalsorten<br />
reichen Regionen Beratungsstellen häufiger,<br />
Jugendämter dagegen relativ weniger kontaktiert<br />
werden. Für die ressourcenarmen Gebiete<br />
ist das Gegenteil zu erwarten. Genau dieses<br />
Verhältnis ist aus dem folgenden Schaubild zu<br />
ersehen:
16%<br />
14%<br />
12%<br />
10%<br />
8%<br />
6%<br />
4%<br />
2%<br />
0%<br />
In den industriell-gewerblich entwickelten<br />
Gebieten um Heidenheim und Saalfeld-<br />
Rudolstadt gehen mehr – in Ostwürttemberg<br />
deutlicher als in Ostthüringen, was ebenfalls<br />
zu erwarten war – Klienten zu den Beratungsstellen<br />
als zu den Jugendämtern. In Ostholstein<br />
und im nordöstlichen Vorpommern haben<br />
mehr Klienten Kontakt zum Jugendamt als zu<br />
den Beratungsstellen. Hier allerdings ist der<br />
Abstand in Ostholstein deutlich größer als in<br />
Vorpommern – was so nicht zu erwarten war.<br />
Bei der Anzahl der Kontakte und bei der Reihenfolge<br />
der regionalen Verteilungen beginnt<br />
somit das Bild fast willkürlich zu werden. Das<br />
gilt insbesondere, wie bereits aus Schaubild 1<br />
hervorgeht, für die Kontakte zu den verschiedenen<br />
Beratungsstellen.<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
Schaubild 3: Kontakte mit Jugendämtern und Beratungsstellen<br />
Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />
Jugendamt Beratungsstellen<br />
Ein weiteres Beispiel für das fast willkürliche<br />
Bild, das sich in den Befragungen im Feld<br />
der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder<br />
abzeichnet, ist ein Vergleich der von uns festgestellten<br />
Anzahl an Fällen der Erziehungshilfen<br />
in den vier Kreisjugendämtern und der<br />
(relativen) Anzahl an Kontakten der Befragten<br />
aus der jeweiligen Region, die im C 6-Projekt<br />
angeben, mit dem Jugendamt in Berührung<br />
gekommen zu sein.<br />
Seite 99
Soziographische Analyse<br />
Tabelle 1: Vergleich der relativen Häufigkeit von Erziehungshilfen (C3) und von<br />
Kontakten mit den Jugendämtern in der jeweiligen Region (C6)<br />
Fälle des Jugendamts im Bereich der<br />
Erziehungshilfen bezogen auf 100<br />
Kinder und Jugendliche im Kreis<br />
(C3-Projekt: 2001-2005)<br />
Deutlich ist in Tabelle 1 zu sehen, dass unsere<br />
Ergebnisse der Auszählung von Fällen der<br />
Erziehungshilfe in den vier Jugendämtern und<br />
die Ergebnisse der Befragungen von Projekt C<br />
6 sich bei Rügen/nordöstliches Vorpommern,<br />
Ostholstein und Heidenheim/Ostwürttemberg<br />
entsprechen. Die Reihenfolge in beiden<br />
Aufstellungen ist identisch und die relativen<br />
Abstände zeigen große Ähnlichkeit. Dann<br />
allerdings taucht Saalfeld-Rudolstadt/Ostthüringen<br />
auf. Bei unserer Auszählung weist<br />
dieses Kreisjugendamt die wenigsten Fälle auf.<br />
Bei der Befragung von C 6 dagegen hat diese<br />
Region die meisten Kontakte im Vergleich der<br />
vier angeführten Stichproben zu verzeichnen.<br />
Die (maximale) Differenz kann mannigfache<br />
Gründe haben, ebenso sind viele methodische<br />
Fehler möglich bzw. kann die Vergleichbarkeit<br />
problematisiert werden. Allerdings<br />
– um es noch einmal zu wiederho-<br />
Seite 100 len – ist die „Unübersichtlichkeit“<br />
(Habermas) oder „Willkür“ in der<br />
Statistik der Kinder- und Jugendhilfe<br />
notorisch. Was könnten die Gründe für die<br />
manifesten Unterschiede sein insbesondere<br />
zwischen dem Feld der Arbeitslosen- und So-<br />
Kontakte zum Jugendamt<br />
unter den Befragten des<br />
C6-Projekts<br />
(2005)<br />
Rügen 3,02 % 9,32%<br />
Ostholstein 1,90 % 4,14%<br />
Heidenheim 1,74% 2,33%<br />
Saalfeld-Rudolstadt 1,55% 12,73%<br />
zialhilfe (materielle soziale Sicherung) auf der<br />
einen Seite und der Kinder- und Jugendhilfe<br />
(institutionelle Formen der sozialen Unterstützung)<br />
auf der anderen Seite? Wir sehen an<br />
dieser Stelle hauptsächlich zwei Faktoren, die<br />
diese Unterschiede erklären können: Auf der<br />
strukturellen Ebene die Organisationsform<br />
der Hilfeinstitutionen und die Art der Unterstützung<br />
sowie auf der Fallebene der jeweilige<br />
Modus der Konstruktion der relevanten Fälle.<br />
Was meinen wir mit unterschiedlichen Organisations-<br />
und Unterstützungsformen?<br />
Soziale Hilfen können von öffentlichen und<br />
freien Trägern organisiert werden. Öffentliche<br />
Träger können Bund, Länder oder Gemeinden<br />
sein bzw. die gesetzlichen Grundlagen<br />
für Hilfen können differieren – offener oder<br />
generalisierender und zwingender sein. Schon<br />
ein schneller Blick in die beiden Felder der<br />
sozialen Sicherung und Unterstützung stößt<br />
auf grundsätzliche Differenzen: Die materielle<br />
soziale Sicherung ist bundesgesetzlich normiert<br />
(SGB), die Institutionalisierung als öffentliche<br />
Einrichtung (Amt) vor Ort ist formal zwingend<br />
vorgegeben, ebenso die Form und die Höhe der<br />
Hilfe. Ganz anders das Feld der Kinder- und
Jugendhilfe. Das Bundesgesetz (KJHG – formal:<br />
SGB VIII) setzt einen Rahmen, welcher<br />
der Institutionenbildung im einzelnen Stadt-<br />
und Landkreis großen Gestaltungsspielraum<br />
lässt. Die Verteilung der Aufgaben zwischen<br />
öffentlichen und freien Trägern, die interne<br />
Organisation des Jugendamts sind Entscheidungen<br />
der Kreispolitik und Kreisverwaltung.<br />
Die Offenheit für kommunalpolitische Gestaltung<br />
schlägt sich in den Befragungen des<br />
C 6-Projekts vor allem in den Kontakten zu<br />
Beratungsstellen nieder. Der mögliche, für uns<br />
nahe liegende Grund könnte sein: Sozial- und<br />
Jugendamt sind (im Kern) durch Bundesgesetz<br />
vorgeschrieben, Beratungsstellen – die in<br />
der gegebenen Situation ohne Unterstützung<br />
durch die Kommunen nicht existieren können<br />
– dagegen nicht. Welche Beratungsstellen<br />
jeweils eingerichtet und gefördert werden, ist<br />
eine Entscheidung der kommunalpolitisch<br />
Verantwortlichen.<br />
Die Differenz von Sozial- und Jugendamt, die<br />
auf der formalen Organisationsebene noch minimal<br />
ist, wirkt sich dagegen auf der Fallebene<br />
aus, und zwar im unterschiedlichen Modus der<br />
Fallbearbeitung vor dem Hintergrund einer<br />
kontrastierenden Konstruktion der für das<br />
jeweilige Amt relevanten Fälle. Im Feld des<br />
Sozialhilfebezugs werden Fälle nach formalen<br />
Kriterien standardisiert (gleiche Hilfe für jeden<br />
Anspruchsberechtigten auf Grund gleicher<br />
Kriterien), im Feld der Kinder- und Jugendhilfe<br />
werden sie als Hilfefall individualisiert<br />
(Einzelfallhilfe nach konkretem Bedarf ). 9<br />
Die Kriterien der Sozialen Arbeit mit Einzelfällen<br />
ergeben sich jedoch in einem Spannungsfeld,<br />
das sich insbesondere aus der „Politik“ des<br />
Jugendamts bzw. der Kreisverwaltung, den je<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
nach Schicht und Region typischen „Klientenbedürfnissen“<br />
(subjektiver bzw. subjektiv<br />
vermeinter Hilfebedarf ) und der Professionalität<br />
der Fachkräfte (Feststellen des fachlich<br />
angemessenen Hilfebedarfs) zusammensetzt.<br />
Die kommunale Sozialpolitik kann zum<br />
Beispiel ganze Dimensionen und Grade von<br />
Hilfebedürftigkeit negieren oder ihre Ämter<br />
zwingen, diese auf einem minimalen Niveau<br />
sozialer Unterstützung zu „verwalten“. Die<br />
Angehörigen der Mittelschicht haben, um eine<br />
zweite Seite anzusprechen, eine signifikant<br />
größere Bereitschaft zum Besuch von psychosozialen<br />
Beratungsstellen, und schließlich<br />
wird – einer allgemeinen Erwartung gemäß<br />
- der Mitarbeiter eines Sozialen Dienstes mit<br />
einem manifesten „Helfersyndrom“ die Fallzahlen<br />
oder die Intensität der Maßnahmen<br />
über das professionell „gegebene“ Maß ansteigen<br />
lassen. Angesichts solcher systematischer<br />
Unterschiede liegt ein weiterer Schluss nahe:<br />
Die objektive Ressourcenlage einer Region<br />
vermag sich über die „eng“ und „zwingend“<br />
normierte Strukturierung im Bereich der<br />
materiellen Hilfen gleichsinnig „abzubilden“,<br />
dies ist im „weit und offen“ strukturierten Feld<br />
der Kinder- und Jugendhilfe nicht möglich. 10<br />
Dieser Befund wird unmittelbar durch die fortlaufenden<br />
Ergebnisse unserer Untersuchung<br />
im Projekt C 3, jetzt aber auch mittelbar durch<br />
die Befragungen im Rahmen des C 6-Projekts<br />
bestätigt. Daraus ergibt sich ein wichtiger<br />
methodischer Schluss: Wegen<br />
ihrer strukturnotwendig gegebenen Seite 101<br />
statistischen „Unübersichtlichkeit“ ist<br />
der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe<br />
ein prädestiniertes Untersuchungsfeld<br />
für das fallrekonstruktive Verfahren – sowohl<br />
auf der institutionellen Ebene als auch auf der
Seite 102<br />
Soziographische Analyse<br />
Akteurs- und Interaktionsebene. Ein Beispiel<br />
für die materiale Aufschließungskraft und<br />
den Erkenntnisgewinn der fallrekonstruktiven<br />
Methode stellt die folgende Studie von<br />
Dorett Funcke dar, die als paradigmatische<br />
Fälle die Biographien von Sozialdezernenten<br />
und Amtsleitern in den vier Kreisgebieten<br />
untersucht. Auf der Grundlage der Geschichte<br />
von Familie und Lebenslauf vermag sie die<br />
Bedeutung der biographischen Ressourcen der<br />
Leiter für den Wandel und die Gestaltung des<br />
Wandels in den einzelnen Dezernaten und<br />
Ämtern aufzuzeigen.
Endnoten<br />
1 Vgl. zur sozialökologischen Perspektive auf soziale Entwicklungen<br />
und Erziehungsprozesse: Bronfenbrenner 1979.<br />
2 In diesem Untersuchungsbereich überschneiden sich unsere<br />
Analysen mit denen von Projekt B 2 (Chr. Köhler/O. Struck: Betrieb<br />
und Beschäftigung im Wandel: Beschäftigungsstabilität und<br />
betriebliche Beschäftigungssysteme im Vergleich). Eine konkrete<br />
und fruchtbare Kooperation findet von uns mit diesem Projekt<br />
in dem Maße statt, wie Fallstudien auf der Basis interpretativer<br />
und rekonstruktiver Verfahren in die Untersuchungen von B 2<br />
einbezogen werden (vgl. Köhler/Loudovici 2007, S. 62).<br />
3 Wir danken insbesondere Rainer K. Silbereisen, Matthias<br />
Reitzle und Martin J. Tomasik für ihre Kooperationsbereitschaft<br />
und ihre Hinweise bei der Bereitstellung und Auswertung der<br />
Daten aus dem C 6-Projekt.<br />
4 Wir danken an dieser Stelle nochmals Martin Tomasik vom<br />
Projekt C 6, der uns die hier wiedergegebenen Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />
und zur Wirtschaftskraft zur Verfügung<br />
stellte.<br />
5 Wir danken in diesem Abschnitt sehr Michael Corsten vom<br />
Projekt C 4 (Giegel/Rosa: Politische Kultur und bürgerschaftliches<br />
Engagement; vgl. auch Corsten, M. et al. 2002) sowohl für<br />
seine Bereitschaft zum „Korrekturlesen“ als auch und insbesondere<br />
für seine Hinweise zur Datenlage und zur Übermittlung sowie<br />
Michael <strong>Friedrich</strong> (stud. Hilfskraft) für die Zusammenstellung<br />
der für uns relevanten Vergleichszahlen im Bereich des bürgerschaftlichen<br />
Engagements.<br />
6 Es ist allerdings zu vermuten, dass die Werte für den Kreis<br />
Ostholstein deutlicher unterhalb des schleswig-holsteinischen<br />
Landesdurchschnitts liegen werden als die Vergleichszahlen von<br />
Rügen in Relation zum Durchschnitt des Landes Mecklenburg-<br />
Vorpommern. Denn Schleswig-Holstein umfasst im Süden ein<br />
suburbanisiertes Gebiet in der Nachbarschaft zu Hamburg und<br />
im Westen den größeren Landesteil eines ehemaligen bäuerlichen<br />
Anerbengebiets, in denen wir höhere Werte im Bereich des bürgerschaftlichen<br />
Engagements erwarten.<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />
7 Wir lassen im Folgenden bei der idealtypischen Betrachtung<br />
der regionalen Milieuwelten wieder den bäuerlichen Lebenskreis<br />
außer Betracht, da dieses Milieu auch nach unserer Untersuchung<br />
selten mit der öffentlichen Jugendhilfe in Berührung<br />
kommt.<br />
8 Die Problematik bezüglich der Aussagekraft der Ergebnisse<br />
der Befragungen im Rahmen des C 6-Projekts besteht insbesondere<br />
darin, dass die Anzahl der Befragten in den einzelnen<br />
Kreisgebieten und Regionen sehr schwankt. Waren es im Lkr.<br />
Heidenheim nur sechs, so im Lkr. Saalfeld-Rudolstadt 45, auf<br />
der Insel Rügen 55 und im Kr. Ostholstein sogar 73. Um auf<br />
eine vergleichbare regionale Grundgesamtheit zu kommen, haben<br />
wir größere regionale Einheiten gebildet, für die mit guten<br />
Gründen ein gemeinsamer sozialstruktureller Hintergrund<br />
angenommen werden kann. Dies sind für den Lkr. Heidenheim<br />
alle ostwürttembergischen Nachbarkreise: Alb-Donau-Kreis,.<br />
Donau-Iller-Kreis, Lkr. Göppingen, Ostalbkreis, Rems-Murr-<br />
Kreis, Lkr. Schwäbisch Hall und Stadt Ulm (zusammen 129<br />
Fälle). Die Ergebnisse des Kr. Ostholstein werden für unsere<br />
Zwecke mit denen des Kr. Plön zusammengefasst (insgesamt<br />
145 Fälle). Die Datenbasis hinsichtlich des Lkr. Saalfeld-<br />
Rudolstadt wird durch die der benachbarten Ilm-Kreis, Lkr.<br />
Sonneberg und Saale-Orla-Kreis verbreitert (zusammen 165<br />
Fälle). Vergleichbares gilt für die Insel Rügen; hier werden die<br />
angrenzenden Festlandkreise Nordvorpommern und Ostvorpommern<br />
in unsere Auswertung mit einbezogen (insgesamt<br />
161 Fälle).<br />
9 Wir lassen bei dieser typologischen Betrachtung außer acht, dass<br />
die aktuelle Entwicklung durch eine gegenläufige Bewegung<br />
gekennzeichnet ist: Während in der Kinder- und Jugendhilfe die<br />
Anstrengungen zu mehr Standardisierung nicht zu übersehen<br />
sind, werden im Bereich von ALG I und II (Arbeitslosen- und<br />
Sozialhilfe) unter dem Leitbegriff des aktivierenden Sozialstaats<br />
Versuche zu mehr Einzelfallbearbeitung und weniger<br />
sozialbürokratischer Standardisierung unternommen (vgl. die<br />
ersten Ergebnisse des Projekts B9 von K. Dörre in unserem<br />
<strong>SFB</strong>). Es bleibt abzuwarten, in wie weit sich mehr oder weniger<br />
gut gemeinte Politik gegen die Sachgesetzlichkeit des jeweiligen<br />
Felds (i.S. Bourdieus) durchzusetzen vermag.<br />
10 Letzteres ist ein früher Befund unserer Forschung<br />
im <strong>SFB</strong>, vgl. Hildenbrand 2004a, Bohler 2006.<br />
Seite 103
Seite 104<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N 1<br />
Dorett Funcke<br />
Beitrag 3<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
1. üB e r B l I C k<br />
2. Ak t e u r S B e z o g e N e<br />
FA l l r e k o N S t r u k t I o N e N<br />
Au S S e N S e I t e r IM MI l I e u –<br />
A. D. (oS tA l B k r e I S/he I D e N h e I M)<br />
DIe r A D I k A l e Mo D e r N I S I e r e r I N –<br />
Dr. D. (SA A l F e l D-ru D o l S tA D t)<br />
De r Mo D e r At o r – Dr. M. (rü g e N)<br />
De r k o N S t r u k t I V e re B e l l –<br />
h. w. (oS t h o l S t e I N)<br />
3. eIN Ve r g l e I C h D e r FA M I l I e N B I o g r A-<br />
PhISCh V e r M I t t e lt e N hA N D l u N g S- u N D or Ie<br />
N t I e r u N g S M u S t e r D e r tr A N S F o r M At I o N S-<br />
A k t e u r e<br />
„JedeS JuGeNdAMT uNTeRScHeIdeT<br />
SIcH VoN deN ANdeReN ALS oB eS KeIN<br />
GeSeTZ GÄBe“ (L. SALGo) 2<br />
1. üB e r B l I C k<br />
In diesem Teil möchten wir die Forschungsergebnisse<br />
vorstellen, die aus der Analyse<br />
von vier zentralen Akteuren resultieren,<br />
die qua ihrer Position entscheidende Strukturgeber<br />
im Prozess der Neuetablierung institutioneller<br />
Arrangements sind. Von zentralem<br />
Interesse ist die Frage: Welche Möglichkeiten<br />
der Institutionenbildung gemäß dem Kinder-<br />
und Jugendhilfegesetz (KJHG) sind mit den<br />
bestehenden oder neuen Akteuren gegeben?<br />
Es geht also darum, die Dynamik des Transformationsgeschehens<br />
unter Berücksichtigung
der Handlungspotentiale und -logiken der<br />
Akteure zu erfassen, die in historischen Phasen<br />
des Strukturumbruchs die Chance haben,<br />
neue Entwicklungsoptionen – wenn auch in<br />
institutionellen Kontexten mit verschiedenen<br />
Ausgangsbedingungen – zu nutzen. Um die<br />
Gestaltpotentiale zu erschließen, die ein Akteur<br />
in den Zeiten des Strukturwandels mobilisieren<br />
kann, rekonstruieren wir das Herkunftsmilieu<br />
und den einzelbiographischen Entwicklungsverlauf<br />
mit den zentralen Entscheidungssequenzen<br />
der Berufs- und Partnerwahl. Das<br />
Genogramm erweist sich hier zuerst einmal<br />
als ein geeignetes graphisches Mittel (vgl. Mc<br />
Goldrick & Gerson 1990), mit dem lebens- und<br />
familiengeschichtliche Daten über mehrere<br />
Generationen übersichtlich zusammengestellt<br />
werden können. Darüber hinaus stellt die von<br />
uns vertretene soziologische Genogrammanalyse<br />
auf eine sequentielle Analyse ab, die dem<br />
Generationsgefüge des Familienaufbaus folgt.<br />
Wir gehen davon aus, dass Genogramme in ihrer<br />
Abfolge objektiver Daten wie Geburtsdatum,<br />
Todestag, Beruf(e), Wohnort(e), Heirat(en)<br />
das Ergebnis strukturierter Wahlen sind, die<br />
zum einen in Krisensituationen, zum zweiten<br />
im Kontext objektiver Wahlmöglichkeiten<br />
getroffen werden. Im Rahmen einer Sequenzanalyse<br />
(Oevermann 1991, Hildenbrand 2005)<br />
rekonstruieren wir diese Wahlentscheidungen<br />
Schritt für Schritt, indem wir zuerst die objektiv<br />
gegebenen, rekonstruierbaren Möglichkeiten<br />
auf der Grundlage von „ontologischem“<br />
und „nomologischem“ Wissen 3 bestimmen<br />
und dann erst mit den tatsächlich getroffenen<br />
Wahlen vergleichen. Führt man diesen Prozess<br />
lange genug fort, dann kann man die über das<br />
Familienmilieu erzeugten Handlungs- und<br />
Orientierungsmuster erfassen, mit denen ein<br />
Akteur in die Situation eines Systemumbruchs<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
gestellt wird, und die Gestaltungspotentiale,<br />
die er dabei nutzen kann.<br />
Doch bevor wir jetzt mit den einzelnen Falldarstellungen<br />
beginnen, müssen noch ein paar<br />
Ausführungen zu den Unterschieden der zu<br />
vergleichenden Akteuren der Transformation<br />
folgen. Es handelt sich bei den von uns untersuchten<br />
vier Fällen um Akteure, die in der<br />
Sozialposition des Sozialdezernenten oder<br />
in der des Jugendamtsleiters den Übergang<br />
in der Kinder- und Jugendhilfe mitgestalten.<br />
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass zum<br />
einen die Jugendämter in sozialstrukturell und<br />
mentalitätsgeschichtlich entgegengesetzten<br />
Landkreisen liegen. Zum anderen kommen<br />
die Akteure zu unterschiedlichen Zeiten ins<br />
Jugendamt. Während Dr. M. (Amtsleiter)<br />
und H. W. (Sozialdezernent) das Projekt der<br />
Professionalisierung der Sozialen Arbeit nach<br />
dem Geiste des KJHG auf Rügen bzw. Ostholstein<br />
von Anfang an mitgestalten konnten,<br />
kamen Dr. D. (zuerst Amtsleiterin, dann<br />
Sozialdezernentin) und A. D. (Sozialdezernent)<br />
als Korrekteure von Fehlentwicklungen<br />
erst später ins Jugendamt. Dr. D. kommt im<br />
Jahr 2000 als Amtsleiterin in den Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt, nachdem vorher mehrere<br />
Amtsleiter gescheitert waren und die Leitung<br />
eine Zeitlang vakant war. A. D. kommt nach<br />
Ausfall der Amtsspitze durch persönliches<br />
Fehlverhalten als erfahrener und wandlungsbereiter<br />
Akteur in das Jugendamt des<br />
Landkreises Heidenheim. Während<br />
auf Rügen und in Ostholstein durch Seite 105<br />
zwei interne Aufsteiger des Jugendamtes<br />
zentrale Weichen für eine<br />
Reform der Kinder- und Jugendhilfe gestellt<br />
werden, sind es in Saalfeld-Rudolstadt und<br />
in Heidenheim zwei Externe, die in einer
Situation der von der Jugendamtsverwaltung<br />
selbst induzierten Krise als eine Art Retter<br />
ins Jugendamt geholt werden. Im Vergleich<br />
zu Rügen und Ostholstein, wo der Amtsleiter<br />
bzw. der Sozialdezernent Entwicklungspfade<br />
von Anfang an neu bahnen kann, treffen<br />
die zentralen Strukturgeber in Saalfeld-<br />
Rudolstadt und in Heidenheim auf einen<br />
Transformationskontext, in dem Pfade, wenn<br />
auch nicht zum Vorteil des Amtes, bereits<br />
eingespurt sind.<br />
Ein Unterschied zwischen den Amtsleitern<br />
in Ost- und Westdeutschland besteht darin,<br />
dass der Institutionenbildungsprozess aufgrund<br />
der unterschiedlichen Geschichte der<br />
Kinder- und Jugendhilfe in den jeweiligen<br />
Landkreisen in Rahmen von unterschiedlich<br />
etablierten Strukturen und Praxisroutinen<br />
geschieht. In den beiden westdeutschen<br />
Jugendämtern (Ostholstein, Heidenheim)<br />
kann eine Transformation unter Rückgriff auf<br />
die Routinen des Jugendwohlfahrtsgesetzes<br />
erfolgen. Dieser Wechsel innerhalb derselben<br />
Logik von Fachlichkeit zieht nach sich, dass<br />
entsprechende rechtliche und politische Diskursformen<br />
und auch Rhetorikstile beherrscht<br />
werden. In den beiden ostdeutschen Jugendämtern<br />
(Saalfeld-Rudolstadt, Rügen) muss<br />
der Paradigmenwechsel ohne professionelle<br />
Vorleistungen gestaltet werden. Während in<br />
den „alten“ Bundesländern der Professionalisierungsprozess<br />
über den Rückgriff<br />
auf Routinen realisiert werden kann,<br />
Seite 106 was auch mehr Handlungs- und<br />
Orientierungssicherheit erzeugt,<br />
stehen die „neuen“ Bundesländer vor<br />
der Aufgabe, die Kinder- und Jugendhilfe neu,<br />
ohne über ein Orientierungsnetz zu verfügen,<br />
zu konstituieren.<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
2. Ak t e u r S B e z o g e N e FA l l r e k o N S t r u k t I-<br />
o N e N<br />
Außenseiter im Milieu – A. D. (Ostalbkreis/<br />
Heidenheim)<br />
a) Die institutionelle Ausgangslage<br />
Im Jahr 2005 besetzt das Landratsamt Heidenheim<br />
die Leitungsposition des Sozialdezernenten<br />
mit einem transformationsbereitem<br />
Akteur, der im Nachbarkreis erfolgreich ein Jugendamt<br />
aufgebaut hat, das im Benchmarking<br />
auf Platz eins steht. Auslöser dieser Neubesetzung<br />
ist ein vom Jugendamt selbstinduziertes<br />
Krisenereignis. Aufgrund von persönlichem<br />
Fehlverhalten im Jahr 1997 im Bereich der<br />
Jugendhilfe und im Bereich der Sozialhilfe<br />
(zwei Betrugsfälle) kommt es zum Ausfall der<br />
Führungsspitze, einem zweimaligen Amtsleiterwechsel<br />
und zu einer großen Umorganisation<br />
der Institution im Jahre 1999, die sich als<br />
wenig hilfreich herausstellt. 4 Eine Konsequenz<br />
der sich nicht wieder konsolidierenden Situation<br />
nach diesem Krisenereignis war eine hohe<br />
Mitarbeiterfluktuation – „die Mitarbeiter verließen<br />
fluchtartig den Landkreis Heidenheim“<br />
(A. D.).<br />
In was für ein Amt, das durch die Ereignissequenz<br />
der Krise am Scheideweg neuer Entwicklungen<br />
steht, kommt A. D.? Er kommt<br />
in ein Amt, das weder aus der Reformzeit der<br />
70er Jahre eine Chance gemacht hat, um neue<br />
Pfade in der Sozialarbeit zu begehen, noch<br />
1991 das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz<br />
als Herausforderung für Veränderungen wahrgenommen<br />
hat. Objektiv gegebene Chancen<br />
zur Erzeugung von neuen Rahmen, mit der<br />
Möglichkeit der Modernisierung der Jugendhilfe,<br />
wurden nicht genutzt.
