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gPDF - SFB 580 - Friedrich-Schiller-Universität Jena

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<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />

Gesellschaftliche Diskontinuität<br />

Entwicklungen Tradition<br />

nach dem Systemumbruch<br />

Strukturbildung<br />

<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> - Pr o j e k t C3 (2007) ISSN 1619-6171


eg I o N e N, Ak t e u r e, er e I g N I S S e<br />

DIe eN t w I C k l u N g De r<br />

erz I e h u N g S h I l F e N NA C h De r<br />

eIN F ü h r u N g De S kI N D e r- u N D<br />

jug e N D h I l F e g e S e t z e S 1990/91<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, Dorett Funcke, Bruno Hildenbrand<br />

<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> MI t t e I l u N g e N 2007<br />

<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />

Gesellschaftliche Diskontinuität<br />

Entwicklungen Tradition<br />

nach dem Systemumbruch<br />

Strukturbildung<br />

23


23 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> MI t t e I l u N g<br />

Heft 23, November 2007<br />

Sonderforschungsbereich <strong>580</strong><br />

„Regionen, Akteure, Ereignisse<br />

Die Entwicklung der Erziehungshilfen nach der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes<br />

1990/91“<br />

Sprecher: Prof. Dr. Everhard Holtmann<br />

Martin-Luther-<strong>Universität</strong> Halle-Wittenberg,<br />

Institut für Politikwissenschaft,<br />

Emil-Abderhalden-Str. 7, 06108 Halle/Saale,<br />

Tel: +49 (0) 345/ 5524211,<br />

E-mail: everhard.holtmann@politik.uni-halle.de<br />

Verantwortlich für dieses Heft:<br />

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand<br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Schiller</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong><br />

Institut für Soziologie<br />

<strong>Jena</strong> 07743<br />

Tel.: +49 (0) 3641-945551 (945550 Sekr.)<br />

Fax: +49 (0) 3641-945552<br />

E-Mail: Bruno.Hildenbrand@uni-jena.de<br />

Logo: Elisabeth Blum; Peter Neitzke (Zürich)<br />

Cover & Satz: Sabrina Laufer; Jarno Müller<br />

Druck: <strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong><br />

ISSN: 1619-6171<br />

Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich <strong>580</strong> „Gesellschaftliche<br />

Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“<br />

entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung<br />

der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten<br />

Mittel gedruckt. Alle Rechte vorbehalten.


eg I o N e N, Ak t e u r e,<br />

ere I g N I S S e<br />

DIe eN t w I C k l u N g De r<br />

erz I e h u N g S h I l F e N NA C h De r<br />

eIN F ü h r u N g De S kI N D e r- u N D<br />

jug e N D h I l F e g e S e t z e S 1990/91<br />

<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />

Gesellschaftliche Diskontinuität<br />

Entwicklungen Tradition<br />

nach dem Systemumbruch<br />

Strukturbildung


1<br />

2<br />

3<br />

Seite 6<br />

Wandel Inhaltsverzeichnis<br />

in Ereignissen<br />

Beiträge<br />

Wandel in Ereignissen – Die Vermittlung von Struktur und<br />

Handeln in der Analyse von Prozessen sozialen Wandels<br />

Bruno Hildenbrand ............6<br />

Soziographische Analyse der sozialen Entwicklung in den unter-<br />

suchten Kreisgebieten Heidenheim, Ostholstein, Rügen und<br />

Saalfeld-Rudolstadt<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler ..........44<br />

Akteure der Transformation<br />

Dorett Funcke .........102


4<br />

5<br />

Bruno Inhaltsverzeichnis<br />

Hildenbrand<br />

Literaturverzeichnis ........153<br />

Autoren<br />

Angaben zu den Autoren ..........159<br />

Seite 7


Seite 8<br />

Beitrag 1<br />

wA N D e l IN er e I g N I S S e N - DIe<br />

Ve r M I t t l u N g V o N St r u k t u r u N D<br />

hA N D e l N IN D e r AN A ly S e V o N<br />

Pr o z e S S e N S o z I A l e N wA N D e l S 1<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Wandel in Ereignissen<br />

1. üB e r S I C h t<br />

2. IN t e r A k t I o N u N D St r u k t u r IM AN S At z<br />

V o N AN S e l M St r A u S S<br />

3. wA N D e l IN er e I g N I S S e N – AM Be I S P I e l<br />

D e r tr A N S F o r M At I o N D e r kI N D e r- u N D ju-<br />

g e N D h I l F e IN e I N e M th ü r I N g e r lA N D k r e I S<br />

4. IN t e r P r e tAt I o N D I e S e r er g e B N I S S e A u F<br />

D e r gr u N D l A g e D e S BA S I S-Mo D e l l S Ch A l-<br />

l e N g e & reSPoNSe (hA rt M u t ro S A u N D<br />

St e F F e N SC h M I D t)<br />

1. üB e r S I C h t<br />

Mit diesem Beitrag verfolgen wir<br />

eine dreifache Zielsetzung: Erstens<br />

möchten wir zeigen, wie in einer<br />

sinnverstehenden Soziologie sozialen Wandels<br />

Struktur und Handeln (Makro- und Mikroperspektive)<br />

miteinander verknüpft werden. Unser<br />

Ansatz besteht darin, sowohl der strukturellen<br />

als auch der Akteursseite von Wandel Rechnung<br />

zu tragen und eine Theorie zu entwickeln,<br />

die beide Aspekte tragfähig miteinander<br />

verknüpft. In Orientierung an der Grounded<br />

Theory (Glaser & Strauss 1967, Strauss 1994,<br />

Hildenbrand 2007) und an anderen Positionen<br />

der sinnverstehenden Sozialforschung halten<br />

wir daran fest, dass eine solche Theorie aus<br />

empirischen Daten zu entwickeln ist und an<br />

diesen sich zu bewähren hat. Zweitens werden<br />

wir die Tragfähigkeit dieses Ansatzes für unser<br />

Forschungsthema im Rahmen des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />

demonstrieren. Dieses Thema bezieht sich<br />

auf die Neuorientierung der Kinder- und Ju-


gendhilfe in Ost- und Westdeutschland nach<br />

dem Paradigmenwechsel der Kinder- und<br />

Jugendhilfe aufgrund der Einführung des<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG-<br />

SGBVIII) 1990/1991. Hierzu bedienen wir<br />

uns eines Fallbeispiels, von dem aus wir zentrale<br />

Elemente einer Theorie sozialen Wandels<br />

in diesem Wirklichkeitsbereich skizzieren. 2<br />

Drittens werden wir unsere Befunde auf das<br />

von Hartmut Rosa und Steffen Schmidt vorgelegte,<br />

als Heuristik für die Forschung des<br />

<strong>SFB</strong> <strong>580</strong> intendierte Basis-Modell Challenge<br />