Erst 15 Jahre später, nach einem weitgehend<br />
passiven Hinnehmen des KJHG, kommt es<br />
infolge eines Ereignisses (sachwidriges Verhalten<br />
– Betrug) zu einem Versuch, einer dem<br />
Geiste des neuen Gesetzes entsprechenden<br />
umfassenden transformationellen Strukturanpassung.<br />
Mit A. D. wird eine qualifizierte<br />
Leitung implementiert, durch die über die<br />
Korrektur von Fehlentwicklungen eine institutionelle<br />
Ordnung transformiert werden soll.<br />
So ist A. D. ähnlich wie Dr. D. im Jugendamt<br />
Saalfeld-Rudolstadt – wie wir in der folgenden<br />
Fallskizze ausführen – mit der Herausforderung<br />
konfrontiert, als eine Art Retter den Prozess<br />
der Strukturbildung zu gestalten. Wie gelingt<br />
es nun A. D., diese Aufgabe zu lösen? Welches<br />
Herkunftsmilieu und welche berufsbiographischen<br />
Entwicklungen bilden für ihn die<br />
biographischen Grundlagen, um als „freiwilliger<br />
Feuerwehrmann“ auf eine institutionelle<br />
Krisensituation mit Gestaltungsimperativen<br />
reagieren zu können, die Strukturrahmenbedingungen<br />
für die Möglichkeit einer professionellen<br />
Jugendhilfearbeit erzeugen?<br />
b) Das Herkunftsmilieu von A. D.<br />
Die Großeltern väterlicherseits von A. D.<br />
bewirtschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts<br />
einen ca. 10 ha großen Hof im katholischen<br />
Südwestdeutschland. Der Großvater von A.<br />
D. repräsentiert den Typus des weichenden<br />
Erben, der in seiner Herkunftsfamilie in den<br />
bäuerlichen Lebenszusammenhang einsozialisiert<br />
wurde und dem es gelang, in einen anderen<br />
bäuerlichen Familienbetrieb einzuheiraten.<br />
Uns ist allerdings bekannt, dass er sich mit<br />
der Einheirat in einen Hof des Nachbarortes<br />
im Vergleich zu seiner Herkunft statusmäßig<br />
verschlechterte. Dass die individuelle Leistungsenergie<br />
selbst um den Preis des sozialen<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Abstiegs, trotz besserer Verdienstmöglichkeiten<br />
z. B. als Lohnarbeiter in der Stadt 5 , in<br />
die bäuerliche Tradition investiert wird, macht<br />
deutlich, wo im Spannungsfeld von Tradition<br />
und Moderne sich der Großvater von A. D.<br />
seinen Platz wählt.<br />
Wie viel Kinder hat das Paar? Um die Hofkontinuität<br />
zu sichern und um auch ohne<br />
die teuren Tagelöhner die Bewirtschaftung<br />
des Hofes sicher stellen zu können, musste<br />
für eine entsprechende Kinderzahl gesorgt<br />
werden. Es durften nicht zu viele sein, damit<br />
durch die Auszahlung der weichenden<br />
Erben die Wirtschaftskraft des Hofes nicht<br />
gefährdet wurde. Zum anderen musste bei der<br />
Reproduktionsplanung die damals noch hohe<br />
Säuglingssterblichkeit berücksichtigt werden<br />
wie auch die Substitution des Erben durch<br />
einen „Ersatzmann“ (Hildenbrand et al. 1992,<br />
S. 143), falls der Hofnachfolger (z. B. bedingt<br />
durch den Krieg) ausfiel. Wir erwarten mindestens<br />
drei Kinder, aber nicht mehr als fünf.<br />
Es werden insgesamt vier Söhne geboren. Gehen<br />
wir von einem Geburtenabstand von zwei<br />
Jahren aus, so kann vermutet werden, dass<br />
Josef, der Erstgeborene, 1903 zur Welt kommt.<br />
1905 und 1907 folgten dann vermutlich Melchior<br />
und Xaver, und 1909 wird Anton als<br />
Jüngster der Familie geboren. Welche soziale<br />
Stellung wird den Kindern aus diesem Milieu<br />
zugänglich? Denkbar wäre Folgendes:<br />
Josef als dem Ältesten wird der Hof<br />
überlassen. Melchior heiratet wie sein Seite 107<br />
Vater in den Bauernstand ein. Xaver<br />
bleibt im ländlichen Milieu und<br />
weicht zum Beispiel als Schmied, Wagner,<br />
Tischler, Schuster, Sattler, Seiler, Weber oder<br />
Schneider ins dörfliche Gewerbe aus. Anton
könnte einen städtisch-industriellen Lebensentwurf<br />
wählen und als ungelernter Lohnarbeiter<br />
sich außerhalb des Herkunftsmilieus<br />
orientieren. Nicht ganz auszuschließen ist<br />
aber auch, dass man mit ihm als dem Jüngsten<br />
etwas ganz besonderes vorhat. 6 Vielleicht darf<br />
er als Schüler eine höhere Lehranstalt (z. B.<br />
ein Lehrerseminar oder eine örtliche Lateinschule)<br />
besuchen, so dass dadurch die Position<br />
als Privatgelehrter einer Bildungseinrichtung<br />
vorbereitet oder der Eintritt in das Büro<br />
eines Rathauses oder Notariats oder Kontors<br />
einer Fabrik geebnet werden konnte. Fassen<br />
wir zusammen: Entweder werden wir ein<br />
berufliches Orientierungsmuster erkennen,<br />
das darauf zielt, über eine Reproduktion des<br />
väterlichen Biographieverhaltens die Bindung<br />
an das Herkunftsmilieu zu wahren. Oder<br />
wir beobachten eine landwirtschaftsexterne<br />
Individuierung, wenn die Familienstruktur<br />
nicht auf Bindung angelegt ist, was für eine<br />
lebensweltliche Platzierung über die Nutzung<br />
von Transformationspotentialen spricht.<br />
Josef, der Älteste, wird gemäß der Tradition<br />
Landwirt, fällt im 2. Weltkrieg und ist trotz<br />
seines Alters von 36 Jahren ledig geblieben.<br />
Dass er nicht verheiratet war, was für einen<br />
Hofnachfolger mit Stammesverpflichtung sehr<br />
ungewöhnlich ist, zeigt, dass es ihm vermutlich<br />
aufgrund eines Mangels an ausgeprägten<br />
Heiratsabsichten und Heiratsbestrebungen<br />
nicht gelungen ist, eine Lösung für<br />
Aufgaben zu finden, die mit der Po-<br />
Seite 108 sition des Erbnachfolgers verbunden<br />
waren. An dieser Stelle kommen wir<br />
auf die Idee, da Hofsicherung hier<br />
nicht mit Ehe zusammenfällt, dass wir es mit<br />
einem Milieu zu tun haben, das Tendenzen<br />
zur Besonderung besitzt. Für die Familie<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
bedeutet der Personalausfall des Ältesten, vor<br />
der Herausforderung zu stehen, die entstandene<br />
Lücke durch einen „Ersatzmann“ neu<br />
zu füllen. Die Position des Hauptnachfolgers<br />
muss auf alternative Weise neu besetzt werden.<br />
Melchior, der ca. 1905 geborene, wird ebenfalls<br />
Landwirt, bleibt im Krieg vermisst und hat<br />
wie Josef den Schritt der Ablösung aus der<br />
Familie durch eine eigene Familiengründung<br />
nicht vollzogen. Die Vermutung, dass es sich<br />
um ein Familienmilieu mit starken Bindungsbestrebungen<br />
gehandelt haben muss, erkennen<br />
wir auch an der Positionsbesetzung Melchiors<br />
im Familienverbund. Zu Zeiten der „Leutenot“<br />
(Heidrich 1997, S. 30), dem Rückgang<br />
der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, wird<br />
der Personalbedarf aus den eigenen Reihen<br />
gedeckt. Melchior wird in einer gesindeähnlichen<br />
Position als „Ersatzmann“ auf dem Hof<br />
gehalten. Dass auch er Landwirt wird, hat<br />
etwas zu tun mit dem starken Hofsicherungsdenken<br />
der Familie. Xaver, der Drittälteste, ist<br />
derjenige, der nicht ganz in den traditionellen<br />
Bahnen der Familie weitergeht. Er wird Mechaniker,<br />
heiratet eine Frau aus dem Ort, die<br />
aus einer Arbeiterfamilie stammt, und – ganz<br />
untypisch für katholische Wähler (vgl. Falter<br />
1991, S. 180) – Parteimitglied der NSDAP ist.<br />
Anton, der Jüngste, weicht ins dörfliche Landhandwerk<br />
aus und wird Schuhmachermeister.<br />
Er überlebt ein Jahr Konzentrationslager und<br />
die Strafkompanie, die in den meisten Fällen<br />
das sichere Todesurteil bedeutete, und kehrt<br />
kriegsversehrt aus dem Krieg zurück. So wie<br />
seine beiden ältesten Brüder war auch er mit<br />
30 Jahren, bis zum Kriegsbeginn, noch nicht<br />
verheiratet. Die Hypothese vom bindungskräftigen<br />
Familienmilieu sehen wir auch hier nicht<br />
falsifiziert.
Die Mutter wird vermutlich bedingt durch den<br />
Tod ihres Mannes in den 40er Jahren und der<br />
kriegsbedingten Abwesenheit aller vier Söhne,<br />
von denen gerade die sozialisierten Hofnachfolger<br />
Josef und Melchior nicht zurückkehrten,<br />
den aus ihrer Familie mitgebrachten Betrieb<br />
allein – bis 1945 mit Hilfe von Kriegsgefangenen<br />
– bewirtschaftet haben. An Xaver, der<br />
mit einer Frau aus dem nicht-bäuerlichen<br />
Milieu verheiratet ist und dem Namen der<br />
Familie durch seine nationalsozialistische<br />
Vergangenheit keine Ehre macht, übergibt sie<br />
den Hof nicht, obwohl er vom Alter her an der<br />
Reihe wäre. Das Hoferbe überträgt sie an den<br />
Jüngsten, zu dem sie als Mutter wahrscheinlich<br />
eine engere Bindung als zu dem sich vom<br />
Milieu abwendenden Mittleren hatte. Aus<br />
strukturgesetzmäßiger Perspektive bedeutet<br />
die Delegation des Hofes an Anton für Xaver,<br />
vom jüngeren Bruder als potentieller Ersatznachfolger<br />
entthront zu werden.<br />
Für Anton hat diese ihm auferlegte Aufgabe<br />
der Weiterführung des Hofes die Konsequenz,<br />
die bereits begonnene alternative Biographieplanung<br />
als Schustermeister aufzugeben. Er ist<br />
aufgefordert, will er einen Loyalitätsbruch mit<br />
der Mutter vermeiden, das, wenn auch nicht<br />
sehr angesehene (Weber-Kellermann 1987, S.<br />
64, Bohler 1995, S.81), so doch mehr Freiheiten<br />
ermöglichende Schusterhandwerk gegen die<br />
Hofbindung einzutauschen. Es ist anzunehmen,<br />
dass er, dem ja die identifikatorische<br />
Hofsozialisation fehlt, nicht in ungebrochener<br />
affirmativer Haltung diese neue Aufgabe hat<br />
annehmen können. An der Partnerwahl und –<br />
das sei hier schon vorweggenommen – an der<br />
berufsbiographischen Entwicklung seines eigenen<br />
Sohnes, der uns hier in seiner Funktion<br />
als Amtsleiter und Sozialdezernent interessiert,<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
werden wir ablesen können, wie – um es mit<br />
Schütz zu sagen – sich dieses „Ereignis in die<br />
biographische Linie seines Lebens einfügt“<br />
(Schütz 1981, S. 104).<br />
Denkbar sind folgende zwei Fallstrukturverläufe:<br />
Entweder können wir ein Verhalten<br />
erkennen, das darauf zielt, als Jüngster eine eigenständige<br />
Lösung für die Hofübernahme zu<br />
finden. Oder es geht um die Realisierung einer<br />
Transformation hin zum klassischen Hoferben,<br />
der aus einer Haltung des „als ob“ heraus, sich<br />
wie selbstverständlich der Erfüllung der mit<br />
der Position verbundenen Aufgaben widmet?<br />
Trifft das erste Muster zu, so ist zu vermuten,<br />
dass er das Verhaltensmuster seiner Brüder<br />
reproduziert: Man bleibt im Milieu, aber ohne<br />
den potentiellen Aufgabenverpflichtungen<br />
eines Hoferben nachzukommen. Für die Zukunft<br />
der Familie hätte das die Konsequenz,<br />
dass der Hof zunehmend an Bedeutung für<br />
die Ausgestaltung von Lebensplänen verliert.<br />
Ganz anders verhält es sich, sollte sich die<br />
zweite Option durchsetzen. Wenn es um eine<br />
Transformation geht, dann ist von Anton die<br />
Aufgabe zu meistern, über Sonderleistungen<br />
den Mangel an der gegebenen Selbstverständlichkeit<br />
seiner Hoferbenrolle zu tilgen. Trifft<br />
diese Lesart zu, so ist zu erwarten, dass der<br />
Hof für die nachfolgenden Generationen an<br />
Bedeutung eher gewinnt als verliert.<br />
Folgende Beobachtung forciert aber<br />
die Vermutung, dass es nicht wahrscheinlich<br />
ist, dass sich das biogra- Seite 109<br />
phische Thema der Vollsozialisation<br />
zum Bauern durchsetzen wird: Anton<br />
heiratet erst 1953. Nach dem Tod seiner Mutter<br />
und der Hofübergabe lässt er noch sieben<br />
Jahre verstreichen, bis er im Alter von 43
Jahren heiratet. Diese Verzögerung, das lange<br />
Ledigbleiben, das eher ein „großbäuerliches<br />
Phänomen“ (Mitterauer 1986, S. 315) ist,<br />
zeigt, dass Anton nicht von einer ursprünglich<br />
gewachsenen Vorliebe für die Landwirtschaft<br />
angetrieben worden ist. Dass er mit der<br />
Hofübernahme seiner Verehelichungspflicht<br />
nicht sofort nachkam, macht deutlich, dass<br />
es ihm nicht hauptsächlich um den Erhalt<br />
bzw. Fortsetzung des Hofes gegangen sein<br />
kann. Denn ein Stammhalter war nicht in<br />
Sicht. Dass er sich 1953, zu einer Zeit, als es<br />
in der Landwirtschaft schon darum ging, dem<br />
Modernisierungsdruck mit „Wachsen oder<br />
Weichen“ (vgl. Albers 1999) zu begegnen, sich<br />
aber doch für eine Heirat entscheidet, regt zu<br />
folgender Hypothese an: Wenn auch nur mit<br />
halbem Herzen der bäuerlichen Lebensweise<br />
etwas abgewonnen werden kann, wird der<br />
Forderung der Mutter, sich den Hofnotwendigkeiten<br />
anzunehmen, doch Folge geleistet.<br />
Was wir hier an dem Verhalten der Heiratsverweigerung<br />
einerseits und an der gezeigten<br />
Verbindlichkeit gegenüber dem matrilinear<br />
übertragenen Erbe andererseits deutlich sehen<br />
können, ist die Ambivalenz, mit der dem Hof<br />
und der Hofverpflichtung begegnet wird.<br />
Doch jetzt zur Partnerwahl. Seine zwölf Jahre<br />
jüngere Frau Rosa ist die Tochter eines protestantischen<br />
Kleinbauern aus einem Ort aus<br />
dem Taubergrund. Von den sechs Schwestern<br />
ist sie die Zweitjüngste – einen männlichen<br />
Nachfolger hat die Familie<br />
Seite 110 nicht. Im Alter von vierzehn Jahren<br />
besucht sie die Hauswirtschaftsschule<br />
und erwirbt durch ihre Arbeit auf<br />
verschiedenen Gutshöfen am Bodensee die<br />
Kompetenz, den Haushalt eines größeren landwirtschaftlichen<br />
Unternehmens, bestehend<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
aus Ställen, Scheunen und Gesindehäusern, zu<br />
führen. Dass sie nicht die Möglichkeit nutzte,<br />
zum Beispiel auch als ungelernte Arbeiterin in<br />
den viel besser bezahlten industriellen Sektor<br />
auszuweichen (Rosenbaum 1992, S. 52), zeigt<br />
ihre Verbundenheit mit dem bäuerlichen<br />
Milieu. So ist sie gerade dazu prädisponiert,<br />
vom Vater nach dem Tode der Mutter auf<br />
den elterlichen Hof zurückgeholt zu werden,<br />
um als mithelfende Familienangehörige die<br />
arbeitswirtschaftliche Lücke zu schließen. Die<br />
Rückorientierung auf den Hof hat in Rosa<br />
vermutlich die Erwartung aufkeimen lassen,<br />
den Hof selbst einmal übernehmen zu können.<br />
Ihre Geschwister hatten sich bereits außerhalb<br />
der Landwirtschaft und der Familie orientiert,<br />
und ein männlicher Nachfolger stand nicht<br />
zur Wahl. Durch diese Abwesenheit des möglichen<br />
Personals rückte sie in die Position der<br />
Ältesten als potentielle Erbtochter. Wir wissen,<br />
dass nicht an sie, sondern an die jüngste Tochter<br />
der Hof geht.<br />
Die ihr sich bietende Option, auf dem Hof von<br />
Anton zu wirtschaften, hat sie – so ist anzunehmen<br />
– als eine äußerst günstige Gelegenheit<br />
erkannt, um zum einen den Freiheitseinschränkungen<br />
des väterlichen Hofes zu entkommen.<br />
Zum anderen bietet ihr der Platz auf Antons<br />
Hof, Anton konnte durch die Kriegsverletzung<br />
vermutlich nur eingeschränkt wirtschaften, einen<br />
Handlungsspielraum, in dem sie die in der<br />
Fremde gesammelten Selbständigkeitserfahrungen<br />
und das Organisationsvermögen, das<br />
sie schon auf ganz anderen Höfen mit weitaus<br />
größeren Dimensionen erprobt hatte, zur Geltung<br />
bringen konnte. Rosa weiß sich das, was<br />
ihre jüngere Schwester über Delegation erhält,<br />
aus eigenen Anstrengungen heraus, eben durch<br />
eine gute Heirat, zu erwerben.
Kommen wir an dieser Stelle auf die weiter<br />
oben formulierte Frage zurück: Mündet<br />
Antons Zurückplatzierung auf den Hof nach<br />
der außerlandwirtschaftlichen Orientierung<br />
(Schuhmachermeister) in ein Reorganisationsmodell,<br />
in dem es darum geht, die bäuerliche<br />
Lebenswelt aus der Hoferbenidentifikation<br />
heraus angehen zu können? Oder geht es darum,<br />
über die Sicherung der ihm aufgegebenen<br />
Milieuverwurzelung mental der weichende<br />
Erbe, der Jüngste, der Schuhmachermeister zu<br />
bleiben?<br />
An der Partnerwahl erkennen wir, dass Rosa<br />
durch ihre biographiegeschichtliche Prägung<br />
bestens dazu geeignet ist, zu einer Art Agentin<br />
der Hoferhaltung, zu einer energetischen<br />
Quelle für das Hofprojekt zu werden, dem<br />
Anton nur mit halbem Herzen verbunden<br />
geblieben sein wird. Mit der Partnerwahl wird<br />
so eine Ordnungsstruktur gestiftet, die Anton<br />
die Möglichkeit gibt, über das Bleiben im bäuerlichen<br />
Milieu (Wahrung der Loyalität zur<br />
Herkunftsfamilie) aus der Sozialposition des<br />
Außenseiters heraus (vgl. Becker 1963), Interessen<br />
zu verfolgen, die nicht immer den konventionellen<br />
Normen eines bauernweltlichen<br />
Daseins entsprochen haben, sondern eher auf<br />
die Zeit verweisen, als er Lebenspläne ohne die<br />
Bindung an das mütterliche Erbe schmieden<br />
und gestalten konnte.<br />
Doch wie fügt sich in diese Sinnstruktur der<br />
Altersunterschied von zwölf Jahren? Hätten<br />
wir nicht eher die Wahl einer gleichaltrigen<br />
oder älteren Frau erwartet? Blicken wir noch<br />
einmal kurz auf Rosas Entwicklungsgeschichte,<br />
so wird deutlich, dass sie qua Sozialisation<br />
(durch die extrafamiliale Orientierung ihrer<br />
älteren Schwestern und das Fehlen des männ-<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
lichen Nachfolgers) in die Sozialposition<br />
einer Hofältesten hineinwächst. Mit anderen<br />
Worten, trotz ihres jüngeren Alters kann sie<br />
Aufgaben und Verantwortung aus einer Sozialverfassung<br />
der Ältesten heraus angehen. In<br />
dieser Paarverbindung kann Anton – allein<br />
schon durch das Alter legitimiert – seine<br />
Entscheidungsautorität sichern, ohne allzu<br />
viel Energie in die Ausgestaltung des von ihm<br />
in die Ehe mitgebrachten Erbes investieren<br />
zu müssen. So wie er in den 50er Jahren, zu<br />
Beginn des agrarindustriellen Modernisierungsprozesses<br />
in der Landwirtschaft, der<br />
viele Landwirtschaftsbetriebe unter Druck<br />
setzte und nur die Alternativen ließ, über<br />
Modernisierungsanstrengungen innerberiebliche<br />
Veränderung vorzunehmen oder den<br />
Hof aufzugeben, sich für den Hof durch eine<br />
entsprechende Partnerwahl entscheidet, so<br />
drückt auch der gegebene Altersunterschied<br />
seine Bindung zum elterlichen Hof aus. Er<br />
entscheidet sich, das Erbe, die bäuerliche<br />
Ordnungsstruktur, zu sichern. Dafür rekrutiert<br />
er das geeignete Personal, das durch eine<br />
bäuerliche Verbundenheit, die ihm durch<br />
seine biographische Situation selbst nicht<br />
gegeben ist, in der Lage ist, den „Laden am<br />
Laufen“ zu halten und auch Reformen, eben<br />
anstehende Strukturveränderungen, innovativ<br />
zu meistern. Dass diese Hofbindung aber mit<br />
einer ambivalenten Haltung dem Erbe gegenüber<br />
gepaart ist, erkennen wir – wie schon<br />
kurz angedeutet – an zweierlei: Zum<br />
einen daran, dass Anton nach dem<br />
Tod der Mutter und der Hofübergabe Seite 111<br />
noch lange Zeit unverheiratet bleibt,<br />
was für ein fehlendes Stammhalterdenken<br />
steht, und zum anderen an dem<br />
Zeitpunkt der Heirat, der nicht zusammenfällt<br />
mit der Ankunft Rosas auf dem Hof. Es
ist zu vermuten, dass Rosa – was für einen<br />
kriegsversehrten Bauern nicht untypisch war –<br />
zuerst als Wirtschafterin aufgenommen wurde<br />
(vgl. Mitterauer 1986, S. 267, 277 und 283),<br />
um den Haushalt zu führen. Da die Heirat<br />
aber erst 1952 folgte, kann vermutet werden,<br />
dass die Arbeitsgrundlage der Beziehung<br />
aufgehoben war in einer Bindungsbeziehung<br />
zwischen einer Hauswirtschafterin und einem<br />
im Herzen Handwerksmeister gebliebenem<br />
Landwirt. Anders formuliert: Es liegt nahe,<br />
dass es zwar um den Erhalt des Hofes ging,<br />
nicht aber darum, für eine familienbetriebliche<br />
Kontinuität durch Erfüllung von Nachfolgeverpflichtungen<br />
durch die Zeugung eines<br />
Stammhalters zu sorgen.<br />
Die Frage ist dann, wie die nachfolgende<br />
Generation mit der Ambivalenz dem Hof<br />
gegenüber umgehen wird. Drei Varianten sind<br />
denkbar. Zum einen, die Ambivalenz wird beibehalten<br />
oder sie wird – zum anderen – in zwei<br />
mögliche Richtungen hin aufgelöst: Entweder<br />
der Hof wird abgestoßen, oder es gelingt in<br />
dieser Generation eine Transformation in die<br />
traditionelle Erbenrolle.<br />
Rekonstruktionsleitend sind im Weiteren<br />
folgende Fragen:<br />
Was macht A. D. (*1953), das einzige Kind<br />
von Anton und Rosa, aus der Ambivalenz, die<br />
von seinem Vater her kommt? Welche<br />
Lösung findet er für das Schicksal<br />
Seite 112 seines Vaters, der ungewollt und unverhofft<br />
Erbe eines Hofes wurde und<br />
dadurch auch auf einen bäuerlichen<br />
Lebensentwurf verpflichtet gewesen ist?<br />
Welche Weichenstellungen werden von seinen<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Eltern für seine Entwicklung gelegt? Haben es<br />
Anton und Rosa darauf abgesehen, das Denken<br />
vom Hof her über die Hoferbensozialisation zu<br />
tradieren?<br />
Beginnen wir mit der Frage, die das bereits Herausgearbeitete<br />
zusammenfasst: Mit welchem<br />
Elternpaar wächst A. D. (* 1953) auf?<br />
Die biographische Sozialisation seiner Eltern<br />
steht nicht für ein fragloses und kontinuierlich<br />
unmerkliches Hineinwachsen in die Arbeitswelt<br />
und Lebensweise des eigenen Hofes.<br />
Als Schuhmachermeister hatte Anton bereits<br />
landwirtschaftsexterne Pfade eingeschlagen,<br />
und auch Rosa, die auf großen landwirtschaftlichen<br />
Betrieben am Bodensee arbeitete, hatte<br />
als Tochter eines Kleinbauern längst über die<br />
Rolle als Hauswirtschafterin das Weichen<br />
vom Hof über diese Alternative geschafft. Von<br />
einem Hineinwachsen in eine Hoferbenrolle,<br />
die wie selbstverständlich habituell und ohne<br />
Alternativen an den Hof bindet, kann keine<br />
Rede sein. Ein Lebensentwurf, der auf die Sicherung<br />
des Hofes abzielte, war nicht gebahnt.<br />
Diese unzureichende, nicht diffuse Hofbindung<br />
der Eltern lässt vermuten, dass auch A.<br />
D. (*1953) keine auf eine Bestandsicherung<br />
des Hofes abzielende Sozialisation erfahren<br />
hatte. Ausstiegsgenerierend könnten aber auch<br />
folgende zwei Rahmenbedingungen gewirkt<br />
haben. Zum einen: sein Vater war ein Jüngster.<br />
Aus unseren zahlreichen Familienanalysen ist<br />
uns bekannt, dass Jüngste selten zum Strukturgeber<br />
werden. Mit anderen Worten: Sein Vater<br />
wird ihm aufgrund der Einsozialisierung in die<br />
Position eines Jüngsten im Geschwistersystem<br />
mehr Freiräume hat zugestehen können, als<br />
dies einem patriarchalisch das Gesetz vertretenden<br />
Ältesten möglich gewesen wäre.