& Response beziehen, um dessen Tragfähigkeit<br />

zu erkunden (Rosa und Schmidt 2007).<br />

Über eine Skizze werden wir im Rahmen<br />

dieses Beitrags nicht hinauskommen, auch<br />

wenn unsere Arbeiten schon wesentlich weiter<br />

vorangeschritten sind. Aber immerhin können<br />

wir die Richtung angeben, in die sich unsere<br />

Theoriebildung bewegt:<br />

• Der Widerspruch zwischen einem implementierten<br />

Institutionengefüge, das einem<br />

spezifischen, in gesellschaftlichen Selbstverständnissen<br />

verankerten Geist, nämlich dem<br />

Geist, „dass die Betroffenen mit eigenen Mitteln<br />

(Hervorhebung i. O.) dem Risiko begegnen<br />

oder sich mit dem Eintreten der Risiken einfach<br />

abfinden“ (Offe 1994, S. 101), entspricht,<br />

auf der einen Seite, und Alltagsroutinen von<br />

Institutionen und Akteuren, die diesem Geist<br />

widersprechen, auf der anderen Seite führt<br />

dazu, dass sich Trajekte des Beharrens einrichten.<br />

• Diese Trajekte können in ihrer Richtung beeinflusst<br />

werden, d. h. sie können von Trajekten<br />

des Beharrens in solche des Wandels dadurch<br />

umgelenkt werden, dass maßgebliche Akteure<br />

vorhandene Ereignisse aufgreifen bzw. solche<br />

Bruno Hildenbrand<br />

erzeugen, die krisenträchtig sind und damit<br />

Herausforderungen für Akteure und Institutionen<br />

darstellen. Entsprechend lautet unser<br />

Schlüsselkonzept: Wandel in Ereignissen.<br />

• Die Herausforderung der maßgeblichen<br />

institutionellen Akteure besteht im weiteren<br />

Verlauf darin, Gelegenheiten zu schaffen,<br />

damit die in der Bewältigung der erwähnten<br />

Schlüsselereignisse gefundenen Problemlösungen<br />

Eingang in die Routinen der Institution<br />

und in die Habitus der Mitglieder der<br />

Institution finden, und dafür den passenden<br />

Zeitpunkt zu entdecken.<br />

Das Schlüsselkonzept Wandel in Ereignissen<br />

haben wir aus dem Material rekonstruiert<br />

und erst danach an bestehende grundlagentheoretische<br />

Konzepte angeschlossen, die kurz<br />

erwähnt sein sollen: George Herbert Mead als<br />

einer der Hauptvertreter des amerikanischen<br />

Pragmatismus konzipiert Welt als „Welt von<br />

Ereignissen“ (Mead 1969, S. 229), in welcher<br />

dann gehandelt wird, wenn Herausforderungen<br />

auftreten. Anselm Strauss hat dieses Konzept<br />

zur Grundlage seiner Version der Grounded<br />

Theory gemacht (Strauss 1993). Bernhard<br />

Waldenfels hat in seiner phänomenologischen<br />

Studie über die Produktion und Reproduktion<br />

sozialer Ordnung die zentrale Rolle von<br />

Ereignissen beim Entstehen von Neuem (=<br />

Produktion von Ordnung) herausgearbeitet.<br />

Solche Ereignisse sind zunächst „herrenlos“ in<br />

dem Sinne, als sie sich „nicht in einen<br />

bestehenden Kontext einordnen lassen,<br />

sondern selber Szenarien bilden Seite 9<br />

und Geschichten auslösen, solche<br />

‚Urstiftungen’, in denen Geltung und<br />

Genesis untrennbar verknüpft sind“ (Waldenfels<br />

1987, S. 151). Jedes „eingebürgerte“<br />

(Waldenfels 1987, S. 153) habe zur Kehrseite


Wandel in Ereignissen<br />

„ein ‚reflektierendes’, wildes Denken, das der<br />

Erfahrung nicht vorweg ist, sondern mit ihr<br />

anhebt“ (Waldenfels 1987, S. 153). Solche Ereignisse<br />

werden dann zu „Übergangsereignissen“<br />

(Waldenfels 1987, S. 155), wenn sie Neues<br />

anstoßen, das in Abgrenzung zu bestehenden<br />

Ordnungen „Anomalien“ bzw. „Irregularitäten“<br />

(Waldenfels 1987, S. 156) mit sich bringt.<br />

Die Konzepte von Mead und Waldenfels sind<br />

nicht empirisch gegründet. Wandel in Ereignissen<br />

wurde aber als Bewegungsprinzip in<br />

der Entwicklung von Unternehmen empirisch<br />

untersucht. Cope & Watts (2000) schreiben,<br />

dass kritische Ereignisse „einen Prozess des<br />

Lernens und des wachsenden Selbstbewusstseins<br />

beschleunigen, weshalb sich diese<br />

Ereignisse als bedeutende Momente in einem<br />

Prozess des Wandels herausstellten“ (Cope &<br />

Watts 2000, S. 113).<br />

2. IN t e r A k t I o N u N D Str u k t u r IM AN S At z<br />

V o N AN S e l M St r A u S S<br />

Wir kommen zum ersten Teil dieses Beitrags,<br />

der Frage nach der Verknüpfung von Struktur<br />

und Handeln, von Makro- und Mikroperspektive<br />

in einer sinnverstehenden Soziologie.<br />

In einer Studie von Sterbeverläufen in Krankenhäusern<br />

arbeiteten Barney Glaser und<br />

Anselm Strauss heraus, dass Organisationen<br />

im Allgemeinen Strukturen im Prozess<br />

darstellen (Glaser & Strauss 1968,<br />

Seite 10 S. 240). Strukturen sind demnach<br />

nicht statisch, sondern sie werden<br />

durch ständige Übergänge gekennzeichnet,<br />

die in Handlungen erzeugt werden.<br />

Andererseits differenziert Strauss an anderer<br />

Stelle zwischen unterschiedlichen Graden der<br />

Stabilität bzw. Wandelbarkeit von Strukturen.<br />

Wir werden darauf zurückkommen. Vorerst<br />

gilt: In diesem Prozess sind Wandel und Beharren<br />

dialektisch aufeinander bezogen: „Die<br />

Handlung wird gestaltet von Bedingungen,<br />

die ihrerseits wieder von aktiven Handelnden<br />

geformt werden“ (Strauss 1993, S. 47).<br />

Im Alltagsleben von Organisationen wird<br />

Ordnung beständig ausgehandelt. Der hierfür<br />

zunächst geschaffene Begriff lautet negotiated<br />

order. Strauss ersetzt ihn nach dem Vorwurf<br />

eines „astructural bias“ (Farberman 1991, S.<br />

481) durch den des structural ordering (Strauss<br />

1993, S.250). Zusammenfassend schreibt<br />

Strauss zum Verhältnis von Struktur und<br />

Wandel:<br />

• „Ordnung bezieht sich auf relativ vorhersehbare<br />

Ereignisse“;<br />

• „Unordnung wird erzeugt durch Ereignisse,<br />

die entweder unvorhersagbar oder nicht vorhergesagt<br />

sind“;<br />

• „Ordnen findet ständig statt“;<br />

• daher betont eine interaktionistische Handlungstheorie<br />

„Kontingenzen und unvermeidbare<br />

Veränderungen, die durch diese erzeugt<br />

werden. Aber gleichzeitig kann und darf es<br />

nicht unterlassen werden, die Kontingenzen<br />

und die Handlung mit den langsamer sich<br />

bewegenden, stabileren Elementen der sozialen<br />

Umgebung, die von vielen Generationen<br />

geschaffen und manchmal erhalten wurden, zu<br />

verknüpfen“ (Strauss 1993, S. 261).<br />

• Und schließlich: „Reduziert der Forscher die<br />

strukturellen Bedingungen (…) auf ein Mindestmaß,<br />

oder lässt er sie einfach weg, dann<br />

sind die Schlussfolgerungen zu kurz gegriffen.<br />

Umgekehrt wird die Überbetonung struktureller<br />

Bedingungen den reichen interaktionellen


Daten nicht gerecht, die Leben und eine<br />

Vorstellung von Unmittelbarkeit (manche sagen<br />

Realität) in die Analyse bringen“ (Zitate<br />

jeweils in Strauss 1994, S. 119).<br />

Hier zeigt sich Strauss als ein Vertreter einer<br />

Position, in welcher Struktur und Handeln<br />

miteinander verknüpft werden. Von einem<br />

„astructural bias“ ist er weit entfernt. 3<br />

Das Konzept, das diese spezifische Form der<br />

Verknüpfung von Struktur und Handeln in der<br />

Grounded Theory methodologisch umsetzt,<br />

ist das der conditional matrix. Darauf bezogene<br />

Konzepte sind: event, conditional path, trajectory,<br />

social world, arena (Strauss 1993, S. 52; Strauss<br />

& Corbin 1990, Kapitel 10). Diese Konzepte<br />

sollen im Folgenden erläutert werden, bevor<br />

wir ihre Tragfähigkeit anhand eines Beispiels<br />

prüfen.<br />

Conditional matrix: Sie bezieht sich auf einen<br />

Kontext von sozialen Rahmen, in denen soziale<br />

Interaktionen entstehen und sich entwickeln.<br />

Der Hauptzweck der conditional matrix besteht<br />

darin, „den Forschern zu helfen, jenseits<br />

von Mikrostrukturen und unmittelbaren<br />

Interaktionen die umfassenderen sozialen Bedingungen<br />

und Konsequenzen zu bedenken“<br />

(Charmaz 2006, S. 118).<br />

Conditional path bezieht sich auf die Rekonstruktion<br />

des Verlaufs, den ein event durch die<br />

verschiedenen Ebenen der conditional matrix<br />

nimmt. Der Zusammenhang des Ereignisses<br />

mit diesen Ebenen wird rekonstruiert, ebenso<br />

der Zusammenhang dieser Ebenen untereinander,<br />

bezogen auf das untersuchte Ereignis.<br />

Event: Wenn Gesellschaft im Wesentlichen<br />

Bruno Hildenbrand<br />

sich aus Interaktionen zusammensetzt bzw.<br />

sich in Interaktionen entwickelt, dann bedeutet<br />

das, dass events, in denen sich Interaktionen<br />

zeigen, den zentralen Fokus soziologischer<br />

Analyse bilden. Menschliches Handeln in<br />

seiner Fähigkeit, Strukturen nicht nur zu reproduzieren,<br />

sondern auch zu transformieren<br />

(Sewell 1992), kann der pragmatistischen<br />

Position Strauss’ zufolge ausschließlich in<br />

Ereignissen identifiziert werden. 4 Allerdings<br />

hinterlässt Handeln in der sozialen Wirklichkeit<br />

Spuren, sog. objektive Daten. Sie werden<br />

als „conditional matrix“ (dazu weiter unten)<br />

erfasst.<br />

Trajectory: Strauss benutzt diesen Begriff in<br />

zweierlei Weise. Einmal bezieht er sich auf die<br />

Entwicklung eines Phänomens im Zeitverlauf,<br />

er bezieht sich aber auch auf die Interaktionen,<br />

die zu dieser Entwicklung beitragen (Strauss<br />

1993, S. 53). Ein Trajekt wird in seinem gesamten<br />

Verlauf gestaltet, denn es besteht „die<br />

Möglichkeit, dass Folgen von Handlungen<br />

ihrerseits Bedingungen für weiteres Handeln<br />

werden, die dann wiederum weitere Folgen<br />

erzeugen“ (Strauss 1993, S. 56).<br />

Social worlds: Adele Clarke, auf die sich<br />

Strauss bezieht, wenn er dieses Konzept<br />

erläutert, definiert social worlds als „Gruppen,<br />

die gemeinsam Verpflichtungen gegenüber<br />

bestimmten Handlungen teilen und die ebenso<br />

Ressourcen teilen, um ihre Ziele zu<br />

erreichen und die des weiteren über<br />

gemeinsam geteilte Sinndeutungen Seite 11<br />

zum Erreichen dieser Ziele verfügen“<br />

(Clarke 1991, S. 131, zitiert in Strauss<br />

1993, S. 212). Gerson definiert Gesellschaft<br />

als ein „Mosaik sozialer Welten, die sich berühren<br />

und gegenseitig durchdringen“ (zitiert


nach Clarke 1991, S. 131).<br />

Wandel in Ereignissen<br />

Social arenas entstehen aus Konflikten über<br />

wesentliche Themen und bilden „whirlpools<br />

argumentativer Handlungen; sie liegen im<br />

Zentrum von Dauer und Wandel jeder sozialen<br />

Welt“ (Strauss 1993, S. 227). Diese<br />

Konflikte können sich sowohl innerhalb als<br />

auch zwischen sozialen Welten entwickeln.<br />

Aus diesen Konflikten (Krisen) entwickeln<br />

sich soziale Ordnung und sozialer Wandel<br />

zugleich: structural ordering.<br />

Diese Konzepte hängen wie folgt zusammen:<br />

• Die soziologische Analyse beginnt in einer<br />

social world.<br />

• Die Herstellung sozialer Ordnung und sozialen<br />

Wandels findet statt in events und diese<br />

in arenas, welche innerhalb und zwischen social<br />

worlds Gestalt annehmen.<br />

• Die conditional matrix lokalisiert die jeweils<br />

analysierten social worlds im Hinblick auf ihre<br />

Verknüpfung mit anderen (relevanten) sozialen<br />

Welten.<br />

• Auf diese Weise ist es möglich, die Spaltung<br />

zwischen mikrosoziologischer und makrosoziologischer<br />

Analyse zu überwinden.<br />

• Der conditional path bezieht die Kontexte<br />

der Bedingungen eines strukturierenden Prozesses,<br />

welcher sich innerhalb einer arena in<br />

einer social world oder zwischen social worlds<br />

ereignet.<br />

Seite 12 Diese Konzepte sind jeweils im Verbund<br />

zu verwenden. Dieser Verbund<br />

stellt aus unserer Sicht einen angemessenen<br />

methodologischen Rahmen für die<br />

Analyse von Prozessen sozialen Wandels dar.<br />

Weder wird Struktur auf Handeln, noch wird<br />

Handeln auf Struktur reduziert. Stattdessen<br />

werden beide Perspektiven einer soziologischen<br />

Analyse im Kontext eines processual ordering<br />

berücksichtigt.<br />

3. wA N D e l IN er e I g N I S S e N – AM Be I S P I e l<br />

D e r tr A N S F o r M At I o N D e r kI N D e r- u N D ju-<br />

g e N D h I l F e IN e I N e M th ü r I N g e r lA N D k r e I S<br />

Im zweiten Teil dieses Beitrags befassen wir uns<br />

mit der Tragfähigkeit des im vorigen Kapitel<br />

entwickelten Ansatzes für die Analyse von Prozessen<br />

sozialen Wandels in einem spezifischen<br />

Bereich: der Kinder- und Jugendhilfe. Der<br />

soziale Wandel in der Kinder- und Jugendhilfe<br />

seit 1990 besteht sowohl in Ost- als auch in<br />

Westdeutschland darin, dass ein altes durch ein<br />

neues Gesetz ersetzt wurde. Das Kinder- und<br />

Jugendhilfegesetz (KJHG/SGBVIII) wurde<br />

am 3. Oktober 1990 in den damals so genannten<br />

neuen Bundesländern und am 1. Januar<br />

1991 in den damals so genannten alten Bundesländern<br />

eingeführt. Dem liegt ein Wechsel<br />

im Paradigma zugrunde. Vor 1990 war sowohl<br />

in Ost- wie in Westdeutschland die Logik der<br />

Kinder- und Jugendhilfe als paternalistische<br />

Fürsorge angelegt. Klienten wurden nicht betrachtet<br />

als Personen, mit denen man arbeitet,<br />

sondern als solche, für die Entscheidungen<br />

getroffen und Handlungen vorgenommen<br />

werden. In der Sprache der Akteure selbst<br />

formuliert: „Während das JWG ( Jugendwohlfahrtsgesetz,<br />

B. H.) eher eingriffs- und<br />

ordnungsrechtlich orientiert war, ist das KJHG<br />

als Leistungsrecht konzipiert. Es verzichtet<br />

weitestgehend auf Eingriffmaßnahmen in die<br />

elterliche Erziehungsverantwortung. Jugendhilfe<br />

soll die Erziehung in der Familie unterstützen<br />

und ergänzen“ (Petermann & Schmidt


1995, S. 13). Pimiere des KJHG legen Wert auf<br />

die Feststellung, daß die Jugendhilfepraxis in<br />

der alten Bundesrepublik den entsprechenden<br />

Formulierungen weit voraus war.<br />

Zwischen der Kinder- und Jugendhilfe in West-<br />

und Ostdeutschland bestehen entscheidende<br />

Unterschiede. In Westdeutschland waren die<br />

Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe seit den<br />

60er Jahren einem kontinuierlichen Professionalisierungsprozess<br />

ausgesetzt, während in<br />

Ostdeutschland eine fachliche Expertise nicht<br />

explizit erforderlich war. Der Grund für letzteres<br />

bestand darin, dass angenommen wurde,<br />

dass Probleme von Kindern und Jugendlichen,<br />

die traditionell Gegenstand der Kinder- und<br />

Jugendhilfe sind, vom Kapitalismus erzeugt<br />

wurden und daher in dem Maße, in dem der<br />

Sozialismus sich entwickelte, verschwinden<br />

würden. Das Ergebnis dieser Annahme<br />

war, dass sich in der DDR die Kinder- und<br />

Jugendhilfe in einer Nische bewegte. 5 Die<br />

Verantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe<br />

waren mithin im Jahr 1990 gleichermaßen mit<br />

erheblichen strukturellen Änderungen ihres<br />

Fachgebiets konfrontiert, jedoch handelten<br />

sie unter weitgehend unterschiedlichen Bedingungen,<br />

wenn es darum ging, die Zumutungen<br />

des Wandels zu bewältigen. Während<br />

im Westen über Jahrzehnte hinweg sich die<br />

„sozialpolitische Normalität“ (Offe 1994,<br />

S. 101) von Wohlfahrtsstaaten im Kontext<br />

kapitalistischer Marktwirtschaften einrichten<br />

konnte, hatten die Akteure im Osten<br />

noch mit der Bewältigung der „Erfahrungen<br />

und Erbschaften der realsozialistischen<br />

Vergangenheit“ (Offe 1994, S. 103) zu tun.<br />

Während der ersten Jahre des Transformationsprozesses<br />

nach dem Zusammenbruch des<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Kommunismus wurde angenommen, dass<br />

es reichen würde, die in der Bundesrepublik<br />

Deutschland entwickelten Institutionen zu<br />

transferieren, um den für erforderlich gehaltenen<br />

Wandel in der ehemaligen DDR zu<br />

realisieren. Dies würde genügen, so das Argument,<br />

um den mit den Institutionen verbundenen<br />

Geist des Gesetzes, nämlich die Einbeziehung<br />

von Klienten in den Hilfeprozess als<br />

Ausdruck einer Neudefinition der Klienten als<br />

autonom handlungsfähigen Subjekten, zu verpflanzen.<br />

Diese sowohl von Politikern als auch<br />

Sozialwissenschaftlern geteilte Vorstellung<br />

erwies sich rasch als überaus naiv. Ettl und<br />

Wiesenthal weisen darauf hin, dass von der<br />

formalen Ausweitung des Geltungsbereichs<br />

institutioneller Normen andere Effekte zu erwarten<br />

sind als von Prozessen der interaktiven<br />

Institutionalisierung, die im Ursprungskontext<br />

stattfanden und dort zu Formen einer sozialen<br />

Identifikation führten. Ein wirkungsgleicher<br />

Transfer gewachsener Institutionen in einen<br />

anderen Kontext gelebter Institutionen sei daher<br />

unwahrscheinlich: „Institutionentransfer<br />

ist nicht identisch mit Institutionalisierung“<br />

(Ettl & Wiesenthal 1994, S. 442).<br />

Institutionentransfer mit Institutionalisierung<br />

zu verwechseln war naiv in zweierlei Hinsicht:<br />

Erstens theoretisch, weil er unterstellte, dass<br />

Handlungen aus Strukturen abzuleiten seien,<br />

anstatt die Strukturierungsprozesse, also<br />

den Beitrag der Akteure selbst, zu<br />

berücksichtigen. Zweitens war bereits<br />

auf der Ebene des alltäglichen<br />

praktischen Handelns, also noch<br />

vor jeder soziologischen Analyse,<br />

Seite 13<br />

nicht zu übersehen, dass der Institutionentransfer<br />

in seiner „Reinform“, ohne die damit<br />

verbundenen kulturellen Grundlagen, nicht


Seite 14<br />

Wandel in Ereignissen<br />

funktionierte. Dass er je nach gesellschaftlichem<br />

Segment auf je unterschiedliche Weise<br />

nicht funktionierte, in manchen besser, in<br />

manchen schlechter, sei hier zugestanden.<br />

Nehmen wir als Beispiel die Ökonomie: Dort<br />

entscheidet über Erfolg oder Misserfolg die<br />

Bilanz. Sie kann allerdings durch staatliche<br />

Transferleistungen so überlagert werden, dass<br />

die Orientierung an den Grundsätzen der<br />

Marktwirtschaft nicht mehr überprüft werden<br />

kann. In der Kinder- und Jugendhilfe können<br />

Institutionen in Übereinstimmung mit dem<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ab<br />

1990 in Ost und West aufgebaut werden, ohne<br />

dass sich der mit dem Gesetz verbundene<br />

Geist Geltung verschafft. Konsequenzen für<br />

das Handeln der Kinder- und Jugendhilfe<br />

hat diese Diskrepanz zwischen Gesetz und<br />

Handeln in der Regel nicht. Zum Vorschein<br />

kommt diese Diskrepanz nur dann, wenn<br />

aufgrund eines Vorfalls, der vermittelt über<br />

die Medien in die Öffentlichkeit gelangt und<br />

so zum Skandal wird, eine parlamentarische<br />

Untersuchungskommission das Handeln<br />

eines Allgemeinen Sozialen Diensts (ASD)<br />

in einem Jugendamt genauer unter die Lupe<br />

nimmt. Es entspricht dem Gesetz medialer<br />

Skandalisierung, dass die Öffentlichkeit sich<br />

alsbald neuen Skandalen zuwendet, während<br />

die Kinder- und Jugendhilfe zu ihren vorherigen<br />

Praktiken zurückkehrt: Änderungen<br />

auf der Ebene der Institutionenkultur benötigen<br />

Zeit, die nicht einfach vergeht,<br />

sondern in dem von uns untersuchten<br />

Handlungsfeld, der Kinder- und Jugendhilfe,<br />

durch ständige Professionalisierungsprozesse<br />

gefüllt werden muss.<br />

Wir werden nun anhand eines Ereignisses<br />

die mit der Transformation der Kinder- und<br />

Jugendhilfe in einem Jugendamt in Thüringen<br />

verbundenen Interaktionsprozesse mit den<br />

Mitteln der Grounded Theory rekonstruieren<br />

und uns dabei auf die konditionelle Matrix<br />

konzentrieren. Strauss definiert acht Ebenen<br />

der konditionellen Matrix, die konzentrisch<br />

angeordnet sind. Wir haben diese für unsere<br />

Untersuchungszwecke bereits modifiziert.<br />

• Der äußere Kreis (8) betrifft die internationale<br />

Ebene mit den politischen und sozioökonomischen<br />

Bedingungen (Strauss & Corbin<br />

1990), d. h. die politischen Praktiken, die Werte,<br />

die Philosophien und die internationalen<br />

Probleme (Strauss 1993).<br />

• Daran schließt sich die nationale Ebene an<br />

(7). Sie betrifft die nationalen politischen Praktiken<br />

und Verfahren, Kultur und Geschichte,<br />

Werte, ökonomische Faktoren, Themen und<br />

Probleme.<br />

• Auf Ebene 6 werden die regionale Sozialwelt<br />

und deren milieuweltlichen Eigenheiten behandelt.<br />

• Die Ebene 5 betrifft Institutionen und Organisationen<br />

sowie ihre Untergliederungen, ihre<br />

Strukturen, Regeln und Probleme sowie deren<br />

Geschichte. Für das Untersuchungsfeld der<br />

Jugendhilfe ist die einschlägige Erhebungseinheit<br />

der Stadt- oder Landkreis.<br />

• Auf der Ebene 4 geht es um die Gruppen<br />

und kleinen Gemeinschaften, die sich in der<br />

sozialen Welt der Kinder- und Jugendhilfe herausbilden.<br />

Beleuchtet werden die Biographien,<br />

alltagsweltliches und fachliches Wissen und<br />

alltagsweltliche wie auch fachliche Erfahrung<br />

der Akteure.<br />

• Die Ebene 3 betrifft die Familie mit ihren<br />

familiengeschichtlich gewachsenen Interaktions-<br />

und Kommunikationsmustern.<br />

• Fokus der Ebene 2 sind die Interaktionen.