Fassen wir diese Beobachtungen zusammen,<br />
so kommen wir zu folgender hypothesenbahnender<br />
Überlegung: Wir wären überrascht,<br />
wenn A. D. (*1953) durch eine milieuinterne<br />
Sozialisation die Nachfolge und damit auch die<br />
weitere Existenz des Familienbetriebes sichern<br />
würde. Die Frage ist, knüpft er an den Vater als<br />
Jüngsten an, der ein weichender Erbe im traditionalen<br />
Gewand eines Landwirtes geblieben<br />
ist? Oder löst er die von seinem Großvater her<br />
kommende Anspruchshaltung traditionaler<br />
bäuerlicher Verhältnisse – die sich dort in einer<br />
doppelten Erbnachfolgersozialisation zeigte<br />
( Josef und Melchior) – durch eine Transformationsanstrengung<br />
hin zum klassischen<br />
Hoferben?<br />
Wenn es um eine Hofsicherung geht, dann wird<br />
A. D. (*1953) z. B. die Landwirtschaftsschule<br />
des Kreises besuchen. Denkbar wäre aber auch<br />
ein Lebensentwurf als Hofnachfolger, den er<br />
später korrigiert. Wird A. D. aber eine Lebensplanung<br />
als weichender Erbe zugestanden,<br />
dann werden wir eine Entwicklung erkennen<br />
können, die nicht mehr auf Hofsicherung<br />
verpflichtet. Schauen wir uns den berufsbiographischen<br />
Verlauf an:<br />
A. D. besucht eine Verwaltungsfachhochschule<br />
und wählt durch den Fachbereich Polizei die<br />
Möglichkeit, in den gehobenen Polizeivollzugsdienst<br />
zu gehen. An dieser Entscheidung<br />
wird deutlich, dass der Vater sich ihm gegenüber<br />
als ein Jüngster aufgeführt haben wird, so<br />
dass die für einen Jüngsten typische mangelnde<br />
Strukturgebung jetzt über den Polizeidienst<br />
nachträglich sicher gestellt werden soll. Er<br />
macht dann im mittleren Dienst verschiedene<br />
Aufstiege. 1975 wird er in einer Zeit, als bei<br />
der Polizei in Baden-Württemberg große Um-<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
strukturierungen stattfanden, Leiter der Verwaltung<br />
einer Polizeidirektion. 1978 wechselt<br />
A. D. in den Bereich der wirtschaftlichen<br />
Jugendhilfe des Landratsamtes des Ostalbkreises.<br />
Ab 1984, im Alter von 31 Jahren, ist<br />
er stellvertretender Amtsleiter im Jugendamt<br />
Aalen und gleichzeitig Leiter der Dienststelle<br />
Schwäbisch Gmünd. Ab dem Jahr 1983<br />
engagiert er sich im Fortbildungsbereich – z.<br />
B. schult er nach der Wende in Sachsen Sozialarbeiter<br />
nach einem Gesetz, dem neuen<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetz, das in den „alten“<br />
Bundesländern noch gar nicht galt. 1995<br />
wird er Jugendamtsleiter im Ostalbkreis und<br />
2005 Sozialdezernent in Heidenheim. Fassen<br />
wir zusammen: A. D. kann sich für einen beruflichen<br />
Entwicklungsweg entscheiden, der<br />
ihm eine Orientierung an traditionalen Konzepten<br />
von Hofkontinuität, die ja schon bei<br />
seinem Vater nicht ausgeprägt waren, gänzlich<br />
verunmöglicht. Es bleibt die Frage, ob eine<br />
den Ausstieg aus dem Milieu ermöglichende<br />
Differenz auch über die Partnerwahl erzeugt<br />
wird. Wenn es ihm darum geht, den in der<br />
väterlichen Biographie angelegten Ausstieg zu<br />
radikalisieren, dann müsste er – im Vergleich<br />
zu seinem Vater – eine Frau wählen, die ihn<br />
noch weniger an das bäuerliche Milieu bindet<br />
als seine Mutter den Vater. Denkbar wäre, dass<br />
er eine Fremde ohne bäuerlichen Sozialisationskontext<br />
heiratet.<br />
Machen wir es kurz: Er heiratet eine<br />
protestantische Flüchtlingstochter,<br />
deren Eltern in Fünfkirchen Wein- Seite 113<br />
bauern waren und als vertriebene Ungarndeutsche<br />
nach dem Krieg in den<br />
Ostalbkreis kamen. Sie ist die Älteste von zwei<br />
Geschwistern und von Beruf Reisebürokauffrau.<br />
Kennengelernt haben sie sich in einem
Reisebüro in Stuttgart, wo A. D. seine Verwaltungslehre<br />
absolvierte. Als sie 1976 heiraten,<br />
ist A. 23 Jahre und E. 19 Jahre alt. Dass es A.<br />
D. nicht leicht gefallen sein muss, sich von<br />
seinem Elternhaus zu lösen – was als Indiz die<br />
Vermutung bestätigt, dass die elterliche Paarbeziehung<br />
als eine diffuse Sozialbeziehung<br />
gelebt werden konnte – zeigt die frühe, den<br />
Ablöseprozess unterstützende Heirat.<br />
Kommen wir zum Schluss: Wir sehen, dass<br />
A. D. nicht nur über die Berufswahl, sondern<br />
auch über die Partnerwahl Differenz erzeugt.<br />
Er wählt eine Frau, die ihn aufgrund ihrer<br />
Milieuherkunft und der Flüchtlingsgeschichte<br />
weder an die bäuerliche Lebensform bindet,<br />
noch durch mitgebrachte traditionsbindende<br />
Motive an seinen Herkunftsort. Während sie<br />
als ein Kind von protestantischen Flüchtlingseltern<br />
mit ihm eine lokale Verankerung erhält,<br />
eben eine gute Partie macht, gewinnt er mit<br />
ihr über die Ehe die Möglichkeit einer Wirklichkeitskonstruktion<br />
(vgl. Berger & Kellner<br />
1965), in der die vom Familienerbe ausgehende<br />
identifikatorische Bindungsmächtigkeit<br />
in dem Sinne aufgehoben ist, als dass das Alte<br />
ohne Bedeutungsverlust (Verwurzelungsmöglichkeit<br />
für seine Frau) im Neuen (keine<br />
Verpflichtungen gegenüber dem Hoferbe) bewahrt<br />
werden kann. A. D. und E. D. wohnen<br />
heute im Dorf, wahrscheinlich im Haus, in<br />
dem A. D. aufgewachsen ist. Ein letzter Rest<br />
des stark bindenden Familienmilieus<br />
zeichnet sich auch noch an dieser<br />
Seite 114 Entscheidung ab. Zum anderen wird<br />
Folgendes deutlich: A. D. reproduziert<br />
das in der väterlichen Biographie<br />
realisierte Lebensmuster vom Außenseiter im<br />
Milieu. Die Radikalisierung zeigt sich an den<br />
biographischen Entscheidungssequenzen der<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Berufs- und der Partnerwahl. Durch sie werden<br />
Identität stiftende Lebenskontexte gewählt,<br />
die eine Orientierung fern vom traditionellen<br />
Hofdenken ermöglichen. Das reproduktive<br />
Moment finden wir darin, dass er wie sein Vater<br />
lebensweltlichen Plänen verbunden bleibt,<br />
die nicht (mehr) auf den Hof verweisen, aber<br />
selbst im dörflichen Milieu bleibt. A. D. ist mit<br />
Blick auf seinen väterlichen Namensgeber der<br />
Radikalisierer des Außenseitertums im Milieu.<br />
Erst in der nächsten Generation ist der Ausstieg<br />
endgültig vollzogen. A. D. und E. D.<br />
haben zwei Töchter. In ihren biographischen<br />
Verläufen finden wir keine Bezugnahme auf<br />
väterliche Orientierungsangebote. Was in dieser<br />
Generation ganz zum Erliegen kommt, ist<br />
die in der zweiten und auch noch in der dritten<br />
Generation ihre Effekte im Lebensverlauf<br />
zeitigende Regelverletzung der Hofweitergabe.<br />
Es erlischt sozusagen die determinierende<br />
Gestaltungskraft des Krisenereignisses der<br />
nicht traditionell verlaufenden Hofweitergabe.<br />
Betrachten wir die Entwicklungsverläufe der<br />
vierten Generation, so erkennen wir, dass erst<br />
in den Biographien der Töchter die vollständige<br />
Transformation gelingt. Es fällt auf, dass in<br />
jeder Generation die Frauen auf irgendeine Art<br />
und Weise funktionsrelevant für den Hof sind:<br />
Durch die Großmutter väterlicherseits kommt<br />
der Hof in die Familie (l. Generation). Durch<br />
Rosa kann durch die Bewältigung des Transformationsprozesses<br />
in der Landwirtschaft der<br />
Hof gesichert werden (2. Generation). Durch<br />
E., der Ehefrau A. D., bekommt das Familienerbe<br />
in Zeiten seines Bedeutungsverlustes<br />
für biographische Lebensentwürfe wieder eine<br />
Funktion (Verwurzelung) (3. Generation).<br />
Die Frauen der vierten Generation bringen<br />
schließlich das traditionelle Konzept in seiner
Bedeutung für biographische Sinnstiftung zum<br />
Erlöschen. Da auch ein männlicher Nachfolger<br />
fehlt, da die Sicherung eines Erbes über einen<br />
Stammhalter nicht mehr gegeben ist, kann über<br />
die patrilineare Linie auch kein ökonomisches<br />
und kulturelles Familienkapital weitergegeben<br />
werden. Neu ist das nicht. Haben wir doch<br />
schon beobachten können, wie in der 2. Generation<br />
die Sicherung von Hofkontinuität durch<br />
Erfüllung von Stammhalterpflichten kein<br />
zentrales Thema war.<br />
c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />
Welchen über das Herkunftsmilieu und die<br />
berufsbiographische Entwicklung erworbenen<br />
Habitus bringt A. D. nun mit, um im Jahr 2005<br />
als eine Art Sanierer mit Reformbereitschaft<br />
die Sozialverwaltung im Kreis Heidenheim aus<br />
der Krise zu befreien? A. D. stammt aus einem<br />
Familienmilieu, in dem die Selbständigkeit des<br />
Wirtschaftens im Bereich von Landwirtschaft<br />
und Handwerk die prägende Lebensform ist.<br />
Da aber die Biographie seiner Eltern nicht<br />
durch eine naturgegebene Einsozialisierung<br />
in eine ungebrochene bäuerliche Traditionserfüllung<br />
bestimmt ist (der Vater ist Schuhmacher,<br />
die Mutter Wirtschafterin auf einem<br />
großen fremden Hof ), wird es A. D. über einen<br />
milieutranszendierenden Ausstieg möglich,<br />
fern der bäuerlichen Orientierung eine moderne<br />
eigenständige Lebensperspektive zu entwickeln<br />
– er kann auf eine Individualisierung<br />
des Lebenslaufs setzen. So erkennen wir an<br />
der beruflichen Entwicklung, dass er fachlich<br />
nicht den Anschluss an die Familientradition<br />
hält, aber Rahmenbedingungen wählt, die<br />
vergleichbar mit einem familienbetrieblichen<br />
Kleinunternehmen Spielräume für selbständiges<br />
Handeln eröffnen. Die im Familienmilieu<br />
angelegte unternehmerische Komponente<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
betriebswirtschaftlichen Handelns und Wirtschaftens<br />
kann A. D. aufgrund der Herauslösung<br />
aus traditionalen Hof-Verpflichtungen<br />
in einen außerlandwirtschaftlichen Bereich<br />
übertragen. Die Handlungsenergien werden<br />
umgelenkt, nachdem im Rahmen beruflicher<br />
Erstplatzierungen (Leiter der Verwaltungsbehörde<br />
bei der Polizei, Angestellter im<br />
Bereich der wirtschaftlichen Jugendhilfe im<br />
Landratsamt, stellvertretender Jugendamtsleiter)<br />
ein Wissenskapital im Verwaltungsmanagement<br />
erworben und Erfahrungen mit<br />
organisationalen Entscheidungsprozessen<br />
gemacht werden konnten, auf die selbstverantwortende<br />
Entwicklung einer sozialpädagogischen<br />
Fachbehörde. So ist er 1995 in der<br />
Funktion des Amtsleiters daran beteiligt, über<br />
die Reorganisation von Verwaltungseinheiten,<br />
durch personalwirtschaftliche Maßnahmen<br />
(Qualifizierung), durch Rationalisierungsmaßnahmen<br />
(Controlling, Butgetierung) und<br />
Investitionsplanungen aus einem Jugendamt<br />
eine professionelle Organisation sozialer Hilfen<br />
zu machen. Als er 2005 als Sozialdezernent<br />
in das Heidenheimer Landratsamt kommt,<br />
ist er durch die Bewegung in unterschiedlich<br />
konturierten Arenen (Polizeiverwaltung,<br />
wirtschaftliche Jugendhilfe und Jugendamtsleitung<br />
im Landratsamt in Aalen), in denen<br />
er neue Regeln durchsetzen und Qualifizierungs-<br />
und Reorganisationsprozesse begleiten<br />
konnte, gut vorbereitet, um es mit der Aufgabe<br />
der Neustrukturierung der Heidenheimer<br />
Sozialverwaltung aufnehmen<br />
zu können. An dieser Stelle aber nun Seite 115<br />
zu vermuten, wir hätten es hier mit<br />
einem bürokratischen Systemlenker<br />
zu tun, wäre irrig. A. D. ist durch seine Herkunft<br />
aus einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb<br />
nicht nur die Rationalität familien-
etrieblichen Wirtschaftens vertraut, sondern<br />
er verfügt auch gemäß den diffusen Anteilen<br />
familienbetrieblichen Handelns über Formen<br />
sozialer Reziprozität (vgl. Hildenbrand 2002,<br />
S. 122). Sein Aufwachsen in einem landwirtschaftlichen<br />
Familienunternehmen bildet so<br />
die biographische Grundlage, um Anforderungen<br />
gerecht werden zu können, die großes<br />
soziales Geschick verlangen (z. B. die Fortbildungskurse<br />
nach der Wende in Sachsen)<br />
und andererseits solchen, die Kenntnisse auf<br />
formalen sozial-technischen Wissengebieten<br />
erforderlich machen. Die ersten Schritte,<br />
die er in den beiden Jahren (2005-2007) als<br />
Sozialdezernent im Landkreis Heidenheim<br />
unternimmt, zielen darauf, über ein von ihm<br />
entwickeltes Organisationskonzept die acht<br />
Fachbereiche auf vier zu reduzieren (Sozialplanung<br />
und Prävention, Soziale Sicherung<br />
und Integration, Jugend und Familie, Soziale<br />
Beratung). Welche weiteren innerbetrieblichen<br />
Veränderungen A. D. einleiten wird,<br />
um die Wirtschaftlichkeit der Jugendhilfepraxis<br />
zu verbessern und alte institutionelle<br />
Regeln zu modernisieren, um das Projekt<br />
einer professionellen Sozialarbeit im Geiste<br />
des KJHG zu ermöglichen, bleibt abzuwarten.<br />
d) Aktuelle Situation des Amtes<br />
Wie steht das Amt heute da? Nach den Betrugsfällen<br />
und einer Phase der gescheiterten<br />
Krisenintervention (sechs größere Umstrukturierungen<br />
zwischen 1997 und 2004;<br />
1999 die „große Umorganisation“ –<br />
Seite 116 die Bildung von acht Fachbereichen)<br />
setzt man auf den „bewährten Praktiker“<br />
A. D. aus dem Nachbarkreis, der<br />
durch den Ausbau der ambulanten Angebote<br />
und die „Entwicklung“ des Personals über<br />
eine familientherapeutische Ausbildung den<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Ostalbkreis in der Jugendhilfestatistik auf den<br />
ersten Platz in Baden-Württemberg brachte.<br />
Erste Schritte der A. D.schen Restrukturierung<br />
bestehen darin, die Organisationsstruktur<br />
noch einmal zu verändern. Ihr Ziel ist es, die<br />
Fallbearbeitung wieder „in einer Hand“ zu<br />
konzentrieren. Als Folge der fehlenden Umstrukturierungen<br />
hatten sowohl die alten als<br />
auch die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter im<br />
Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) seit der<br />
„großen Umstrukturierung“ 1999 jeden „Glauben“<br />
in die Leitung verloren und sich daran<br />
gewöhnt, die Alltagsprobleme unabhängig<br />
oder sogar gegen die nicht praktikablen Vorgaben<br />
„von oben“ zu bewältigen. In der mit A.D.<br />
beginnenden Phase der Konsolidierung geht es<br />
darum, stabile Strukturen, fachliche Standards<br />
und eine neue Organisationskultur zu schaffen.<br />
Besonders Letzteres ist ein Problem, da der<br />
Wandel „von oben“ hier auf Mißtrauen und den<br />
Widerstand des Personals im Jugendamt trifft.<br />
Die „schlechte Stimmung“ im Amt kontrastiert<br />
mit den organisatorischen und arbeitsmäßigen<br />
Verbesserungen, die inzwischen stattgefunden<br />
haben und sich im Kennzahlenvergleich niederschlagen.<br />
Die radikale Modernisiererin – Dr. D. (Saalfeld-Rudolstadt)<br />
a) Die institutionelle Ausgangslage<br />
In Saalfeld-Rudolstadt kann von einer systematischen<br />
Neukonstituierung erst seit dem<br />
Jahre 2000, mit dem Amtsantritt von Dr. D.,<br />
die Rede sein. Sie wird zu einer Initiatorin<br />
eines Strukturbildungsprozesses, der in diesem<br />
Jugendamt nach dem Muster einer nachholenden<br />
und aufholenden Entwicklung verläuft.<br />
In der Zeit davor war die Leitung in der Verantwortung<br />
eines Leiters, der die fachlichen<br />
Fragen der Sozialarbeit mangels beruflicher
Sozialisation mehr als Verwaltungsbeamter<br />
löste. Der ehemalige Kreisjugendpfleger aus<br />
dem Westen, dessen gescheiterte Karriere in<br />
den Versuch mündete, in der ehemaligen DDR<br />
erfolgreicher zu sein, war an dem Bereich der<br />
Erziehungshilfen nicht interessiert. Kernprobleme<br />
wurden nicht angegangen. Seine<br />
Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Jugendarbeit<br />
und darauf, dass alle Sozialarbeiter<br />
in den Besitz eines Führerscheins kamen. Eine<br />
Weiterbildung der sozialpädagogischen Kräfte<br />
7 war „nicht erwünscht“ (Interview), wurde<br />
weder gefordert noch gefördert. Möglichkeiten<br />
für die Herausbildung professioneller Routinen<br />
gab es nicht. Das Ausbleiben der Etablierung<br />
von fachlichen Standards hatte zur Folge, dass<br />
die Sozialarbeiter stationäre Hilfemaßnahmen<br />
bevorzugten, was dem Amt hohe Kosten verursachte.<br />
Des Weiteren hinterließ der am Bereich<br />
der Hilfen zur Erziehung wenig interessierte<br />
Jugendamtsleiter ein Vakuum an politisch-bürokratischem<br />
Einfluss im Landratsamt, so dass<br />
der Jugendhilfeausschuss über die Behandlung<br />
der grundsätzlichen politischen Steuerungsfragen<br />
der Jugendhilfe im Kreisgebiet hinausging<br />
und in den Bereich der konkreten Organisation<br />
hinein „regierte“. In dieser Situation konnte die<br />
Jugendamtsleitung ihrer Rolle als Gesamtverantwortung<br />
tragende Instanz und damit als<br />
Garant professioneller sozialpädagogischer<br />
Arbeit in den Einrichtungen und Diensten der<br />
freien Träger nicht gerecht werden. An dieser<br />
Stelle – nach 10 Jahren verlorener Strukturbildung<br />
– setzt die neue Jugendamtsleitung<br />
an, die, unterstützt von der neuen Landrätin,<br />
über strukturbildende Maßnahmen das Amt<br />
reformieren soll. 8<br />
Mit welchen in einem familial-sozialen Strukturgefüge<br />
gewachsenen Habitus kann Dr. D.<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
der Herausforderung begegnen, Rahmenbedingungen<br />
für die Entfaltung einer professionellen<br />
Sozialarbeit zu schaffen, nachdem<br />
ausgebliebene Strukturreformen das Amt mit<br />
seinen hohen finanziellen Ausgaben in eine<br />
Krise führten?<br />
b) Das Herkunftsmilieu von Dr. D.<br />
Die Urgroßeltern von Dr. D. kommen aus<br />
einem Ort im Süden des Thüringer Landes.<br />
Das Dorf gehört zum heutigen Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt und liegt in einer mittelständisch<br />
orientierten ländlichen Gesellschaftsform.<br />
Der Urgroßvater väterlicherseits<br />
war in dieser Region, die nicht gerade ein<br />
Zentrum der Modernisierung war, aber über<br />
industrielle Strukturen verfügte, von Beruf<br />
selbständiger Tischler. Der Tischler zählte<br />
zum gehobenen Handwerk. Auch wird das<br />
Einzugsgebiet des Dorfes groß genug gewesen<br />
sein, um einen rentablen Betrieb zu<br />
ermöglichen. Es ist davon auszugehen, dass<br />
der Urgroßvater Teil des lokalen Patriziates<br />
gewesen ist.<br />
Zusammen mit seiner Frau hat er drei Söhne.<br />
Das spricht für eine gute Planung und<br />
ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Da<br />
Familienbetriebe auf Kontinuität angelegt<br />
sind, vermuten wir, dass zumindest ein Sohn<br />
einen adäquaten Beruf erlernen wird, der ihn<br />
befähigt, den Betrieb zu übernehmen. Für<br />
eine positive Identifizierung mit dem<br />
Lebensentwurf des Vaters spricht,<br />
dass tatsächlich der Älteste die Seite 117<br />
Tischlerei übernimmt und Meister<br />
im Handwerk seines Vaters wird und<br />
dass der mittlere Sohn in dem Unternehmen<br />
mitarbeitet. Der Großvater von Dr. D. väterlicherseits<br />
kann bis zu seinem Tod 1982 seine
Selbständigkeit aufrechterhalten. Dies ist unter<br />
den Umständen der DDR und im Kontext<br />
der restriktiven Wirtschaftspolitik, die gerade<br />
Selbständigen erschwerende Bedingungen<br />
auferlegte, eine beachtliche Leistung.<br />
Wie wird seine Partnerwahl ausfallen? Denkbar<br />
wäre eine Verbindung mit einer anderen<br />
Handwerkerfamilie am Ort, um den sozialen<br />
Einfluss zu steigern. Damit hätte seine Frau<br />
eine starke Position in der Partnerschaft.<br />
Umgekehrt würde er sich eine patriarchalische<br />
Position sichern, wenn er eine Tochter<br />
aus einer Heimarbeiterfamilie heiraten<br />
würde. Solche gibt es in dem Ort zahlreich.<br />
Andererseits würde dies ein Überschreiten<br />
der Schicht- oder Klassengrenzen bedeuten.<br />
Also erwarten wir eher eine Heirat im Selbständigenmilieu.<br />
Tatsächlich heiratet er die<br />
Tochter eines Kleinbauern. Da die Gegend in<br />
einem naturräumlich benachteiligtem Gebiet<br />
mit Bodenklimazahlen unter 35 (bei max. 100)<br />
liegt, ist eine profitable Landwirtschaft unter<br />
diesen Bedingungen nicht möglich. Es wird<br />
sich im wesentlichen um Subsistenzwirtschaft<br />
ohne größere wirtschaftliche Perspektive<br />
gehandelt haben. Sofern sich diese Familie<br />
offen auf Zukunft orientiert, wird sie es nicht<br />
mit aller Macht darauf anlegen, den landwirtschaftlichen<br />
Betrieb zu erhalten.<br />
1909 wird ein Sohn geboren, der 1913 stirbt.<br />
1914 kommt eine Tochter zur Welt,<br />
1920 eine weitere. Entgegen unseren<br />
Seite 118 Erwartungen ist das Reproduktionsmuster<br />
doch auf die Betriebsnachfolge,<br />
also auf das traditionelle familienbetriebliche<br />
Muster angelegt. Erst als der<br />
Sohn im Alter von vier Jahren stirbt, kommt es<br />
zu einer weiteren Geburt – diese ist aber eine<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Tochter. Weitere sechs Jahre später kommt es<br />
zu einem erneuten Versuch, einen Nachfolger<br />
zu zeugen, aber auch dies misslingt. Gegen diese<br />
Lesart könnte eine konkurrierende Deutung<br />
ins Feld geführt werden: Wegen der unsicheren<br />
Zeiten zwischen 1914 und 1920 verzichtet das<br />
Paar zunächst auf weitere Kinder, und erst<br />
1920, als die politischen Verhältnisse sich stabilisieren,<br />
kann ein weiteres Kind gezeugt werden.<br />
Oder einfacher: der Vater war zwischen<br />
1914 und 1918 im Krieg. Damit ist aber nicht<br />
erklärt, warum zwischen 1910 und 1913 keine<br />
Geburt erfolgt, jedoch zeitnah zum Tod des<br />
einzigen Sohnes eine Tochter geboren wird.<br />
Zunächst beobachten wir, so die Hypothese,<br />
ein traditionales Muster männlicher Erbnachfolge,<br />
das sich aber nicht realisieren lässt.<br />
Die Frage ist dann, ob die Töchter in diesen<br />
Erwartungsrahmen eingespannt werden, was<br />
unter dieser Maßgabe nur heißen kann: sie<br />
bringen einen Nachfolger für den Betrieb als<br />
Mann. Diese Erwartung wäre einer „traditional<br />
sklerotisierten Familie“ (Lanfranchi 1993)<br />
gemäß. Stimmt aber unsere These von der<br />
Zukunftsorientierung dieser Familie, müssten<br />
wir erwarten, dass die Eltern ihre Erwartungen<br />
an die Zukunft des Betriebes aufgeben und den<br />
beiden Töchtern bei Berufs- und Partnerwahl<br />
freie Hand lassen. Dazu erfahren wir: Beide<br />
Töchter lernen einen kaufmännischen Beruf<br />
und orientieren sich damit außerhalb der<br />
Landwirtschaft. Die erwartete Offenheit tritt<br />
also (doch noch) ein.<br />
Der Großvater von Dr. D., der selbständige<br />
Tischlermeister, heiratet also eine Älteste, die<br />
aus der Landwirtschaft kommt und sich selbst<br />
zu orientieren weiß. Als Ehefrau ist sie für das<br />
Geschäft durch ihre kaufmännische Ausbil-
dung eine Unterstützung. Hinzu kommt, dass<br />
sie aus dem gleichen Ort kommt, so dass er als<br />
Nachfolger seiner Familie auch die lokale Verankerung<br />
des Geschäftes weiter vorantreiben<br />
kann. Insofern ist die Verflechtung mit dem<br />
Familienzweig seiner Frau günstig, um sich<br />
weiterhin im Milieu zu verwurzeln.<br />
Das Paar hat drei Kinder: einen Sohn und<br />
zwei Töchter. Der Sohn ist der Älteste und<br />
wird 1940 geboren. Das heißt, seine berufliche<br />
Weichenstellung erfolgt Mitte der 50er Jahre.<br />
Damals hat es sich bereits abgezeichnet, dass<br />
das selbständige Handwerk in der DDR keine<br />
Zukunft haben wird. Andererseits könnte man<br />
sich auch vorstellen, dass in ländlicher Abgeschiedenheit<br />
bei Dominanz gemeinschaftsförmiger<br />
Sozialbeziehungen sich hätten Wege<br />
finden lassen, von der Fiktion der Aufrechterhaltung<br />
des Selbständigenstatus auszugehen<br />
und am Alten festzuhalten. 9 Die Frage ist,<br />
wird er seinen Sohn in einem Lebensentwurf<br />
unterstützen, in dem es darum geht, das Erbe<br />
des Familienbetriebes fortzusetzen, oder wird<br />
er seinen Sohn dazu anhalten, über eine andere<br />
Berufswahl ein Transformationspotential zu<br />
erwerben, das eine flexible Anpassung an die<br />
gegebenen Bedingungen des DDR-Staates<br />
ermöglicht?<br />
Der älteste Sohn, der Vater von Dr. D., wird<br />
Ingenieur und bleibt im Ort. Er findet mit<br />
dieser Wahl eine pragmatische Lösung für die<br />
Aufgabe, sich in die Berufswelt zu integrieren.<br />
Riskante Selbstbehauptungsversuche durch einen<br />
eigenständigen bzw. individuierten beruflichen<br />