• Im Zentrum der konditionellen Matrix (1)<br />

stehen die aktuellen strategischen und Routinehandlungen<br />

oder, allgemeiner gesprochen:<br />

die Arbeit (verstanden in dem Sinne, den<br />

Strauss diesem Begriff gibt, nämlich im pragmatistischen<br />

Sinne von Praxis).<br />

Zunächst aber werden im Forschungsprozess<br />

konditionelle Pfade rekonstruiert. Dabei wird<br />

wie folgt vorgegangen: „Man beginne mit<br />

einem Ereignis oder einem Vorfall und versuche<br />

dann, herauszufinden, warum dies auftrat,<br />

welche Bedingungen wirksam waren, wie<br />

die Bedingungen sich manifestierten und welche<br />

Konsequenzen dies hatte“ (Strauss 1993, S.<br />

62). Diese Fragen bilden in ihrem Zusammenhang<br />

das Kodierparadigma (Strauss 1994, S.<br />

56ff.), welches eine habituelle Weise darstellt,<br />

sich einem zu untersuchenden soziologischen<br />

Material zu nähern. Als nächstes sind folgende<br />

Fragen zu stellen: “Welche Ebenen der konditionellen<br />

Matrix wurden erfasst? Mit welchen<br />

Ergebnissen?” (Strauss 1993, S. 62).<br />

Ereignisse des Umbruchs erzeugen Unterbrechungen<br />

von Routinehandlungen und werden<br />

so zu initiierenden Ereignissen für das Entstehen<br />

von Neuem. Wenn Neues entsteht, dann<br />

führt dies zu Debatten und zu Konflikten.<br />

Diese ereignen sich wiederum in Arenen, die<br />

sich im Zuge dieser Konflikte herausbilden. Es<br />

sind diese Arenen, in denen soziale Ordnung<br />

etabliert und verändert wird. Sie gilt es im Forschungsprozess<br />

zu entdecken, und dies gelingt<br />

in dem Maße, in dem die Forscher mit ihrem<br />

Feld und den dortigen Interaktionen vertraut<br />

sind, d. h., dies gelingt in dem Maße, in dem sie<br />

Ethnographie (Hildenbrand 2005) betreiben.<br />

Wir haben nun die Begriffe und die Verfahren<br />

Bruno Hildenbrand<br />

bereitgestellt, mit denen wir Veränderungen<br />

der Kinder- und Jugendhilfe in Ost und West<br />

nach 1990 untersuchen. Nun wenden wir uns<br />

einem Beispiel zu, das uns zu zweierlei Zwecken<br />

dient: Einmal geht es darum, die Tauglichkeit<br />

dieses Vorgehens zu erproben und<br />

festzustellen, welche Bereiche der Analyse von<br />

Tradition, Diskontinuität und Strukturbildung<br />

in einem bestimmten Gegenstandsbereich es<br />

abdeckt. Des Weiteren wird dieses Beispiel<br />

die Grundlage für die Integration unserer<br />

Forschungsergebnisse bilden.<br />

„Beginne mit einem Ereignis oder einem Vorfall“<br />

Wir haben oben darauf hingewiesen, dass<br />

Ereignisse des Umbruchs im Unterschied zu<br />

Routineereignissen der Vorzug bei der Auswahl<br />

für Analysen gegeben werden soll, denn<br />

dort findet in besonderem Maße das statt,<br />

was Strauss processual bzw. structural ordering<br />

nennt. Nun könnte man sagen, dass man es<br />

durchweg mit Situationen des Krisenhaften<br />

bzw. der Situation von challenge & response zu<br />

tun hat, wenn der Forschungsgegenstand die<br />

Implementierung des KJHG in einem Feld<br />

ist, das mit dem Geist dieses Gesetzes und<br />

dem damit verbundenen, sich erst noch einzurichtenden<br />

Habitus partiell (Westdeutschland)<br />

bzw. überhaupt nicht (Ostdeutschland)<br />

vertraut ist, und dass deshalb jedes Ereignis<br />

im Feld für eine gewisse Zeit eine Krise<br />

konstituiert. Dies hieße allerdings,<br />

davon auszugehen, dass zwischen<br />

Krisensituationen bzw. Situationen Seite 15<br />

des challenge und Reaktionen darauf<br />

eine lineare Beziehung besteht.<br />

Wenn aber die Akteure mit den durch das<br />

KJHG erzeugten Vorgängen weder thematische,<br />

Motivations- noch Auslegungsrelevanz


Wandel in Ereignissen<br />

(Schütz 1971) verbinden, im Klartext: wenn<br />

sie das Gesetz ganz oder teilweise ignorieren<br />

(vgl. das Zitat, das Dorett Funcke ihrem Beitrag<br />

in diesem Band voranstellt), dann muss<br />

der Sachverhalt der Krise bzw. der challenge<br />

aus dem Material rekonstruiert werden, er darf<br />

nicht vorweg angenommen werden. Anders<br />

gesprochen: Ob etwas eine Krise ist bzw. sich<br />

zu einer solchen entwickelt, ereignet sich im<br />

Dreieck von: etwas (ein Ereignis) ereignet sich<br />

als etwas (krisenträchtig oder nicht, als Krise<br />

erkannt, aber abzuwehren oder nicht, etc.) für<br />

jemanden (einen mit spezifischen Interessen,<br />

d. h. Relevanzsetzungen ausgestatten Akteur<br />

bzw. Akteursgruppe). Es gilt also, nach entsprechenden<br />

Ereignissen zu suchen bzw. dafür<br />

offen zu sein, sie als einschlägige Ereignisse zu<br />

erkennen, wenn sie im Material erscheinen.<br />

Hier nun das Ereignis, das wir im Folgenden<br />

im Rahmen des von Anselm Strauss vorgeschlagenen<br />

Vorgehens analysieren werden:<br />

Im Jahr 2003 ist im Allgemeinen Sozialen<br />

Dienst (ASD), also in jener Abteilung, der<br />

u. a. der Schutz des Kindeswohls obliegt, des<br />

von uns untersuchten Thüringer Jugendamts<br />

die Stelle eines Sozialarbeiters zu besetzen.<br />

Diese Stelle soll nach Auffassung der Amtsleitung<br />

überregional ausgeschrieben werden,<br />

denn es sei nicht zu erwarten, dass im Landkreis<br />

sich geeignete Bewerberinnen oder Bewerber<br />

finden würden. Dem verweigert sich<br />

der Personalrat. Er fordert die Aus-<br />

Seite 16 schreibung der frei gewordenen Stelle<br />

innerhalb des Landratsamtes, obwohl<br />

allgemein bekannt ist, dass eine für<br />

die Stelle geeignete Person dort nicht zu finden<br />

sein würde. Zunächst kann sich der Personalrat<br />

durchsetzen. Die Stelle wird innerhalb<br />

des Landratsamts ausgeschrieben. Es meldet<br />

sich eine Köchin. Die Leiterin des Jugendamts,<br />

die wenige Jahre zuvor ihre Tätigkeit begonnen<br />

hat, nachdem zuvor Jahre der Untätigkeit im<br />

Aufbau einer fachlichen Jugendhilfe ins Land<br />

gegangen waren, weigert sich, die Bewerbung<br />

anzunehmen, woraufhin der Personalrat eine<br />

Begründung fordert. Diese wird gegeben, zentrales<br />

Argument ist die im KJHG enthaltene<br />

Forderung, die Stellen im ASD seien durch<br />

Fachpersonal zu besetzen. Die Vorsitzende<br />

des Personalrats ist jedoch der Auffassung,<br />

jede Frau, die Kinder großgezogen habe, sei<br />

in der Lage, die Tätigkeit eines Sozialarbeiters<br />

im ASD auszuführen. Damit stößt sie sogar<br />

auf Widerspruch der lokalen Gewerkschaft.<br />

„ … und versuche dann, herauszufinden, warum<br />

dies auftrat, welche Bedingungen wirksam waren,<br />

wie die Bedingungen sich manifestierten und welche<br />

Konsequenzen dies hatte“<br />

Dies sind die Fragen nach den Bedingungen,<br />

Konsequenzen, Interaktionen und Strategien, die<br />

mit einem Ereignis verbunden sind (Kodierparadigma)<br />

(Strauss 1987, S. 27-28; Strauss &<br />

Corbin 1990, S. 99ff.). Fragen wir also:<br />

Was muss geschehen, damit eine Köchin sich<br />

auf eine freie Sozialarbeiterstelle bewirbt?<br />

Dies ist die Frage nach den Bedingungen des<br />

Auftretens eines Ereignisses. Eine Möglichkeit<br />

wäre, dass die Köchin die Erfordernisse für die<br />

Tätigkeit auf der fraglichen Stelle fehlinterpretierte.<br />

Dieser Irrtum wäre leicht aufzulösen.<br />

Eine zweite Interpretation würde dahin gehen,<br />

einen seelischen Verwirrtheitszustand zu unterstellen,<br />

wie man ihn beispielsweise bei einer<br />

manisch gefärbten affektiven Störung kennt.


Diese beiden Hypothesen beziehen sich allerdings<br />

auf Handlungen von Personen und<br />

führen hier nicht weiter. Denn wenn eine Stelle<br />

intern in einer Landkreisverwaltung ausgeschrieben<br />

wird, in der es bekanntermaßen keine<br />

abkömmlichen Mitarbeiter mit der fraglichen<br />

Qualifikation gibt, handelt es sich nicht um<br />

ein persönliches, sondern um ein strukturelles<br />

Problem. Die Antwort auf die Frage nach den<br />

Bedingungen dieses Ereignisses lautet: Dieses<br />

Ereignis kann nur dann auftreten, wenn Professionalität<br />

für den Personalrat keine relevante<br />

Entscheidungsgröße darstellt.<br />

Weiterhin ist die Tatsache zu interpretieren,<br />

dass der Personalrat sich über gesetzliche<br />

Vorgaben hinwegsetzt. Wenn der Personalrat<br />

die Gesetzeslage nicht kennt, kann er darauf<br />

hingewiesen werden, und die Angelegenheit<br />

ist erledigt. Wenn der Personalrat aber die Gesetzeslage<br />

kennt, dann stellt er sich mit seinem<br />

Handeln bewusst dagegen. Dies wiederum kann<br />

in einer provokativen Haltung gegründet sein<br />

oder aber in einer Praxis, die in der fraglichen<br />

Landkreisverwaltung üblich ist. In letzterem<br />

Fall muss angenommen werden, dass diese<br />

Haltung des Personalrats in der Vergangenheit<br />

bereits erfolgreich war, mit anderen Worten:<br />

dass das Ignorieren von Gesetzen zumindest im<br />

Personalbereich in dieser Landkreisverwaltung<br />

üblich ist. Wenn dem so ist, dann muss es ein<br />

gewisses Ausmaß an Übereinkunft zwischen<br />

dem Personalrat und der Landkreisverwaltung<br />

geben. Möglicherweise besitzt der Personalrat<br />

in dieser Verwaltung eine Machtstellung derart,<br />

dass die Landkreisverwaltung die Kosten<br />

eines Gesetzesverstoßes niedriger einschätzt als<br />

die einer Konfrontation mit dem Personalrat.<br />

Eine weitere Interpretation ginge dahin, dass<br />

der Personalrat mit seinem Veto bewusst einen<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Konflikt inszeniert, um im Verhältnis zur<br />

Amtsleiterin die Machtfrage zu stellen. Diese<br />

Interpretationen führen zu zwei Hypothesen:<br />

(1) Die Amtsleiterin agiert in einem Feld, in<br />

welchem Rechtssicherheit nicht gegeben ist; (2) sie<br />

befindet sich in einem Machtkampf.<br />

Die nächste Frage bezieht sich darauf, wie diese<br />

Bedingungen sich manifestieren. Nachdem<br />

der Personalrat wiederholt in einem ausführlichen<br />

Briefwechsel seine Position vorgetragen<br />

hat, eine externe Ausschreibung nicht zu akzeptieren,<br />

und die Amtsleiterin nicht gewillt<br />

ist, von ihrer (gesetzeskonformen) Position<br />

abzurücken, beantragt der Personalrat eine<br />

Organisationsanalyse, die überprüfen soll, ob<br />

die ausgeschriebene Stelle überhaupt nötig<br />

ist. In anderen Worten: Zwar ignoriert der<br />

Personalrat das Gesetz, greift aber selbst<br />

zu Verfahren der Bürokratie. Dazu kommt,<br />

dass der Personalrat mit seiner Strategie, die<br />

fehlende Notwendigkeit der Stellenbesetzung<br />

nachzuweisen, den Personalinteressen zuwiderhandelt.<br />

Dafür ist er nicht gewählt worden.<br />

Auch dient es nicht den Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern des ASD, wenn diese Stellenbesetzung<br />

über viele Monate hinausgezögert<br />

wird, denn unterdessen muss die anfallende<br />

Arbeit von den Kolleginnen und Kollegen<br />

mit erledigt werden – es handelt sich, daran<br />

sei zu erinnern, u. a. um das Tätigwerden im<br />

Falle von Kindeswohlgefährdung im<br />

Speziellen und um die Unterstützung<br />

von im Erziehungsbereich in Not Seite 17<br />

geratenen Familien im Allgemeinen.<br />

Wenn also der Personalrat, wie<br />

berichtet, die Stellenbesetzung verzögert und<br />

dabei unsachliche, der Sache sogar schädliche<br />

Gründe ins Feld führt, dann gilt zusätzlich


Hypothese 3: Es handelt sich um einen Machtkampf<br />

jenseits der Grenzen der Vernünftigkeit.<br />

Wandel in Ereignissen<br />

Mit welchen Konsequenzen? Wir beziehen uns<br />

nun auf weitere Entwicklungen im Zusammenhang<br />

dieses Ereignisses. Eine neue Situation<br />

entsteht, als eine Klientin aus dem Bezirk,<br />

in dem die Stelle einer Sozialarbeiterin vakant<br />

wurde und durch den erwähnten Streit nicht<br />

wieder besetzt werden konnte, im Jugendamt<br />

selbst einen Suizidversuch unternimmt, der<br />

nur knapp scheitert. In der Folge weist die<br />

Amtleiterin „jede fachliche Verantwortung<br />

für die Fälle der Jugendhilfe“ im fraglichen<br />

Bezirk von sich. In einem weiteren Brief droht<br />

sie dem Personalrat eine Klage an, falls dieser<br />

weiterhin die externe Stellenausschreibung<br />

behindern sollte. Sie weist den Personalrat des<br />

weiteren darauf hin, dass seine Aufgabe darin<br />

bestehe, das Personal der Landkreisverwaltung<br />

in seinen Interessen gegenüber dem Arbeitgeber<br />

zu vertreten, und nicht darin, die Personalorganisation<br />

in der Landkreisverwaltung in<br />

eigener Regie zu betreiben.<br />

Die Leiterin des Jugendamts bewegt sich<br />

mit ihrer Argumentation auf der Basis der<br />

geltenden Gesetzeslage. Damit beschreitet sie,<br />

folgen wir unserer Hypothese, gegenüber bisheriger<br />

Praxis des Ignorierens von Gesetzen in<br />

dieser Landkreisverwaltung neue Wege, und<br />

zwar auf der Leitungsebene und nicht auf der<br />

Ebene alltäglicher Praxis. Dies führt<br />

zur Hypothese 4:<br />

Seite 18<br />

Der hier zu beobachtende Machtkampf<br />

ist ein Stellvertreterkampf, in welchem<br />

die Jugendamtsleiterin Belange der Landrätin<br />

vertritt. Er dient dazu, gesetzeskonforme Handlungsstrukturen<br />

im Landkreis gegen Widerstände<br />

(im vorliegenden Fall: des Personalrats) durchzusetzen.<br />

(Es sei daran erinnert, dass sich dieses<br />

Ereignis dreizehn Jahre nach der Wende und<br />

damit lange nach vollzogenem Institutionentransfer<br />

zugetragen hat).<br />

Dass die Jugendamtsleiterin einen Kurswechsel<br />

einschlägt und sich davon auch nicht abbringen<br />

lässt, als sie auf eherne informelle Machtstrukturen<br />

stößt, hat mit der Notsituation zu tun, die<br />

im Amt entstanden ist: Ohne den erwähnten<br />

Suizidversuch wäre der Fall möglicherweise<br />

anders ausgegangen.<br />

Hypothese 5: Erst in einer Notsituation wird es<br />

möglich, gegen die Praxis der Landkreisverwaltung,<br />

Gesetze zu ignorieren, zu handeln.<br />

Wir fassen die bisherige Hypothesenbildung<br />

zusammen:<br />

(1) Mangelnde Rechtssicherheit im jugendamtlichen<br />

Handeln (2) führt zu einem Machtkampf<br />

zwischen der Amtleitung und dem Personalrat,<br />

welcher (3) jenseits der Grenzen der Vernünftigkeit<br />

administrativen Handelns ausgefochten wird<br />

und (4) ein Stellvertreterkampf ist, in welchem<br />

die Jugendamtsleiterin Belange der Landrätin<br />

vertritt. Er dient dazu, gesetzeskonforme Handlungsstrukturen<br />

im Landkreis gegen Widerstände<br />

(im vorliegenden Fall: des Personalrats) durchzusetzen.<br />

Es wird (5) erst bei Anlass eines Notfalls<br />

bei einer Klientin möglich, gegen die herkömmliche<br />

Praxis der Landkreisverwaltung, Gesetze zu<br />

ignorieren, zu handeln.<br />

Wir haben damit einen Strukturbildungsprozess<br />

analysiert, bei dem bisher noch offen ist,<br />

ob er nachhaltig sein wird. Immerhin hat es das<br />

beschriebene Ereignis möglich gemacht, stell-


vertretend eine über ein Jahrzehnt betriebene<br />

Praxis der Ignoranz gegenüber einem neu eingeführten<br />

Gesetz zu konterkarieren. An dieser<br />

Stelle der Analyse ist nicht zu entscheiden,<br />

ob es sich um ein Scharmützel oder um eine<br />

Entscheidungsschlacht gehandelt hat. 6<br />

Bis zu dieser Stelle wurden in der Fallstudie<br />

alle Ebenen der konditionellen Matrix implizit<br />

berührt. Wir werden im Folgenden die einzelnen<br />

Ebenen systematisch diskutieren und auf<br />

Ebene 8 beginnen.<br />

Ebene 8 bezieht sich auf den Zusammenhang<br />

der Praktiken der Kinder- und Jugendhilfe<br />

in der Bundesrepublik Deutschland mit den<br />

Standards der Kinder- und Jugendhilfe in<br />

der westlichen Welt. In den industrialisierten<br />

Gesellschaften der westlichen Welt wie den<br />

USA, Großbritanniens und Deutschlands<br />

setzte im 20. Jahrhundert ein massiver Prozess<br />

der Professionalisierung der Sozialen Arbeit<br />

ein, dessen augenfälligstes Zeichen die Akademisierung<br />

ist. 7 Sie wurde in Westdeutschland<br />

systematisch ab den 60er Jahren betrieben. Um<br />

einen Vergleich anzuführen: In der Schweiz<br />

wurden erst in den 90er Jahren die damaligen<br />

Fachschulen zu Fachhochschulen umgewandelt.<br />

Eine Erneuerung der Kinder- und<br />

Jugendhilfe auf der Ebene der Gesetzgebung<br />

in Europa findet im Zusammenhang mit der<br />

Formulierung einer Konvention über die Rechte<br />

des Kindes im Jahre 1989 statt. In deren Präambel<br />

heißt es zum einen: „ … überzeugt, dass<br />

der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft<br />

und natürlicher Umgebung für das Wachsen<br />

und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere<br />

der Kinder, der erforderliche Schutz und<br />

Beistand gewährleistet werden sollte, damit<br />

sie ihre Aufgaben innerhalb der Gemein-<br />

Bruno Hildenbrand<br />

schaft voll erfüllen kann, in der Erkenntnis,<br />

dass das Kind zur vollen und harmonischen<br />

Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer<br />

Familie und umgeben von Glück, Liebe und<br />

Verständnis aufwachsen sollte.“ 8 Dieser Teil<br />

der Präambel stellt die herausragende Rolle<br />

der Familie beim Aufwachsen von Kindern<br />

heraus. Der folgende Teil der Präambel grenzt<br />

diese Dominanz der Familie wieder ein: „ …<br />

eingedenk dessen, dass „das Kind wegen seiner<br />

mangelnden körperlichen und geistigen Reife<br />

besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge,<br />

insbesondere eines angemessenen rechtlichen<br />

Schutzes vor und nach der Geburt, bedarf.“ 9<br />

Im ersten Teil wird der Schutz der Familie, im<br />

zweiten der Schutz des Kindes herausgestellt,<br />

und beide können zueinander in Widerspruch<br />

geraten. Dieser Widerspruch zwischen Elternrecht<br />

und Kindeswohl strukturiert u. a.<br />

das Handeln des ASD.<br />

Einschlägige Gesetze treten in England<br />

1989, in Spanien 1996, in der Bundesrepublik<br />

Deutschland 1990/91 in Kraft. Erhebliche<br />

Variationen bestehen in der Einschätzung<br />

der Frage, wie das Verhältnis zwischen Elternrecht<br />

und Kindeswohl gewichtet werden<br />

soll. Staaten aus dem Mittelmeerraum stärken<br />

eher die Familie, nördlich gelegenere Staaten<br />

stärken eher die Rechte des Kindes und haben<br />

weniger Skrupel als die südlicher gelegenen<br />

Staaten, Familiengrenzen zu überschreiten.<br />

Franz-Xaver Kaufmann arbeitet mit<br />

Bezug auf Esping-Andersen heraus,<br />

dass eine spezifisch moderne „Wohl- Seite 19<br />

fahrtsproduktion“ nur in Nord-,<br />

West- und Mitteleuropa entwickelt<br />

wurde, nicht aber in Südeuropa, wo das Modell<br />

des Familialismus (vgl. exemplarisch Lepsius<br />

1965) nach wie vor eine Rolle spielt. Während


Wandel in Ereignissen<br />

südeuropäische Gesellschaften in traditionaler,<br />

wenngleich zunehmend mit schwächerer Legitimation<br />

ausgestatteten Weise soziale Hilfe<br />

über die Zugehörigkeit zu Haushalten und<br />

Gemeinschaften regeln, die ihrerseits einen<br />

eindeutigen Platz in der Gesellschaftsordnung<br />

haben, ist es eine zwangsläufige Folge des Modernisierungsprozesses,<br />

dass die Teilhabe an<br />

sozialstaatlichen Leistungen universalistisch<br />

und als Gewährleistung individueller Rechte,<br />

auch von Kindern gegenüber ihren Eltern,<br />

geregelt ist (Kaufmann 2003, S. 41ff.). 10<br />

Im Unterschied zu den Entwicklungen in<br />

der westlichen Welt beobachten wir in der<br />

Deutschen Demokratischen Republik einen<br />

gegenläufigen Trend. Während die Kinder-<br />

und Jugendhilfe im Westen ab den 80er<br />

Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erfährt<br />

– nicht zufällig, sondern unter dem Eindruck<br />

spezifischer, auf das Kindes- und Jugendalter<br />

bezogener Probleme – wird in der DDR die<br />

Auffassung vertreten, dass auf lange Sicht die<br />

Kinder- und Jugendhilfe entfalle. Denn ihre<br />

Grundlagen, die spezifischen Probleme von<br />

Kindern und Jugendlichen, seien mit dem<br />

Verschwinden des Kapitalismus und parallelem<br />

Voranschreiten des Sozialismus nicht<br />

mehr gegeben.<br />

Der Konflikt zwischen der Jugendamtsleiterin<br />

und dem Personalrat in unserem Beispiel der<br />

Einstellung einer Köchin auf eine<br />

Sozialarbeiterstelle im Allgemeinen<br />

Seite 20 Sozialen Dienst des Jugendamts<br />

reflektiert somit den Konflikt zwischen<br />

zwei politischen Systemen, von<br />

denen eines im Jahre 1990 aufgehört hat zu<br />

existieren, während das andere versucht, durch<br />

entsprechende Institutionenbildung Fuß zu<br />

fassen. Unser Beispiel aus dem Jahr 2003 zeigt,<br />

dass dies auch noch 13 Jahre nach der Wende<br />

keinesfalls selbstverständlich ist. Wir haben<br />

es hier mit einem lang andauernden Transformationsproblem<br />

zu tun. Dieses Problem ist auf<br />

der Ebene der Habitusformation verankert.<br />

Damit liegt es auf der Ebene der Umsetzung<br />

des Geists des KJHG in professionelle Handlungs-<br />

und Deutungsmuster, die als solche<br />

routinehaft im fachlichen Alltag verankert sind<br />

und präreflexiv wirksam werden. Entsprechend<br />

schwer wiegt dieses Problem in Bezug auf den<br />

Transformationsprozess.<br />

Von hier aus fassen wir nun die Ebene 7 ins<br />

Auge, das ist die nationale Ebene mit ihrer<br />

Gesetzgebung, Kultur, Geschichte und ökonomischen<br />

Rahmenbedingungen in Bezug auf<br />

das Herangehen an die Probleme von Kindern<br />

und Jugendlichen. Nicht nur die frühere DDR,<br />

auch die alte Bundesrepublik Deutschland war<br />

von einer gesetzlichen Neubestimmung im Jahr<br />

1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, betroffen.<br />

Diese Neubestimmung geht einher mit<br />

einem Wechsel im Paradigma der Kinder- und<br />

Jugendhilfe, der dem Geist der auf internationaler<br />

Ebene (Ebene 8) eingeleiteten Neuorientierung<br />

entspricht. Vor 1990 war die Logik<br />

der Kinder- und Jugendhilfe paternalistisch,<br />

und zwar sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland.<br />

Verantwortliche der Kinder- und<br />

Jugendhilfe arbeiteten nicht mit den Klienten<br />

(Kindern, Jugendlichen und ihren Familien),<br />

sondern für sie. Der Unterschied zwischen<br />

beiden Landesteilen vor 1990 ist folgender:<br />

Im Westen entzieht die seit den 60er Jahren<br />

einsetzende Professionalisierung einem paternalistischen<br />

Klientenverhältnis (zumindest<br />

partiell) zunehmend die Grundlage. Im Osten<br />

verschwindet die Kinder- und Jugendhilfe auf-


grund politischer Grundsatzentscheidungen<br />

(siehe oben: der entwickelte Sozialismus<br />

benötigt keine Kinder- und Jugendhilfe) in<br />

einer Nische, in welcher vorwiegend fachlich<br />

auf ihre spezifische Aufgabe nicht vorbereitete<br />

Personen ihres Amtes walten. Aufgabe des Jugendamtes<br />

im westlichen Verständnis ist es, mit<br />

den Klienten zusammen in einer spezifischen<br />

Notlage geeignete Hilfen zur Erziehung zu<br />

finden und dabei über die geeignete, vor allem<br />

auch rechtliche Expertise im jeweiligen Fall<br />

zu verfügen. Des Weiteren wird erwartet, dass<br />

sie den Einzelfall im Kontext allgemeinen<br />

wissenschaftlichen Wissens einschätzen. Dafür<br />

bedarf es eines fachlichen Zugangs. Die<br />

ostdeutsche Variante des Jugendamts, der Jugendhilfeausschuss<br />

als das zentrale „Organ“ der<br />

Jugendhilfe, verfügte dem gegenüber autoritär<br />

über die Hilfemaßnahmen. Dieser Ausschuss<br />

wies eine fachliche Zusammensetzung auf, die<br />

in der Regel erzieherisch geprägt war. 11 Das<br />

Strukturproblem dieser Konstruktion bestand<br />

darin, Hilfe zur Erziehung mit Erziehung<br />

selbst zu verwechseln. Gebahnt wurde dieses<br />

Strukturproblem dadurch, dass in der DDR<br />

die Jugendhilfe der Abteilung „Volksbildung“<br />

zugeordnet war. 12<br />

Wir formulieren dieses Strukturproblem<br />

nun in Termini der soziologischen Professionalisierungstheorie:<br />

Während die ärztliche<br />

Profession mit der Restrukturierung beschädigter<br />

Autonomie befasst ist, richtet sich das<br />

pädagogische Handeln auf die Erweiterung<br />

bestehender Handlungsspielräume. Gegenstand<br />

der Sozialarbeit (in der Kinder- und<br />

Jugendhilfe, andere Felder sozialarbeiterischen<br />

Handelns interessieren hier nicht) kann sowohl<br />

Intervention bei beschädigter Autonomie oder<br />

bedrohter Autonomie als auch bei nicht ausrei-<br />

Bruno Hildenbrand<br />

chend entwickelter Autonomie sein, insofern<br />

grenzt ihr Aufgabenfeld sowohl an das der<br />

Psychotherapie als auch an das der Pädagogik<br />

an. Was aber bei der Sozialarbeit im Fall der<br />

Kinder- und Jugendhilfe im Unterschied zur<br />

Psychotherapie und Pädagogik dazu kommt,<br />

ist der explizite Kontrollauftrag im Dienst<br />

des Kinderschutzes und des Kindeswohls, zu<br />

dem im neu formulierten KJHG von 1990<br />

noch der Präventionsauftrag kommt: „Das<br />

KJHG ist, im Gegensatz zum JWG als seinem<br />

Vorgänger von 1922, nach den Vorstellungen<br />

des Gesetzgebers ein präventiv orientiertes<br />

Leistungsgesetz“ (Gröschner 2004, S. 818).<br />

Aufgrund dessen kann es dazu kommen, dass<br />

Beratung, die im professionellen Handeln<br />

grundsätzlich auf einem wechselseitig zu<br />

schließenden Arbeitsbündnis beruht, mitunter<br />

in einem Zwangskontext stattfindet. Dieser<br />

Widerspruch macht nicht, wie vielfach angenommen<br />

wird, fachliches Handeln unmöglich,<br />

sondern stellt an dieses spezifische Herausforderungen<br />

Seite 21<br />

13 (Hildenbrand 2006, Bohler 2006).<br />

Dass die Sozialarbeit in Krisenfällen nicht<br />

immer diesen Herausforderungen gewachsen<br />

ist, also Fachlichkeitsdefizite aufweist, zeigt<br />

der Bremer Fall Kevin. Es handelt sich dabei<br />

um einen zweijährigen Jungen, dessen Leiche<br />

am 10. Oktober 2006 in der Wohnung seines<br />

(Zieh-)Vaters aufgefunden wurde, als er von<br />

Mitarbeitern des Jugendamts in Obhut genommen<br />

werden sollte. Der von der Bremer<br />

Bürgerschaft eingesetzte Untersuchungsausschuss<br />

kommt zu der<br />

Schlussfolgerung, dass die Kinderund<br />

Jugendhilfe aufgrund fachlicher<br />

Inkompetenz der maßgeblichen Akteure<br />

völlig versagt habe, während die finanzielle<br />

Ausstattung der Bremer Kinder- und<br />

Jugendhilfe für ein angemessenes fachliches


Wandel in Ereignissen<br />

Handeln völlig ausgereicht habe (Bremer Bürgerschaft<br />

Drucksache 16/1381, 2007, S. 310). 14<br />

Um welche fachlichen Defizite im Einzelnen<br />

es sich gehandelt hat, führt Ludwig Salgo<br />

aus: Defizite im Bereich der Diagnostik bzw.<br />

Falleinschätzung, im Bereich der Festlegung<br />

des Zeitpunkts einer Intervention, im Bereich<br />

der Interdisziplinarität und Kooperativität der<br />

Jugendhilfe bzw. der Vernetzung der Behörden<br />

bzw. Einrichtungen sowie schließlich im<br />

Bereich des Fehlermanagements (Salgo 2007,<br />

S. 2). Für unsere Thematik ist entscheidend,<br />

dass Salgo die Bremer Jugendhilfe nicht als<br />

Einzelfall betrachtet, sondern hier allgemeine<br />

Professionalisierungsdefizite der Sozialen<br />

Arbeit aufscheinen sieht: „Bremen ist überall“<br />

(Salgo 2007, S. 1).<br />

Der Fall Kevin aus Bremen ist ein Beispiel<br />

dafür, dass den Eltern zuviel an Verantwortlichkeit<br />

zugemutet wurde, während das Gegenbeispiel,<br />

dass den Eltern zuwenig an Verantwortung<br />

zugemutet und in Situationen der<br />

Kindeswohlgefährdung ein Arbeitsbündnis<br />

erst gar nicht versucht wird, eher an ostdeutschen<br />

Jugendämtern mit ihrer aus der DDR<br />

übernommen Persistenz paternalistischer<br />

Haltungen den Eltern gegenüber vorzufinden<br />

ist. 15<br />

Das in diesem Beitrag zu analysierende Beispiel<br />

der Einstellung einer Köchin im Jugendamt,<br />

um darauf zurück zu kommen,<br />

reflektiert die Struktur der Kinder-<br />

Seite 22 und Jugendhilfe zu DDR-Zeiten.<br />

Die Vorsitzende des Personalrats im<br />

untersuchten Landkreis geht noch<br />

einen Schritt hinter die DDR-Praxis zurück,<br />

die immerhin Fürsorgerinnen vorsah, wenn sie<br />

äußert: „Jede Frau, die Kinder großgezogen<br />

hat, kann die Arbeit einer Sozialarbeiterin im<br />

ASD eines Jugendamts erledigen“.<br />

Kein Wunder also, wenn in manchen ostdeutschen<br />

Jugendämtern eine Tätigkeit im<br />

Jugendamt als Ruheplatz für ausgebrannte<br />

Heimerzieherinnen angesehen und damit der<br />

Strukturfehler, das aufgrund einer fachlichen<br />

Diagnose und einer angemessenen Klientenbeziehung<br />

erfolgende Gewähren einer Hilfe<br />

zur Erziehung mit Erziehung selbst zu verwechseln,<br />

auf die Spitze getrieben wird.<br />

Wir skizzieren nun die Grundzüge der Kinder-<br />

und Jugendhilfe in der DDR, um deren bisher<br />

aufgewiesenen strukturellen Eigenheiten näher<br />

nachzugehen: Eingeschränkter Respekt vor<br />

Familiengrenzen, Entmündigung der Eltern<br />

als Erziehungsverantwortliche, geringer Grad<br />

an Fachlichkeit.<br />

Die Arbeitsfelder und Strukturen der DDR-<br />

Jugendhilfe waren bestimmt durch die Grundsätze<br />

des einheitlichen Bildungssystems, des<br />

Familienrechts und durch die Jugendpolitik<br />

(Ministerium für Volksbildung 1985, S. 13).<br />

Angelegt war die DDR-Jugendhilfe auf Unterstützung<br />

und Hilfe im Einzelfall, d.h. sie<br />

war auf den Aspekt der Krisenintervention<br />

reduziert ( Jörns 1997, S. 33), die sich praktisch<br />

auf den Kreis- und Gemeindeebenen vollzog:<br />

Hier wurde Jugendhilfearbeit durch Jugendfürsorgerinnen<br />

und Jugendhelfer in den Referaten<br />

Jugendhilfe geleistet. Mannschatz beschreibt<br />

ihre Tätigkeit als Einzelfallbearbeitung und<br />

Entscheidungsfindung mit dem Ziel, die Lebenspraxis<br />

von Kindern und Jugendlichen „im<br />

Sinne der Gewährleistung einer positiven Persönlichkeitsentwicklung“<br />

(Mannschatz 2003, S.<br />

424) zu verbessern: „Der Bezugspunkt für das


operative, entscheidungsunterlegte und koordinierte<br />

Vorgehen war jeweils ein `Individuelles<br />

Erziehungsprogramm`“, um die familiengelösten<br />

und elternlosen Kinder und Jugendlichen,<br />

wie sie im Duktus der DDR-Jugendhilfe<br />

bezeichnet wurden, in problematischen und<br />

krisenhaften Lebenssituation zu unterstützen<br />

und ihnen zu helfen. 16 Dieses Erziehungsprogramm<br />

17 „umfasste die pädagogische Zielstellung<br />

für den Einzelfall und den Komplex<br />

von Festlegungen und staatlichen Maßnahmen<br />

zu ihrer Verwirklichung“ (Mannschatz 2003,<br />

S. 424). Auf Kreis- und Bezirksebene waren<br />

Jugendfürsorger, d. h. ausgebildete Fachkräfte,<br />

tätig; die Mitglieder der Jugendhilfekommissionen<br />

in den Gemeinden, Stadtkreisen und<br />

Stadtbezirken waren ehrenamtlich als Jugendhelfer<br />

in der Jugendhilfe aktiv. 18 Sie hatten die<br />

Aufgabe, sich mit Einzelfällen im Rahmen von<br />

Rechtsmittelentscheidungen (vgl. Mannschatz<br />

1994, S. 21) zu befassen. Methodisch war die<br />

Tätigkeit der Jugendfürsorger und Jugendhelfer<br />

auf die „Organisation des gesellschaftlichen<br />

Einflusses“ ausgerichtet, das heißt, die Mitarbeiter<br />

der DDR-Jugendhilfe nahmen die „Jugendhilfe<br />

als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“<br />

wahr; sie wurden „in das Betreuungsgeschehen<br />

und in die Verantwortung einbezogen“ (Mannschatz<br />

1994, S. 22), deren vorrangige Aufgabe<br />

die Kontrollfunktion im ordnungspolitischen<br />

Kontext (Sozialismus) war.<br />

Die Jugendhilfe umfasst die rechtzeitig korrigierende<br />

Einflussnahme bei Anzeichen der<br />

sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung<br />

und Beseitigung der Vernachlässigung und<br />

Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen,<br />

die vorbeugende Bekämpfung der<br />

Jugendkriminalität, die Umerziehung von<br />

schwererziehbaren und straffälligen Minder-<br />

Bruno Hildenbrand<br />

jährigen sowie die Sorge für elternlose und<br />

familiengelöste Kinder und Jugendliche“ ( Jugendhilfe<br />

1985, S. 13), so heißt es in §1 I der<br />

Jugendhilfeverordnung der DDR vom 3. März<br />

1966. Die Jugendhilfeverordnung ( JHVO)<br />

bildet zusammen mit dem Familiengesetzbuch<br />

(FGB), der Verfassung der DDR, dem<br />

Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung die<br />

Rechtsgrundlage der DDR-Jugendhilfe. 19<br />

Der Minister für Volksbildung war für die<br />

staatliche Leitung der Jugendhilfe verantwortlich,<br />

ihm oblag die Abteilung Jugendhilfe im<br />

Ministerium für Volksbildung. Tätig wurden<br />

die „Organe“ der Jugendhilfe, „wenn die Erziehung<br />

und Entwicklung oder die Gesundheit<br />

Minderjähriger gefährdet und auch bei gesellschaftlicher<br />

und staatlicher Unterstützung<br />

der Erziehungsberechtigten nicht gesichert<br />

sind, wenn für Minderjährige niemand das<br />

elterliche Erziehungsrecht hat oder wenn sie<br />

in gesetzlich besonders bestimmten Fällen die<br />

Interessen Minderjähriger vertreten müssen“<br />

(§1 IV JHVO/Jugendhilfe 1985:13f.). In §1<br />

IV JHVO wurde der Zuständigkeitsbereich<br />

der DDR-Jugendhilfe beschrieben, deren<br />

Aufgaben von Jugendfürsorgern und Jugendhelfern<br />

wahrgenommen wurden. In Städten<br />

und Gemeinden über 1.000 Einwohnern<br />

musste eine Jugendhilfekommission ( JHK)<br />

Seite 23<br />

20<br />

gebildet werden. Die Mitarbeiter der Jugendhilfekommissionen,<br />

also die Jugendhelfer, die<br />

von den Räten der Gemeinden, Stadtkreisen<br />

oder in den Stadtbezirken von<br />

den Leitern der Referate Jugendhilfe<br />

berufen wurden und ehrenamtlich<br />

in den Jugendhilfekommissionen<br />

arbeiteten, hielten den Kontakt zu den zu betreuenden<br />

Familien im Rahmen der Jugendhilfe.<br />

Sie waren für die Betreuung der Kinder,


Wandel in Ereignissen<br />

Jugendlichen und deren Familien zuständig.<br />

Einmal im Jahr hatten sie in der Jugendhilfekommission<br />

über den Entwicklungsstand<br />

des Kindes und über die Arbeit in und mit der<br />

Familie zu berichten. Hausbesuche waren laut<br />

Verordnung regelmäßig durchzuführen und<br />

Kontakte zu den Bildungseinrichtungen zu<br />

unterhalten.<br />

Die Jugendhilfe“organe“ waren hierarchisch<br />

aufgebaut, d.h. die übergeordneten „Organe“<br />

der Jugendhilfe hatten eine anleitende Funktion<br />

gegenüber den nachgeordneten, und<br />

ihre Zuständigkeit sowie Arbeitsweise war<br />

unterschiedlichen Ebenen zuzuordnen. „Die<br />

Organe der Jugendhilfe bei den Räten der Gemeinden,<br />

Städte, Stadtbezirke bzw. Kreise und<br />

Bezirken sind den jeweiligen Räten unterstellt<br />

und ihnen rechenschaftspflichtig“ (Seidenstücker<br />

1990, S. 339). Zu den „Organen“ der<br />

Jugendhilfe gehörten (1) das Ministerium für<br />

Volksbildung, (2) die Referate Jugendhilfe bei<br />

den Räten der Bezirke, Kreise, Gemeinden bzw.<br />

Stadtbezirk, (3) die Jugendhilfekommissionen<br />

bei den Räten der Städte bzw. Stadtbezirke<br />

und Gemeinden, (4) der zentrale Jugendhilfeausschuss<br />

beim Ministerium für Volksbildung,<br />

(5) die Jugendhilfeausschüsse bei den Räten<br />

der Bezirke, Kreise, Gemeinden bzw. Stadtbezirk<br />

und (6) die Vormundschaftsräte bei<br />

den Referaten Jugendhilfe bei den Räten der<br />

Kreise bzw. Stadtkreise oder Stadtbezirke und<br />

Gemeinden (Seidenstücker 1990, S.<br />

339).<br />

Seite 24<br />

Auf der Ebene 6 geht es um den lokalen<br />

Kontext des hier zu analysierenden<br />

Ereignisses, also um den Landkreis und seine<br />

sozialgeographischen und demographischen<br />

Spezifika. Behandeln wir die Jugendhilfe im<br />

ländlichen Raum, dann sind die agrarsozialen<br />

Faktoren zu berücksichtigen, die zwar in der<br />

Vergangenheit liegen und längstens nach dem<br />

zweiten Weltkrieg verschwunden sind, aber<br />

immer noch einen beachtlichen Einfluss auf<br />

die lokalen Mentalitäten und mithin auch<br />

auf die lokalen Praktiken ausüben (Bohler &<br />

Hildenbrand 2006). Mit diesem Thema befasst<br />

sich Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler ausführlich in<br />