Werdegang werden mit dieser Entscheidung<br />
vermieden. Indem er keine Tischlerlehre<br />
mehr macht, wird auch das unwiederbringliche<br />
Ende des handwerklichen Familienbetriebes<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
respektiert. Vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen<br />
Entwicklung des DDR-<br />
Staates betrachtet ist der Zeitpunkt für diese<br />
Neuorientierung genau der richtige (vgl. Becker<br />
& Strauss 1972, S. 366). Denn 1971 erfolgte<br />
wieder ein Kurswechsel der politischen<br />
Führung. In einer zweiten Enteignungswelle<br />
werden alle privaten Unternehmen verstaatlicht.<br />
Mit der Wahl des Ingenieurberufes, der<br />
rationales und effektives Denken erfordert,<br />
bleibt er gemäß der Familientradition bodenständig,<br />
begeht aber gleichzeitig einen<br />
Transformationsschritt, der für eine kluge<br />
Zukunftsplanung spricht. Die älteste Tochter<br />
wird technische Zeichnerin, die jüngste Biologin.<br />
Hier sind gewisse Linien der Vorfahren erhalten<br />
geblieben. Für technische Zeichnungen<br />
stehen Anregungen von der väterlichen Seite<br />
zur Verfügung, und der Beruf der Biologin<br />
kann als Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen<br />
Interessen gesehen werden. In<br />
dieser Generation findet also, aufruhend auf<br />
dem handwerklichem Selbständigenmilieu,<br />
eine Transformation in technische Berufe mit<br />
hoher Eigenverantwortung, aber abhängig beschäftigt,<br />
statt. Insgesamt stehen die Zeichen<br />
klar auf Aufstieg.<br />
Wieder stellt sich die Frage der Heiratsstrategie,<br />
und zwar beschränken wir uns (für die<br />
Analyse hier) auf den Ältesten, den Ingenieur.<br />
Die Großeltern seiner Frau mütterlicherseits<br />
waren selbständige Schneider mit<br />
sieben Kindern. Eine Tochter aus<br />
dem mittleren Bereich der Geschwi- Seite 119<br />
sterreihe heiratet einen Traktoristen,<br />
der früher vermutlich Landwirt war,<br />
sie selbst ist gelernte Porzellanmalerin. Dieser<br />
Ehe entstammen zwei Töchter. Die ältere, die<br />
den auf der vorangegangenen Generation ver
loren gegangenen Status der Selbständigkeit<br />
durch eine Orientierung an den Großeltern<br />
rettet, wählt wie diese das selbständige Schneiderhandwerk.<br />
Die zweite Tochter ist leitende<br />
Verkäuferin und heiratet einen Landwirt und<br />
Bürgermeister. Die Älteste heiratet den Vater<br />
von Dr. D.<br />
Heiraten finden hier also durchweg im<br />
Selbständigenmilieu der Kleingewerbler<br />
und Landwirte in ländlicher, naturräumlich<br />
benachteiligter Gegend statt, deren Sozialstruktur<br />
mehrheitlich durch Nebenerwerbslandwirtschaft,<br />
Heimarbeiterschaft und<br />
industriell-gewerbliche Strukturen (Bergbau,<br />
Textilindustrie, Glasindustrie) gekennzeichnet<br />
ist.<br />
Es heiraten zwei Älteste – damit ist die Disposition<br />
zu einer Paarbeziehung gegeben, die<br />
eher durch symmetrische als durch komplementäre<br />
Interaktion im Sinne von G. Bateson<br />
gekennzeichnet ist. Ein mögliches Resultat<br />
könnte ein hohes Niveau an Leistungsanforderungen<br />
in dieser Familie sein, die Kehrseite<br />
dessen wäre ein affektiv wenig ausgeprägtes<br />
Klima. Andererseits hat das Paar drei Kinder,<br />
was in diesem Milieu nicht für affektive Kühle<br />
spricht – eher im Gegenteil.<br />
Uns interessiert das mittlere der drei Geschwister,<br />
Dr. D. Sie hat einen jüngeren und<br />
einen älteren Bruder und wird also<br />
nicht umhin kommen, mit ihnen<br />
Seite 120 in Konkurrenz zu treten (verschärft<br />
durch das – vermutete – hohe Niveau<br />
an Leistungsanforderungen seitens<br />
der Eltern). Ihr Vorteil gegenüber den Brüdern<br />
ist, dass sie privilegierten Zugang zum<br />
Vater hat, wie wir nicht nur von Parsons mit<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Bezug auf die Strukturen der ödipalen Triade<br />
wissen. Denn die Identifikation im Zuge der<br />
Persönlichkeitsbildung läuft primär über das<br />
gegengeschlechtliche Elternteil.<br />
Diese Hypothesen lassen sich anhand der<br />
Berufe, die die drei Kinder aus dieser Familie<br />
ergreifen, leicht überprüfen. Der Älteste, 1961<br />
geboren, erwirbt zunächst den Abschluss eines<br />
Baufacharbeiters mit Abitur und wird dann<br />
Bauingenieur. Der Jüngste, 1968 geboren, studiert<br />
Zahnmedizin. Ego, 1964 geboren, wird<br />
Lehrerin in den Fächern Mathematik und<br />
Physik.<br />
Der Rest der Familiengeschichte ist schnell<br />
erzählt. Dr. D. heiratet einen Maschinenbauingenieur<br />
aus einer größeren Stadt im Süden<br />
Thüringens, der zunächst als Geschäftsführer,<br />
seit 2000 als selbständiger Unternehmer tätig<br />
ist. Dessen Vater ist Sohn eines Postbeamten<br />
im höheren Dienst, die Mutter Tochter eines<br />
Landwirts am Schwarzen Meer. Ihre Familie<br />
wurde während des Krieges vertrieben und<br />
fand in Sachsen-Anhalt ein Unterkommen.<br />
Das Paar führt demnach eine für die technische<br />
Intelligenz typische Ehe mit Doppelkarriereorientierung<br />
(Burkart & Kohli 1992). Dr. D.<br />
heiratet milieukonform. Das Paar hat zusammen<br />
eine Tochter, die 1988 geboren wird.<br />
Nun zur beruflichen Entwicklung von Dr. D.<br />
Indem sie Lehrerin in den Fächern Mathematik<br />
und Physik wird, verbindet sie den väterlichen<br />
Einfluss mit den weiblichen Aspekten<br />
von Pädagogik. Letztere gewinnt zunächst das<br />
Übergewicht, und zwar im Bereich der Reflexion,<br />
nicht aber im Bereich der beruflichen<br />
Praxis. Ihre Diplomarbeit, später zur Dissertation<br />
ausgebaut, behandelt Zukunftsaspekte von
Abiturienten. Sie wird angefertigt während<br />
einer vierjährigen Forschungsassistenz an der<br />
Pädagogischen Hochschule in Erfurt. Nach<br />
der Wende, als die Pädagogik gesellschaftlich<br />
und institutionell „ins Hintertreffen zu geraten<br />
droht“ – die Erziehung zur sozialistischen<br />
Persönlichkeit als pädagogische Aufgabe hat<br />
sich erledigt –, besinnt sie sich wieder auf ihre<br />
mathematischen Kompetenzen und lehrt freiberuflich<br />
Wirtschaftsmathematik und EDV<br />
– Hemmungen hinsichtlich der Berührung mit<br />
marktwirtschaftlichen Orientierungen wird sie<br />
bei ihrem Familienhintergrund nicht gehabt<br />
haben. Nachdem dieser Markt zunehmend<br />
erodiert, geht Dr. D. ans Landesjugendamt<br />
und dort zunächst in die Fachberatung für<br />
ambulante erzieherische Hilfen, danach in die<br />
Planungsabteilung. Damit greift Dr. D. auf ein<br />
anderes Segment ihrer pädagogischen Kompetenzen<br />
zurück.<br />
Die Schwerpunkte beruflichen Handelns bei<br />
Dr. D. liegen – sieht man von der zwischenzeitlichen<br />
Tätigkeit in der beruflichen Aus-<br />
und Fortbildung ab – im Bereich fachlich-distanzierter,<br />
reflexiver Zugangsweisen, nicht in<br />
der unmittelbaren pädagogischen Begegnung<br />
im Sinne Martin Bubers. Dazu passt, dass sie<br />
parallel zu ihrer Tätigkeit im Jugendamt eine<br />
Weiterbildung in „lösungsorientierter Kurzzeittherapie“<br />
macht. Dabei handelt es sich<br />
um einen Zweig der systemischen Therapie<br />
und Beratung (die als solche sich besonders in<br />
der Kinder- und Jugendhilfe bewährt), der ein<br />
hohes Maß an technikorientiertem, um nicht<br />
zu sagen technokratischem Zugang aufweist.<br />
Die Brücke von der Planung der Jugendhilfe<br />
zur Jugendhilfepraxis bewältigt sie demnach<br />
mit Mitteln, die ihrer Disposition am nächsten<br />
kommen.<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Schauen wir auf diesen Karriereverlauf als<br />
eine „Bewegung innerhalb von Strukturen“,<br />
wie es Becker und Strauss formulieren (1972,<br />
S. 355), so können wir zusammenfassend<br />
Folgendes festhalten: Sie bewegt sich zwischen<br />
klassisch männlichen und klassisch<br />
weiblichen Berufsvollzügen, die gepaart sind<br />
mit einem kontinuierlichem Aufstieg. Sie<br />
nutzt dafür alle ihr zu Verfügung stehenden<br />
Ressourcen als Mittel zum Zweck. Das Ziel<br />
ist eine planerische Tätigkeit, die die Balance<br />
zwischen beiden Bereichen herstellt.<br />
So kann sie jeweils variabel nach gegebener<br />
Opportunitätsstruktur eines als Standbein<br />
und das andere als Spielbein im Sinne ihres<br />
Hauptaugenmerks für sich nutzbar machen.<br />
Betrachten wir ihren sozialen Lebensverlauf<br />
aus der „familialen Blickrichtung“ (Bertaux &<br />
Bertaux-Wiame 1991, S. 13), so können wir<br />
erkennen, dass sich dieses lebenspraktische<br />
Muster, mit dem sie in die Welt hinein agiert,<br />
über verschiedene Transmissionen ausprägen<br />
konnte. Im Blick auf die väterlich-männliche<br />
Linie sehen wir jenseits der Unterschiede<br />
zwischen den aufeinanderfolgenden Berufen<br />
Ähnlichkeiten. Während der Urgroßvater und<br />
der Großvater väterlicherseits ihre jeweiligen<br />
Handlungsenergien in die Aufrechterhaltung<br />
und Sicherung des Selbständigen-Status<br />
investieren, steht ihr Vater vor der Aufgabe,<br />
über einen Transformationsschritt, der einen<br />
beruflichen Milieuwechsel erzwingt, den sozialen<br />
Status, wenn auch mit einem<br />
Verzicht beruflicher Selbständigkeit,<br />
zu wahren. Die Ressource, die die Seite 121<br />
Wahl einer neuen beruflichen Identität<br />
ermöglicht, stammt aus dem<br />
Handwerksbereich. Elementares Wissen<br />
über Konstruktionstechniken, das Entwerfen,<br />
Anfertigen und Ausführen von Werkteilen,
Fertigkeiten im technischen Zeichnen und<br />
planerische und logische Denkfähigkeiten<br />
können in dieser Linie tradiert werden. Was<br />
ist für Dr. D. von dieser Familienlinie her<br />
gesehen noch im Angebot? Sie kann lernen,<br />
wie durch ein umsichtiges und vorausschauendes<br />
Handeln das Kapital der Selbständigkeit<br />
innerhalb von Bedingungsrahmen bewahrt<br />
werden kann, die einem autonomen Gestaltungswillen<br />
Begrenzungen auferlegen. Sie hat<br />
Männer zum Vorbild, die durch ein flexibles<br />
Sich-Bewegen innerhalb der gegebenen<br />
Strukturen den Aufstieg machen (Tischlermeister/Bauingenieur).<br />
Sie kann von ihnen<br />
lernen, es mit der Herausforderung prekärer<br />
Umstände aufzunehmen. Des Weiteren ist ihr<br />
das rational effektive Denken aus dem väterlichen<br />
Spezialgebiet der technischen Arbeit<br />
bekannt. Ist sie mit dem Vater identifiziert,<br />
dann wird sie auch die Aufgabe nicht scheuen,<br />
durch „handanlegendes Umgestalten“ (Husserl<br />
1954, S. 61) des Vorgegebenen neue Ordnungsrahmen<br />
zu erzeugen bzw. aufzusuchen,<br />
um neue Handlungstypiken, Erfahrungen,<br />
„Sichtweisen, Lebensformen, Techniken und<br />
Sensibilitäten aufkommen“ (Waldenfels 1985,<br />
S. 49) bzw. möglich zu machen. In der mütterlichen<br />
Generationenlinie ist die Sicherung<br />
des Lebensunterhaltes im Rahmen von Umstrukturierungsprozessen<br />
ebenfalls ein Thema.<br />
Tradiert werden kann das Wertemuster, dass<br />
Selbständigkeit ein hohes Gut ist.<br />
c) Beruflicher und biographischer<br />
Seite 122 Habitus<br />
Welchen biographischen und im Verlauf<br />
ihrer beruflichen Entwicklung<br />
erworbenen Habitus bringt Dr. D. nun mit,<br />
um in der Amtsleiterposition im Jugendamt<br />
Saalfeld-Rudolstadt das „Projekt einer Pro-<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
fessionalisierung der Sozialen Arbeit“ (Bohler<br />
2006, S. 6) umsetzen zu können? Wir haben<br />
im Prozess der Fallrekonstruktion gesehen,<br />
dass milieuspezifische Entwicklungsrahmen<br />
zur „ermöglichenden Größe“ (Giddens 1984,<br />
S. 222) für die Herausbildung von sozialen<br />
Handlungskompetenzen werden, die Dr. D.<br />
befähigen, die Herausforderung der transformationellen<br />
Strukturanpassung unter der<br />
verschärften Problematik des Jugendamtes<br />
Saalfeld-Rudolstadt – wie wir gleich noch<br />
ausführen werden – anzunehmen. Durch ihr<br />
Hochschulstudium, die berufspraktischen Erfahrungen<br />
im Planungsbereich sozialer Hilfen<br />
und durch die Weiterqualifizierung im sozialpädagogischen<br />
Bereich des therapeutischen<br />
Betreuungshandelns verfügt sie über ein berufliches<br />
Wissen, das den Transformationsprozess<br />
durch fachliches Leitungshandeln steuern<br />
kann. Als Fachvertreterin einer professionellen<br />
Sozialarbeit beginnt sie erst einmal „strukturelle<br />
Entscheidungen“ (Interview) zu treffen.<br />
Sie schickt die Sozialarbeiter zu Weiterbildungen,<br />
organisiert eine Fortbildungsreihe<br />
„Lösungsorientierte Beratung“ (Interview)<br />
und ist interessiert an der „Fortentwicklung<br />
der Organisationsstruktur des Jugendamtes<br />
insgesamt“ (Interview). Des Weiteren initiiert<br />
sie über die Fachaufsicht eine konzeptionelle<br />
Weiterentwicklung der Angebote der Träger<br />
der freien Jugendhilfe und versucht, über die<br />
institutionelle Steuerung der Hilfeplanung (§<br />
36 KJHG) die professionellen Fähigkeiten und<br />
Erkenntnisse der sozialpädagogischen Fachkräfte<br />
aus den Einrichtungen für eine fachlich<br />
qualifizierte Fallarbeit produktiv werden zu<br />
lassen. Allerdings muss sie den Prozess der<br />
Strukturbildung, der ein fallangemessenes verantwortliches<br />
Handeln sicher stellen soll, unter<br />
erschwerten Umstrukturierungsbedingungen
leisten. Zum einen bremst die mangelhafte und<br />
auch verhinderte Qualifikation der Mitarbeiter<br />
die Realisierung der Jugendhilfe nach dem<br />
Fachlichkeitsgebot. Zum anderen erschwert<br />
eine Personalpolitik, die die rechtliche Seite<br />
vernachlässigt, die Akquisition von qualifiziertem<br />
Personal – der Personalrat verhindert<br />
externe Stellenausschreibungen (vgl. den Beitrag<br />
von Bruno Hildenbrand in diesem Band).<br />
Dazu kommt, dass Dr. D. die Strategie, Transformationsprozesse<br />
an erfahrene Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter zu delegieren, zunächst<br />
verwehrt ist. Sie baut eine nach der Wende<br />
sozialpädagogisch diplomierte Mitarbeiterin,<br />
die sich als fachlich geeignet erwiesen hat, als<br />
Leiterin des Sozialen Dienstes auf, die diese<br />
Aufgabe allerdings zunächst nur inoffiziell<br />
übernehmen kann. Denn die offizielle Leiterin,<br />
die eher den beharrenden Kräften angehört, ist<br />
nicht willens, auf diese Position zu verzichten,<br />
andererseits aber durch Krankheit immer<br />
wieder daran gehindert, ihre Verantwortung<br />
wahrzunehmen. Da die offizielle Leiterin des<br />
Sozialen Dienstes ihrerseits mit der Inhaberin<br />
einer starken Position, nämlich der Leiterin der<br />
wirtschaftlichen Jugendhilfe, eng befreundet<br />
ist, führt das in Saalfeld-Rudolstadt eine Zeit<br />
lang zu einem Transformations-Patt.<br />
Wir haben aber gesehen, dass Dr. D. durch die<br />
Einsozialisierung in eine Milieuwelt, in der ein<br />
hohes Maß an Selbständigkeit strukturbildend<br />
ist und in der das Thema, sich im Rahmen von<br />
krisenprovozierenden Veränderungen neu zu<br />
organisieren, nicht unbekannt ist, über Resistenzpotentiale<br />
verfügt, so dass den erschwerten<br />
Einbettungsbedingungen des Umstrukturierungsprozesses<br />
mit Widerstand begegnet werden<br />
kann. Damit nicht im Widerspruch steht<br />
ihre Entscheidung – gemäß der Fallstruktur,<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Handlungsspielräume zu erweitern –, im<br />
Jahre 2007 das Jugendamt zu verlassen und in<br />
den Bereich der Angewandten Wissenschaft<br />
zu wechseln, weil nicht sicher ist, dass bei der<br />
nächsten Wahl eines Landrats die Transformationspolitik<br />
weiter unterstützt wird. 10<br />
d) Aktuelle Situation des Amtes<br />
Zehn Jahre nach der Einführung des KJHGs<br />
konnten aufgrund eines an Fachlichkeit wenig<br />
interessierten Verwaltungsbeamten an der<br />
Spitze des Jugendamtes keine neuen Strukturen<br />
geschaffen werden. Entscheidungen<br />
für eine professionelle Weiterqualifizierung<br />
der Mitarbeiter wurden nach Einführung der<br />
neuen Gesetzeslage nicht getroffen, lediglich<br />
Veränderungen der bürokratischen Erfordernisse<br />
im Sinne des KJHG vorgenommen. Den<br />
Ausgangspunkt des Wandels bildet dann die<br />
Installation einer Amtsleitung, die die Neuorganisation<br />
der regionalen Jugendhilfe über<br />
einen Kurs der fachlichen Qualifizierung und<br />
ganz nach dem Motto: Modernisierung um<br />
jeden Preis betreibt. Seit dem befindet sich<br />
das Amt auf dem Wege einer nachholenden<br />
Entwicklung, allerdings vorerst auf niedrigem<br />
Niveau, da durch ein Beharren auf einem<br />
internen Arbeitsmarkt eine Fachlichkeit im<br />
Amt erst allmählich erzeugt werden kann.<br />
Eine systematische Schulung sozialpädagogischer<br />
Kompetenzen wird vom Personalrat<br />
der Kreisverwaltung (wie Bruno Hildenbrand<br />
im Beitrag dieses Bandes ausgeführt<br />
hat) als nicht notwendig erachtet.<br />
Das hat zur Folge, dass ein fachlich Seite 123<br />
anspruchsvoller Wissenserwerb in<br />
den Bereichen Diagnose, Beratung<br />
und Hilfeplanung noch schwach ausgeprägt<br />
ist und dass ein professionelles Handeln im<br />
Sinne einer beruflichen Praxis, die es ermög
licht, die Klienten fallspezifisch unter der<br />
Perspektive einer beschädigten Autonomie<br />
wahrzunehmen, erst allmählich ausgebildet<br />
werden konnte.<br />
Der Moderator – Dr. M. (Rügen)<br />
a) Institutionelle Ausgangslage<br />
Im Unterschied zu Saalfeld-Rudolstadt gibt<br />
es auf Rügen zwei Akteure, die von Anfang<br />
an zentrale Weichen für das Projekt der Professionalisierung<br />
der Sozialen Arbeit gestellt<br />
haben. Der Jugendamtsleiter Dr. M., der als<br />
promovierter Pädagoge schon vor der Wende<br />
in der DDR-Jugendhilfe tätig war, und Dr. S.,<br />
der als ehemaliger Sohn eines Gutsbesitzers in<br />
der Funktion des Sozialdezernenten KJHGkonforme<br />
Entscheidungen traf, sorgen für<br />
einen fulminanten Transformationsbeginn.<br />
Betrachten wir jetzt das spezifische Familienmilieu,<br />
aus dem heraus die Gestaltungsentscheidungen<br />
von Dr. M. erklärbar werden. Auf<br />
der Grundlage welcher biographischer Handlungsdispositionen<br />
kann er auf die Herausforderung,<br />
den Institutionsbildungsprozess zu<br />
gestalten, reagieren?<br />
b) Das Herkunftsmilieu von Dr. M.<br />
Objektive Daten zur Herkunftsfamilie des<br />
leiblichen Vaters sind aus dem Interview nicht<br />
bekannt. So beginnt das Genogramm mit dem<br />
Großelternpaar mütterlicherseits. Der Großvater<br />
ist selbständiger Schneidermeister<br />
und seine Ehefrau Hausfrau. Das<br />
Seite 124 Paar lebt in Gotha, jener Residenzstadt,<br />
die u. a. durch den Pietismus<br />
beeinflusst war. Dieses Paar hat ein<br />
Kind, eine Tochter, und man fragt sich, warum<br />
keine Anstrengungen unternommen werden,<br />
einen männlichen Nachfolger für das Geschäft<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
zu zeugen. War das Paar weit seiner Zeit voraus<br />
und plante, das Geschäft an die Tochter weiterzugeben?<br />
Oder wirtschaftete der kleine Familienbetrieb<br />
an der Rentabilitätsgrenze, so dass<br />
nicht nur Überlebensschwierigkeiten zu einer<br />
Kontrolle der Kinderzahl ‚zwangen’, sondern<br />
auch der Optimismus, sich in eine Zukunft zu<br />
reproduzieren, nicht vorhanden war? Oder gab<br />
die Paarbeziehung nicht mehr als die Geburt<br />
eines einzigen Kindes her? Verlassen wir an<br />
dieser Stelle den Materialtypus und gehen wir<br />
ins Interview, was methodisch zulässig ist, dann<br />
erfahren wir: diese Tochter war gehörlos. Dass<br />
keine weiteren Kinder geboren werden, wird<br />
mit der Angst des Ehepaares zu begründen<br />
sein, weitere gehörlose Kinder zu bekommen.<br />
Wir wissen nichts über eine genetische Belastung.<br />
In jedem Fall wird als Ergebnis einer<br />
Risikoabwägung das Ehepaar zu dem Schluss<br />
gekommen sein, lieber auf einen Nachfolger zu<br />
verzichten als ein weiteres behindertes Kind in<br />
Kauf zu nehmen.<br />
Wie aber geht ein Selbständigenhaushalt mit<br />
der Existenz eines behinderten Kindes um?<br />
Eine Option wäre, das Kind zu Hause zu<br />
behalten und es so weit mit lebenspraktischen<br />
Fertigkeiten auszustatten, dass es in der Lage<br />
sein wird, seine Eltern im Alter zu versorgen.<br />
Die Konsequenz wäre die Unterbestimmung<br />
der lebenspraktischen Autonomie der Tochter.<br />
Eine weitere Option wäre eine angemessene<br />
Berufsausbildung im Rahmen des bei Gehörlosen<br />
Möglichen. Diese Option wäre autonomiesteigernd.<br />
Was wird nun aus der Tochter, die habituell<br />
in die Lebenswelt eines Selbständigenmilieus<br />
hineinwächst, in dem sich ein Autonomiewillen<br />
mit einem Aufstiegsdenken, wie wir an der
Sozialposition des Meisters erkennen können,<br />
paart? Was für eine Lösung kann für die<br />
Entwicklungsaufgabe gefunden werden, sich<br />
unter den Bedingungen einer eingeschränkten<br />
Berufswahl in die Welt der Erwachsenen zu integrieren?<br />
Das Material zeigt, dass die Tochter<br />
den Beruf der Stepperin – ein Beruf, der nahe<br />
an dem ihres Vaters liegt – lernt und ihn sowohl<br />
privat als auch in der Fabrik ausübt. Das<br />
Autonomiemuster hat sich damit durchgesetzt.<br />
Aber nicht nur das handwerkliche Muster ist<br />
richtungsweisend bei der Bewältigung der<br />
im Erwachsenenleben anstehenden Bewährungsaufgaben.<br />
Sondern – wie wir gleich an<br />
der Partnerwahl sehen können – ist auch der<br />
im Familienmilieu erzeugte Habitus der Selbständigkeit<br />
ein zentraler Bestimmungsfaktor<br />
der Handlungsorientierung. Sie heiratet 1944<br />
einen ebenfalls gehörlosen selbständigen Malermeister<br />
aus Halberstadt. Mit dieser Heirat<br />
entscheidet sie sich für einen Mann, der ähnlich<br />
wie ihr Vater einer Berufsgruppe zugehörig ist,<br />
in der zwar die Kultur der Selbständigkeit gesichert<br />
werden kann, aber durch die die Sicherung<br />
des Statusniveaus der Herkunftsfamilie<br />
nicht gelingt. Denn das Bauhandwerk genießt<br />
im Vergleich zu der Handwerkstradition der<br />
Schneider ein geringeres Ansehen.<br />
An den Entscheidungswahlen Berufs- und<br />
Partnerwahl wird also Folgendes deutlich:<br />
Zum einen war diese Generation, die Elterngeneration<br />
von Dr. M., noch nicht gezwungen,<br />
neue, eigene Orientierungen zu entwickeln, da<br />
die Traditionen und Lebensgewohnheiten ihrer<br />
angestammten Milieus noch ihre Gültigkeit<br />
behaupten konnten. Zum anderen lassen die<br />
gewählten Optionen, die auf das Herkunftsmilieu<br />
zurückverweisen, vermuten, dass es sich bei<br />
der Familie, in der die gehörlose Tochter, also<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
die Mutter von Dr. M., aufwächst, um einen<br />
Beziehungszusammenhang gehandelt hat, in<br />
dem affektiv-diffuse Bindungen gelebt werden<br />
konnten. Denn alle Indizien weisen darauf hin,<br />
dass sie gut in die Familie integriert war und<br />
dass die Eltern autonomiesteigernde Schritte<br />
ermöglichten bzw. diese unterstützt haben, so<br />
dass der Weg in die Eigenständigkeit gefunden<br />
werden konnte.<br />
Die Ehe wird 1947, da ist Dr. M. drei Jahre<br />
alt, geschieden. Wie wird sich die Mutter mit<br />
ihrem Sohn orientieren? Es ist bekannt, dass<br />
Alleinerziehende nach der Auflösung der<br />
Familie nicht selten in ihre Herkunftsfamilie<br />
zurückkehren (vgl. Lüscher & Pajung-Bilger<br />
1998). Die Ablösung wird damit partiell<br />
rückgängig gemacht, zumindest so lange, bis<br />
ein neuer Partner gefunden ist. Die Mutter<br />
zieht, zumal behindert, – wie vermutet – mit<br />
ihrem Kind zu den eigenen Eltern zurück.<br />
Sie knüpft aber eine neue Beziehung an. Wen<br />
heiratet sie? Wieder im Selbständigenmilieu,<br />
oder anderweitig? Innerhalb des Heiratskreises<br />
Gehörloser oder außerhalb?<br />
Machen wir’s kurz: Sie heiratet einen Gehörlosen,<br />
einen fünf Jahre älteren Mann, der von<br />
Beruf selbständiger Tischlermeister ist. Die<br />
spezifische Mischung von Autonomie und<br />
Heteronomie findet sich auch hier wieder: Im<br />
beruflichen Bereich werden klassische Selbständigkeitsmuster<br />
gelebt, im privaten<br />
Bereich bietet die Herkunftsfamilie<br />
den Rückhalt. Denn das Paar zieht Seite 125<br />
zu den Eltern der Frau, und eigene<br />
Kinder – als Voraussetzung für die<br />
Realisierung des vollen Entwurfs einer Paarbeziehung<br />
– hat es nicht.
Ziehen wir an dieser Stelle eine kurze<br />
Zwischenbilanz: In einer Zeit, in der eine<br />
Behinderung wie die der Gehörlosigkeit als<br />
so einschneidend betrachtet wird, dass es<br />
unwahrscheinlich ist, dass die Betroffenen in<br />
nennenswertem Umfang Autonomiespielräume<br />
ausschöpfen können, stoßen wir auf<br />
Biographieverläufe, bei denen gerade dies ein<br />
zentrales Merkmal ist: berufliche Selbständigkeit<br />
und Familiengründung. Der regionale<br />
Kontext wird dazu seinen Teil beigetragen<br />
haben, denn Gotha hat nicht nur eine große<br />
Tradition im Bereich der Bildung, sondern es<br />
wird auch (via Pietismus) in dieser Region als<br />
gesellschaftliche Aufgabe angesehen worden<br />
sein, Behinderten die angemessene Förderung<br />
zukommen zu lassen.<br />
In welchen sozialisatorischen Entwicklungsrahmen<br />
wächst Dr. M. auf? Er wird<br />
hineingeboren in eine Familie, in der die<br />
Sozialpositionen „Vater“ und „Mutter“ besetzt<br />
sind. So bestehen, aus der Perspektive der sozialisatorischen<br />
Entwicklungsgegebenheiten<br />
betrachtet, günstige Bedingungen für die<br />
Ausprägung triadischer Beziehungsstrukturen.<br />
Wir können vermuten, dass Dr. M. in<br />
der frühkindlichen Entwicklungsphase bis<br />
zum Alter von drei Jahren nicht nur lernen<br />
konnte, mit unterschiedlichen Beziehungsmustern<br />
kreativ umzugehen und triadische<br />
Kompetenzen (vgl. Fivaz-Depeursinge 2001)<br />
auszubilden, sondern auch in dieser<br />
triadischen Konstellation Ambigui-<br />
Seite 126 tätstoleranz zu entwickeln. 1947, zwei<br />
Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges,<br />
da ist Dr. M. drei Jahre alt, trennen<br />
sich seine Eltern. Von der Mutter wird die<br />
denkbare Alternative der Nicht-Wiederheirat<br />
nicht genutzt. Nachdem wahrscheinlich ein<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Minimum an Zeit vergangen ist – genaue<br />
Angaben sind uns nicht bekannt – knüpft sie,<br />
wie bereits erwähnt, eine neue Beziehung, die<br />
durch Heirat besiegelt wird. Es kommt zur<br />
Bildung einer Familie mit einem Stiefelternteil.<br />
Ein sozialer Elternteil tritt an die Stelle<br />
des leiblichen. Mit dieser Wiederverheiratung<br />
beginnt für das Familienleben eine neue<br />
Periode. Dr. M. ist konfrontiert mit einem<br />
Vater/Mann, der nicht der biologische Vater<br />
ist und der seinen Platz in der neuen Familie<br />
erst finden muss, zu der auch die Eltern seiner<br />
neuen Frau gehören, mit denen man in einem<br />
Mehrgenerationenhaushalt zusammenlebt.<br />
Durch die Entscheidung, matrilokal zu leben,<br />
wird für den Sohn aus erster Ehe, Dr. M., der<br />
nicht gehörlos ist, ein Entwicklungsumfeld<br />
erzeugt, in dem das Erziehungsmonopol von<br />
den Großeltern übernommen wird. Denn aus<br />
psychosozialer Perspektive bedeutet die Rückkehr<br />
der Mutter in ihre Herkunftsfamilie, auf<br />
die abhängige Kind-Position verwiesen zu sein<br />
mit der Konsequenz, für den Sohn als Mutter<br />
nicht voll zur Verfügung zu stehen.<br />
Betrachten wir die Situation aus der Perspektive<br />
des damals drei Jahre alten Dr. M., so<br />
bedeutet die mit der neuen Heirat der Mutter<br />
einhergehende Lebensveränderung, nicht nur<br />
mit einem abwesenden leiblichen Vater groß zu<br />
werden, sondern auch ohne eine Mutter aufzuwachsen,<br />
die den eigenen Entwicklungsprozess<br />
vollständig abgeschlossenen hat und in Eigenverantwortung<br />
Mutteraufgaben erfüllen kann.<br />
Die durch den fehlenden Vater geschwächte<br />
Struktur der sozialisatorischen Interaktion wird<br />
durch die Einbettung der neuen Familie in das<br />
mütterliche familiale Herkunftsmilieu transformiert<br />
in einen Entwicklungsrahmen, der durch<br />
folgende Merkmale bestimmt ist: Durch einen
Stiefvater, der vermutlich aufgrund der Matrilokalität<br />
als stark zu besetzender Vater keine<br />
attraktive Entwicklungs- und Orientierungsmöglichkeit<br />
bot, einer symbolisch abwesenden<br />
Mutter, der es vermutlich schwer gefallen sein<br />
wird, aus ihrer Sozialposition heraus Autorität<br />
vollgültig durchsetzen zu können, und einem<br />
Großelternpaar, das – vermutlich bis in die<br />
Zeiten der restriktiven Wirtschaftspolitik<br />
der 50er Jahre hinein (vgl. Vogel 1997) – im<br />
Rahmen des Schneiderhandwerks selbständig<br />
wirtschaftete. Für Dr. M. wird aus dieser Situation<br />
eine Entwicklungsrahmenbedingung, die<br />
ihm auferlegt, ohne über ein strukturgebendes<br />
Vorbild verfügen zu können, das ihn in die Welt<br />
der Erwachsenen einführt, seinen eigenen Weg<br />
ins Leben zu finden. Welche Erfahrung kann<br />
Dr. M. machen, der – vermutlich bis zum Alter<br />
von 16 Jahren – in einem Mehrgenerationenhaushalt<br />
lebt? Da die unvollständige Triade<br />
nach der Scheidung der Eltern komplettiert<br />
wird durch einen biogenetisch mit ihm nicht<br />
verwandten väterlichen Stellvertreter, ist ein<br />
Entwicklungsrahmen für sein Aufwachsen gegeben,<br />
in dem er lernen kann, wie mit komplexen,<br />
nicht auf Blutsverwandtschaft basierenden<br />
Sozialbeziehungen umgegangen werden kann.<br />
Des Weiteren kann er die Erfahrung machen,<br />
dass, wenn ein Elternteil auch nicht hinsichtlich<br />
seiner Einzigartigkeit ersetzbar ist, es<br />
dennoch „substituiert werden kann“ (Théry<br />
1998, S. 174). Dr. M. wird vermutlich aufgrund<br />
der eigenen Entwicklungsgeschichte über das<br />
Wissen verfügt haben, dass Eltern Kinder<br />
auch groß ziehen können, wenn Eltern nicht<br />
biogenetisch verwandt mit dem Kind bzw. den<br />
Kindern sind. So gesagt, mit Familienzusammensetzungen,<br />
für die der Auseinanderfall von<br />
biologisch-sozialer Elternschaft konstitutiv ist,<br />
kennt er sich aus. Der Umgang mit komplexen<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
und konfliktreichen Strukturen ist ihm durch<br />
seine eigene Herkunft kein unbekanntes<br />
Thema. An dieser Stelle muss aber noch mit<br />
Blick auf die neue Partnerwahl der Mutter ein<br />
Parameter genauer betrachtet werden.<br />
Der zweite Partner, der Stiefvater von Dr. M.,<br />
stammt aus Kairo. Sein Vater, ein Deutscher,<br />
ist zusammen mit seiner österreichischen<br />
Frau im Handel selbständig tätig. Er hat noch<br />
eine ältere Schwester und wird mit 12 Jahren<br />
nach Deutschland in eine Gehörlosenschule<br />
geschickt. Durch die Konfrontation mit<br />
einem Stiefvater, der die ersten 12 Lebensjahre<br />
mit seiner Familie in einem fremden<br />
Land lebt, wo Dazugehörigkeit nur über die<br />
rationale Aneignung fremder Kultur- und<br />
Zivilisationsmuster möglich ist, ist auch für<br />
Dr. M. der Umgang mit multiplen Lebensentwürfen<br />
kein unbekanntes Thema und<br />
er kann, orientiert am Herkunftsmilieu des<br />
Stiefvaters, sich den Habitus des Aufgeschlossenseins<br />
gegenüber dem Fremden zu eigen<br />
machen. Diese biographische Erfahrungsbedingung<br />
bietet eine gute Grundlage, um<br />
im Jugendamt der Problematik komplexer<br />
Familienstrukturen mit Offenheit begegnen<br />
zu können.<br />
Doch bevor wir die Biographie von Dr. M.<br />
mit Blick auf die weichenstellenden Entscheidungen<br />
der Berufs- und Partnerwahl<br />
rekonstruieren, muss noch das Thema<br />
der Gehörlosigkeit näher bestimmt<br />
werden.<br />
Er wächst – selbst nicht gehörlos –<br />
mit gehörlosen Eltern auf. Hier gibt es nun<br />
zwei Optionen: Erlernt er die Gebärdensprache,<br />
oder verzichtet er darauf? Wenn er die<br />
Seite 127
Gebärdensprache nicht lernt, fehlt ihm der<br />
sprachliche Verständigungsprozess mit Mutter,<br />
Vater und Stiefvater, und das ungeteilte<br />
Erziehungsmonopol fällt den Großeltern<br />
zu. In diesem Fall würde er auf eine Ebene<br />
mit den Eltern geraten, für die er im außerhäuslichen<br />
Alltag Orientierungsleistungen<br />
zu erbringen hätte (ähnliche problematische<br />
Konstellationen kennen wir von türkischen<br />
Migrantenkindern, die, im Unterschied zu<br />
ihrem Vater, des Deutschen mächtig sind und<br />
daher für ihn dolmetschen müssen, wodurch<br />
objektiv die dort herrschende Autoritätsorientierung<br />
untergraben wird).<br />
Lernt er die Gebärdensprache, dann ändert<br />
sich die Lage. Er kann mit seinen Eltern in<br />
ein Gespräch eintreten, in welchem komplexe<br />
Wirklichkeit vermittelt werden kann. Die<br />
Hierarchie in der Eltern-Kind-Beziehung<br />
bliebe erhalten. Wenn er die Gebärdensprache<br />
beherrscht, dann wird er aber zu einem<br />
Vermittler zwischen der Welt der Gehörlosen<br />
und der Welt seiner Eltern, der in zwei Kommunikationswelten<br />
zu Hause ist. Dies bringt<br />
ihn – situativ, außerhalb der Familie – in eine<br />
Position der Überlegenheit gegenüber den<br />
Eltern. Die Zumutung an das Kind, Verständigungsmechanismen<br />
in beiden Sprachwelten,<br />
der der Gehörlosen und der der Hörenden, zu<br />
erwerben, stellt hohe Anforderungen an das<br />
Kind – es wird früh herausgefordert. Gelingt<br />
die Balance zwischen Kind sein im<br />
Binnenbereich der Familie und Ori-<br />
Seite 128 entierer der Eltern sein in außerfamilialen<br />
Zusammenhängen, zwischen<br />
hierarchisch untergeordneter und<br />
hierarchisch übergeordneter Position, dann ist<br />
die Entwicklung komplexer Fähigkeiten zur<br />
sozialen Interaktion zu erwarten. Ausweichen<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
kann er diesen Herausforderungen ohnehin<br />
nicht – er ist Einzelkind.<br />
Welche beruflichen Entwicklungswege sind<br />
vor dem Hintergrund der Herkunftsfamilie zu<br />
erwarten? Zum einen verfügt Dr. M. über die<br />
Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen,<br />
denn er lernt tasächlich die Gebärdensprache<br />
und wird als Dolmetscher eingesetzt (bzw.<br />
umgekehrt: diese Tätigkeit vermittelt ihm<br />
Kompetenzen im Bereich „taking the role of<br />
the other“). Im weitesten Sinne also disponiert<br />
dies zu einer pädagogischen Tätigkeit. Des<br />
Weiteren lernt er früh, vorurteilslos mit Behinderung<br />
umzugehen. Dieser Umstand könnte<br />
das Interesse an Randbereichen der Normalität<br />
stimulieren. Es könnte zu einer biographischen<br />
Disposition führen, die ihn zum Wanderer<br />
zwischen den Welten macht.<br />
Diese offen formulierten Wahlmöglichkeiten<br />
sind beschränkt durch die Generationenlage<br />
und die regionalen Gegebenheiten. Dr. M.<br />
kommt um 1960 in die Situation, sich über<br />
seinen Beruf Gedanken zu machen. 1961 wird<br />
die Mauer errichtet, er ist zu diesem Zeitpunkt<br />
17 Jahre alt, vermutlich noch an die Familie<br />
gebunden und damit auf das verwiesen, was die<br />
DDR einem jungen Mann mit diesen in der<br />
Familie erworbenen Qualitäten zu bieten hat.<br />
Selbständigkeit ist der zentrale Wert des Milieus<br />
der Herkunftsfamilie, außerhalb der Familie<br />
ist anderes gefragt. Blicken wir genauer auf den<br />
milieuspezifischen Familienzusammenhang:<br />
Am Beispiel des Stiefvaters und an dem der<br />
Großeltern konnte er beobachten, wie berufliche<br />
Selbständigkeit, ohne in der DDR einer<br />
Zwangsverstaatlichung zum Opfer zu fallen,<br />
im Kontext einer restriktiven Wirtschaftspo-
litik gelebt werden konnte, die Bedingungen<br />
setzte (wie teure Sozialversicherungsleistungen<br />
und hohe Steuern), die allerdings ein privates<br />
Wirtschaften zunehmend erschwerte (vgl.<br />
Vogel 1997). Für die nachfolgende Generation,<br />
für die Generation der um 1940 Geborenen, zu<br />
der auch Dr. M. gehört, war ein problemloser<br />
Rückgriff auf die Tradition der Selbständigkeit<br />
nicht mehr möglich.<br />
Wie reagiert Dr. M. auf die relative Aussichtslosigkeit,<br />
im Rahmen der gegebenen sozioökonomischen<br />
und politischen Gesellschaftslage<br />
die elterliche und großelterliche Tradition<br />
fortzusetzen? Unter den günstigen historischen<br />
Bedingungen der Bildungsoffensive in der<br />
DDR der 50er und 60er Jahre gelingt es ihm,<br />
den bereits mit dem Besuch der Oberschule<br />
anvisierten Weg eines <strong>Universität</strong>sstudiums<br />
zu verfolgen. Er entscheidet sich nach dem<br />
Abitur für das Studium der Pädagogik und erwirbt<br />
1970 die Lehrbefähigung für die Fächer<br />
Biologie und Chemie. Diese Entscheidung für<br />
ein naturwissenschaftliches Ausbildungsprofil<br />
betont das nicht Idealistische bei der Berufswahl<br />
und steht für einen pragmatisch verstandesgeleiteten<br />
(nicht emotionalen) Zugang<br />
zur Welt. Nach Abschluss des Studiums wird<br />
Dr. M. – vermutlich durch die damals übliche<br />
Absolventenvermittlung – zunächst für ein<br />
Jahr nach Erfurt-Möbiusberg in eine einzügige<br />
Landschule versetzt. Dort bewährt er sich so<br />
gut, dass er bald als Kandidat für eine Schulleiterposition<br />
gilt. Daraufhin besucht er von<br />
1971-1974 die Akademie für Pädagogik, wo er<br />
promoviert wird. Von 1974-1978 ist er dort als<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.<br />
Fassen wir zusammen: Dr. M. gehört zu den<br />
Bildungsaufsteigern, die durch die Bildungs-<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
expansion in der DDR sich für den Lehrerberuf<br />
entscheiden. Er wird Pädagoge auf der<br />
Grundlage früherer Erfahrungen als Kind und<br />
Jugendlicher, als er selbst gesund seine behinderten<br />
Eltern bei den alltagsweltlichen Orientierungen<br />
unterstützte bzw. diese Aufgaben<br />
ihm von der sozialen Umgebung zugeschrieben<br />
wurden. Kommen wir jetzt zum nächsten<br />
objektiven Datum, der Partnerwahl.<br />
Dr. M. hat, wie wir bereits weiter vorne ausgeführt<br />
haben, zwei Väter, einen leiblichen, abwesenden<br />
und einen sozialen, anwesenden, der<br />
jedoch – so ist zu vermuten – seine Position<br />
nicht zur Geltung wird haben bringen können,<br />
denn das Paar lebt bei den Eltern mütterlicherseits.<br />
Neolokalität findet nicht statt. Als Einzelkind<br />
wird er besonders von der Großmutter<br />
verwöhnt worden sein. Zweifelhaft ist, welche<br />
männlichen Identifikationsfiguren ihm zur<br />
Verfügung gestanden haben. Hier können wir<br />
punktuell Blindstellen vermuten – in gewisser<br />
Hinsicht ist dieser Fall auch unter dem Aspekt<br />
des abwesenden Vaters (vgl. Hildenbrand 2002,<br />
Funcke 2007) zu verhandeln. Denn nicht nur<br />
die Abwesenheit des leiblichen Vaters und das<br />
Aufwachsen in einem Lebenszusammenhang,<br />
der von der mütterlichen Herkunftsfamilie<br />
getragen wird, legen die Vermutung nahe,<br />
dass trotz einer vollständigen Familie das<br />
innerfamiliale Milieu von einem Mangel an<br />
männlichen Bezugspersonen bestimmt ist,<br />
die in die Welt der Erwachsenen als<br />
auch in die Welt der Männer einführen<br />
können. Die Einsozialisierung Seite 129<br />
in diesen Familienzusammenhang<br />
könnte zur Wahl einer älteren Ehefrau<br />
bzw. einer Ehefrau, die älteste Schwester<br />
jüngerer Brüder ist, disponieren. Setzt sich<br />
diese Option durch, wäre das ein Indiz für eine
Heiratsstrategie, die von folgendem Prinzip<br />
geleitet ist: Personen zu wählen, die aufgrund<br />
ihrer Sozialisation geeignete Anschlusspartner<br />
sind für die Aufgabe, ihn bei der erfolgreichen<br />
Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zu<br />
unterstützen. Im Widerspruch damit würde<br />
auch nicht die Wahl einer Partnerin stehen,<br />
die ihm mit ihrem Herkunftsmilieu ein männliches<br />
Vorbild liefert, durch das er lernen kann,<br />
wie gesellschaftliche Normen in den eigenen<br />
Lebensentwurf integriert werden können.<br />
Die nächste Frage richtet sich auf die soziale<br />
Positionierung der Partnerwahl. Frauen lernt<br />
man vorwiegend im Umfeld beruflicher Tätigkeiten<br />
kennen, und zu jener Zeit, als Dr.<br />
M. beruflich sozialisiert wird, sind Aufsteiger<br />
via Bildung in diesem Milieu dominant. 11 Er<br />
kommt aus dem Selbständigenmilieu. Wir<br />
erwarten nicht, dass er eine Frau aus dem<br />
Arbeitermilieu heiratet, obwohl gerade dieser<br />
Typus in seinem beruflichen Umfeld häufig<br />
anzutreffen war. Also kommt eine Berufskollegin<br />
eher nicht in Frage.<br />
Dr. M. heiratet eine Frau, die drei Jahre älter<br />
ist als er, eine mittlere Tochter ist und noch<br />
eine ältere Schwester ( Jg. 34), einen älteren<br />
Bruder ( Jg. 36) und noch eine jüngere<br />
Schwester ( Jg. 45) hat. Sie ist nicht Lehrerin,<br />
sondern biologisch-technische Assistentin an<br />
einer <strong>Universität</strong> – jener, an der Dr. M. nach<br />
dem Studium der Biologie und Chemie<br />
sich pädagogisch qualifizierte.<br />
Seite 130 Ihr Vater kommt ursprünglich aus<br />
Holstein, er ist ein weichender Erbe<br />
eines großen Bauernhofes. Im Zuge<br />
der nationalsozialistischen Siedlungspolitik<br />
zieht er mit seiner Frau 1934 auf die Insel<br />
Rügen, wo er bis zur Kollektivierung der<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Landwirtschaft 12 als selbständiger Landwirt<br />
einen 16 ha großen Hof bearbeitet. Dass er es<br />
auch verstand, Handlungsspielräume innerhalb<br />
der vorgegebenen Struktur der LPG zu nutzen,<br />
zeigt sich darin, dass er sich als Innovator im<br />
pflanzenzüchterischen Bereich hervorgetan<br />
hat, der den anderen, wie Dr. M. im Interview<br />
sagt, immer eine Nasenlänge voraus war. In ihm<br />
findet Dr. M. ein Vorbild, eine mögliche Identifikationsfigur,<br />
von der er lernen kann, wie ein<br />
Arrangement mit dem politischen und ökonomischen<br />
System der DDR bei gleichzeitiger<br />
Erhaltung einer – wenn auch eingeschränkten<br />
– Selbständigkeit möglich ist.<br />
Dr. M. heiratet also im Selbständigenmilieu,<br />
in einer Familie, in der eigenständiges Agieren<br />
am bäuerlichen Lebensmuster orientiert ist. Er<br />
wählt sich eine Frau zur Lebenspartnerin, die<br />
aus einem Kontext regionaler Ungebundenheit<br />
und familial gesättigter Innovation stammt. Als<br />
sie heiraten, ist Dr. M. 23 Jahre, seine Frau 26<br />
Jahre alt. Zum Zeitpunkt der Heirat studiert<br />
Dr. M. noch, ist daher finanziell noch nicht<br />
unabhängig. Seine Frau ist bereits berufstätig.<br />
Aus Sicht traditioneller Paarbeziehung ist<br />
damit eine Rollenumkehr gegeben – vor dem<br />
Hintergrund der Sozialisationserfahrungen von<br />
Dr. M. ist dies nicht weiter erklärungsbedürftig.<br />
Andererseits zieht das Paar in die Heimat<br />
von Dr. M., was ihm wiederum Vorteile bei der<br />
Ausbildung ehespezifischer Handlungs- und<br />
Orientierungsmuster außerhalb der Familie<br />
verschafft.<br />
Wie viele Kinder werden Dr. M. und seine Frau<br />
haben? Wir möchten hier nicht die Spannweite<br />
der Möglichkeiten zwischen null und 10<br />
Kindern erörtern, sondern nur die Kurzfassung<br />
wählen: Das Ehepaar hat zwei Kinder und
entspricht damit dem damals üblichen Normalmodell.<br />
In den 80er Jahren zieht das Paar in den Norden<br />
um, dabei Gesundheitsprobleme der Tochter<br />
geltend machend. Gegenden mit gesunder<br />
Luft gibt es im Norden der DDR reichlich, das<br />
Ehepaar M. zieht es jedoch nach Rügen. Sie<br />
wohnen – dieses Konzept kennen wir schon<br />
von den Eltern von Dr. M. – nicht neolokal,<br />
sondern sie ziehen bei den Eltern von Frau M.<br />
ein. Dies stellt einerseits hohe Anforderungen<br />
an die Autonomisierung des Paares als Paar,<br />
andererseits wird damit das Konzept familialer<br />
Autonomie gestützt. Noch heute lebt die Familie<br />
M. in einem Drei-Generationen-Kontext.<br />
Die Tochter von Dr. M. ist, nachdem sie in der<br />
DDR Agrarwirtschaft und nach der Wende<br />
Abwasserwirtschaft studiert hat, auf den großelterlichen<br />
Hof zurückgekehrt und baut dort<br />
seit einigen Jahren eine Pferdezucht auf – Fokus<br />
ihrer Orientierung ist das mütterliche Familienmilieu.<br />
13 Der Sohn lässt sich nach einem<br />
abgebrochenen Jurastudium zum Steuerberater<br />
ausbilden und studiert danach Ökonomie: Der<br />
Anschluss an die großelterlichen Vorgaben von<br />
beiden Seiten setzt sich durch, zumal der Sohn<br />
jetzt in der Heimat seiner Großeltern mütterlicherseits,<br />
nahe Hamburg, lebt.<br />
Mit dem Wohnortwechsel der Familie M. verbunden<br />
ist ein Berufswechsel. Dr. M. schließt<br />
nicht an seine ursprüngliche berufliche Orientierung<br />
als Pädagoge an, sondern er wechselt<br />
in das Referat Jugendhilfe (angegliedert an die<br />
Volksbildung) und qualifiziert sich als Jugendfürsorger<br />
(1 Jahr Falkensee). Wir haben darüber<br />
keine Information, jedoch liegt die Annahme<br />
nahe, dass es Rügen bzw. die Familie der Ehefrau<br />
gewesen ist, die der Orientierungsfokus<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
war, und dass die berufliche Entwicklung sich<br />
dem unterordnen musste.<br />
Interessant ist, dass es Dr. M. mit dem Wechsel<br />
ins Jugendamt möglich wird, Konstellationen<br />
herzustellen, die er aus seiner Kindheit kennt.<br />
Er findet ein Handlungsfeld, wo er helfend<br />
– ähnlich wie im Lehrerberuf – und mit<br />
Klientenbezug tätig werden kann. In der Jugendfürsorge<br />
hat er es vorwiegend mit Frauen<br />
zu tun. Stoßen aber Männer in Bereiche vor,<br />
die traditionell von Frauen beherrscht werden,<br />
machen sie in der Regel einen raschen<br />
beruflichen Aufstieg und gelangen in Leiterpositionen,<br />
oder aber sie verlassen zügig dieses<br />
Feld wieder. Ersteres ist bei Dr. M. der Fall: Er<br />
verbindet ein fürsorglich-mütterliches Milieu<br />
beruflichen Handelns mit einer Position, an<br />
der er seine Autonomieorientierung zur Geltung<br />
bringen kann.<br />
Fassen wir zusammen: Dr. M. stammt aus einer<br />
Familie, in der über Generationen hinweg<br />
sowohl im Bereich der Familienkontinuität<br />
(Weitergabe von ökonomischen und sozialen<br />
Kapital von Generation zu Generation) als<br />
auch im Bereich der Heiratsstrategien Dispositionen<br />
zur Selbständigkeit weitergegeben<br />
werden. Des Weiteren hat die Analyse gezeigt,<br />
dass Dr. M. in einem Haushalt aufwächst, in<br />
dem Familiensolidarität im Rahmen eines<br />
Mehrgenerationenzusammenhanges gelebt<br />
wird und in dem die Betreuung<br />
und Erziehung von einem um das<br />
Großelternpaar erweiterten Ver- Seite 131<br />
wandtschaftszusammenhang erfolgt.<br />
Wir haben erkennen können, dass<br />
Dr. M. in einer Familienkonstellation groß<br />
wird, in der nicht nur gelernt werden kann,<br />
mit Abweichung, mit Randbereichen der
Normalität umzugehen (Behinderung der<br />
Eltern – Gehörlosigkeit), sondern in der auch<br />
erfahrbar wird, in regelungsbedürftigen Situationen,<br />
für die es keine Lösungen in Gestalt<br />
von Standardmodellen gibt (Stiefvaterfamilie),<br />
zu handeln. Aufgrund seines Aufwachsens in<br />
einer Familie, in der die Welt der Gehörlosen<br />
und die Welt der Hörenden aufeinandertreffen<br />
und familiengemäß eine Einheit bilden,<br />
ist er zum einen gut auf den Umgang mit<br />
einem Klientel vorbereitet, das Hilfebedarf bei<br />
Bewältigung komplexer Beziehungsanforderungen<br />
hat. Zum anderen, eng mit dem erst<br />
genannten verbunden, ist er vermutlich durch<br />
die ihm im Bereich der eigenen Herkunftsfamilie<br />
zugedachte Aufgabe, den Eltern bei der<br />
Kontaktaufnahme zur Welt der Hörenden als<br />
Vermittler hilfreich zur Seite zu sein, in einer<br />
günstigen Lage, die Semantik hilfebedürftiger<br />
Milieus entschlüsseln zu können. Da ihm selbst<br />
durch das Aufwachsen in einer Stieffamilie sozial<br />
konstruierte Verwandtschaftsverhältnisse<br />
nicht fremd sind, kann er sich in die Situation<br />
des Klientels der Kinder- und Jugendhilfe<br />
einfühlen. Aus eigener Erfahrung weiß er,<br />
welche Bewältigungsleistungen familiale Reorganisations-<br />
und Reorientierungsprozesse<br />
den Familienmitgliedern abverlangen.<br />
c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />
Mit welchem Habitus, der durch die Sinnlogik<br />
seiner Deutungs- und Wertemuster ein<br />
zentraler Bestimmungsfaktor der<br />
Seite 132<br />
Handlungsorientierung ist, kann Dr.<br />
M. der Herausforderung begegnen,<br />
die Strukturtransformation im Sozialwesen<br />
zu leisten? Entsprechend<br />
seiner Orientierung an diffusen Anteilen<br />
familienbetrieblichen Handelns ist Dr. M. auf<br />
Ausgleich bedacht. Er gestaltet den Übergang<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
von der DDR-Jugendfürsorge zunächst als einen<br />
„weichen“, in dem er die obsolet gewordene<br />
Jugendhilfekommission 14 aus DDR-Zeiten in<br />
eine Organisation überführt oder zumindest<br />
an dieser Überführung einen Anteil hat, die als<br />
gemeinnütziger Verein Maßnahmen der Kinder-<br />
und Jugendhilfe nach dem neuen KJHG<br />
anbietet. Dieser freie Träger für ambulante und<br />
teilstationäre Maßnahmen der Erziehungshilfe<br />
soll die strukturelle Möglichkeit von Jugendhilfe<br />
außerhalb der öffentlichen Sozialverwaltung<br />
schaffen. Er selbst ist, obwohl inzwischen<br />
Leiter des neu geschaffenen Jugendamtes,<br />
zunächst Mitglied in diesem Verein, in dem<br />
er als „Vereinsvater“ (Interview) gilt. Diese<br />
Interessenkollision bringt ihm rasch Kritik<br />
ein, so dass er den Verein verlässt. Wer aus<br />
dieser Strategie der Gestaltung des Übergangs<br />
schließen wollte, Dr. M. sei ein Bewahrer untauglicher<br />
Strukturen, irrt. Die juristische und<br />
organisatorische Exekution neuer Anforderungen<br />
und Gestaltungsnotwendigkeiten der<br />
Kinder- und Jugendhilfe delegiert er an eine<br />
jüngere Mitarbeiterin, die rasch Leiterin des<br />
Sozialen Dienstes im Jugendamt wird. Parallel<br />
dazu hat Dr. Müller die fachliche Weiterqualifikation<br />
aller Mitarbeiterinnen im Jugendamt<br />
unterstützt, die ohne pädagogischen Abschluss<br />
waren. „Fortbildung, die ist hier auf breiter<br />
Front erfolgt“ (Interview). Damit ist das Bestreben<br />
verknüpft, die notwendige Fachlichkeit<br />
der sozialen Arbeit des Jugendamtes zu sichern.<br />
Schließlich hat er – unterstützt von einer älteren,<br />
erfahrenen und engagierten, inzwischen<br />
in Ruhestand befindlichen Mitarbeiterin – die<br />
Innovation der Jugendarbeit ermöglicht und<br />
diese gewissermaßen an einen aus Bremen<br />
zugereisten, charismatisch agierenden Sozialarbeiter<br />
delegiert. Dessen unkonventionelle<br />
Strategien können aber auf Dauer von Dr.
M., der kein Rebell ist, sondern eher in den<br />
Modi des Harmonisierens, Ausgleichens und<br />
Konfliktvermeidens handelt, nicht geduldet<br />
werden. Er behindert die Arbeit des Bremers<br />
und unterlässt in einer Krisensituation eine<br />
Unterstützungsleistung, die diesen freien Träger<br />
vor der Insolvenz hätte retten können.<br />
In der Rolle des Moderators organisiert und<br />
unterstützt er Strukturbildungen, die ein Handeln<br />
gemäß den Vorgaben der neuen Rechtsbestimmung<br />
des KJHGs ermöglichen. Dr. M.<br />
ist kein Planer, sondern mehr der Pädagoge,<br />
der im Sinne diffuser Sozialbeziehungen eines<br />
Familienbetriebes handelt und auftretende<br />
Widersprüche versucht in Klarheit und Eindeutigkeit<br />
aufzulösen. Im Jugendamt findet<br />
Dr. M. ein Handlungsfeld, wo er einerseits<br />
über die Leitungsposition die ihm aus der<br />
mütterlichen Linie vertraute Selbständigkeit<br />
sichern kann. Zum anderen gewinnt er mit<br />
dem Wechsel vom schulischen Berufsumfeld<br />
in den Arbeitskontext der Jugendhilfe einen<br />
Erfahrungszusammenhang, der ihm aufgrund<br />
seiner eigenen kindlichen Sozialisation bekannt<br />
ist. Er kennt sich durch die Behinderung<br />
seiner Eltern (Gehörlosigkeit) mit verschobenen<br />
Familienstrukturen und komplexen<br />
Beziehungsstrukturen (Stieffamilie) aus, und<br />
er weiß um die Bedeutsamkeit eines helfenden<br />
Fürsorgerahmens.<br />
d) Aktuelle Situation des Amtes<br />
Der Amtsleiter an der Spitze des Jugendamtes<br />
auf Rügen konnte den Übergang zum<br />
KJHG von Anfang an gestalten. Schaut man<br />
sich die Strukturbildung der Jugendhilfe in<br />
Reaktion auf die neue Gesetzeslage an, dann<br />
beobachten wir einen Prozess, der tendenziell<br />
nach der Formel verläuft: schneller Beginn der<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Transformation und zunehmende Stagnation.<br />
Zügig wird die Institutionenbildung seit 1990<br />
gestaltet (der Kinder- und Jugendhilfe-Verein<br />
wird gegründet, freie Träger gebildet, berufsbegleitende<br />
Fort- und Weiterbildung der<br />
Mitarbeiter unterstützt) bis der Transformationsaufschwung<br />
in eine Phase des Einfrierens<br />
gerät. Eine behutsame Korrektur des Verlaufs<br />
wird über eine Personalrekrutierung versucht.<br />
Neues, junges Personal wird eingestellt und<br />
Leitungsstellen auf der mittleren Ebene werden<br />
mit kompetentem Fachpersonal besetzt.<br />
Entwicklungsblockierend ist allerdings die<br />
Rahmenbedingung, dass aufgrund eines eher<br />
konfliktmeidenden Amtsleiters das Jugendamt<br />
in der Kreisverwaltung nur eine politisch<br />
schwache Position hat.<br />
Der konstruktive Rebell – H. W. (Ostholstein)<br />
a) Institutionelle Ausgangslage<br />
H.W. ist als ein Pionier der Gründerphase<br />
mit dabei, als im Zuge der Kreisreform um<br />
1970 die Chance besteht – die vom Landkreis<br />
Heidenheim nicht genutzt wurde – über<br />
den Aufbau der Jugendämter eine ganz neue<br />
Jugendhilfe und eine Neuorganisation der<br />
Sozialarbeit zu entwickeln. So beteiligt sich<br />
das Jugendamt Ostholstein in einer „Zeit<br />
der ‚Freiheit‘ für fachliche Fortschritte an<br />
vielen sozialpädagogischen Innovationsprojekten<br />
des Landes. Bereits 1975 beginnt der<br />
Sonderdienst ‚Erziehungsbeistandschaft‘<br />
mit einem Mitarbeiter, 1980<br />
richtet das Jugendamt Ostholstein Seite 133<br />
das Sachgebiet ‚Offene Hilfen zur<br />
Vermeidung von Fremdplatzierung‘<br />
ein“ (Bohler & Bieback-Diel 2001). Neben<br />
der Konzeption neuer Angebote, um die<br />
Heimunterbringungen zu reduzieren, ermög-
lichte der Kreis Ostholstein den Mitarbeitern<br />
die Teilnahme an einer zweieinhalbjährigen<br />
familientherapeutischen Ausbildung. H. W.,<br />
der zu den ersten Sozialarbeitern mit einem<br />
Fachhochschulabschluss zählte und der von<br />
Beginn an durch einen Neuaufbau der kommunalen<br />
Jugendhilfe einen Professionalisierungsschub<br />
mit verantwortet, kann 1984 in<br />
der Funktion des Amtsleiters die im Gefolge<br />
der sozialen Bewegung von 1968 begonnenen<br />
Jugendamtsgestaltung kontinuierlich weiter<br />
mitbestimmen.<br />
Die Amtsgeschichte, die eng mit der Zeit<br />
der sozialen Reformbürokratie der 70er<br />
Jahre verknüpft ist und von der Mehrzahl<br />
der Beteiligten und insbesondere von den<br />
Führungskräften als ‚Aufbruch‘ begriffen<br />
wurde, hat bei den Mitarbeitern, deren Jugendhilfearbeit<br />
seit 1984 durch den fachlich,<br />
professionell-berufscharismatischen Leiter<br />
H. W. organisiert wird, ein Selbstverständnis<br />
des Anders- bzw. Besondersseins manifestiert,<br />
das sie widerständig macht gegen externe, sich<br />
verändernden Imperativen wie z. B. denen des<br />
neuen Gesetzestextes der Kinder- und Jugendhilfe.<br />
Als es 1991 eingeführt wird, akzeptiert<br />
man die neue Gesetzesordnung als eine gegebene,<br />
aber eine Chance für Veränderung stellte<br />
es nicht da, da das Jugendwohlfahrtsgesetz – so<br />
einhellig die Auffassung der Verantwortlichen<br />
in Ostholstein und Heidenheim – bereits<br />
etliche fachliche Möglichkeiten eröffnet<br />
habe, die zu verankern im neuen<br />
Seite 134 Gesetz versäumt worden seien. Dass<br />
eine radikale Neuorientierung durch<br />
die Bindung an die neue Gesetzesvorgabe<br />
ausbleibt, steht aber auch zum einen<br />
im Zusammenhang mit der für das Amt entscheidenden<br />
Reformphase um 1970, in der das<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetz punktuell vorweggenommen<br />
wurde, und zum anderen mit<br />
dem Akteur H.W., der als Träger der sozialen<br />
Reformbürokratie nach 1968 von Anfang an<br />
die Entwicklung hin zu einer professionellen<br />
Organisation mitbestimmen konnte.<br />
b) Das Herkunftsmilieu von H. W.<br />
Welche familienbiographischen Grundlagen<br />
sind es, die H. W.‘s Handlungsorientierung<br />
prägen und aus ihm einen Innovator der Umbruchzeit<br />
der 70er Jahre machen?<br />
Der Vater von H. W. gehört der Generation der<br />
um 1910 Geborenen an. Er stammt aus einer<br />
katholischen Arbeiterfamilie vom Niederrhein.<br />
Als ältester Sohn wächst er mit einer älteren<br />
Schwester und noch drei weiteren Geschwistern<br />
auf, über die wir keine weiteren objektiven<br />
Daten haben. Welche soziale Position wird<br />
H. W. ‘s Vater im Alter von ca. 20 Jahren, nach<br />
Beendigung der Adoleszenzkrise, zugänglich?<br />
Eine mögliche Entwicklungsoption wäre, das<br />
er als Ältester das lebensweltliche Muster einer<br />
Arbeiterfamilie in einer katholisch geprägten<br />
Region reproduziert: Eine frühe Heirat (Rosenbaum<br />
1982, S. 429) und die Sicherung des<br />
Lebensunterhaltes einer kinderreichen Familie<br />
durch ein Beschäftigungsverhältnis im industriellen<br />
Arbeitssektor sind lebenspraktisch<br />
erwartbare Entscheidungen. Aber die sozialhistorischen<br />
Umstände waren zu der Zeit für<br />
eine Entwicklung, die ausgerichtet ist an der<br />
Tradition der Familie, nicht günstig. Hohe<br />
Arbeitslosigkeit in der Zeit der Weltwirtschaftskrise<br />
(1929-1933) hat den Spielraum<br />
beruflicher Optionen begrenzt. Die Textilindustrie<br />
in der Region des Niederrheins hatte<br />
schon lange ihren Niedergang erlebt. Auch<br />
das montanindustrielle Ruhrgebiet oder die
Chemieindustrie und der Maschinenbau, zwei<br />
moderne Industriezweige, die sich am Ende<br />
des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts am<br />
Rhein niederließen, boten zur wirtschaftlichen<br />
Krisenzeit keine Alternative. Wie begegnet<br />
der Vater von H. W. nun der Herausforderung,<br />
in einer alternativenbeschränkenden<br />
Ausgangslage beruflich seinen Platz zu finden?<br />
Er trifft eine lebenspraktisch kluge Entscheidung<br />
und weicht aus in den primären Sektor<br />
der Agrarwirtschaft, für den in dieser Region<br />
durch die Geltung der nordwesteuropäischen<br />
Agrarverfassung eine großbäuerliche Agrarstruktur<br />
bestimmend war (vgl. Bohler 1997,<br />
S. 18, 28). Diese vermutlich durch Alternativlosigkeit<br />
forcierte Entscheidung für einen<br />
Milieuwechsel macht es nicht nur möglich,<br />
den kargen Zeiten der Weltwirtschaftskrise<br />
relativ unbeschadet zu entkommen, sondern<br />
sie wird sich auch bewährt haben, als der 2.<br />
Weltkrieg durch fehlende Nahrungsmittel<br />
und mangelnden Wohnraum das Überleben<br />
zur hauptsächlichen Lebensaufgabe machte.<br />
Es kann vermutet werden, dass das Milieu der<br />
Landwirtschaft für den Vater von H. W. eine<br />
Art Entwicklungsnische gewesen ist, die ihn<br />
vor die Aufgabe stellte, ohne bäuerliche Sozialisation<br />
„aus dem Unabänderlichen das Beste<br />
zu machen“ (Erikson 1975, S. 73). Ein Indiz<br />
dafür, dass es dem Vater von H. W. gelungen<br />
ist, wahrscheinlich durch ein hohes Maß an<br />
Anpassungsflexibilität und Orientierungswendigkeit,<br />
bestmögliche Entwicklungschancen<br />
auch unter prekären Ausgangslagen zu erobern,<br />
ist die von ihm belegte Sozialposition in<br />
der Hierarchie bäuerlicher Dienstverhältnisse.<br />
Ihm gelingt es, auf einem ca. 250 ha großen<br />
Pachthof Großknecht zu werden. In einem<br />
durch patriarchalische Herrschaftsprinzipien<br />
strukturiertem Verband kann er sich so weit in<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
die familienbetriebliche Arbeitsorganisation<br />
einfügen, dass er das Vertrauen des Betriebsleiters<br />
erwirbt, der ihn zu seinem Stellvertreter<br />
ernennt und ihm sogar Baurechte auf dem Hof<br />
gewährt, was eine Ausnahme gewesen sein<br />
dürfte und einer Sondersituation gleich kam.<br />
An der Partnerwahl werden wir jetzt erkennen<br />
können, welchem Platz in der Welt er<br />
sich zugehörig fühlte bzw. welche Milieuzugehörigkeit<br />
über den identitätsstiftenden<br />
Ordnungsrahmen der Ehe (Berger & Kellner<br />
1965) erworben oder gefestigt werden sollte.<br />
Wenn es um ein Verwurzelungsprojekt im<br />
bäuerlichen Lebenskosmos geht, so wird er<br />
sich für eine Beziehungswahl entscheiden,<br />
durch die er einen „Versicherungsagenten“<br />
(Berger & Luckmann 1969) erhält, um den<br />
Milieuwechsel auf Dauer stellen zu können<br />
– wir erwarten die Wahl einer Frau mit<br />
einem bauernweltlichem Lebenshintergrund.<br />
Denkbar wäre aber auch eine Partnerwahl,<br />
durch die der Anschluss an das städtischindustrielle<br />
Arbeitermilieu gehalten wird.<br />
Wenn der Vater von H. W. sich für eine Frau<br />
aus seinem Herkunftsmilieu entscheidet, dann<br />
geht es um eine Transformationsorientierung<br />
im Rahmen traditioneller Wertemuster. Diese<br />
rückwärtsgewandte, am Herkunftsmilieu<br />
ausgerichtete Beziehungswahl würde dann<br />
der lebensweltlichen Orientierung am bäuerlichen<br />
Milieu die Bedeutung einer Passage<br />
mit Notlösungscharakter verleihen.<br />
Es kann dann geschlussfolgert werden,<br />
dass das hinter der Partnerwahl Seite 135<br />
stehende interessenstrategische Ziel<br />
ist, die Transformation zu korrigieren.<br />
Nicht ganz auszuschließen ist auch die Wahl<br />
einer Frau, die aus einem produzierenden oder<br />
dienstleistenden Familienbetrieb stammt.