diesem Band, daher können wir uns hier kurz<br />

fassen:<br />

Der hier in Frage stehende Landkreis liegt am<br />

Rand des Thüringer Mittelgebirges. Agrarsozialgeschichtlich<br />

ist er gekennzeichnet durch<br />

zwei unterschiedliche, jedoch miteinander<br />

verbundene sozialgeschichtliche Muster, die<br />

typisch sind für den Westen, den Süden und<br />

das mittlere Deutschland (in den aktuellen<br />

Grenzen). In den Ebenen finden wir vor der<br />

Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in<br />

der DDR mittelgroße und große landwirtschaftliche<br />

Familienbetriebe, die von einer<br />

Generation zur anderen weitergegeben werden.<br />

Für die nichterbenden Kinder solcher Höfe bedeutet<br />

das, dass sie dazu gezwungen (oder frei)<br />

sind, sich außerhalb ihres Hofes zu orientieren.<br />

Eine mögliche Strategie (Bourdieu 1993, S.<br />

264ff.) würde – aus der Sicht eines männlichen<br />

weichenden Erben - darin bestehen, eine Hoferbin<br />

zu heiraten, als life cycle servant (Laslett<br />

& Wall 1972, Burguière & Lebrun 1997) zu<br />

arbeiten und ausreichend zu sparen, um zusammen<br />

mit einer gleichermaßen Tätigen einen<br />

Hof zu kaufen, oder die Landwirtschaft überhaupt<br />

zu verlassen und ins Dorfhandwerk bzw.<br />

in die von der sich entwickelnden Industriegesellschaft<br />

eröffneten Möglichkeiten zu wechseln.<br />

Diese Optionen fördern im Allgemeinen<br />

die Entwicklung von mentalen Strukturen der


Autonomie. In den Bergregionen und in den<br />

industrialisierten Talgebieten des untersuchten<br />

Landkreises herrschen dem gegenüber kleine<br />

Höfe und Realteilung vor, was bedeutet, dass<br />

der Hof bei Todesfall des Betriebsleiters jeweils<br />

unter deren Kinder aufgeteilt wird. Dadurch<br />

werden spezifische Heiratsstrategien erforderlich,<br />

um zu einem lebensfähigen Hof zu gelangen.<br />

Eine andere Strategie bestünde darin,<br />

Nebenerwerbslandwirtschaft mit einer außerlandwirtschaftlichen<br />

Tätigkeit zu kombinieren.<br />

Auch in den Realteilungsgebieten fördert die<br />

ländliche Sozialstruktur die Herausbildung<br />

von mentalen Strukturen, die durch Autonomieorientierung<br />

geprägt sind. 21 Gebiete mit<br />

kleinen Höfen entwickeln sich tendenziell zu<br />

Gewerbelandschaften und zur Ausprägung<br />

entsprechender Mentalitäten und Fertigkeiten.<br />

In Deutschland sind diese Gegenden für ihre<br />

technologischen Innovationen (z. B. Glas- und<br />

Uhrenindustrie, Feinmechanik, Elektronik<br />

im Thüringer Wald und im Schwarzwald)<br />

bekannt. Eine nicht-fachliche Orientierung,<br />

die typisch ist für die DDR-Jugendhilfe und<br />

die noch im Jahr 2003, wie das Beispiel zeigt,<br />

im untersuchten Landkreis dominant ist, steht<br />

demnach in einem scharfen Widerspruch zu<br />

den tradierten lokalen Mentalitäten.<br />

Hier können wir zurückkehren zu der Bemerkung<br />

von Anselm Strauss, dass eine<br />

interaktionistische Handlungstheorie „Kontingenzen<br />

und Handlung mit den langsamer<br />

sich bewegenden, stabileren Elementen einer<br />

sozialen Umgebung, die manchmal vor vielen<br />

Generationen geschaffen und aufrechterhalten<br />

wurden“ (Strauss 1993, S. 261) nicht übersehen<br />

dürfe. Stabilere Elemente finden wir in dreierlei<br />

Hinsicht (Matthiesen 1994, S. 103, Sewell<br />

1993, S. 22-24):<br />

Bruno Hildenbrand<br />

• Zunächst die elementaren Strukturen, die<br />

gegeben und nicht zu ändern sind, selbst wenn<br />

die Akteure mit ihnen strategisch umgehen.<br />

Ein Beispiel wäre die elementare Struktur<br />

von Reziprozität (Mead 1969, Schütz 1971a,<br />

Mauss 1968); ein anderes das Inzest-Tabu<br />

(Lévi-Strauss 1981).<br />

• Es folgen die regionalen Strukturen, die<br />

einen anhaltenden Einfluss innerhalb eines<br />

nationalen Territoriums wie auch innerhalb<br />

sozialer Milieus haben. Diese haben wir hier<br />

behandelt in Bezug auf die regionalhistorisch<br />

unterschiedlichen Agrarstrukturen, die<br />

hinsichtlich ihrer Prägung autonomer Handlungs-<br />

und Mentalitätsmuster differieren.<br />

• Schließlich geht es um Handlungssysteme<br />

in einem konkreten Fall, der durch spezifische<br />

Strukturen seiner Akteure ( Jugendamt, Landkreisverwaltung,<br />

Personalrat) charakterisiert<br />

ist. An dieser Stelle kommt das Konzept<br />

des Trajekts ins Spiel, denn auf der Ebene<br />

des individuellen Falls lösen Handlungen<br />

Strukturierungsprozesse aus, die ihrerseits den<br />

Rahmen für künftige Handlungs- und Strukturierungsprozesse<br />

bilden. Anders gesprochen:<br />

In Ereignissen werden Trajekte geformt.<br />

Aber auch die langsamer sich bewegenden<br />

Elemente einer Gesellschaft können nicht<br />

einfach vorausgesetzt werden. Wir betrachten<br />

sie als einen Rahmen, der relevant sein kann,<br />

aber nicht muss. Daher haben sie in der Forschung<br />

den Status einer Hypothese.<br />

In unserem Forschungsprojekt haben<br />

wir zum Beispiel angenommen,<br />

dass in gutswirtschaftlich geprägten<br />

Seite 25<br />

Regionen Mentalitätsstrukturen befördert<br />

werden, die auf Heteronomie ausgelegt sind.<br />

Diese gründen u. a. in einer unterschiedlich


Wandel in Ereignissen<br />

ausgeprägten Grenze zwischen Familie und<br />

Öffentlichkeit. In den ehemaligen Gutsbezirken<br />

liegt die Grenze innerhalb der Familie,<br />

daher kommt es hier schon früh zu sozialen<br />

Hilfen. In den stärker autonomieorientierten<br />

Gebieten liegt diese Grenze außerhalb der<br />

Familie, aufkommende Probleme werden so<br />

lange wie möglich nach außen verschwiegen<br />

und innen zu lösen versucht. Entsprechend<br />

kommt soziale Hilfe oft zu spät, und die<br />

ergriffenen Maßnahmen sind massiv (z. B.<br />

Vorrang auf stationären Hilfen). Wir haben<br />

nun dem entsprechend angenommen, dass die<br />

Zahl der Fälle der Kinder- und Jugendhilfe in<br />

ehemaligen Gutslandschaften größer ist als in<br />

den Gewerbelandschaften und ehemals vollbäuerlichen<br />

Gebieten mit ihrer Autonomieorientierung.<br />

Die Auszählung eines Jahrgangs<br />

von Fällen der Kinder- und Jugendhilfe bestätigte<br />

dies: Auf Rügen werden 2,9 % der Kinder<br />

unter 18 Jahren zu Klienten der Jugendhilfe,<br />

im Thüringer Landkreis sind dies 1,55 %, also<br />

fast die Hälfte davon. 22<br />

Auf der Ebene 5 geht es um die Strukturen,<br />

Regelungen und Geschichte der jeweiligen<br />

Organisation und ihrer Untergliederungen. In<br />

Deutschland ist die Kinder- und Jugendhilfe<br />

auf Landkreisebene angesiedelt. Sozialarbeiter<br />

gehen ihren entsprechenden Aufgaben<br />

im Rahmen des ASD, Allgemeiner Sozialer<br />

Dienst des Jugendamts, nach. Der Aufbau<br />

dieser Institutionen ist zwingend.<br />

Fallspezifisch für den von uns un-<br />

Seite 26 tersuchten und hier diskutierten<br />

Landkreis ist die Diskontinuität in<br />

der Amtsleitung, d. h. hinsichtlich der<br />

maßgeblichen Akteure der Transformation<br />

(vgl. Beitrag von Dorett Funcke in diesem<br />

Band). 1994 wurde dieser Landkreis aus zwei<br />

bestehenden Kreisen zusammengefügt. In dem<br />

einen der beiden Altkreise gab es zwischen<br />

1990 und 1994 zwei Amtsleiter, im anderen<br />

drei. Der im letztgenannten Landkreis amtierende<br />

Amtsleiter wird 1995 Amtsleiter des<br />

neu gebildeten Kreises, dazwischen amtiert für<br />

sieben Monate ein anderer, der in der Liste<br />

der zwischen 1990 und 1994 amtierenden<br />

Amtsleiter in den Altkreisen nicht erschienen<br />

ist. Die Stelle bleibt im Jahr 1995 für sechs<br />

Monate unbesetzt, bis der neue Amtsleiter für<br />

beide Kreise zuständig wird. Er bleibt dies mit<br />

zwei Unterbrechungen bis zum 14.2.2000. Seit<br />

dem 15.11.2000 (nach einer weiteren neunmonatigen<br />

Vakanz) amtiert die Amtsleiterin,<br />

die in unserem Köchinnen-Beispiel eine der<br />

maßgeblichen Akteurinnen ist. Lassen schon<br />

die häufigen Wechsel und Vakanzen in der<br />

Amtsleitung auf Diskontinuität in der Führungsposition<br />

schließen, so zeigt die Politik<br />

des Jugendamtsleiters für den neu gebildeten<br />

Kreis seit 1995 eine klare Verhinderungsstrategie<br />

bei der Ausbildung fachlicher Strukturen.<br />

Nach Auskunft der heutigen ASD-Leiterin<br />

hat er nicht nur die fachliche Weiterbildung<br />

des ASD-Personals auf bürokratische Belange<br />

reduziert, er soll sie selbst auch systematisch<br />

daran zu hindern versucht haben, sich auf eigene<br />

Kosten angemessen weiter zu bilden.<br />

Ebene 4 betrifft informelle Gruppen innerhalb<br />

und zwischen Organisationen (ASD im Jugendamt,<br />

Jugendhilfeausschuss, Arbeitsgruppen<br />

mit Mitgliedern aus der Kreisverwaltung<br />

und den freien Trägern etc.). Sie spielen im<br />

vorliegenden Beispiel keine explizit erkennbare<br />

Rolle.<br />

Auf der Ebene 3 geht es um die Biographien,<br />

Handlungs- und Deutungsmuster der Ak-


teure vor dem Hintergrund ihrer familialen<br />

Herkunft. Die hauptsächlichen Akteure in<br />

unserem Beispiel sind die Jugendamtsleiterin<br />

(vgl. Beitrag von Dorett Funcke, in diesem<br />

Band) auf der einen und die Vorsitzende des<br />

Personalrats auf der anderen Seite. Die Handlungsstrategie<br />

und das Deutungsmuster der<br />

Personalratsvorsitzenden ist deutlich: Konform<br />

mit der DDR-Praxis vertritt sie ein Konzept<br />

der Jugendhilfe, das von deren Entbehrlichkeit<br />

ausgeht. Sie selbst stammt, das sei nebenbei<br />

bemerkt, aus der DDR-Elite, hat einen medizinischen<br />

Hilfsberuf gelernt und wurde nach<br />

der Wende Pressesprecherin des ersten Landrats.<br />

Mit berufsfremder Tätigkeit kennt sie sich<br />

also aus.<br />

Das Gesetz sieht für die Tätigkeit im ASD<br />

Fachlichkeit vor, und zwar schon deshalb, weil<br />

hier Eingriffe in grundgesetzlich garantierte,<br />

unveräußerliche Rechte der Eltern sowie diagnostische<br />

und beziehungsgestalterische Kompetenzen<br />

zwingend erforderlich sind. Das hat<br />

für die Personalratsvorsitzende im Einklang<br />

mit den einschlägigen Regularien der DDR<br />

keine Bedeutung. In Übereinstimmung mit der<br />

Logik der internen betrieblichen Arbeitsmärkte,<br />

die wir aus dem Bereich Wirtschaft kennen<br />

(vgl. <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Bereich B, Beschäftigung<br />

und Arbeitsmarkt), steht für sie die Aufgabe im<br />

Vordergrund, für die Arbeitsplatzbesitzenden<br />

in ihrem Sprengel zu sorgen. Davon können sie<br />

auch nicht mahnende Worte der Gewerkschaft<br />

Verdi abhalten, nach deren Ansicht sie im vorliegenden<br />

Fall „den Bogen überspannt“ hat.<br />

Was ist, im Gegensatz dazu, die Position der<br />

Jugendamtsleiterin? Welcher biographische<br />

Hintergrund beeinflusst sie in ihrer Handlungsstrategie,<br />

die auf Konfrontation mit über-<br />

Bruno Hildenbrand<br />

kommenen DDR-Strukturen hin angelegt<br />

ist?<br />

Wenn wir uns mit solchen Fragen befassen, rekonstruieren<br />

wir die Familienbiographien der<br />

jeweiligen Akteure über mindestens drei Generationen<br />

hinweg (Hildenbrand, 2004, 2005).<br />

Wir gehen davon aus, dass Genogramme<br />

in ihrer Abfolge objektiver Daten wie Geburtsdatum,<br />

Todestag, Beruf(e), Wohnort(e),<br />

Heirat(en) das Ergebnis strukturierter Wahlen<br />

sind, die zum einen in Krisensituationen, zum<br />

zweiten im Kontext objektiver Wahlmöglichkeiten<br />

getroffen werden. Im Rahmen einer Sequenzanalyse<br />

(Oevermann 1991, Hildenbrand<br />

2005) rekonstruieren wir diese Wahlentscheidungen<br />

Schritt für Schritt, indem wir zuerst<br />

die objektiv gegebenen, rekonstruierbaren<br />

Möglichkeiten auf der Grundlage von „ontologischem“<br />

und „nomologischem“ Wissen 23<br />

bestimmen und dann erst mit den tatsächlich<br />

getroffenen Wahlen vergleichen. Auf diese<br />

Weise können wir das Muster von Autonomie<br />

bestimmen, das in Sozialisationsprozessen in<br />

einem gegebenen Familienmilieu über drei<br />

Generationen entwickelt werden konnte. In<br />

einem zweiten Schritt kann dieses aus objektiven<br />

Daten rekonstruierte Muster mit den<br />

eigenen Interpretationen der untersuchten<br />

Person verglichen werden.<br />

Die Jugendamtsleiterin aus unserem Beispiel<br />

(vgl. dazu detaillierter den Beitrag<br />

von Dorett Funcke in diesem Heft)<br />

zeigt eine Biographie, die dem auto- Seite 27<br />

nomie- und auf Fachlichkeit bezogenen<br />

Habitus dieser Region entspricht<br />

und insgesamt dem einschlägigen Deutungssystem<br />

der DDR widerspricht. 24 Wenn die<br />

Landkreisverwaltung, vertreten durch die


Wandel in Ereignissen<br />

Landrätin, im Jahr 2000 sich entschlossen hat,<br />

diese Fachfrau mit der Aufgabe der Jugendamtsleitung<br />

zu betrauen, dann wird damit der<br />

Weg zu einer Transformation der Kinder- und<br />

Jugendhilfe in diesem Landkreis geebnet.<br />

Ebenen 2 und 1. Wenn die Jugendamtsleiterin<br />

mit ihrer auf Durchsetzung neuer Handlungsmuster<br />

ausgelegten Strategie in Konflikt<br />

gerät mit den beharrenden Tendenzen der<br />

Vorsitzenden des Personalrats, dann wirken<br />

Kräfte im Hintergrund, die ihre Interaktion<br />

beeinflussen. Der interessante Punkt hier ist<br />

die Frage, wie es geschehen konnte, dass 10<br />

Jahre nach der Wende immer noch 82 % der<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD<br />