Diese Entscheidung wäre ein Ausdruck für<br />
die Erzeugung eines ehelichen Milieuzusammenhangs,<br />
mit dem eine Transformationsmöglichkeit<br />
in Richtung mittelständischer<br />
Unternehmerschaft offen gehalten wird. Wählt<br />
der Vater von H. W. also eine Frau aus einem<br />
Familienmilieu mit Autonomiepotential, dann<br />
geht es um eine Transformationsorientierung<br />
in Richtung Selbständigkeit. Wiederholt würde<br />
sich darin die Bereitschaft für die Einsozialisierung<br />
in eine neue Milieuwelt ausdrücken.<br />
Transformation nicht im Sinne von Korrektur<br />
wäre das Thema, sondern eine Transformation,<br />
die den Wechsel zum Programm macht.<br />
Was für eine Frau heiratet nun der Vater<br />
von H. W.? Sein Vater entscheidet sich für<br />
eine Frau, deren Vater wiederum aus einer<br />
Kleinstadt am unteren Niederrhein stammt.<br />
Dieser zieht dann „nach einem Streit mit den<br />
Eltern“ (Interview) in eine ca. 10 km entfernte<br />
Kleinstadt auf die linke Rheinseite und kauft<br />
sich einen ca. 10 ha großen Bauernhof, zu<br />
dem er 20-30 ha zupachtet. Diese Bauernwirtschaft<br />
wird mit einem Fuhrunternehmen<br />
verbunden. Der Großvater mütterlicherseits<br />
von H. W. war – so wird erinnert – mit Pferd<br />
und Wagen unterwegs und sehr häufig auf der<br />
Fahrt nach Holland. Die Basis für eine Selbstversorgung<br />
war also eine agrarwirtschafliche<br />
Tätigkeit, die sich mit dem Nebengewerbe<br />
des Fuhrwesens vermischte (vgl. Helmedich<br />
2002). An der Partnerwahl und an<br />
der Kinderzahl werden wir erkennen<br />
Seite 136 können, ob dieses individualistische<br />
Orientierungsmuster, so wie es sich<br />
in der Entscheidung, die Rheinseite<br />
zu wechseln zeigt, sich auch in anderen Lebensbereichen<br />
durchsetzt. Eine Orientierung<br />
am Hof, eine Traditionsorientierung, die am<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Traditionalismus festhält, lässt in der katholisch<br />
geprägten Region eine hohe Kinderzahl,<br />
also vier bis fünf Kinder, erwarten. Ist Transformation<br />
in Richtung eines selbständigen<br />
Dienstleistungsbetriebes angesagt, erwarten<br />
wir zwei Kinder.<br />
Von der Ehefrau sind uns keine Daten bekannt,<br />
was ein Indikator dafür ist, dass über<br />
die Heirat kein Transformationsaufschwung<br />
vorgesehen war. Auch die Anzahl der Kinder<br />
lässt darauf schließen, dass die Bodenhaftung<br />
im Bäuerlichen stark gewesen ist und dass<br />
eine Transformation, die eine Platzierung in<br />
der Welt der Unternehmer ermöglicht hätte,<br />
von diesem Fall nicht realisiert wird. 15 Das<br />
Paar hat sechs Kinder. Uns interessiert hier<br />
die 1913 als Älteste geborene Tochter. Welche<br />
Entwicklungswege sind denkbar, wenn man<br />
mit einem Vater aufwächst, der zur mobilen<br />
ländlichen Schicht gehört, über ein Selbständigkeitspotential<br />
verfügt und an der bäuerlichen<br />
Traditionsorientierung festhält? Werden<br />
die Weichen für eine bäuerliche oder nichtbäuerliche<br />
Entwicklung gestellt? Knüpft sie<br />
an vorhandene Transformationspotentiale des<br />
Vaters an und heiratet in einen anderen Stand<br />
ein, z. B. in den des Fuhrmanns oder in den des<br />
Kaufmanns? Oder verbleibt sie im Bauernstand,<br />
z. B. durch die Heirat eines Mittelbauern, dem<br />
es durch die Mitgift seiner Frau möglich wird,<br />
seine Bewirtschaftungsfläche durch Zupacht<br />
zu vergrößern? Nicht ganz auszuschließen, aber<br />
aufgrund der Wirtschaftskrise kaum erwartbar,<br />
ist auch eine Abwanderung in die Stadt, um z.<br />
B. als ungelernte Lohnarbeiterin in der Fabrik<br />
zu arbeiten.<br />
Die älteste Tochter verlässt – ganz in der<br />
Tradition der bäuerlichen Mittelschicht – das
Elternhaus, um sich als Hauswirtschafterin<br />
bei einem Bauern mit einem großen Pachthof<br />
zu verdingen (Mitterauer 1990, S. 264). Nicht<br />
ganz unwahrscheinlich ist, dass sie in die Wirtschaftsfamilie<br />
des Großbauernhofes, zu der der<br />
Vater möglicherweise durch seine unternehmerische<br />
Tätigkeit als Fuhrmann Kontakt hatte,<br />
auf Wunsch der Eltern hin gelangt ist. Hier, wo<br />
sie als Dienstbote die eigene Familiensituation<br />
auf einem fremden Hof fortsetzt, lernt sie den<br />
Großknecht kennen, den sie 1939 im Alter von<br />
26 Jahren heiratet.<br />
Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz: Der<br />
Vater von H. W. entscheidet sich für eine Partnerwahl,<br />
die ihm einerseits eine Stabilisierung<br />
im bäuerlichen Milieu ermöglicht und die<br />
ihm andererseits die Chance für eine (erneute)<br />
Transformation eröffnet. Mit der Partnerwahl<br />
schließt er sich einer Frau an, durch die eine<br />
erneute Transformation quasi in Reserve gehalten<br />
wird. Das lebensweltliche Dasein als Bauer<br />
kann gesichert werden, und es kann ein Entwicklungsrahmen<br />
gewonnen werden, der die<br />
Transformation in Richtung Selbständigkeit<br />
unterstützt.<br />
Wie viele Kinder hat das Paar? Reproduziert<br />
es das Generativitätsmuster katholischer Familien,<br />
so erwarten wir eine hohe Kinderzahl. Ca.<br />
ein Jahr nach der Heirat kommt der erste Sohn<br />
zur Welt, drei Jahre später, 1943, der zweite und<br />
letzte. Im Vergleich zu den Herkunftsfamilien<br />
wird hier radikal transformiert. Konstruiert<br />
wird ein eigener Lebensentwurf durch Abwahl<br />
der vorgegebenen Orientierungsvorgaben aus<br />
den angestammten Milieus. Orientiert ist das<br />
Paar eher am standesgemäßen Generativitätsmuster<br />
16 als am elterlichen Reproduktionsverhalten.<br />
Mit der Heirat 1939, zu Beginn des 2.<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Weltkrieges, ordnet sich das Ehepaar einem<br />
nach patriarchalischen Herrschaftsformen<br />
strukturiertem Arbeitsverband unter. Diese<br />
Entscheidung bedeutet nicht nur die Anerkennung<br />
eines starken Abhängigkeitsverhältnisses,<br />
das über Arbeitsverträge definiert ist, sondern<br />
auch die Beschränkung von Autonomiespielräumen.<br />
Dass eine Unternehmerstochter, die<br />
aus einem Milieu mit Selbständigkeitsdispositionen<br />
stammt, sich in diesen Ordnungsrahmen<br />
einzufügen weiß, spricht dafür, dass sie<br />
über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz<br />
verfügt haben muss und mit Widersprüchen<br />
umzugehen bzw. diese auszuhalten wusste. Es<br />
ist aber zu vermuten, dass ihre Bindungsbeziehung<br />
zum bäuerlichen Lebenskosmos lockerer<br />
war als die ihres Mannes, der hier im Rahmen<br />
eines von Fürsorge und Kontrolle geprägten<br />
Abhängigkeitssystems als Großknecht eine<br />
zentrale Sozialposition mit Bestimmungsverfügung<br />
über Mägde und Knechte besetzen<br />
konnte. Die Frage ist, wo brechen sich solche<br />
relativ still gestellten Selbständigkeitspotentiale,<br />
die im Herkunftsmilieu der Mutter von H.<br />
W. angelegt sind, ihre Bahn? An dieser Stelle<br />
liegt es nahe, sich die Entwicklungsverläufe<br />
der beiden Söhne näher anzuschauen.<br />
Von den beiden Söhnen interessiert uns hier<br />
der Jüngere, der 1943 Geborene. Welchen<br />
biographischen Entwicklungsverlauf können<br />
wir vor dem Hintergrund der generationenspezifischen<br />
Lagerung und aufgrund<br />
der innerfamilialen Milieusozialisation<br />
erwarten. Vergegenwärtigen wir Seite 137<br />
uns zuerst die sozial-historischen<br />
Bedingungsumstände, die dieser<br />
Jahrgang vorfindet. H. W. gehört aufgrund<br />
seines Geburtsjahrganges zur 68er Generation.<br />
Lebensprägend für diese Generation war
eine flächendeckende Väter-Abwesenheit<br />
während der frühen Kindheit. Diese Erfahrung<br />
war insofern ‚normal‘, da dieses Trauma<br />
für alle gleichermaßen galt. Weiterhin ist diese<br />
Generation konfrontiert mit einer Erwachsenengeneration,<br />
die sich über das Vergangene<br />
ausschweigt und ihre Arbeitskraft in eine Zukunft<br />
investiert, in der ein Nationalsozialismus<br />
nie wieder passieren darf und in der es ihren<br />
Kinder einmal besser gehen soll als ihnen.<br />
Die Adoleszenzzeit von H. W., eine Entwicklungszeit,<br />
in der ein Bewährungsauftrag gefunden<br />
werden muss, den es im Erwachsenenleben<br />
zu verteidigen gilt, fällt zusammen mit<br />
der entscheidenden bundesrepublikanischen<br />
Reformphase Ende der 60er und Anfang der<br />
70er Jahre. Es gab eine gesellschaftliche Reformbewegung,<br />
„die den Ausbau des Sozialstaats<br />
und unmittelbar die Modernisierung der<br />
Sozialbürokratie zu einem ihrer wesentlichen<br />
politischen Ziele machte“ (Bohler & Bieback-<br />
Diel 2001, S. 142). 1966 war die große Koalition<br />
von Sozialpolitikern gewählt, die im Sinne<br />
eines wohlfahrtsstaatlichen Verständnisses<br />
eine politische Ausweitung des Sozialen<br />
vornahmen. 1969 vollzieht Willy Brandt den<br />
Regierungswechsel mit dem Slogan „mehr<br />
Demokratie wagen“, gestützt auf sozialmoralische<br />
Ideen aus der Tradition der Arbeiterbewegung.<br />
In dieser Zeit des gesellschaftlichen<br />
Aufbruchs wird die junge Generation, die<br />
Jahrgänge 1938-1948, zur Avantgarde<br />
im gesellschaftlichen Modernisie-<br />
Seite 138 rungsprozess. H. W. gehört zu einer<br />
Generation von jungen Leuten, die<br />
diesen gesellschaftlichen Aufbruch<br />
als „Bewegungsunternehmer“ (Bude 1995, S.<br />
83) mitgestalteten, die als „Katalysatoren eines<br />
gesellschaftlichen Umbruchs“ (Bude 1995, S.<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
18) für die Revision des vorherrschenden Lebenszuschnitts<br />
eintraten und neue Modelle der<br />
Lebensführung hervorbrachten. Es ist bekannt,<br />
dass die um 1940 geborenen Kriegskinder<br />
nicht selten die Führung in den öffentlichen<br />
Arenen übernahmen und meistens nur das<br />
Neue in der Auseinandersetzung über mentalpolitisierende<br />
Generationenbrüche hinweg<br />
einführen konnten.<br />
Wie kann H. W. nun dieser von Strukturumbrüchen<br />
geprägten gesellschaftlichen<br />
Reformzeit begegnen? Schauen wir uns dazu<br />
die Familiensituation an, in die er hineingeboren<br />
wird: Kurz nach der Heirat seiner Eltern,<br />
genauer gesagt sechs Wochen nach den Flitterwochen,<br />
wird sein Vater in den Krieg eingezogen.<br />
1940 kommt sein Bruder zur Welt, und<br />
nach einem Kriegsurlaub des Vaters wird er als<br />
Jüngster 1943 geboren. Der Vater kommt aus<br />
dem Krieg nicht zurück. Er bleibt vermisst. In<br />
der Familie führt dieser prekäre Ausfall zu „einer<br />
problematischen Situation, da die Mutter<br />
dachte, er würde nach Hause zurückkehren“<br />
(Interview). Wir haben es hier mit einer Familie<br />
zu tun, die mit einem „uneindeutigen<br />
Verlust“ (Boss 2005, S. 46) konfrontiert ist, da<br />
der Beweis für die Unwiederbringlichkeit des<br />
Vaters fehlte. Für die beiden Kinder wird diese<br />
physische Abwesenheit des Vaters von der<br />
Mutter aber durch Erzählungen und Erinnerungen<br />
symbolisch gefüllt, so dass über Phantasien<br />
eine Identifikation mit dem fehlenden<br />
Dritten möglich wurde. Anders gesagt: Auch<br />
wenn das unvollständige Entwicklungsdreieck<br />
die Etablierung einer Generationenschranke<br />
gefährdete, wird durch Appräsentationsleistungen<br />
der Mutter, die nicht wieder heiratet<br />
und weiterhin auf die Rückkehr des Mannes<br />
hofft, nicht nur ein Angebot für die entwick
lungsnotwendig zu klärende Frage nach der<br />
eigenen Herkunft geschaffen. Sondern auch<br />
eine symbiotische Verschmelzung mit einer<br />
„übermächtigen“ (Preisker 1991, S. 17), „alles<br />
verschlingenden Mutter“ (Preisker 1991, S.<br />
19) wird über die Repräsentation des Dritten<br />
soweit gebannt, dass die Entdeckung einer<br />
neuen Welt über die Identifikation mit einem<br />
zur Mutter Distanz erzeugenden Dritten als<br />
eine Entwicklungsoption im Angebot ist.<br />
Einmal so gesagt: Trotz der Abwesenheit des<br />
Vaters sind durch die den fehlenden Dritten<br />
verlebendigenden Erzählungen der Mutter<br />
günstige Bedingungen dafür gegeben, dass<br />
„Kräfte für die Auseinandersetzung mit dem<br />
Vater“ (Preisker 1991, S. 194) mobilisiert<br />
werden können, der für gegenwärtig gehalten<br />
wird. Die Hypothese ist Folgende: Ist das fehlende<br />
väterliche Strukturierungsmoment durch<br />
eine „kompensatorische Vater-Repräsentanz“<br />
(Preisker 1991, S. 24) ersetzt, dann ist nicht<br />
unwahrscheinlich, dass H. W. über den „Weg<br />
der Progression, und damit in Auseinandersetzung<br />
mit der harten Realität“, (Preisker 1991,<br />
S. 125) die Konfrontation mit dem Rivalen<br />
sucht. Trifft diese Vermutung zu, dann ist ein<br />
biographischer Entwicklungsverlauf zu erwarten,<br />
der ‚determiniert‘ ist durch das energetische<br />
Motiv, „die Welt in der ödipalen Überwindung<br />
zu konstruieren“ (Preisker 1991, S. 193).<br />
Doch schauen wir zuerst, mit welcher sozialen<br />
Rahmung seine Mutter auf den Ausfall des<br />
Partners reagiert. Eine Option ist, als verheiratete<br />
Magd mit den zwei Kindern auf dem<br />
Hof zu bleiben. Durch die weitere Mitarbeit<br />
könnte sie das Wohnrecht und die Kost verdienen.<br />
Diese Entscheidung hätte die Folge,<br />
als Mutter-Kind-Gruppe keine selbständige,<br />
in sich abgeschlossene Einheit bilden zu<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
können. Denn als unvollständige Familie<br />
bleibt man der Fürsorge und Kontrolle des<br />
Bauernpaares unterworfen und auch voll integriert<br />
in die bäuerliche Hausgemeinschaft.<br />
Es ist aber zu vermuten, dass die Mutter, die<br />
aus einem Familienmilieu mit Selbständigkeitsdispositionen<br />
stammt, eine Gelegenheit<br />
nutzen wird, um das Abhängigkeitsverhältnis<br />
aufzukündigen. Machen wir es kurz: Sie<br />
verlässt nach dem Krieg den Hof und geht in<br />
eine Kleinstadt am Niederrhein. Sie trifft hier<br />
die folgenschwere Entscheidung, in das Haus<br />
der Polizei zu ziehen, dort als Putzfrau zu<br />
arbeiten und in einer Kantine, die sich in der<br />
eigenen Wohnung unter dem Dach befindet,<br />
die Polizisten zu bedienen. Deutlich wird an<br />
diesem biographischen Schritt, dass sie das<br />
individualistische Entscheidungsmuster ihres<br />
Vaters reproduziert, dessen regionale Mobilität<br />
(Wechsel der Rheinseite) auch verbunden<br />
war mit einem Zugewinn an Selbständigkeit.<br />
Fassen wir nun noch einmal zusammen mit<br />
Hilfe der Frage: Welche sozial-historischen<br />
und familiensozialisatorischen Entwicklungsrahmen<br />
findet H. W., geboren 1943, vor?<br />
H. W. wird in eine Familiensituation einsozialisiert,<br />
die geprägt ist durch die uneindeutige<br />
väterliche Abwesenheit, da der Vater im<br />
Krieg vermisst bleibt. Das Fehlen der realen<br />
väterlichen Identifikationsfigur, die aber<br />
durch die mütterlichen Repräsentationsanstrengungen<br />
nicht tabuisiert wird,<br />
erzeugt eine Sozialsituation, die zur<br />
Entwicklungsaufgabe provoziert, die Seite 139<br />
postödipale Welt im Lebensentwurf<br />
zu konstituieren. Nimmt H. W. sich<br />
dieser möglichen Lebensherausforderung an<br />
oder besteht keine Entwicklungsnotwendigkeit,<br />
sich über die gesuchte Auseinanderset
zung mit dieser familiensozialisatorischen<br />
Ausgangslage zu individuieren? Des Weiteren<br />
können wir festhalten: H. W. wird durch seine<br />
Generationenlagerung hineingeboren in eine<br />
Zeit, in der wohlfahrtsstaatliche Reformen an<br />
der Tagesordnung waren. Die Frage ist, wird<br />
er an die gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten<br />
der Umgestaltung anknüpfen? Oder<br />
wird er, Entwicklungsrisiken vermeidend<br />
und damit Anschluss an die väterliche Linie<br />
haltend, Entwicklungsrahmenbedingungen<br />
suchen, die Abseits vom gesellschaftlichen<br />
Modernisierungsprozess eine soziale Berufsposition<br />
gestalten lassen?<br />
Blicken wir jetzt auf den Lebensverlauf von H.<br />
W.: Nach dem Besuch der 8jährigen Volksschule<br />
macht er auf Wunsch der Mutter eine<br />
Elektrikerlehre. Die Arbeit als Geselle bricht<br />
er 1962 im Alter von 19 Jahren ab. Angebahnt<br />
wird daraufhin mit folgender Entscheidung<br />
– ganz den Bildungsaspirationen der Mittelschicht<br />
entsprechend – eine Ingenieurausbildung:<br />
In einer 40 km vom Herkunftsort<br />
entfernten Berufsaufbauschule holt H. W.<br />
die mittlere Reife nach und beginnt nach<br />
einem halbjährigen Fachpraktikum in einer<br />
Gießerei, ca. 1964, sein Ingenieurstudium in<br />
Siegen. Nach vier Semestern stellt er aber fest,<br />
dass „das nicht mein Ding ist“ (Interview). Er<br />
schmeißt, zum großen Bedauern der Mutter,<br />
die alle eigenen biographischen Pläne den<br />
Berufskarrieren der Söhne opfert, den<br />
Bettel des Studiums hin und kehrt in<br />
Seite 140 den Heimatort am Niederrhein zurück.<br />
Wie löst er nun diese krisenhafte<br />
Phase der Orientierungsunsicherheit,<br />
in der eine klare berufliche Zielperspektive<br />
noch nicht in Sicht ist? Er verschafft sich<br />
eine Auszeit und geht für ein halbes Jahr nach<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
England. Überblicken wir den Biographieverlauf<br />
im Ganzen, so kann vermutet werden, dass<br />
das Motiv für die Selbstexponierung in einen<br />
neuen Lebenszusammenhang in Folgendem<br />
besteht. Es geht darum, mit der Bewährungsproblematik<br />
fertig zu werden und über diese<br />
Zeit des time-off die Frage zu beantworten,<br />
wie die Welt der Kindheit, der Zustand der<br />
Verantwortungslosigkeit und damit auch die<br />
versorgungssichere Gemeinschaft mit der<br />
Mutter beendet werden kann, um sich der unvermeidbaren<br />
Notwendigkeit von Arbeit und<br />
Leistung zu stellen. Dass es H. W. in dieser<br />
Moratoriumszeit gelingt, die Lebenspläne neu<br />
zu ordnen und zentrale Weichen für die Zukunftsentwicklung<br />
zu stellen, können wir – mit<br />
dem Blick auf den weiteren Entwicklungsverlauf<br />
– daran erkennen, dass er sich in verschiedenen<br />
Bereichen der Lebenspraxis (Beruf,<br />
Familie, bürgerschaftliches Engagement)<br />
bewähren kann. Doch über welche einzelnen<br />
Entwicklungsetappen gelingt es ihm, ohne<br />
über die Orientierungsfigur eines männlichen<br />
Vorbildes in der Gestalt des Vaters verfügen zu<br />
können, ein Ich-Ideal zu errichten, das ihn relativ<br />
unabhängig von seiner Herkunftsfamilie,<br />
insbesondere von seiner Mutter macht, mit der<br />
ja eine konflikthafte Auseinandersetzung schon<br />
deshalb nicht möglich gewesen sein wird, da sie<br />
alles in die Söhne investierte?<br />
In England arbeitet er an einer Privatschule für<br />
Behinderte und gestaltet in dieser Einrichtung<br />
die Freizeitaktivitäten mit. Von diesem Auslandsaufenthalt<br />
bringt er nicht nur die Idee<br />
mit, „etwas mit Menschen machen zu wollen“<br />
(Interview), sondern auch seine Frau, die Engländerin<br />
ist und die er 1968, mit 25 Jahren,<br />
heiratet. Nach diesem halben Jahr in England<br />
tritt er 1967 in die SPD ein. Im katholisch
geprägten Niederrhein war diese Entscheidung<br />
ein revolutionärer Schritt. Betrachten<br />
wir aber diese Wahl vor dem Hintergrund der<br />
Struktur sozialisatorischer Interaktion, in die<br />
H. W. einsozialisiert wurde, dann überrascht<br />
uns diese Entscheidung weniger. Geht es doch<br />
darum, so unsere Vermutung, anstelle des<br />
ödipalen Dreiecks einen Resonanzboden als<br />
Basis für eine Rebellion zu suchen, um über<br />
Konflikterfahrungen eine personale Identität<br />
ausbilden zu können. Wenn schon im ödipalen<br />
Dreieck die Konfrontation aufgrund des<br />
fehlenden Vaters nicht gefunden werden kann,<br />
so wird das gesellschaftliche System, gegen<br />
das Widerstand geleistet wird, zum Rahmen<br />
für eine Auseinandersetzung, um die eigenen<br />
Grenzen des Kräftehaushaltes entdecken zu<br />
können. 1967 beginnt er an der höheren Fachschule<br />
in Düsseldorf Sozialarbeit zu studieren<br />
und macht zwischenzeitlich ein Praktikum<br />
bei der AWO. Als Student der Sozialarbeit/<br />
Sozialpädagogik ist er an der Organisation der<br />
langen Streikphasen der Studierenden an der<br />
Fachschule beteiligt, in denen es um die Aufwertung<br />
der Fachschule zur Fachhochschule<br />
ging. Dieses Ringen um eine Akademisierung<br />
der Sozialarbeit, an dem H. W. als eine Art<br />
„akademischer Rebell“ (Bude 1995, S. 61) mit<br />
beteiligt war, verfolgte das Ziel, die Ausbildung<br />
von Wohlfahrtspflegern durch die Ausbildung<br />
von Sozialarbeitern abzulösen. Es ging um<br />
einen Wechsel weg vom obrigkeitsstaatlichen<br />
Fürsorger und hin zu einem ‚professional worker‘.<br />
Nach Abschluss des Studiums bekam H.<br />
W. vom Bundesverband der AWO das Angebot,<br />
in Bonn in der Bundesgeschäftsstelle sein<br />
Berufspraktikum abzuleisten. Im Anschluss<br />
daran trifft er die Entscheidung, sich auf eine<br />
ausgeschriebene Stelle in Eutin zu bewerben,<br />
um dort sein Verwaltungspraktikum zu absol-<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
vieren. Noch während seiner Praktikumszeit<br />
wird er, der – wie weiter oben bereits erwähnt<br />
– zu den ersten Absolventen gehörte, die ihre<br />
Ausbildung mit einem Fachhochschuldiplom<br />
abschlossen, Sprecher der Sozialarbeiter im<br />
Eutiner Jugendamt und ist im Auftrag der<br />
AWO auf einer Planungsreise nach Indien<br />
für zwei Monate unterwegs. Wir können<br />
an dieser Stelle festhalten, dass H. W. schon<br />
während dieser Zeit bundesverbandliche Tätigkeiten<br />
ausführt und schon früh zu einflussreichen<br />
Positionen im Jugendamt aufsteigt.<br />
Das Angebot, beim Bundesverband der AWO<br />
in Bonn Karriere zu machen, lehnt er ab. Er<br />
bleibt in Eutin und ist in den folgenden Jahren<br />
an zentralen Strukturveränderungen des<br />
Jugendamtes beteiligt. Diese Veränderungen<br />
in der Jugendhilfe wurden erforderlich – wie<br />
wir bereits ausgeführt haben – „als Folge der<br />
Gebiets- und Verwaltungsreformen ab 1970“<br />
(Bohler & Bieback-Diel 2001, S. 30) und<br />
durch den Entwurf eines neuen Jugendhilferechtes,<br />
das einen „Paradigmenwechsel in der<br />
Jugendhilfe: Von stationären zu präventiven<br />
Hilfen und von einer Zentralisierung zu einer<br />
Regionalisierung von Angeboten“ (Bohler &<br />
Bieback-Diel 2001, S. 39) bedeutete. Diese<br />
Neuorganisation der Jugendhilfe und der<br />
Ausbau der ambulanten Hilfen führt zu einer<br />
erheblichen Personalerweiterung. 1974 hat<br />
das Jugendamt statt zuvor 20 jetzt 44 Mitarbeiter.<br />
„Die erhebliche Erweiterung war vor<br />
allem der Eingliederung der Familienfürsorge<br />
geschuldet“ (Bohler &<br />
Bieback-Diel 2001, S. 40), die zuvor Seite 141<br />
zum Gesundheits- oder Sozialamt<br />
gehörte. In Eutin wurde H. W. Leiter<br />
dieser größten Abteilung des Jugendamtes.<br />
Diese umfasste außer ihm als Leiter 22 sozialarbeiterische<br />
Fachkräfte (vgl. Bohler &
Bieback-Diel 2001).<br />
Überblicken wir das Panorama der sozialen<br />
Positionen, die H. W. 1974 mit 31 Jahren<br />
ausfüllt, so sind folgende beruflichen und<br />
gesellschaftspolitischen „Handlungsarenen“ 17<br />
aufzuführen: Er leitet zwei Jahre nach seiner<br />
Ankunft in Eutin die Abteilung Familienfürsorge,<br />
er ist Bezirkssozialarbeiter und legt<br />
Wert darauf, auch als Abteilungsleiter praktische<br />
Sozialarbeit zu machen, seit 1974 (bis<br />
1992) ist er Kreisvorsitzender der AWO, seit<br />
1974 ist er im Landesvorstand der AWO in<br />
Schleswig-Holstein (1995 dann Landesvorsitzender<br />
der AWO Schleswig-Holstein), seit<br />
1974 ist er in der Stadtvertretung stellvertretender<br />
Bürgermeister, bis zum heutigen Tag<br />
Mitglied der SPD und der Gewerkschaft. Zu<br />
seiner Familie gehören, ganz im Sinne des<br />
von ihm im Jugendamt vertretenen Motto der<br />
Allzuständigkeit des Allgemeinen Sozialen<br />
Dienstes (ASD) im Bereich der Jugendhilfe,<br />
sieben Pflegekinder.<br />
10 Jahre später, 1984, übernimmt H. W. die<br />
Leitung des Jugendamtes. In Eutin steht<br />
seitdem ein fachlich qualifizierter Leiter mit<br />
Erfahrungen in der professionellen Sozialarbeit<br />
an der Spitze. H. W. ist kein Spezialist im<br />
Verwaltungshandeln, sondern ein Amtsleiter,<br />
der an der Umsetzung zentraler Reformideen<br />
mitgewirkt hat, der beteiligt gewesen ist an der<br />
Konzeption von Hilfemöglichkeiten,<br />
als das neue Jugendamt sich zu einer<br />
Seite 142 Institution der sozialen Reformbürokratie<br />
nach 1968 entwickelte, die<br />
– wie er sagt – das KJHG vorweg<br />
nahm, und der Wert darauf gelegt hat, selbst<br />
den Bezug zur praktischen Sozialarbeit nicht<br />
zu verlieren.<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Für welche Partnerwahl entscheidet sich H.<br />
W., der folgende Persönlichkeitsmerkmale mit<br />
in die Ehe bringt? Er ist vaterlos aufgewachsen<br />
und kommt aus einer Familie, in der beide<br />
Eltern über Brüche Neuanfänge wagen. Die<br />
Mutter bricht mit dem dörflich-ländlichen<br />
Milieu und orientiert sich am städtischen<br />
Dienstleistungssektor. Der Vater tauscht das<br />
Arbeitermilieu gegen das der bäuerlichen<br />
Unterschicht und organisiert dort über Anpassungsleistungen<br />
im gutsherrschaftlichen Familienverband<br />
seinen Aufstieg zum Großknecht.<br />
Am biographischen Verlauf von H. W. sehen<br />
wir, dass er dieses elterliche Fallstrukturmuster<br />
reproduziert. Auch er organisiert seinen<br />
Aufstieg aus einem Traditionsbruch heraus. Er<br />
entscheidet sich aber nicht für das Transformationsmuster<br />
seines Vaters, der im Rahmen eines<br />
Herr-Knecht-Verhältnisses über die Bereitschaft<br />
zu Gehorsam und Unterordnung seine<br />
Position als Dienstbote sichert. Sondern er orientiert<br />
sich am Herkunftsmilieu der Mutter, in<br />
dem der Richtungswechsel immer verbunden<br />
ist mit der Loslösung aus bevormundenden,<br />
autonomiebeschränkenden Handlungskontexten<br />
(sein Großvater mütterlicherseits, der über<br />
einen Ortswechsel den Ablösungsprozess aus<br />
seiner Familie vollzieht und Mittelbauer mit<br />
einem Fuhrunternehmen wird; die Mutter, die<br />
sich aus der großbäuerlichen Familie, in die<br />
sie durch die Delegation des Vaters gekommen<br />
ist, durch eine Orientierung am urbanen<br />
Lebensmuster ablöst). Des Weiteren können<br />
wir am beruflichen Karrieremuster erkennen,<br />
dass H. W. dem Thema Vaterabwesenheit mit<br />
Copingstrategien begegnet, welche von der<br />
Mutter angebahnt sind. Des Strukturproblems<br />
der unvollständigen Entwicklungstriade nimmt<br />
er sich in progressiver Selbstgestaltung an. Er<br />
sorgt selbst für die Strukturbedingungen, die
in der frühen Kindheit zur Herausbildung<br />
eines Ich-Ideals nicht vorhanden waren. So<br />
wird das primordiale Sozialgefüge mit der<br />
Mutter und dem abwesenden, aber symbolisch<br />
repräsentierten Vater zum „Ursprung für eine<br />
rebellische Disposition“ (Bude 1995, S. 52).<br />
Diese zielt darauf, Bedingungsrahmen für<br />
eine Selbstsozialisation zu wählen, so dass in<br />
der Überwindung bzw. in der Gestaltung der<br />
prekären sozialisatorischen Ausgangslage über<br />
Suchbewegungsprozesse und Abbrüche eine<br />
Autonomieentwicklung gelingt. Über welche<br />
Handlungsstrategie gelingt das? Die AWO als<br />
wohlfahrtsbürokratisch-patriarchaler Apparat<br />
wird für H. W. zum „väterlichen Prinzip“<br />
(Preisker 1991, S. 125). Sie bietet ihm nicht<br />
nur ein soziales Orientierungsmodell, sondern<br />
sie führt ihn auch in die soziale Wirklichkeit<br />
der bundesrepublikanischen Reformzeit ein<br />
und hält genügend Konfliktpotential bereit,<br />
um über Debatten und über eine ausgeprägte<br />
Streitkultur eine Ich-Stärke ausbilden zu<br />
können (er wird zum Vorreiter in der Akademisierung<br />
der pädagogischen Ausbildung, er<br />
gestaltet die Umstrukturierung der Jugendhilfe<br />
mit). Das über die AWO konstituierte Über-<br />
Ich ermöglicht H. W. aber nicht nur einen<br />
„Lebensentwurf für die Zukunft, ein Streben<br />
nach Selbstverwirklichung und Vollendung“<br />
(Preisker 1991, S. 156), sondern auch die Loslösung<br />
von der Mutter.<br />
Was für eine Frau wählt er nun zur Partnerin?<br />
Ich möchte an dieser Stelle, um abzukürzen,<br />
nur kurz die Ergebnisse der Analyse skizzieren.<br />
Er heiratet eine Frau, die wie er gelernt hat,<br />
biographische Übergänge zu bewältigen, was<br />
– so kann vermutet werden – zur Herausbildung<br />
der identitätsstiftenden Fähigkeiten (vgl.<br />
Krappmann 1971), mit Disharmonien und<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Ambivalenzen umgehen zu können, geführt<br />
haben wird. Sie wächst mit einer Mutter auf,<br />
deren Vater bei einem Grafen in England als<br />
Gärtner gearbeitet hat und die in einem Akt<br />
der Rebellion die Pläne ihrer eigenen Eltern<br />
durchkreuzt hat, in dem sie einen Partner<br />
aus dem schottischen Bergarbeiterproletariat<br />
wählt. Dass H. W. mit der Mutter seiner Partnerin<br />
sympathisiert haben wird, ist folgendermaßen<br />
begründet: Die Disposition seiner<br />
Schwiegermutter zu einem abweichenden<br />
rebellischen Entscheidungsverhalten ist ihm<br />
aufgrund der eigenen Biographie und der<br />
seiner Mutter vertraut. Des Weiteren ist das<br />
Arbeitermilieu in seiner Familie nicht ohne<br />
Tradition. Und überblicken wir H. W.‘s Entwicklungsgeschichte,<br />
in der die AWO ein Ort<br />
der Selbstsozialisation ist, so liegt es nahe zu<br />
vermuten, dass es ihm nicht schwer gefallen<br />
sein wird, in der Familie seiner Frau, in der<br />
bedingt durch die Bergarbeiterkultur Formen<br />
des radikaldemokratischen Engagements und<br />
eine Protestbereitschaft, die mit einem starken<br />
Durchsetzungswillen gepaart war, nicht unbekannt<br />
waren, einen Platz zu finden. Das<br />
Herkunftsmilieu der väterlichen Linie seiner<br />
Frau wird soweit prägend gewesen sein, dass er<br />
in ihr eine Partnerin findet, die seiner eigenen<br />
Lebensaufgabe, sich im selbst gesuchten Milieu<br />
der Sozialdemokratie für Reformen auf<br />
der Basis von demokratischen Grundsätzen<br />
Seite 143<br />
18<br />
einzusetzen, Halt gegeben hat. Sie ist eine<br />
Wahlverwandte, die sein Projekt, in<br />
einem sozialkritischen Impetus die<br />
Welt zu gestalten, zu unterstützen<br />
vermag. Ein deutlicher Beweis dafür,<br />
dass die eheliche Sozialwelt nicht<br />
nur Neues, für das es herkunftsgemäß keine<br />
Vorbilder gab, avantgardeartig zu gestalten<br />
vermochte, sondern dass sie auch in der Lage
war, dem damit verbundenen Konflikt- und<br />
Krisenpotential Stand zu halten, können wir<br />
an Folgendem erkennen: Als H. W. 1974 eine<br />
Kindesherausnahme organisieren musste,<br />
lässt er es nicht zu, „die Geschwister in einer<br />
Einrichtung unterzubringen“ (Interview). So<br />
wird die eigene Familie, zu der zwei Töchter,<br />
die 1971 und 1972 geboren werden, gehören,<br />
um sieben Pflegekinder erweitert. Er kauft mit<br />
seiner Frau ein Haus und übernimmt mit ihr<br />
die Erziehung und Fürsorge für die schließlich<br />
insgesamt neun Kinder. Nicht zuletzt an<br />
dieser Entscheidung können wir erkennen,<br />
dass die Orientierung am Sozialen den gesamten<br />
Lebenszusammenhang dieser Familie<br />
strukturiert. Die Sozialarbeit, die AWO, die<br />
SPD reichen bis in sein Privatleben hinein. Er<br />
gehört, wie Heinz Bude es einmal formuliert<br />
hat, zu einer Generation, die das Format des<br />
„Politischsein des Privaten“ (Bude 1995, S. 74)<br />
besitzt.<br />
c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />
Mit welchem durch familienbiographische und<br />
berufliche Erfahrungsstrukturen geprägtem<br />
Habitus kann H. W. die Professionalisierung<br />
der Kinder- und Jugendhilfe nach dem KJHG<br />
gestalten? Überblicken wir seinen Lebenslauf,<br />
so können wir an der durch Suchprozesse<br />
und Abbrüche (bricht Elektrikerlehre und<br />
Ingenieurstudium ab, geht nach England)<br />
gekennzeichneten progressiv-expansiven<br />
Entwicklung erkennen, dass sowohl<br />
das väterliche als auch das mütter-<br />
Seite 144 liche Erbe bestimmend ist. Obwohl<br />
der Vater als klärende und unterstützende<br />
Orientierung unsichtbar<br />
bleibt (er kehrt aus dem Krieg nicht zurück)<br />
und der kulturelle Umgang mit den Dingen<br />
infolge des Fehlens konkreter Väterlichkeit<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
nicht vorgemacht werden kann, sehen wir ein<br />
Entscheidungsmuster am Wirken, das auf die<br />
väterliche Abstammungslinie verweist. Wie<br />
sein Vater, der, als eine tragfähige ökonomische<br />
Perspektive zur Sicherung des Lebensunterhaltes<br />
fehlt, eine Transformation in das<br />
gutsbäuerliche Lebenskontinuum wählt, so<br />
begibt sich auch H. W. in einer entwicklungsblockierenden<br />
(sozialisatorischen) Ausgangslage<br />
aus der Deckung eines durch die Mutter<br />
vorgegebenen Anforderungsrahmens heraus.<br />
H. W. entscheidet sich, ähnlich wie sein Vater,<br />
in einem Akt der Eigeninitiative Ordnungsprinzipien<br />
zu suchen, die es ihm ermöglichen,<br />
über eine Transformation, trotz des Ausfalls<br />
des „väterlichen Prinzips“ (Preisker 1991, S.<br />
126), zu einer eigenen Identität zu finden. Das<br />
ist ihm deshalb möglich, weil er durch die das<br />
Bild des Vaters verlebendigenden Erzählungen<br />
seiner Mutter ein positiv besetztes Vater-Imago<br />
aufbauen kann. Des Weiteren sind selbst gewählte,<br />
einen Persönlichkeitszuwachs ermöglichende<br />
desintegrative Schritte aus der Familie<br />
heraus realisierbar (er geht ein halbes Jahr<br />
nach England), da er als Jüngster, wenn auch<br />
affektiv in die Mutterbeziehung integriert, von<br />
der Mutter nicht zum mütterlichen Partner<br />
aufgewertet wird, was zur Folge gehabt hätte,<br />
das symbiotische Verschmelzungsprozesse eine<br />
Ablösung verhindern. Zum anderen bietet die<br />
Reformzeit der 60er und 70er Jahre eine geeignete<br />
Plattform für ein Kraft-Potential, das<br />
nach autonomer Individuation drängt. So kann<br />
er, orientiert an der Selbständigkeitstradition<br />
aus der mütterlichen Linie (Fuhrunternehmen)<br />
und nicht am Vorbild des Vaters, der Unterordnungs-<br />
und Abhängigkeitsverhältnisse im<br />
Rahmen bäuerlicher Lebensstrukturen wählt,<br />
durch die Investierung der Handlungsenergien<br />
in die Neugestaltung der kommunalen
Organisation der regionalen Fürsorge über<br />
konstruktive Konfliktlösungsprozesse ein Ich<br />
entwickeln, das ihn auch ohne den Vater und<br />
losgelöst von der Mutter seinen Platz finden<br />
lässt, und das ihn auch widerstandsfähig macht<br />
gegen alte Ordnungen gefährdende neue<br />
Handlungsimperative (z. B. KJHG).<br />
So trifft 1991, nachdem H. W. zuerst als<br />
ASD-Leiter, dann als Amtsleiter zentrale<br />
Weichen für die Professionalisierung der<br />
Sozialen Arbeit gestellt hat, und nachdem ab<br />
1984 unter seiner Leitung das Jugendamt immer<br />
größer, mächtiger und besonderer wurde,<br />
das neue Gesetz auf ein Amt, dem ein Leiter<br />
vorsteht, der durch seine Beteiligung an der<br />
Bildung und Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher<br />
Reformen die neue Gesetzesvorlage nicht als<br />
einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und<br />
Jugendhilfearbeit wahrnehmen kann. Zur neuen<br />
Gesetzesvorlage äußert sich H. W. wie folgt:<br />
Als Amtsleiter hat er das neue Jugendhilfegesetz<br />
einmal gelesen und 5-6 Mal in der Hand<br />
gehabt. Eine Hilfeplangestaltung hätten er und<br />
seine Kollegen im Amt immer schon betrieben,<br />
da die Miteinbeziehung der Betroffenen etwas<br />
mit der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen<br />
zu tun habe und nicht per Gesetz,<br />
obrigkeitsstaatlich verordnet zu werden brauche.<br />
Auch arbeiten sie im Amt nach der Devise,<br />
zuerst die eigenen Instrumentarien für die<br />
Hilfeleistung anzuwenden, bevor Hilfeformen<br />
wie Pflegefamilie und Heimunterbringung<br />
als Alternativen Berücksichtigung finden. Vor<br />
dem Hintergrund der individuellen Bildungsgeschichte<br />
H. W. und vor dem Hintergrund<br />
der von ihm mit bestimmten spezifischen<br />
Organisationsentwicklung sind wir nicht<br />
überrascht, dass trotz einer vigilanten Haltung<br />
gegenüber dem neuen Gesetz dieses von<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
geringer Auswirkung auf den professionellen<br />
Handlungskontext bleibt. Denn H. W., der<br />
schon einmal als Reformwilliger im Bewusstsein<br />
eines gesellschaftlichen Auftrags neue<br />
Strukturen mit aufgebaut hat, verfügt über<br />
einen Erfahrungshorizont, der ihn habituell<br />
gegen von außen kommende Imperative widerständig<br />
macht. Durch das KJHG – so sagt<br />
er im Interview – „hat sich überhaupt nichts<br />
geändert, außer dass eine bereits bestehende<br />
Praxis in ein Gesetz formuliert worden ist“.<br />
Was wir an dieser durch sozialisatorische und<br />
historische Entwicklungsrahmenbedingungen<br />
geprägten Mentalitätsdisposition erkennen<br />
können, ist, dass H. W. als Träger von entscheidenden<br />
Reformideen in der Nachfolge der<br />
68er Bewegung über einen „selbsterworbenen<br />
präformierenden Erfahrungszusammenhang“<br />
(Mannheim 1964) verfügt, der das Neue im<br />
Alten bereits immer aufgehen lässt.<br />
d) Aktuelle Situation des Amtes<br />
Im Vergleich zu den Jugendämtern in Saalfeld-<br />
Rudolstadt, Rügen und Heidenheim zeichnet<br />
sich das Ostholsteiner Jugendamt durch eine<br />
Sonderentwicklung aus, da H. W. 35 Jahre lang<br />
die Entwicklung maßgeblich und entscheidend<br />
mit bestimmt hat. Mit seiner Amtsübernahme<br />
1984 differenziert sich das Jugendamt nach<br />
der Aufbauphase, die für Viele der jungen<br />
Generation eine „charismatische Qualität“ im<br />
Gefolge der sozialen Bewegung von 1968 hatte,<br />
parallel zu seinem zahlenmäßigen<br />
Wachstum weiter aus (vgl. Bohler &<br />
Bieback-Diehl 2001, S. 40). Ende Seite 145<br />
der 80er Jahre beginnt sich die „Aufbruchstimmung“<br />
der „Gründerzeit“<br />
zu verflüchtigen. Der Arbeitsstil beginnt sich<br />
zu „veralltäglichen“. Gleichzeitig engagiert<br />
sich H. W. vermehrt im lokalpolitischem und
Seite 146<br />
verbandspolitischem Raum (Stadtparlament,<br />
AWO). Seit Ende der 90er Jahre beginnt in<br />
der Kreisverwaltung Ostholstein das New<br />
Public Management an Einfluss zu gewinnen.<br />
In diesem Zusammenhang gelingt es H. W.,<br />
die „Zumutungen“ der neuen Budgetierung<br />
in Grenzen zu halten. Da es in den letzten<br />
Jahren zur Auflösung von Einrichtungen des<br />
Kreises kam, musste das Jugendamt einen<br />
Teil der freigesetzten Sozialarbeiter weiter<br />
beschäftigen. Aus diesem Grund steigt das<br />
Durchschnittsalter der Mitarbeiterschaft<br />
an, was an sich auf der anderen Seite als ein<br />
Hinweis auf die guten Arbeitsbedingungen<br />
gesehen werden könnte.<br />
Es ist eine offene Frage, wie sich nach dem<br />
Wechsel des Sozialdezernenten die Imperative<br />
des KJHG und des New Public Management<br />
jeweils entfalten können.<br />
Bevor wir jetzt in einem nächsten Schritt die<br />
Akteure der sozialen Strukturbildung hinsichtlich<br />
ihrer familienbiographisch vermittelten<br />
Handlungs- und Orientierunsmuster<br />
vergleichen, werden wir unter Beibehaltung<br />
der „familialistischen Blickrichtung“ (Bertaux<br />
& Bertaux-Wiame 1991) für jeden Akteur<br />
die Transformationslinie nachzeichnen, um<br />
erkennen zu können, welcher biographische<br />
Hintergrund Agenten von Systemumbrüchen<br />
im weiblich konnotierten Tätigkeitsfeld der<br />
Kinder- und Jugendhilfe erzeugt.<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
3. eIN Ve r g l e I C h D e r FA M I l I e N B I o g r A-<br />
PhISCh V e r M I t t e lt e N hA N D l u N g S- u N D or Ie<br />
N t I e r u N g S M u S t e r D e r tr A N S F o r M At I o N S-<br />
A k t e u r e<br />
Wir haben es in A. D. mit einem Transformationstypus<br />
zu tun, der vor der herausfordernden<br />
Aufgabe steht, im außerlandwirtschaftlichen<br />
Bereich, ohne das ökonomische Kapital des<br />
Hofes, das über die väterliche Familienlinie auf<br />
ihn gekommene Erbe der Selbständigkeit fortzusetzen.<br />
A. D. findet für die Anforderungsstruktur,<br />
die soziale Stellung des Vaters – der<br />
als Jüngster Besitzer eines landwirtschaftlichen<br />
Kleinbetriebes wird – ohne die Ressource des<br />
Hofes zu perpetuieren, folgende Lösung: Er<br />
sucht sich dafür einen zum familienbetrieblichen<br />
landwirtschaftlichen Kleinunternehmen<br />
äquivalenten Ordnungsrahmen. In diesem kann<br />
er zum einen gemäß den diffusen Anteilen<br />
eines Familienbetriebes agieren. Zum anderen<br />
bietet dieser ihm auch die Möglichkeit, durch<br />
die Orientierung am Handlungsmuster aus der<br />
mütterlichen Linie zum zentralen Agenten für<br />
die Durchsetzung von Umstrukturierungsmaßnahmen<br />
zu werden, durch die er – ähnlich<br />
wie die Mutter den Hof 19 – das Jugendamt<br />
in Heidenheim auf einen Kurs zu bringen<br />
versucht, der einen erfolgreichen Fortbestand<br />
sichern soll. Welche Determinante vermittelt<br />
aber die Entscheidung, eine sozialpädagogische<br />
Fachbehörde zum Handlungsort zu wählen, an<br />
dem sowohl väterliche als auch mütterliche<br />
Dispositionen tradiert werden können? Er<br />
findet im Jugendamt eine Berufsarena, die ihm<br />
die Chance bietet, Handlungsenergien in eine<br />
Organisationsentwicklung zu investieren, die<br />
darauf zielt, für Außenseiter – wie sein Vater<br />
auch einer war – Strukturen zu entwickeln und<br />
durchzusetzen, die über eine an den Ressourcen
des hilfebedürftigen Klientels orientierte Hilfeplanung<br />
Wege in die autonome Lebenspraxis<br />
helfen soll zu bahnen. Dass er nach den Vorgaben<br />
der Mutter ein von Reformbereitschaft<br />
getragenes Engagement für eine Behörde<br />
zeigt, die es mit sozial Randständigen, schwach<br />
Integrierten zu tun hat, verweist so auch auf<br />
seine loyale Verbundenheit gegenüber dem<br />
Vater, dem es mit entsprechender Unterstützung<br />
(seiner Ehefrau) trotz einer schwierigen<br />
Ausgangslage (keine Hoferbenidentifikation)<br />
gelingt, Handlunsgautonomie zu sichern. So<br />
bereiten diese biographiegeschichtlich vorgegebenen<br />
Erfahrungsstrukturen den geeigneten<br />
Boden für A. D. s Entscheidung, die eigene<br />
Identitätsentwicklung in den beruflichen Kontext<br />
der Jugendhilfe zu stellen.<br />
Auch in dem Fall Dr. D. stellt die Berufswahl<br />
eine Strategie dar, die aus der spezifischen Familienkonstellation<br />
heraus verstanden werden<br />
kann. Dr. D. greift das aus der väterlichen Linie<br />
stammende technisch-instrumentelle Handlungsmuster<br />
(der Großvater war selbständiger<br />
Tischlermeister, der Vater Bauingenieur) auf<br />
und reproduziert es durch Übertragung in eine<br />
Handlungsarena, in der es ihr gelingt, durch<br />
selbständig planerisches Gestalten, orientiert<br />
an den gesellschaftlichen Vorgaben des neuen<br />
Gesetzestextes, eine sozialpädagogische<br />
Fachbehörde auf den Kurs der Modernisierung<br />
zu bringen. Das über die verschiedenen<br />
Berufslinien der Familie hinweg Identische ist<br />
der vom Großvater stammende ökonomische<br />
Habitus, der als Ressource zu einer Handlungsvoraussetzung<br />
wird, um angepasst an gesellschaftshistorische<br />
Anforderungsstrukturen<br />
(der DDR-mäßige Handlungsrahmen, den der<br />
Vater vorfindet; die Nachwendezeit mit ihren<br />
Herausforderungen für Veränderungen, die<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
Dr. D. vorfindet) gemäß der Tradition eines<br />
selbständigen Handwerksmilieus autonom<br />
und verantwortungsbewusst entscheiden zu<br />
können. Dieses großväterliche Erbe macht es<br />
den Generationen über Transformationsbrüche<br />
(Tischler, Ingenieur, Jugendamtsleiterin)<br />
hinweg möglich, relativ unabhängig, eben<br />
nicht fixiert auf vorgegebene Rahmen, Handlungsbereiche<br />
zu wählen, die Spielräume für<br />
eigengestalterische Aktivitäten vergrößern. So<br />
wundert uns nicht, dass Dr. D. im Jahre 2007<br />
das Jugendamt verlässt und in den Bereich<br />
der Angewandten Wissenschaft wechselt.<br />
Denn das eigentliche Objekt der Transmission<br />
innerhalb der väterlichen Familienlinie<br />
ist ein Gut, das man als „Streben nach Selbständigkeit“<br />
bezeichnen kann und das seine<br />
Erben soweit ‚determiniert‘, dass sie, um gegebene<br />
Autonomiechancen zu nutzen, zur<br />
Transformation bereit, einmal eingeschlagene<br />
Entwicklungspfade verlassen. Dass das Selbständigkeitskapital<br />
eine entscheidende Größe<br />
ist, die Handlungsentscheidungen strukturiert,<br />
erkennen wir auch daran, dass Dr. D. die<br />
väterliche Heiratsstrategie reproduziert und<br />
einen Ehepartner wählt, der das Wertemuster<br />
der Selbständigkeit im beruflichen Handeln<br />
verteidigt (Dr. D.s Mutter ist selbständige<br />
Schneiderin; der Ehemann von Dr. D. ist<br />
selbständiger Unternehmer in der Baubranche).<br />
Interessant, aber vor dem Hintergrund<br />
der für diese Familie typischen Transformationsstrategie<br />
nicht überraschend, ist,<br />
dass Dr. D. sich genau dann aus der<br />
Handlungsarena der Sozialen Arbeit Seite 147<br />
herausbewegt, nachdem unter ihrer<br />
Leitung im Rahmen des Möglichen<br />
Innovationsschübe in der Neugestaltung der<br />
Kinder- und Jugendhilfe erfolgten und bevor<br />
durch eine Neubesetzung des Landratspos
ten Freiheiten – wie Dr. D. vorausschauend<br />
antizipiert – in der Reformgestaltung einer<br />
Organisation professioneller Hilfen bedroht<br />
werden (könnten). Ob das Amt in der von Dr.<br />
D. begonnenen Neustrukturierung stecken<br />
bleibt, innovativ weitergeführt wird oder<br />
erneut von einem Verwaltungsbürokaten<br />
gelenkt werden wird, wird die Neubesetzung<br />
an der Spitze des Landkreises zeigen.<br />
Blicken wir auf die mütterliche Familienlinie<br />
– über die Familie des leiblichen Vaters sind<br />
keine Daten bekannt – und auf das familiale<br />
Mikroklima, in dem Dr. M. aufwächst, dann<br />
lässt sich auch seine Berufswahl als eine durch<br />
die Biographie geprägte erklären. Wir haben<br />
gesehen, dass Dr. M. durch den Ausfall des<br />
Vaters (Scheidung), durch die Behinderung der<br />
Eltern (Stiefvater und Mutter sind gehörlos)<br />
und durch die Matrilokalität, die den Stiefvater<br />
seiner möglichen Bedeutung als Retter<br />
der Familie entkleidet und die Mutter auf die<br />
Sozialposition des Kindes verweist, in einem<br />
vom Großelternpaar getragenen Fürsorgerahmen<br />
aufwächst, dem die kritische und klärende<br />
Instanz konkreter Vaterhaftigkeit als Hilfe für<br />
eine Ich-Entwicklung fehlt. Dieses Werk der<br />
Sozialisation, oder um es mit Sartre zu sagen,<br />
das, was diese Sozialisationsbedingungen aus<br />
ihm gemacht haben, macht er sich zu eigen,<br />
um über eine berufliche Transformation in<br />
den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe<br />
unter Nutzung dieser Sozialisationserfahrungen<br />
autonom zu werden. Dr.<br />
Seite 148 M. repräsentiert einen Transformationstyp,<br />
der die immaterielle<br />
Ressource der Vertrautheit mit vom<br />
Normalmodell der Kernfamilie abweichenden<br />
Strukturen als Kapital für die Herausbildung<br />
einer beruflichen Identität (an)erkennt. Dass<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
er aber nicht über die unmittelbare Sozialarbeit<br />
den direkten Kontakt zu dem hilfebedürftigen<br />
Klientel sucht, sondern in die leitende Position<br />
des Jugendamtsleiters aufsteigt, erklärt sich<br />
durch das Selbständigkeitspotential der mütterlichen<br />
Linie. Denn durch die Heiratsstrategie<br />
der Mutter gelingt es dieser, das elterliche<br />
Erbe der Selbständigkeit (Wirtschaften im<br />
Bereich des Schneiderhandwerkes) an die<br />
nächste Generation weiterzugeben. Diese im<br />
Milieu angelegte Disposition zur Autonomie<br />
„zwingt“ Dr. M. – dabei die Loyalität zu seiner<br />
Herkunftsfamilie bewahrend – auf mütterlichfürsorglichem<br />