dieses Jugendamts keine angemessene fachliche<br />

Qualifikation aufweisen. 25 Allgemein<br />

gesprochen: Wie ist es möglich, dass das vom<br />

Gesetz geforderte Kriterium der Professionalität<br />

in einer öffentlichen Einrichtung, welche<br />

verpflichtet ist, in die grundgesetzlich garantierte<br />

Autonomie einer Familie einzugreifen,<br />

wenn das Kindeswohl gefährdet ist, und ggf.<br />

das Kind aus der Familie herauszuholen, missachtet<br />

werden kann? Wie kann dies über ein<br />

Jahrzehnt hinweg geschehen, ohne dass dafür<br />

ein Notstand geltend gemacht werden kann?<br />

Wo bleibt die Aufsicht durch das Landesjugendamt?<br />

Und weshalb hat sich die Weigerung<br />

der Amtsleiterin, eine Köchin einzustellen,<br />

krisenhaft entwickelt?<br />

Die provisorische Antwort auf diese<br />

Seite 28 letzte Frage lautet: weil das Beharren<br />

auf Professionalität bei der Rekrutierung<br />

einer neuen ASD-Mitarbeiterin<br />

eine neue Perspektive in die Handlungsarena<br />

einführt und dadurch die bestehende Praxis<br />

der mangelnden Fachlichkeit in Zweifel zieht.<br />

Die beschriebene, selbst erzeugte Krise hat damit<br />

die Qualität einer „Vorbotin von Wandel“<br />

(Welter-Enderlin 2003, S. 235 ff.).<br />

Dieser letzte Befund soll nun allgemeiner<br />

formuliert werden: Am exemplarischen Thema<br />

Fachlichkeit hat die Amtsleiterin einen Konflikt<br />

angestoßen und beharrlich verschärft, der<br />

schlaglichtartig die Transformationsbedürftigkeit<br />

der Kinder- und Jugendhilfe in diesem<br />

Landkreis zum öffentlichen Thema macht.<br />

Heißt das aber auch, dass nur Krisen bzw.<br />

Herausforderungen Wandel erzeugen können?<br />

Auf der Grundlage des Pragmatismus, aber<br />

auch der Evolutionstheorie, die diesem ja nicht<br />

fremd ist, wäre diese Frage mit ja zu beantworten.<br />

Aus Routine könne demnach kein Wandel<br />

entstehen. Der Unterschied bestehe nur darin,<br />

ob die Wandel erzeugenden Krisen von außen<br />

auf das jeweilige Handlungsfeld zukommen<br />

oder von internen Akteuren selbst erzeugt werden.<br />

In unserem Beispiel ist letzteres der Fall.<br />

In unseren Studien über Modernisierungsprozesse<br />

in der Landwirtschaft (Hildenbrand et al.<br />

1992, Bohler und Hildenbrand 1997, Hildenbrand<br />

2007a) konnten wir einen Typus herausarbeiten,<br />

in welchem Wandel durch Ignorieren<br />

von Krisen im Stil eines Handelns Als Ob (Vaihinger<br />

1924) herbeigeführt wird. Ehemalige<br />

Vollerwerbslandwirte des Typus „Traditionale<br />

Bauern an der Rentabilitätsgrenze“ bleiben<br />

auch nach der Reduktion des Hofes auf einen<br />

Nebenerwerbsbetrieb mental selbständige Bauern,<br />

obwohl sie längst ihr Haupteinkommen<br />

aus abhängiger Beschäftigung beziehen. Eine<br />

Generation später kann dann der Übergang<br />

auch auf der mentalen Ebene vollzogen werden.<br />

Dieses Beispiel zeigt, dass Wandel durch<br />

Bewältigung von Herausforderungen, selbst<br />

erzeugt oder von außen kommend, nur eine


von mehreren Möglichkeiten ist bzw. ein Typus<br />

neben anderen Typen sozialen Wandels ist.<br />

Unser Köchinnen-Beispiel steht dafür, dass in<br />

einem Kontext, in welchem Professionalität<br />

gefordert ist, ein weitgehend unprofessioneller<br />

Ansatz maßgeblich ist. Wir können nun eine<br />

Antwort auf jene Frage geben, die weiter oben<br />

schon gestellt wurde: Ist die mangelnde Gesetzeskonformität<br />

typisch für die Personalratsvorsitzende,<br />

oder ist sie typisch für die allgemeine<br />

Praxis der untersuchten Landkreisverwaltung? 26<br />

Handelt es sich um ein individuelles oder um<br />

ein strukturelles Problem? Wir beantworten<br />

diese Frage zugunsten der letztgenannten<br />

Option: es handelt sich um ein strukturelles<br />

Problem. Demnach ist diese Praxis nun auf der<br />

Ebene der Organisation in eine Krise geraten,<br />

sie kann nicht mehr individualisiert werden. Es<br />

geschieht somit Neues auf der Strukturebene.<br />

Wir stellen nun die Frage nach den sozialen<br />

Welten und den Arenen, innerhalb derer sich<br />

das hier erörterte Beispiel ereignet. Dabei beschränken<br />

wir uns auf einige Hinweise.<br />

In unserem Beispiel treffen zwei soziale Welten<br />

aufeinander, jene der Kinder- und Jugendhilfe<br />

und jene der Landkreisverwaltung. Zur Welt<br />

der Kinder- und Jugendhilfe gehört nicht<br />

nur das Jugendamt als Behörde, sondern dazu<br />

gehören auch die Klienten, die freien Träger<br />

der Kinder- und Jugendhilfe im Landkreis und<br />

darüber hinaus und schließlich der Jugendhilfeausschuss,<br />

welcher für die Entwicklung der<br />

Jugendhilfe im Landkreis auf der Ebene der<br />

Policy verantwortlich ist und sich mehrheitlich<br />

aus gewählten Vertretern des Kreistags zusammensetzt.<br />

Die andere soziale Welt ist die der<br />

Landkreisverwaltung mit ihren Prioritäten auf<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Finanzen, Ordnung und Personalangelegenheiten,<br />

in anderen Worten: Hier liegen die<br />

Prioritäten außerhalb des Bereichs der Kinder-<br />

und Jugendhilfe. Mit dem Streit über die<br />

Besetzung einer ASD-Stelle mit einer Köchin<br />

haben wir eine zentrale Arena erreicht, an der<br />

die beiden sozialen Welten aufeinander treffen<br />

und in der es um andere Rationalitäten geht:<br />

um jene der Kreispolitik. 27<br />

Wir gehen nun noch einen Schritt weiter<br />

und entwickeln anhand des Beispiels eines<br />

letztlich erfolglosen Versuchs, eine Köchin<br />

mit den Aufgaben einer Sozialarbeiterin in<br />

einem ASD zu betrauen, Elemente einer<br />

Theorie zu Prozessen des sozialen Wandels.<br />

Dabei handelt es sich nicht um eine formale<br />

Theorie, sondern um eine bereichsbezogene<br />

(substantive) Theorie, und sie hat, wie alle<br />

sozialwissenschaftlichen Theorien, den nicht<br />

hintergehbaren Status einer Hypothese<br />

(Glaser & Strauss 1967, S. 79-99, vgl. aber<br />

auch Weber 1988, S. 214): Des Theoretikers<br />

„soziologische Perspektive kommt niemals<br />

an ein Ende, nicht einmal, wenn er die letzte<br />

Zeile seiner Monographie schreibt“ (Glaser &<br />

Strauss 1967, S. 256).<br />

Unsere Theorie bezieht sich auf die Struktur<br />

des Prozesses eines auferlegten Wandels in<br />

Organisationen und besteht – zum jetzigen<br />

Stand der Theoriebildung in unserem Forschungsprojekt<br />

– aus folgenden<br />

Elementen:<br />

Seite 29<br />

• Die Entscheidung im untersuchten Jugendamt,<br />

nach der Wende die Praktiken<br />

der DDR teilweise beizubehalten und die vom<br />

Gesetz vorgeschriebenen organisatorischen Veränderungen<br />

zu ignorieren, führt zur Entwicklung


Wandel in Ereignissen<br />

eines stabilen Trajekts der Beharrung.<br />

• Ein Wechsel in der Leitung auf der Landkreisebene<br />

(Landrätin) führt zur Rekrutierung<br />

einer Akteurin ( Jugendamtsleiterin), die Wandel<br />

gegenüber offen ist und bereit ist, diesen Wandel<br />

zu befördern.<br />

• In einer zentralen Arena (Personalverwaltung/<br />

Personalvertretung) führt diese Maßnahme zu<br />

Folgen, die einen Konflikt auslösen. An dessen<br />

Beginn ist es jedoch nicht abzusehen, ob dieser<br />

Konflikt zu einer Veränderung des Trajekts führen<br />

wird.<br />

• Nur ein zufälliges Ereignis in Form einer<br />

Notlage (Suizidversuch einer Klientin in den<br />

Räumen des Jugendamts) leitet eine Veränderung<br />

des Trajekts ein.<br />

• Fazit: Wandel in Organisationen, im Sinne<br />

einer Veränderung der Richtung eines Trajekts,<br />

wird durch die Kombination folgender Maßnahmen<br />

hervorgebracht: a) spezifische Prozesse<br />

administrativer Praktiken anstoßen, b) zentrale<br />

Positionen mit Akteuren besetzen, die bereit sind,<br />

Wandel zu fördern und, c) sich in geeigneten Arenen<br />

in Konflikte begeben. Entscheidend ist dann<br />

noch, dass diesem Prozedere d) ein nicht planbares<br />

Ereignis zu Hilfe kommt, dessen Bewältigung darüber<br />

entscheidet, ob die eingeschlagene Richtung<br />

des Trajekts beibehalten werden kann. Wandel<br />

ist daher auch von kontingenten Bedingungen<br />

begleitet.<br />

Diese Elemente einer Theorie beziehen sich<br />

nur auf die Ebene der Organisation<br />

und ihrer Leitung und nicht auf das<br />

Seite 30 alltägliche Routinehandeln auf der<br />

operativen Ebene. Anders gesprochen:<br />

Diese Elemente einer Theorie<br />

betreffen nicht alltägliches Routinehandeln,<br />

also den Habitus professionellen Handelns,<br />

sondern deren Rahmenbedingungen. Wie<br />

aber kann Wandel so angestoßen werden, dass<br />

er auch die akteursrelevante Routineebene der<br />

Handlungs- und Deutungsmuster erreicht?<br />

Aus einem anderen Bereich als dem hier verhandelten,<br />

der Therapie, gibt es Hinweise auf<br />

eine Antwort: a) Krankheiten werden nicht<br />

nur unter dem Aspekt einer zu beseitigenden<br />

Krise, sondern auch unter dem Aspekt eines<br />

„Einbruchs in eine Stagnation des Werdens“<br />

(v. Gebsattel) verstanden, woran sich die<br />

Frage anschließt: „Wozu wird diese Krankheit<br />

einmal gut gewesen sein?“ (Blankenburg<br />

1985, 1997). Eine Krise wird demnach – wir<br />

greifen auf eine weiter vorne schon erwähnte<br />

Formel zurück - als „Vorbote von Wandel“<br />

(Welter-Enderlin 2003, S. 235ff.) betrachtet.<br />

Dieses Krisenverständnis geht auf die griechische<br />

Medizin zurück und wurde auch in<br />

den Geschichtswissenschaften rezipiert. So<br />

schreibt der Historiker Randolph Starn: „Krisensituationen<br />

wurden, neben Angelpunkten<br />

in Prozessen des Wandels, zu Momenten der<br />

Wahrheit, in denen die Bedeutsamkeit von<br />

Menschen und Ereignissen als Licht kam.“<br />

Das bedeute, so Starn weiter, dass die Griechen<br />

„von Krisen innewohnenden Möglichkeiten“<br />

gesprochen haben (Starn 1973, S. 56). b) Auf<br />

dieser Grundlage arbeiten Therapeuten auf<br />

eine exemplarische Krisenbewältigung im<br />

Verlauf der Therapie hin. c) Um diese auf der<br />

Ebene routinehafter Handlungs- und Deutungsmuster<br />

zu verankern, bieten sich mehrere<br />

Vorgehensweisen an. Eine besteht darin, in<br />

einem geschützten Rahmen so lange Krisen zu<br />

erzeugen, bis die Bewältigung sich habitualisiert<br />

hat. 28 Ein anderer Zugang besteht in den<br />

übenden Verfahren der Verhaltenstherapie. In<br />

professionellen Handlungsfeldern wie dem der<br />

Sozialarbeit im ASD würde eine mögliche Vorgehensweise<br />

darin bestehen, in regelmäßigen,


wöchentlichen Fallbesprechungen „Krisen<br />

durch Muße“ (Oevermann 2004) zu erzeugen<br />

und exemplarisch Bewältigungsstrategien zu<br />

entwickeln.<br />

Diese Elemente einer (grounded) Theorie<br />

sozialen Wandels in Organisationen sind in<br />

weiteren Schritten mittels eines Verfahrens des<br />

theoretical sampling (Glaser & Strauss 1967, S.<br />

45-77, Hildenbrand 2005, S. 65-70) zu testen.<br />

Ein maximal kontrastierender Fall ist das Jugendamt<br />

des Landkreises Rügen, in welchem<br />

unmittelbar im Anschluss an die Wende mit<br />

Professionalisierungsprozessen begonnen<br />

wurde. 29<br />

Diesem Punkt gehen wir jedoch hier nicht weiter<br />

nach, sondern beziehen unsere provisorische<br />

Theorie sozialen Wandels in Organisation<br />

auf das Basis-Modell Challenge & Response<br />

(BMC&R) (Rosa/Schmidt).<br />

Bruno Hildenbrand<br />

4. IN t e r P r e tAt I o N D I e S e r ergeBN I S S e<br />

A u F D e r gru N D l A g e D e S BAS I S-Mo D e l l S<br />

Ch A l l e N g e & reSPoNSe (hA rt M u t ro S A<br />

u N D St e F F e N SC h M I D t)<br />

Im letzten Teil dieses Beitrags geht es um die<br />

Verknüpfung unserer eigenen Theoriebildung<br />

mit dem als heuristisch angelegten Basismodell<br />

Challenge & Response (BMC&R) von<br />

Hartmut Rosa und Steffen Schmidt. Dieses<br />

Modell geht von Alltagshandelnden aus. Im<br />

Falle des Untersuchungsgegenstands Kinder-<br />

und Jugendhilfe müssen Erweiterungen<br />

vorgenommen werden, die die Komponenten<br />

gesellschaftliche Selbstbeschreibung/reflexives<br />

Selbstbild/Soziale Institutionen und Praktiken/Habitus<br />

in eine professionstheoretische<br />

Perspektive rücken.<br />

Seite 31


Seite 32<br />

KJHG:<br />

„autonom<br />

Handlungsfähi<br />

ges Subjekt<br />

als Klient“<br />

Zentrale<br />

Aufgabe<br />

B1<br />

Inst.<br />

Verfahren:<br />

z. B. Hilfeplan/<br />

Formulare<br />

Institutionelle<br />

Praktiken:<br />

Routine/ prof.<br />

Habitus<br />

B2<br />

mittels<br />

Aufgabe der Behörde:<br />

1. Akteure (JA Leitung)<br />

2. Vorgaben vom Land<br />

(Förderung von Prof.)<br />

Wandel in Ereignissen<br />

Basismodell Challenge & Response und die Systematisierung nach dem C3 Projekt<br />

Makroebene Mikroebene<br />

A<br />

Gesellschaftliche<br />

Selbstbeschreibung/<br />

Leitbilder<br />

explizit<br />

1<br />

B<br />

Soziale Institution<br />

und Praktiken<br />

implizit<br />

5<br />

2<br />

4<br />

6<br />

C<br />

Reflexives<br />

Selbstbild<br />

explizit<br />

Selbstbild des<br />

Klienten<br />

3<br />

D<br />

Habitus<br />

implizit<br />

Habitus der Klienten<br />

Prof.<br />

Handlungsmodell/<br />

Verwaltungs<br />

handeln<br />

Pers.<br />

Habitus<br />

Prof.<br />

Habitus<br />

Systemische<br />

Therapie als<br />

Begegnung


Unsere erste Aufgabe bei der Diskussion des<br />

BMC&R besteht darin, die über dieses Basismodell<br />

zu legende Professionsfolie zu erläutern.<br />

Wir beginnen mit der linken vertikalen Achse<br />

und damit mit der Makro-Ebene.<br />

Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung (Leitbilder)<br />

bezieht sich im Fall der Kinder- und<br />

Jugendhilfe auf das 1990 eingeführte neue<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das,<br />

wie erwähnt, vom autonom handlungsfähigen<br />

Klienten ausgeht. Dieser Geist ist als solcher<br />

von den professionell Handelnden der<br />

Kinder- und Jugendhilfe anzuerkennen, und<br />

es sind geeignete Institutionen zu schaffen,<br />

um ihm Geltung zu verschaffen. Diese Form<br />

gesellschaftlicher Selbstbeschreibung (eine<br />

Gesellschaft von autonomen Subjekten, deren<br />

Autonomie selbst noch in der Beschädigung<br />

anzuerkennen ist 30 ) kontrastiert explizit zum<br />

Fürsorgegedanken sowohl des Jugendwohlfahrtsgesetzes<br />

der BRD als auch den Vorgaben<br />

der DDR-Kinder- und Jugendhilfe. In den<br />

sogenannten alten Bundesländern gibt es<br />

allerdings einen Vorlauf dieser Leitbilder in<br />

Form einer seit den 60er Jahren einsetzenden<br />

Akademisierung der Sozialarbeit.<br />

Soziale Institutionen und Praktiken dienen der<br />

routinemäßigen Umsetzung gesellschaftlicher<br />

Selbstbeschreibungen in den Alltag, hier in<br />

den Alltag der Kinder- und Jugendhilfe. Diese<br />

in toto zu untersuchen ist nicht nur aufwendig,<br />

sondern auch unnötig. Es reicht, eine<br />

Untersuchung in zwei Schlüsselbereichen der<br />

Kinder- und Jugendhilfe durchzuführen: a) im<br />

Bereich „Hilfen zur Erziehung“, in welchem<br />

bei Unterstützungsbedürftigkeit von Familien<br />

in Erziehungsfragen die Beteiligung der<br />

Betroffenen in einem eigenen Paragraphen (§<br />

Bruno Hildenbrand<br />

36, Mitwirkung, Hilfeplan) geregelt wird, und<br />

b) im Bereich des Kindeswohls, wenn dieses<br />

gefährdet ist (Inobhutnahme von Kindern<br />

und Jugendlichen, Herausnahme des Kindes<br />

oder des Jugendlichen ohne Zustimmung des<br />

Personensorgeberechtigten). Beide Bereiche<br />

(weitere Kandidaten wären: Adoptions- und<br />

Pflegekinderwesen, die teils in Spezialdiensten,<br />

teils im ASD organisiert sind) machen den<br />

Schwerpunkt der Tätigkeiten des Allgemeinen<br />

Sozialen Diensts aus, wobei in den genannten<br />

Paragraphen das Grundgesetz tangiert ist, es<br />

sich also um einen Eingriff in unveräußerliche<br />

Rechte der Betroffenen handelt, der besonderer<br />

Vorkehrungen bedarf.<br />

Auf der zweiten vertikalen Achse, der<br />

Mikroebene, geht es zunächst um reflexive<br />

Selbstbilder der Akteure. Bei unserem<br />

Untersuchungsgegenstand handelt es sich<br />

wiederum um zwei Klassen von Akteuren:<br />

Klienten und Professionelle. Wir beginnen<br />

bei den Klienten. Ihnen wird im KJHG die<br />

Fähigkeit zu einem autonomen Handeln auch<br />

im Kontext von Beschädigung erwartet, dies<br />

entspricht dem gesellschaftlichen Leitbild der<br />

Autonomie. Je nach Region ist diese Fähigkeit<br />

jedoch unterschiedlich ausgeprägt (vgl. den<br />

Beitrag von Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, in diesem<br />