Terrain in der Leitungsposition<br />
das auf ihn gekommene Erbe zu sichern. Das<br />
hat zur Folge, dass Dr. M. offen den durch das<br />
KJHG gegebenen Chancen für Veränderungen<br />
begegnen kann und zu einem Agenten der<br />
Transformation der Kinder- und Jugendhilfe<br />
wird. Innovationen vertritt er allerdings nicht<br />
aus dem gesuchten Konflikt heraus, sondern<br />
er gestaltet den Institutionenbildungsprozess<br />
– ganz orientiert an den Ordnungsprinzipien<br />
eines weiblich-fürsorgenden Milieus – auf der<br />
Grundlage von Strategien, die auf Harmonie<br />
und Risikovermeidung zielen.<br />
Welche Transformationslinie zeichnet sich bei<br />
dem Fall H. W. ab? Blicken wir auf die Familienlinie<br />
mütterlicherseits, so erkennen wir, dass<br />
jede Generation ihren eigenen Berufsplan hat<br />
(der Großvater mütterlicherseits ist Bauer mit<br />
dem Nebengewerbe eines Fuhrunternehmens;<br />
die Mutter arbeitet nach der Hauswirtschaftstätigkeit<br />
auf einem Hof als Angestellte im<br />
städtischen Dienstleistungssektor – Reinigungskraft<br />
und Kantinenbetrieb bei der<br />
Polizei). So wird zwar das berufliche Handeln<br />
transformiert – jede Generation unterscheidet<br />
sich von der vorhergehenden –, aber das je
dem Berufsfeld Gemeinsame ist, dass sie das<br />
Resultat des intergenerationellen Musters ist:<br />
Befreiung aus handlungsbeschränkenden Entwicklungsbedingungen<br />
durch Selbstplatzierung<br />
in eine Handlungsarena, die das Spektrum an<br />
autonomen Gestaltungsmöglichkeiten erweitert.<br />
Von generationenübergreifender Wirkungsmächtigkeit<br />
ist ein Streben nach Selbständigkeit,<br />
das allerdings immer verknüpft ist<br />
mit Brüchen (der Großvater mütterlicherseits<br />
wechselt die Rheinseite; die Mutter löst sich aus<br />
dem autonomiebeschränkenden bäuerlichen<br />
Arbeitzusammenhang heraus und geht in die<br />
Stadt). So wird über zwei Generationen hinweg<br />
das Handlungsmuster reproduziert, aus dem<br />
Widerspruch heraus Autonomie zu entwickeln.<br />
Warum wird für H. W. aber das Jugendamt zu<br />
einem zentralen Ort für die Identitätsbildung?<br />
In der väterlichen Biographie findet er eine<br />
Lösung für die von ihm aufgrund des abwesenden<br />
Vaters zu bewältigende Aufgabe, wie man<br />
mit ungünstigen Entwicklungsausgangslagen<br />
fertig werden kann. Er kann sich die in der<br />
väterlichen Biographie angelegte Strategie zu<br />
eigen machen, stabile Ordnungsrahmen aufzusuchen,<br />
die neue, unter den alten Bedingungen<br />
nicht mögliche Entwicklungspfade ermöglichen.<br />
So gelingt es H. W., motiviert durch das<br />
mangelnde „väterliche Prinzip“ (Preisker), über<br />
eine Reproduktion der väterlichen Handlungsorientierung<br />
im Jugendamt ein Äquivalent<br />
zum Hof zu finden, das in der Reformzeit<br />
der 60er Jahre genügend Konfliktpotential für<br />
Auseinandersetzungen bereit hält, um über<br />
die Revision des Gegebenen eine Ich-Stärke<br />
ausbilden zu können. Das Jugendamt bietet<br />
ihm ein Möglichkeitsfeld, in dem er die aus der<br />
mütterlichen Linie kommende Disposition,<br />
aus dem Bruch heraus die Selbständigkeit zu<br />
verteidigen, und die Strategie des Vaters, Ord-<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
nung und Sicherheit gewährende Kontexte zu<br />
wählen, tradieren kann.<br />
Fassen wir zusammen: Selbständigkeitspotentiale<br />
der klassischen Art kommen in<br />
der Familiengeschichte der leitenden Akteure<br />
systematisch und konstant vor. Der stärkste<br />
Befund ist aber, dass interessanterweise in einer<br />
auf Patriarchat angelegten Gesellschaft die<br />
Selbständigkeit mütterlich konnotiert ist. Es<br />
sind die Frauen aus der Herkunftsgeschichte<br />
der Transformationsakteure, bei denen wir<br />
durchgängig eine Selbständigkeitsorientierung<br />
beobachten.<br />
Seite 149<br />
20 So liegt der Schluss nahe,<br />
dass in einem weiblich dominierten Feld wie<br />
dem der Kinder- und Jugendhilfe sich eine<br />
Kombination von instrumenteller und expressiver<br />
Orientierung auf der mütterlichen<br />
Seite als weichenstellend erweist. Blicken<br />
wir auf die Vaterseite der leitenden Akteure,<br />
entdecken wir im Vergleich zur Mutterseite<br />
erhebliche Variationen. Die väterliche Linie<br />
ist im Falle von H. W. – wie man sie erwartet<br />
– strukturgebend, im Falle von Dr. M.<br />
mit dem Thema der Fürsorge, der Offenheit<br />
gegenüber dem Fremden und im Falle von A.<br />
D. mit dem des Außenseiters verbunden. Dr.<br />
D. weicht von diesen drei Fällen ab, da für das<br />
Streben nach Selbständigkeit hier auch die<br />
Orientierungsvorgaben der väterlichen Seite<br />
entwicklungsbedeutsam sind. Das ist deshalb<br />
nicht unplausibel, da sie erstens eine Frau ist<br />
und zweitens es nicht ungewöhnlich<br />
ist, dass aufstiegswillige und aufstiegsbereite<br />
Frauen als Vatertöchter<br />
hoch identifiziert mit dem gegengeschlechtlichen<br />
Elternteil sind (vgl.<br />
Parsons 1999). So erstaunt es auch nicht, dass<br />
sie im Vergleich zu A. D., zu Dr. M. und zu H.<br />
W. nicht so sehr auf das weiblich-fürsorgliche
Seite 150<br />
Berufsfeld festgelegt ist und in die Angewandte<br />
Wissenschaft „abwandert“. Obwohl<br />
Dr. D. im Vergleich ein wenig herausfällt, kann<br />
Folgendes festgehalten werden: Auf der Ebene<br />
der Biographie finden wir relativ einheitliche<br />
Akteursbedingungen für die von allen gleichermaßen<br />
zu bewältigende Herausforderung, auf<br />
Biographischer<br />
Habitus<br />
mütterlicherseits:<br />
väterlicherseits:<br />
Professioneller<br />
Habitus<br />
Situation des<br />
Amtes bei<br />
Amtsantritt<br />
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Ostalbkreis<br />
(Heidenheim)<br />
A. D.<br />
Selbständigkeitsorientierung<br />
Außenseiter im<br />
dörflichen Milieu<br />
Durch Fachlichkeit<br />
das Amt wieder<br />
auf Kurs bringen<br />
Kein Aufbruch<br />
nach Einführung<br />
des KJHG, passive<br />
Hinnahme, die neue<br />
Ordnung wird als<br />
gegebene akzeptiert/<br />
Absturz durch<br />
Amtsleitervergehen<br />
(1997), Folge:<br />
Vakuum an der<br />
Spitze, Amtsleiterfluktuation,<br />
Flucht<br />
des fallbetreuenden<br />
Personals<br />
Saalfeld-Rudolstadt<br />
Dr. D.<br />
Selbständigkeitsorientierung<br />
einer neuen konzeptionellen und rechtlichen<br />
Gesetzesbasis Rahmenbedingungen für die<br />
Entfaltung einer professionellen Sozialarbeit<br />
zu schaffen. Diese Beobachtung steht aber in<br />
einem Missverhältnis zu der Unterschiedlichkeit<br />
der Institutionenbildung (siehe Tabelle –<br />
Aktuelle Situation des Amtes).<br />
Streben nach<br />
Selbständigkeit<br />
durch Nutzung<br />
gesellschaftlich-historisch<br />
vorgegebener<br />
Rahmen, Aufstieg<br />
über berufliche<br />
Transformation<br />
Professionalisierung<br />
um jeden Preis auf<br />
allen Ebenen<br />
Kurs einer fachlichen<br />
Qualifizierung<br />
Nach 1990 lediglich<br />
bürokratische<br />
Umsetzung des<br />
KJHG (Verwaltungsbürokrat<br />
an<br />
der Amtsspitze)<br />
Rügen<br />
Dr. M.<br />
Selbständigkeitsorientierung<br />
Offenheit gegenüber<br />
dem Fremden,<br />
Fürsorge<br />
Handelt im Sinne<br />
diffuser Sozialbeziehungen<br />
eines<br />
Familienbetriebes;<br />
mehr Pädagoge<br />
als Planer<br />
primär am Recht<br />
orientiert<br />
fördert Fachlichkeit<br />
bei den Mitarbeitern<br />
Am Anfang zügige<br />
Institutionenbildung<br />
(KJH-Verein,<br />
freie Trägerstrukturen)<br />
und forcierte<br />
Qualifizierung<br />
des vorhandenen<br />
Personals<br />
Wandel wird<br />
organisiert über<br />
Recht und Verfahren<br />
Stagnation,<br />
subjektive Dauerkrise<br />
Ostholstein<br />
H. W.<br />
Selbständigkeitsorientierung<br />
Suche nach stabilen<br />
Ordnungsrahmen,<br />
die prekäre<br />
Ausgangslagen<br />
überwinden helfen<br />
Konflikthafte<br />
Durchsetzung von<br />
Innovationen;<br />
Steckenbleiben in<br />
der Neuorientierung<br />
Seit den 70er<br />
Jahren gibt es einen<br />
kontinuierlichen<br />
Entwicklungspfad<br />
(punktuelle Vorwegnahme<br />
des KJHG)<br />
Das KJHG wird<br />
nicht als Paradigmenwechsel<br />
in der<br />
JH wahrgenommen<br />
Das KJHG hat im<br />
Institutionenbildungsbereich
Typus der<br />
Institutionenbildung<br />
2005: Rekrutierung<br />
eines wandlungsbereiten<br />
und wandlungsfähigen<br />
Akteurs<br />
(A. D.), Versuch der<br />
Implementierung<br />
des Wandels „von<br />
oben“ bei weitgehend<br />
resistentem Personal<br />
Kultur des<br />
Misstrauens auf der<br />
Mitarbeiterebene<br />
konzeptionelle Überlegungen<br />
im Bereich<br />
der Organisationsentwicklung,<br />
aber<br />
nicht in dem der<br />
Personalentwicklung<br />
(Oualifizierung,<br />
Fortbildung)<br />
aktueller Versuch<br />
einer angemessenen<br />
Institutionenbildung<br />
bei widerständigem<br />
Personal<br />
2001:<br />
Beginn einer nachholenden<br />
Entwicklung,<br />
Installation einer<br />
Amtsleitung, die<br />
gegenüber Wandel<br />
offen ist und dazu<br />
bereit, Wandel zu implementieren<br />
(Dr. D.)<br />
Personalrat erschwert<br />
die Akquisition<br />
von qualifiziertem<br />
Personal, Mitarbeiter<br />
im Vakuum „alter“<br />
Routinen (meist<br />
Fürsorgerinnen =<br />
keine Qualifikation)<br />
junge, fachlich<br />
ausgebildete Mitarbeiter<br />
werden (seit<br />
ca. 2006) eingestellt<br />
Einstellung eines<br />
innovationsbereiten<br />
Nachfolgers<br />
für Dr. D.<br />
Aufwärtsbewegung<br />
auf niedrigem Niveau<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
aufgrund<br />
eines schwach<br />
ausgeprägten<br />
professionellen<br />
Habitus (mangelndes<br />
professionelles Autonomieverständnis)<br />
beuhutsame<br />
Korrektur durch<br />
Personalrekrutierung<br />
( Jungpersonal<br />
und kompetente<br />
Besetzung der<br />
Leitungsstellen auf<br />
der mittleren Ebene<br />
– z. B. Frau H.)<br />
Subjektive Dauerkrise<br />
nach forcierter<br />
Institutionenbildung<br />
einen wachsamen<br />
Prozess in Gang<br />
gesetzt. Das<br />
vigilante Konzept<br />
hat keinen Reflex auf<br />
den professionellen<br />
Handlungskontext<br />
Konstanz der frühen<br />
68er Neuorientierung<br />
(Vorwegnahme<br />
des KJHG)<br />
Abwehr von New<br />
Public Management<br />
Seite 151
Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />
Mit anderen Worten: Es besteht ein nur mit<br />
einer Hypothese aufzulösender Widerspruch<br />
zwischen der Ähnlichkeit biographischer Ausgangslagen,<br />
um im Sozialwesen den sozialen<br />
Wandel zu gestalten, und dem gegenwärtigen<br />
Stand der Organisationsentwicklung. Während<br />
wir bei den ostdeutschen Jugendämtern Aufstiegskurven<br />
beobachten, stagniert die Entwicklung<br />
einer Kultur professioneller Hilfe nach der<br />
neuen Gesetzesvorlage in den westdeutschen<br />
Jugendämtern. Bei Letzteren ist die Stagnation<br />
teils durch Frühvollendung der Innovation<br />
(Ostholstein), teils durch ungünstige Rahmenbedingungen<br />
und externe Krisen (Unterschlagung,<br />
danach keine Konstanz in der Leitung<br />
– vgl. Heidenheim) verursacht. Die Neuorientierung<br />
stößt auf erhebliche Probleme seitens<br />
der Leitung (Ostholstein – H. W.) wie auch der<br />
Mitarbeiter (Ostholstein, Heidenheim). Einmal<br />
so gesagt: In den „alten“ Bundesländern hat es<br />
den großen Wandel oder den Paradigmenwechsel<br />
in der Kinder- und Jugendhilfe durch die<br />
Einführung des KJHGs nicht gegeben. In den<br />
„neuen“ Bundesländern hat ein konzeptioneller<br />
Professionalisierungsprozess der Sozialarbeit in<br />
der Kinder- und Jugendhilfe über die schnellere<br />
(in Saalfeld-Rügen zwar mit einer Verspätung<br />
von 10 Jahren) und – jedenfalls formal – konsequentere<br />
Rezeption der fachlichen Vorgaben<br />
des KJHGs stattgefunden.<br />
Nun zur These, die die Diskrepanz zwischen<br />
ähnlichen biographischen Handlungsbedingungen<br />
und der unterschiedlichen<br />
Seite 152 Organisationsentwicklung erklärt: Dass<br />
wir relativ einheitliche Akteursbedingungen<br />
und verschiedene Institutionenbildungsverläufe<br />
beobachten, verweist zum einen<br />
auf den begrenzten Einfluss der Akteure. Zum<br />
anderen verweist dieses Missverhältnis auf die<br />
Einbettungsverhältnisse, auf die – wie Strauss<br />
es formuliert – „langsamer sich bewegenden,<br />
stabilen Elemente der sozialen Umgebung,<br />
die von vielen Generationen geschaffen und<br />
manchmal erhalten wurden“ (Strauss 1993:<br />
261), die das Handeln der Akteure, wenn<br />
auch nicht determinieren, so doch rahmen.<br />
So macht die Entdeckung der Variationen auf<br />
der Ebene der Institutionenbildung deutlich,<br />
dass eine analytische Perspektive nicht ausreicht,<br />
die auf das Individuum, auf den einzelnen<br />
Akteur beschränkt bleibt. Es bedarf neben<br />
eines akteurtheoretischen Zuganges für die<br />
Erklärung von Prozessen sozialen Wandels<br />
eines Ansatzes, der neben dem biographiekonstitutiven<br />
Handeln auch die das Handeln<br />
rahmenden Strukturbedingungen mit erfasst.<br />
Das Konzept, das dafür einen angemessenen<br />
methodologischen Rahmen stellt, das sowohl<br />
der strukturellen als auch der Akteursseite<br />
von Wandel Rechnung trägt, ist das der „conditional<br />
matrix“ (vgl. dazu die Ausführungen<br />
von Bruno Hildenbrand in diesem Band).
Endnoten<br />
1 Die hier vorgenommenen Fallrekonstruktionen wurden im<br />
Rahmen des Gesamtprojektes durchgeführt und hätten nicht<br />
ohne die gemeinsame Arbeit im Gesamtteam und nicht ohne die<br />
konstruktive Kritik aller (Bruno Hildenbrand, Karl-<strong>Friedrich</strong><br />
Bohler, Anna Engelstädter, Tobias Franzheld, Anja Schierbaum<br />
und Marcel Schmidt) realisiert werden können.<br />
2 Mündliche Mitteilung von Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler.<br />
3 „Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur ‘historischen<br />
Situation’ gehörigen ‘Tatsachen’ (‘ontologisches’ Wissen,<br />
andererseits (...) Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln,<br />
wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren<br />
pflegen (‘nomologisches Wissen’)“, vgl. Weber 1988, S. 276f.).<br />
4 Die Struktur des klassischen Jugendamtes und des klassischen<br />
Sozialdezernates werden aufgelöst. An Stelle von Ämtern werden<br />
sogenannte Fachbereiche eingerichtet. Während die klassische<br />
Struktur in anderen Landkreisen aus den drei Ämtern Jugendamt,<br />
Sozialamt und Ausgleichsamt besteht, ist sie in Heidenheim<br />
nach acht Fachbereichen organisiert worden, die – wie A. D.<br />
berichtet – „sich in vielen Dingen überschnitten, aber als eine Art<br />
selbständige Ämter zählten“ (Interview).<br />
5 Hier einmal eine Vergleichszahl für das Jahr 1951. Zu diesem<br />
Zeitpunkt betrug der Jahreslohn eines bundesrepublikanischen<br />
Landarbeiters nur 63% des Lohnes eines Industriearbeiters (vgl.<br />
Heidrich 1997, S. 34f ).<br />
6 Vgl. hier die nicht ganz unähnliche sozialstrukturelle Ausgangslage<br />
des Falles Johannes Freumbichler, dem Großvater von<br />
Thomas Bernhard (Funcke 2007).<br />
7 Vgl. hier die Expertise zu den „Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung<br />
auf die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe<br />
bis zum Jahr 2012 in Thüringen“ (Fendrich & Schilling<br />
2003). Dort ist zu erfahren, dass im Jahre 1998 lediglich 39,1 %<br />
der Mitarbeiterinnen über eine sozialpädagogische Qualifikation<br />
im allgemeinen Sinne verfügen, 12,5 % haben eine Hochschulqualifikation<br />
(vgl. auch Hildenbrand 2004a, S. 9).<br />
Do r e t t Fu N C k e<br />
8 Daran, dass der alte Landrat zwei Jahre lang, von Anfang<br />
1999 bis Ende 2000, den Amtsleiterposten unbesetzt ließ,<br />
erkennt man, welche Bedeutung dem Amtsleiterposten zugemessen<br />
wurde (vgl. auch hier die Ausführungen von Bruno<br />
Hildenbrand in diesem Band).<br />
9 Vgl. dazu die Dorfstudie von Barbara Schier (2001). Auch<br />
im Nordwesten von Rügen konnten bis 1972 Bauern eine LPG<br />
simulieren.<br />
10 Vgl. die Endnote 6 im Beitrag von Bruno Hildenbrand in<br />
diesem Band.<br />
11 Die Bildungspolitik der 50er und 60er Jahre öffnete vielen<br />
Arbeiter- und Bauernkindern den Weg in weiterführende<br />
Bildungseinrichtungen (vgl. Meuschel 1992, Solga 1995). Der<br />
Bildungsaufstieg war für die Lehrer, die nicht dem alten Bürgertum<br />
entstammten, ein „‘massenhaft individueller’ Aufstieg, was<br />
die Risiken eines Bildungsaufstiegs ‘im Alleingang’, wie z. B.<br />
Schwierigkeiten bei der Orientierung im neuen sozialen Milieu<br />
und Akzeptanzprobleme in der neuen Umgebung, minimierte“<br />
(Köhler 2000, S. 81).<br />
12 Die in der Folge der Bodenreform 1947 neu entstandenen<br />
Kleinbetriebe wurden kurze Zeit später wieder zur Kollektivierung<br />
gezwungen. In der Zeit ab 1952 wurden in der DDR<br />
zum einen auf dem Land die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften<br />
(LPG) als „genossenschaftlich-sozialistische<br />
Betriebe“ und zum anderen die Maschinen-Traktoren-Stationen<br />
(MTS) als „staatlich-sozialistische Betriebe“ geschaffen.<br />
13 Nicht ganz auszuschließen ist, dass sie zu den Wiedereinrichtern<br />
auf Rügen zählt. Engelstädter (2005) hat gezeigt, dass es<br />
u. a. vor allem die Bauern bzw. Bäuerinnen, die aus vollbäuerlichen<br />
Gebieten außerhalb Rügens, aus Schleswig-Holstein,<br />
Westfalen und Westpreußen, zugewandert sind, waren, die den<br />
Schritt zum Wiedereinrichten eines bäuerlichen Familienbetriebes<br />
nach der Wende gewagt haben.<br />
14 Vgl. dazu die Ausführungen von Bruno Hildenbrand<br />
in diesem Band, Endnote 20.<br />
15 Dass man sich in dieser Zeit mit einem Fuhrunternehmen<br />
auch anders entwickeln kann, zeigt der Fall Kornbeck in: Hildenbrand<br />
2004b.<br />
Seite 153
Seite 154<br />
16 Die Kinderzahl verheirateter Mägde war gering (vgl. Mit-<br />
terauer 1990, S. 244).<br />
17 Vgl. Strauss 1993, S. 255f., 1995, S. 18ff.<br />
18 Als H. W. 1970 ins Jugendamt kommt, hat das Verwaltungshandeln<br />
Dominanz gegenüber dem sozialpädagogischen Handeln.<br />
Überlegungen zur Einrichtung eines Amtes für Soziale<br />
Dienste, die H. W. als Sprecher der Sozialarbeiter unterstützte,<br />
konnten trotz „heftigster Auseinandersetzungen“ mit dem<br />
damaligen Amtsleiter, der die Reformvorschläge ablehnte, nicht<br />
umgesetzt werden (vgl. Bohler & Bieback-Diel 2001, S. 37ff.).<br />
H. W., der Sozialdemokrat, der das Feld der Auseinandersetzung<br />
im Ringen um das bessere Argument nicht scheute, erinnert diese<br />
Diskussionsphase im Amt als „schöne Zeit“ (Interview).<br />
19 Wir haben gesehen, dass gerade durch die forcierten Selbständigkeitsbestrebungen<br />
der Mutter die Modernisierung des Hofes<br />
in den 50er Jahren gelingt mit der Folge, dass ein autonomes<br />
Wirtschaften im landwirtschaftlichen Bereich fortgesetzt werden<br />
kann.<br />
20 A. D. : Die Mutter forciert die Umstrukturierung des Hofes<br />
gemäß den Modernisierungsanforderungen der 50er Jahre; Dr.<br />
D.: Die Mutter rettet den durch die berufliche Transformation<br />
ihrer eigenen Mutter (Porzellanmalerin) verloren gegangenen<br />
Status der Selbständigkeit durch Orientierung am großväterlichen<br />
Schneiderhandwerk.; Dr. M.: Die Mutter sichert das<br />
Gut der Selbständigkeit ihrer Herkunftsfamilie (selbständige<br />
Schneidermeister) über die Heiratsstrategie; H. W.: Die Mutter<br />
löst sich aus bevormundenden großbäuerlichen Sozialzusammenhängen<br />
und vergrößert über eine berufliche Transformation<br />
(städtischer Dienstleistungssektor) – gemäß der Tradition eines<br />
Selbständigenmilieus – ihre Autonomiespielräume.<br />
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Waldenfels, Bernhard (1985) In den Netzen der Lebenswelt.<br />
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Tübingen: J. C. B. Mohr, 7. Aufl.<br />
Weber-Kellermann, Ingeborg (1987) Landleben im 19. Jahrhundert,<br />
München: Beck.<br />
Welter-Enderlin, Rosmarie (2003) Paare - Leidenschaft und<br />
Lange Weile. Freiburg: Herder.<br />
Welter-Enderlin, Rosmarie, Hildenbrand, Bruno (2004)<br />
Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta (4.<br />
Auflage).<br />
Welter-Enderlin, Rosmarie, Hildenbrand, Bruno (Hrsg.) (2006)<br />
Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg:<br />
Carl-Auer-Systeme Verlag.<br />
Wiesenthal, Helmut (1999) Die Transformation der DDR: Verfahren<br />
und Resultate. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
Autoren<br />
Bruno Hildenbrand, Jg. 1948, ist seit 1994 Professor<br />
für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut<br />
für Soziologie der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Schiller</strong>-<strong>Universität</strong><br />
<strong>Jena</strong>. Studium der Soziologie, Politikwissenschaften<br />
und Psychologie an der <strong>Universität</strong> Konstanz und<br />
Promotion im Fach Soziologie (1970-1979), Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik<br />
der Philipps-<strong>Universität</strong> Marburg von 1979 bis 1984,<br />
Hochschulassistent an der Johann-Wolfgang-Goethe-<br />
<strong>Universität</strong> Frankfurt am Main von 1984 bis 1989, dort<br />
Habilitation 1991, Fachleiter für Arbeit mit psychisch<br />
Kranken und Suchtkranken an der Berufsakademie<br />
Villingen-Schwenningen von 1989 bis 1994.<br />
Laufende Arbeitsschwerpunkte: Transformationsprozesse<br />
der Kinder- und Jugendhilfe in ländlichen<br />
Regionen Ost- und Westdeutschlands; Sozialisationsprozesse<br />
in der Pflegefamilie.<br />
Seite 161
Seite 162<br />
Autoren<br />
Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, geb. 1953, Studium der Soziologie<br />
in Heidelberg und Frankfurt a.M., 1988<br />
Promotion, 1994 Habilitation am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften<br />
der <strong>Universität</strong> Frankfurt<br />
a.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich<br />
Gesellschaftswissenschaften der <strong>Universität</strong> Frankfurt<br />
a.M., im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik,<br />
an der <strong>Universität</strong>sklinik Marburg. 1995 und seit 2003<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der <strong>Friedrich</strong> <strong>Schiller</strong><br />
<strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong> und im Sonderforschungsbereich <strong>580</strong>.<br />
Publikationen aus dem<br />
Themenbereich unserer Forschung im <strong>SFB</strong>:<br />
Regionale Gesellschaftsentwicklung und Schichtungsmuster<br />
in Deutschland, Frankfurt a.M. 1995. - Region<br />
und Mentalität. In: Sozialer Sinn 1/2004, S. 3-29.<br />
– Ländliche Jugendhilfepraxis in kontrastierenden Erwerbs-<br />
und Lebenswelten. In: Land-Berichte 1/2005, S.<br />
54-62. - Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit<br />
als Projekt. Untersucht am Beispiel ostdeutscher Jugendämter.<br />
In: Sozialer Sinn 1/2006, S. 3-33. - Familie<br />
und Jugendhilfe in krisenhaften Erziehungsprozessen.<br />
In: ZBBS 1/2006, S. 47-68. - Jugendhilfe im ländlichen<br />
Sozialraum. Münster 2001 (gem. mit L. Bieback-Diel).<br />
– Nord-Süd. In: S. Lessenich/F. Nullmeier (Hrsg.):<br />
Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/<br />
New York 2006, S. 234-255 (gem. mit B. Hildenbrand).
Autoren<br />
Dorett Funcke, Studium der Soziologie und Germanistischen<br />
Literaturwissenschaft in <strong>Jena</strong>, Dr. phil., Dissertation<br />
über Thomas Bernhard („Der abwesende Vater<br />
– Wege aus der Vaterlosigkeit. Der Fall Thomas Bernhard“,<br />
LIT-Verlag 2007), seit 2002 wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin am Institut für Soziologie in <strong>Jena</strong> (Arbeitsbereich:<br />
Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie),<br />
seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im <strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
„Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch.<br />
Diskontinuität. Tradition. Strukturbildung“.<br />
Seite 163