Band). Unsere Befunde werden bestätigt<br />

durch die Ergebnisse des Projekts C6. Dort<br />

werden individuelle und soziale Ressourcen<br />

beim Umgang mit Wandel in einen<br />

Zusammenhang mit Opportunitäten<br />

in den jeweiligen Regionen gesehen. Seite 33<br />

Allgemein lautet hier der Befund,<br />

dass ein aktiv zupackender, problemfokussierender<br />

Umgang insgesamt stärker<br />

ausgeprägt ist als problemdistanzierende<br />

Verhaltensweisen wie Aufgeben oder entla-


Wandel in Ereignissen<br />

stende Interpretationen für Misserfolg suchen<br />

(Pinquart und Silbereisen 2007). Dies weist<br />

auf eine grundlegende Übereinstimmung der<br />

beiden vertikalen Achsen auf der Mikro- und<br />

auf der Makroebene im BMC&R hin, anders<br />

gesprochen: Der autonomieorientierten<br />

Selbstbeschreibung auf der Gesellschaftsebene<br />

entspricht eine Autonomieorientierung<br />

auf der Ebene der Selbstbeschreibung der<br />

Akteure. Damit ist aber unsere Hypothese<br />

von der unterschiedlichen Ausprägung von<br />

Autonomie je nach Region noch nicht hinfällig<br />

geworden. Gemäß den Ergebnissen<br />

des Projekt C6 besteht ein größerer Zusammenhang<br />

zwischen problemfokussierender<br />

Bewältigung und positivem Befinden beim<br />

Wohnen in opportunitätsreicheren Regionen,<br />

während wandelbezogene Anforderungen<br />

schlechtes Befinden dann weniger prägen,<br />

wenn eine Person in einer opportunitätsarmen<br />

Region lebt. Soziologisch ausgedrückt: Der<br />

personenspezifische Habitus ist verankert in<br />

makrostrukturellen (regionalen) Gegebenheiten.<br />

Oder: Gesellschaftliche Leitbilder und<br />

individuelle Selbstbilder sind jeweils auf den<br />

Typus des autonom handlungsfähigen, mit<br />

sich selbst identischen Subjekts zentriert, aber<br />

dessen Ausprägung folgt makrostrukturell<br />

verankerten Varianten der historisch tradierten<br />

regionalen Gegebenheiten. 31<br />

Reflexive Selbstbilder der Professionellen. Um<br />

diese Komponente ist das BMC&R<br />

zu erweitern. Professionen sind Spe-<br />

Seite 34 zialisten der Krisenbewältigung, sie<br />

dienen nicht sich selbst, sondern der<br />

gesellschaftlichen Integration. Folgen<br />

wir dem soziologischen Konzept der Struktur<br />

professionellen Handelns (Parsons 1968,<br />

Oevermann 1996, Stichweh 1996, Welter-<br />

Enderlin & Hildenbrand 2004), dann bedeutet<br />

professionelles Handeln stellvertretende Deutung<br />

mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen<br />

für die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit<br />

des Subjekts (der Familie etc.) zu<br />

schaffen. Professionelles Handeln bedient<br />

sich dabei einer reflexiven Basis theoretischen<br />

Wissens und geeigneter Handlungsregeln. Im<br />

Zentrum steht aber das „Fallverstehen in der<br />

Begegnung“ (Welter-Enderlin & Hildenbrand<br />

2004), welches in einem langwierig zu erwerbenden<br />

professionellen Habitus verankert ist.<br />

Dieser Habitus erlaubt es dem Professionellen,<br />

in Krisensituationen gestaltsicher handeln<br />

zu können im Vertrauen darauf, dass er/sie<br />

dieses Handeln im Nachhinein, wenn die<br />

Entscheidungen gefällt sind, begründen kann.<br />

In Organisationen, deren Mitglieder Professionelle<br />

sind und deren Tätigkeit professionalisierungsbedürftig<br />

ist (z. B: Krankenhaus), werden<br />

die fachlichen Voraussetzungen standardisiert,<br />

während die konkreten Vorgehensweisen individualisiert<br />

sind. Demgegenüber werden in<br />

Organisationen mit Mitgliedern, die schwach<br />

oder gar nicht ausgebildet sind, die Verfahren<br />

(extrem: Fließband) standardisiert (Mintzberg<br />

1983).<br />

Professionelles Handeln ist derzeit auf<br />

breiter Front bedroht. An erster Stelle der<br />

Bedrohungsfaktoren ist das Vordringen einer<br />

evidence based medicine zu nennen, die sich auf<br />

Manuale statt auf ärztliche Erfahrungsbildung<br />

stützt. Sie lässt der Einzelfallentscheidung<br />

keinen Spielraum mehr lässt, anders gesprochen:<br />

professionelles Handeln kann sich im<br />

medizinischen Alltag zunehmend nur noch<br />

systemwidrig durchsetzen (vgl. dazu vor allem<br />

auch Projekt C5, Behrens).


Ein Beispiel: Würde ein Notarzt vor einem<br />

unumgehbaren Luftröhrenschnitt erst neuere<br />

evidenzbasierte medizinische Verfahren im<br />

Internet recherchieren, bevor er das Messer<br />

ansetzt, würde der Patient zwischenzeitlich<br />

sterben. Außerdem würden diese Verfahren<br />

alleine auch nichts nützen, denn die Aufgabe<br />

des Professionellen besteht darin, diese<br />

Verfahren dadurch fruchtbar zu machen, dass<br />

er sie auf den Einzelfall bezogen anwendet<br />

und mithin modifiziert. Um das individuelle<br />

Urteil kommt der Notarzt also nicht herum.<br />

Ähnlich dramatisch sind manche Situationen<br />

der Kinder- und Jugendhilfe beschaffen. Im<br />

Falle dringender Gefahr der Kindeswohlgefährdung<br />

besteht die Aufgabe darin, in das<br />

Recht der Eltern einzugreifen, ohne darüber<br />

lange diskutieren zu können, und zwar auf eine<br />

Weise, die die Beziehung zu den Eltern nicht<br />

nachhaltig verstört. Denn auf eine Handlung,<br />

die der unmittelbaren Gefahrenabwehr dient,<br />

folgt in der Regel eine Handlung, die der Hilfe<br />

zur Erziehung dient – und zwar gegebenenfalls<br />

durch dieselbe Person, den Professionellen. Ihre<br />

Aufgabe ist es, mit den Klienten selbst sowie<br />

mit den freien Trägern im Hilfeplangespräch<br />

(§ 36 KJHG) geeignete Hilfen zu finden.<br />

Unter dem Eindruck der bundesweit bekannt<br />

gewordenen Skandale in Jugendämtern quer<br />

durch die Republik bestehen, wie erwähnt,<br />

derzeit Bemühungen, das Kindeswohl besser<br />

zu sichern. In das KJHG wurde ein neuer Passus<br />

zur Konkretisierung des Schutzauftrags des<br />

Jugendamts eingefügt (§ 8a), und es werden<br />

Versuche unternommen, die Kontroll“organe“<br />

auszuweiten und neben Kindertagesstätten<br />

Hebammen und Kinderärzte einzubeziehen.<br />

Alle diese Bemühungen werden, wie am Beispiel<br />

des Notarztes gezeigt, das Problem der<br />

Bruno Hildenbrand<br />

individuellen Verantwortung des Professionellen<br />

der Kinder- und Jugendhilfe im jeweils<br />

individuellen Fall nicht beseitigen, allenfalls<br />

nützliche Hilfestellungen geben. Bedenken<br />

sind vor allem hinsichtlich der Berufsgruppen,<br />

die als „Frühwarnsysteme“ eingesetzt werden<br />

sollen, angebracht. Bei Hebammen mangelt<br />

es an Kompetenz im Erkennen und Deuten<br />

von Familienstrukturen und -interaktionen<br />

vor allem auch im Kontext ordnungsrechtlichen<br />

Vorgehens, und Hebammen wie Ärzte<br />

zerstören ihre Beziehung zu den Patienten,<br />

wenn sie sich als Seh- und Horchposten des<br />

Jugendamts einsetzen lassen.<br />

Gerade das Beispiel Kindeswohlgefährdung<br />

macht die beständige Gratwanderung der<br />

Jugendhilfe zwischen dem Elternrecht, d. h.<br />

der Wahrung der Autonomie der Familie,<br />

und dem Kindeswohl deutlich. Beide gehören<br />

zusammen, wie auch schon die Konvention<br />

zum Schutz des Kindes festgestellt hat. Diese<br />

Gratwanderung ist nicht hintergehbar, sie<br />

erfordert Fachkompetenz, die im ASD eines<br />

Jugendamts ihren Ort hat. Vom Jugendamt<br />

ist gefordert, potentielle Problemfälle in<br />

ständiger, vigilanter Wachsamkeit zu begleiten<br />

und fallbezogen auf das Kindeswohl orientiert<br />

die nötigen Entscheidungen zu treffen.<br />

Unsere eigenen Ergebnisse der Analyse des<br />

Vorgehens bei Kindeswohlgefährdung in den<br />

untersuchten Jugendämtern zeigen, dass die<br />

Haltung der vigilanten Wachsamkeit<br />

eher selten ist, während das Gewährenlassen<br />

für westdeutsche, rasche<br />

Kindesherausnahme für ostdeutsche<br />

Jugendämter typisch ist.<br />

Fahren wir fort in der Diskussion des<br />

BMC&R. Alltagsweltlich verankerter und<br />

Seite 35


Wandel in Ereignissen<br />

professioneller Habitus stehen zueinander in<br />

einem Verhältnis der Wechselwirkung. Ein<br />

heteronomieorientierter alltagsweltlicher<br />

Habitus ist mit einem professionellen Habitus<br />

inkompatibel. Kann er sich aber durchsetzen,<br />

dann deformiert er den professionellen<br />

Habitus und formt ihn in der Weise, dass<br />

die Auslegung fachlicher Anforderungen die<br />

Heteronomieseite betont. Hat jemand jedoch<br />

einen professionellen Habitus erworben,<br />

schlägt dies auf seinen persönlichen Habitus<br />

durch, auch wenn dieser zunächst eher heteronomieorientiert<br />

ist (Kohn 1981). Im Fall<br />

der Kinder- und Jugendhilfe in den von uns<br />

untersuchen Landkreisen beobachten wir im<br />

Übrigen, dass es zu einer personeninternen<br />

Konfrontation von heteronomieorientiertem<br />

persönlichen Habitus und autonomieorientiertem<br />

professionellen Habitus nicht kommt,<br />

da die jeweiligen Fachkräfte (angefangen mit<br />

den Amtsleitern) aus autonomieorientierten<br />

Milieus kommen (vgl. den Beitrag von Dorett<br />

Funcke, in diesem Band).<br />

Wir kommen nun zu den im BMC&R angelegten<br />

potentiellen Krisenkonstellationen.<br />

(1) Der Konflikt gesellschaftliche Leitbilder/<br />

soziale Institutionen und Praktiken führt zu<br />

einer institutionellen oder ideologischen Krise.<br />

In dem in diesem Beitrag verhandelten Fall<br />

der Rekrutierung einer Köchin zeigt es sich,<br />

dass ein vorgegebenes Institutionengefüge<br />

ohne die damit verbundene<br />

Seite 36 gesellschaftliche Selbstbeschreibung<br />

übernommen wurde. Dazu liegen uns<br />

weitere Belege aus den Daten vor, von<br />

denen einige genannt werden sollen (für Details<br />

verweisen wir auf künftige Publikationen<br />

aus dem Projekt C 3):<br />

• Dominanz von Heimeinweisung gegenüber<br />

weicheren, das Recht der Familie stärker<br />

sichernden Maßnahmen wie ambulante oder<br />

teilstationäre Hilfen;<br />

• parallel dazu Vernachlässigung des Aufbaus<br />

von Einrichtungen, die solche Hilfen anbieten;<br />

• Behinderung von Fortbildungsbestrebungen<br />

von mindestens einer Mitarbeiterin des ASD;<br />

minimaler Austausch nicht-fachlichen Personals<br />

durch fachliches Personal (das Verhältnis<br />

beträgt im Jahr 2002 ca. 82 % : 18 %, inzwischen<br />

kommt es allmählich zu einer Verjüngung des<br />

Personals, bei Neueinstellungen wird auf Fachlichkeit<br />

geachtet);<br />

• Austausch der Sprache in den Jugendamtsakten<br />

bei Beibehaltung des fürsorgerischkontrollorientierten<br />

Duktus in der Fallarbeit; 32<br />

• Unfähigkeit, die menschenrechtswidrige<br />

Praxis der DDR-Gerichtsbarkeit und deren<br />

Umsetzung im fürsorgerischen Handeln zu<br />

erkennen oder sich gar davon zu distanzieren.<br />

In Bezug auf die Transformation der Jugendhilfe<br />

nach der Wende und auf die Einführung<br />

des KJHG im Jahr 1990 ist also zu beobachten,<br />

dass bei einem Teil der entscheidenden<br />

lokalen Akteure im untersuchten Landkreis,<br />

der uns das Köchinnen-Beispiel geliefert hat,<br />

(incl. des unmittelbar nach der Wende aus<br />

einer ehemaligen Gutslandschaft des Westens<br />

verpflichteten zeitweiligen Sozialdezernenten<br />

und Amtsleiters),<br />

• das im KJHG sich niederschlagende gesellschaftliche<br />

Leitbild des autonom handlungsfähigen<br />

Subjekts nicht zur Kenntnis genommen<br />

wird; 33<br />

• der mit diesem Leitbild verbundene Apparat<br />

sozialer Institutionen übernommen wurde,<br />

soweit dies unvermeidlich war;


• die mit diesen Institutionen verbundenen<br />

Praktiken nur auf der Basis persönlicher Sonderleistungen<br />

realisiert werden.<br />

Der beschriebene Konflikt entsteht in diesem<br />

Landkreis, als ein neuer Akteur auf eine entscheidende<br />

Stelle berufen wird, der versucht,<br />

dem eigenen reflexiven Selbstbild und individuellem<br />

Habitus entsprechend gesellschaftliche<br />

Selbstbeschreibung und institutionelle<br />

Praxis in Einklang zu bringen.<br />

Dieser Befund einer zumindest bis 2000<br />

weitgehend verhinderten Transformation –<br />

in einer Region, die sozialhistorisch zu den<br />

autonomieorientierten Regionen zu zählen<br />

ist – kontrastiert auffällig mit den Ergebnissen<br />

des Projekts A3 (Best, Schmitt), denen zufolge<br />

ein reibungsloses Angleichen der ostdeutschen<br />

Parlamente an das parlamentarische System<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen<br />

ist. Das parlamentarische Institutionengefüge<br />

steuere das Handeln der Akteure in einem<br />

Maße, dass deren sozialer Hintergrund kaum<br />

noch eine Rolle spiele. Dieser Befund, der<br />

allerdings nichts über den Habitus der parlamentarischen<br />

Akteure aussagt, ist für uns von<br />

besonderem Interesse, weil sowohl politisches<br />

als auch sozialarbeiterisches Handeln ein<br />

professionalisierungsbedürftiges Handeln ist.<br />

Warum trotz dieser Gemeinsamkeit erhebliche<br />

Unterschiede herrschen, ist hier die entscheidende<br />

Frage. Anders formuliert: Weshalb<br />

gelingt der Institutionentransfer auf der parlamentarischen<br />

Ebene der Länder, nicht aber<br />

auf der Ebene des Jugendamts? Eine mögliche<br />

Antwort besteht darin, dass parlamentarische<br />

Vorgänge von einer aufmerksamen Öffentlichkeit<br />

verfolgt werden, während die Kinder- und<br />

Jugendhilfe sich schon zu DDR-Zeiten in<br />

Bruno Hildenbrand<br />

einer Nische befand und öffentlicher Aufmerksamkeit<br />

entzogen war. Erst im Notfall<br />

(und auch dann nur kurzzeitig) erreicht sie<br />

das Licht der Öffentlichkeit. Des Weiteren<br />

ist die Rekrutierung von Sachverstand auf der<br />

Landesebene leichter zu bewerkstelligen als<br />

auf der kommunalen Ebene. Schließlich war<br />

der Aufbau der Länder eine Gemeinschaftsaufgabe,<br />

während bei der Neugestaltung<br />

der Kinder- und Jugendhilfe jedes Land<br />

seine eigenen Wege gehen konnte. Thüringen<br />

z. B. setzte auf den Generationenaustausch<br />

und vernachlässigte dadurch die Nachqualifikation,<br />

nicht bedenkend, dass die<br />

vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

nicht einfach entlassen werden können.<br />

(2) Der Konflikt gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen<br />

mit reflexiven Selbstbildern führt<br />

zur Legitimationskrise. Ob dieser Konflikt zu<br />

einem challenge wird, welcher einen response<br />

nach sich zieht, hängt von den Relevanzstrukturen<br />

(Alfred Schütz 1971) der Akteure<br />

ab. Es müsste sich in unseren Beispielen um<br />

einen internen Konflikt bei Menschen handeln,<br />

für die der Widerspruch ihrer reflexiven<br />

Grundlagen, die noch dem Geist der DDR-<br />

Gesellschaft verpflichtet sind, mit dem Selbstverständnis<br />

einer bürgerlich-demokratischen<br />

Gesellschaft offenbar und zum Problem wird.<br />

Dies würde aber bedingen, dass man sich mit<br />

diesen anders als defensiv auseinandersetzt,<br />

also offen überkommene Wertemu-<br />

ster der DDR gegen diejenigen der<br />

Bundesrepublik Deutschland nach<br />

der Wende verteidigt.<br />

Ein solcher Fall ist uns noch nicht begegnet.<br />

Erst durch die Amtsleiterin, die sich im Fall<br />

der Köchin auf die Grundlage des Gesetzes<br />

Seite 37


Seite 38<br />

Wandel in Ereignissen<br />

beruft, wird dieser Konflikt zum challenge.<br />

Darüber hinaus ist die Frage, für wen eine<br />

Legitimationskrise entsteht. In dem hier<br />

diskutierten Beispiel der (am Ende gescheiterten)<br />

Einstellung einer Köchin sind es zwei<br />

maßgebliche Akteure, die Landrätin und die<br />

Jugendamtsleiterin, für die gesellschaftliche<br />

Selbstbeschreibung und reflexives Selbstbild<br />

als fachliche Akteure im Einklang stehen.<br />

Damit geraten sie aber in Widerspruch zu<br />

Akteuren, bei denen beides zueinander in<br />

Widerspruch steht. Weil dieser Widerspruch<br />

aber nicht offen thematisiert, sondern tabuisiert<br />

wird, findet er nur im politischen<br />

Machtkampf eine Lösung. Dieser, so erscheint<br />

es derzeit, wird zugunsten derjenigen Akteure<br />

ausgehen, die bisher als Verhinderer von Wandel<br />

aufgetreten sind. Die beiden Agentinnen<br />

des Wandels hingegen haben entweder bereits<br />

das Feld geräumt oder werden es vermutlich<br />

räumen müssen.<br />

(3) Konflikt des reflexiven Selbstbildes mit dem<br />

Habitus des Professionellen: Identitätskrise.<br />

Es müsste in unseren Beispielen um einen<br />

Konflikt gehen, bei dem reflexiv im Westen<br />

angekommene Personen mit ihren Gewohnheitsmustern<br />

eines fachlichen und alltäglichen<br />

Handelns in einen Konflikt geraten. Auch<br />

einen solchen Konflikt konnten wir bisher als<br />

explizit formulierten nicht feststellen.<br />

(Die unter 2) und 3) beschriebenen<br />

Konflikte bedürfen demnach noch<br />

weiterer sorgfältiger Untersuchung<br />

im Material).<br />

(4) Der Konflikt des individuellen Habitus mit<br />

den sozialen Institutionen und Praktiken führt<br />

zu klinischer Pathologie und zu deviantem Ver-<br />

halten. Hier scheint es sich um den Konflikt<br />

mit der größten Tragweite zu handeln. Denn<br />

während es sich bei den (aus der Sicht der<br />

Akteure) durch kognitive Dissonanz zwischen<br />

reflexivem Selbstbild und Praxis erzeugten<br />

Widersprüchen um solche handelt, die durch<br />

Umdeutungen still zu stellen sind, greifen<br />

Widersprüche zwischen impliziten Praktiken<br />

und Habitusformationen der sozialen Institution<br />

unmittelbar in die individuelle habituelle<br />

Akteursorganisation ein. So lässt sich die (theoretisch<br />

abgeleitete) Hypothese von klinischer<br />

Pathologie bzw. deviantem Verhalten erklären.<br />

Auch hier sind wieder beide Perspektiven, die<br />

individuelle und die der institutionellen Praxis,<br />

getrennt zu behandeln:<br />

Individuelle Perspektive: Scheitert der Versuch,<br />

eine individuelle Professionalisierung im Kontext<br />

einer aus der DDR übernommenen Praxis<br />

zu realisieren, und fehlt es an Möglichkeiten,<br />

dieses Scheitern öffentlich zu diskutieren, weil<br />

der Sachverhalt nicht thematisiert, mehr noch:<br />

tabuisiert ist, dann führt der Weg direkt in<br />

eine Selbstzuschreibung des Scheiterns oder<br />

in Verzweiflung. Wir kennen den Fall eines als<br />

Sozialarbeiter im ASD beschäftigten Lehrers.<br />

Er fiel durch meist gelungene Versuche auf,<br />

mit eigenen, jedoch nicht fachlich fundierten<br />

Mitteln seinen Aufgaben gerecht zu werden.<br />

Jedoch sah er sich als gescheitert an, geriet in<br />

eine persönliche Krise und wurde schließlich<br />

an eine andere Stelle innerhalb der Landkreisverwaltung<br />

versetzt.<br />

Allerdings halten wir es für problematisch,<br />

eine 1:1-Relation bzw. eine Kausalbeziehung<br />

zwischen Stressor und Reaktion anzunehmen.<br />

Dies entspricht nicht dem Stand der Stress-<br />

Coping-Forschung (Hill Rice, 2005). Nimmt


man eine solche Relation an, werden Umstände,<br />

die geeignet sind, die entsprechenden Stressoren<br />

abzufedern, z. B. individuelle oder kollektive<br />

Deutungen, individuelle oder kollektive<br />

Ressourcen, übersehen (Welter-Enderlin &<br />

Hildenbrand 2006). Wir plädieren hier dafür,<br />

statt von einer kausalen Beziehung von einem<br />

Rahmen i. S. Goffmans zu sprechen, welcher<br />

Scheitern oder Verzweiflung dann begünstigt,<br />

wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen.<br />

Zu bestimmen ist dann fallbezogen, was<br />

denn solche Alternativen (gewesen) wären. 34<br />

Die Perspektive der institutionellen Praxis: Wird<br />

die institutionelle Praxis in Übereinstimmung<br />

mit der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung<br />

gebracht, folgt dem aber der Habitus<br />

der Akteure nicht, und kann dies nicht offen<br />

angesprochen werden (z. B. wegen der o. e.<br />

Tabuisierung), dann führt dies dazu, dass der<br />

betreffende ASD diese Personen (aus falsch<br />

verstandener Loyalität) mitschleppt, notfalls<br />

bis zur Berentung. Auch kann dies die Entwicklung<br />

einer erheblichen Erkrankung nach<br />

sich ziehen und die Berentung beschleunigen.<br />

Für beide möglichen Verläufe haben wir Anhaltspunkte<br />

aus unserem Material. Die Kosten<br />

dafür tragen jeweils die Klienten. Die fachlichen<br />

Akteure verfügen allerdings notfalls über<br />

ein einfaches Erklärungsmuster, um sich bzw.<br />

ihre Organisation zu entlasten: Sie führen das<br />

Scheitern jugendamtlicher Interventionen auf<br />

die „Unfähigkeit“ der Klienten zurück und<br />

lokalisieren die Verantwortlichkeit für das<br />

Scheitern außerhalb ihres Einflussbereichs.<br />

(5) Der Konflikt zwischen reflexivem Selbstbild<br />

und sozialen Institutionen und Praktiken führt<br />

zur Entfremdung und/oder zum Zerfall der<br />

Institutionen. In den von uns beobachteten<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Jugendämtern unabhängig von der Ost-West-<br />

Differenzierung gibt es eine Reihe von Mitarbeitern,<br />

die den hier zu behandelnden Konflikt<br />

„aussitzen“. Dies wird vor allem dadurch<br />

möglich, dass die Einführung einer KJHGkompatiblen<br />

institutionellen Praxis bisher nur<br />

mehr oder weniger fragmentarisch gelungen<br />

ist. Ein Beispiel dafür ist, dass der Hilfeplan<br />

als das Kernstück der KJHG-Reform außer in<br />

Modellprojekten ausgewählter Jugendämter<br />

als Instrument der Betroffenenbeteiligung<br />

kaum umgesetzt ist. In dem Maße, in dem es<br />

in der Führung und auf der operativen Ebene<br />

Mitarbeiter gibt, die versuchen, überkommene<br />

institutionelle Praktiken zu tolerieren, werden<br />

die „Aussitzer“ nicht zu einem Problem.<br />

Sicherheit gibt auch der Umstand, dass Jugendämter<br />

nicht einfach geschlossen werden<br />

können, und schließlich steht die Kinder- und<br />

Jugendhilfe nicht im Zentrum der Kreispolitik.<br />

Ein Zerfall der Institution ist daher nicht<br />

zu erwarten, was schon daran zu erkennen<br />

ist, dass überregional in die Schlagzeilen gekommene<br />

und durch Gutachten im Detail in<br />

ihrer Inkompetenz bloßgestellte Jugendämter<br />

immer noch bestehen (Bremen), und, wie erwähnt:<br />

„Bremen ist überall“. Anders ist der<br />

Fall der Wirtschaft, in der der Markt über<br />

den Bestand eines Unternehmens entscheidet<br />

(oder aber die Subventionspolitik, wie z. B. in<br />

der Landwirtschaft).<br />

Der ASD im untersuchten Thüringer<br />

Jugendamt wird in Zukunft ein interessanter<br />

Fall sein, weil wir es hier Seite 39<br />

– wie das Köchinnen-Beispiel zeigt<br />

– mit zentralen Akteurinnen zu tun<br />

haben, die sich darum bemühen, gesellschaftliche<br />

Leitbilder, Praktiken sozialer Institutionen<br />

und reflexive Selbstbilder sowie Habitus


Wandel in Ereignissen<br />

in Einklang zu bringen und es ihnen zudem<br />

immer mehr gelingt, den Mitarbeiterstamm<br />

entsprechend umzubauen. Ob diese Strategie<br />

auch nach Ausscheiden der wesentlichen<br />

Akteurinnen des Wandels (vgl. Anmerkung 5)<br />

weiter trägt - anders formuliert: ob es bereits<br />

gelungen ist, den Wandel auf der Mitarbeiter-<br />

Ebene zu verankern - wird die Zukunft zeigen.<br />

(6) Unvereinbarkeit der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung<br />

mit reflexiven Selbstbildern führt<br />

zu politischem Terror. Diesen Fall konnten wir<br />

bisher in unserem Projekt nicht beobachten.<br />

Gedankenexperimentell müsste es sich um<br />

einen Landkreis handeln, bei dem alle Akteure<br />

offensiv dem DDR-Denken verhaftet sind<br />

und den Aufbau eines institutionellen Gefüges<br />

der Kinder- und Jugendhilfe systematisch<br />

hintertreiben.<br />

Als Beispiel außerhalb unseres Datenkorpus<br />

können wir den Fall Görgülü vs. Jugendamt<br />

Weißenfels, Sachsen-Anhalt, anführen. „Der<br />

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />

(EGMR) rügte am 26. Februar 2004 den<br />

Eingriff der Behörden in das Familienleben<br />

und sprach Herrn Görgülü Schadensersatz<br />

zu“ (DIJuF S. 4). Das Naumburger Tagblatt<br />

spricht am 14.07.2004 von „Staatlichem<br />

Kindesraub - Naumburger Gericht schert<br />

sich nicht um Straßburger Urteil“. Derzeit<br />

(7/2007) unternimmt die fragliche<br />

Pflegefamilie, unterstützt vom Ver-<br />

Seite 40 band der Pflegefamilien (PFAD),<br />

neue Versuche, dem Vater den Kontakt<br />

zu seinem Kind zu verwehren.<br />

Es wäre die Aufgabe des Jugendamts gewesen,<br />

diese Pflegefamilie, deren Ziel die Adoption<br />

des Kindes war, von ihrer Aufgabe zu entbin-<br />

den und eine Pflegefamilie zu beauftragen, die<br />

bereit ist, das Pflegeverhältnis gesetzeskonform<br />

zu gestalten.<br />

Zu politischem Terror würde der Fall Görgülü<br />

führen, wenn sich ein offener Kampf um die<br />

gesetzlichen Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens<br />

außerhalb der parlamentarischen<br />

Demokratie entwickeln würde, anders gesprochen:<br />

wenn sich Gruppen organisieren<br />

würden, die dem KJHG den Kampf unter<br />

Inanspruchnahme außergesetzlicher Gewalt<br />

unter Berufung auf übergesetzlichen Notstand<br />

ansagen. 35 Die Kinder- und Jugendhilfe dürfte<br />

jedoch kaum ein geeignetes Handlungsfeld für<br />

solche Aktionen bieten. Zynisch und pointiert<br />

gesprochen: Die Kinder- und Jugendhilfe in<br />

Ostdeutschland ist auf der praktischen Ebene<br />

noch so sehr vom Geist der DDR-Fürsorge<br />

geprägt, die Vertreterinnen und Vertreter<br />

BRD-kompatibler Selbstbeschreibungen sind<br />

noch derart in der Verteidigung aus einer<br />

Minderheitenposition heraus, dass es keinen<br />

Handlungsbedarf für derlei Aktionen gibt.<br />

Wir kommen zum Schluss: Im bisher vorliegenden<br />

BMC&R sind die vier Ebenen<br />

durch unterschiedliche Geschwindigkeiten<br />

gekennzeichnet. Während sich die Ebene der<br />

reflexiven Leitbilder sowohl auf der Makro- als<br />

auch auf der Mikroebene relativ rasch entwickeln<br />

kann, unterliegt die Ebene der institutionellen<br />

Praktiken bzw. der Habitusformierung<br />

auf angemessener kultureller Grundlage einem<br />

Prozesscharakter der langen Dauer, sowohl im<br />

Bereich alltäglichen wie auch professionellen<br />

Handelns. In dieser Dissonanz sehen wir die<br />

größten Einflussfaktoren für die Gestaltung<br />

von Prozessen von challenge & response. Ihr<br />

gilt unser vorrangiges Interesse bei der Analyse


von Veränderungen der Kinder- und Jugendhilfe<br />

in Ost und West nach 1990.<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Seite 41


Seite 42<br />

Endnoten<br />

Wandel in Ereignissen<br />

1 An diesem Beitrag haben Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, Anna Engelstädter,<br />

Tobias Franzheld, Dorett Funcke und Anja Schierbaum<br />

mitgearbeitet. Für Anregungen danken wir Hartmut Rosa und<br />

Steffen Schmidt.<br />

2 Diese ersten beiden Kapitel basieren auf meinem Beitrag im<br />

Handbook of Grounded Theory (2007) und wurden für die<br />

Zwecke dieses Aufsatzes aktualisiert.<br />

3 Wer Strauss nur über die deutsche Rezeption der Grounded<br />

Theory kennt, wird sich über diese Seite der Grounded Theory<br />

wundern. Vgl. die Kontroverse Strübing/Hildenbrand, Sozialer<br />

Sinn 2006.<br />

4 Demzufolge ist ein ethnographischer Zugang mit Beobachtungen<br />

von Handlungsverläufen und Rekonstruktion von<br />

Handlungsverläufen anhand von Dokumenten die Methode<br />

der Wahl. Die exklusive Verwendung von Material, das auf<br />

Fragebögen gestützt ist, halten wir für problematisch, weil dadurch<br />

die Analyse von Handeln durch die Analyse von Reden<br />

über Handeln ersetzt wird (Cicourel 1970). Diese Daten, als<br />

Gaben („data donation“) empfangen, sind mit der entsprechenden<br />

Vorsicht zu behandeln, zumal, wenn die – strukturell<br />

verpflichtende – Gegengabe konzeptuell bei der Empfängerseite<br />

nicht vorgesehen ist.<br />

5 Der Fokus auf Nichtfachlichkeit war allerdings keine Spezialität<br />

der Kinder- und Jugendhilfe in der DDR. Zu erinnern sei<br />

an die Neulehrer. Eindrückliche Belege für das Laienhandeln in<br />

der Rechtsprechung gibt die Studie eines vollständigen Gerichtsarchivs<br />

einer DDR-Kleinstadt: „Wenn ich die Akten richtig lese,<br />

sehen die Lüritzer Richter dieser Jahre (der Anfangsjahre der<br />

DDR, B. H.) sich selbst nicht in erster Linie als Juristen (die<br />

sie in begrenztem Maße auch nur sind), sondern als Handlanger<br />

einer neuen Zeit“ (Markovits 2006, S. 33). Familienrichter<br />

„tendieren dazu, die Klienten der Justiz nicht als autonome Bürger<br />

zu behandeln, sondern als Patienten“ (Markovits<br />

2006, S. 106).<br />

6 Die Amtsleiterin wird Mitte 2007 ihre Tätigkeit<br />

aufgeben und eine Professur für Sozialarbeit antreten.<br />

Ihrem eigenen Bekunden zufolge ist die Schlacht um die<br />

Bildung neuer Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe<br />

im fraglichen Landkreis noch nicht geschlagen; deren weiterer<br />

Gang hängt von politischen Entwicklungen in den kommenden<br />

Jahren ab, insbesondere von der Wiederwahl der derzeit amtierenden<br />

Landrätin, die aufgrund der gegebenen politischen Kon-<br />

stellationen fraglich ist. Auch hier ist die Personalratsvorsitzende<br />

wieder beteiligt, sie wirft der Landrätin Führungsschwäche vor<br />

und arbeitet nach Ansicht der Amtsleiterin zusammen mit der<br />

lokalen CDU auf deren Abwahl hin. Diese Koalition deutet eher<br />

auf eine Gefährdung der im Jugendamt seit der Amtszeit der<br />

Jugendamtsleiterin erzielten Fortschritte hin.<br />

7 Professionalisierung geht in der Akademisierung nicht auf,<br />

jedoch gehört letztere zwingend dazu. Vgl. für eine ausführliche<br />

Diskussion der Professionalisierungstheorie in Bezug auf beraterische<br />

und therapeutische Handlungsfelder Welter-Enderlin &<br />

Hildenbrand (2004), Kap. 1.<br />

8 Zitiert nach der amtlichen Übersetzung, hier: www.tdh.de/<br />

content/themen/schwerpunkte/kinderrechte/kinderrechtskonvention.htm#a1<br />

9 Vgl. Fußnote 8.<br />

10 Hier sei an Srubars Arbeit über den vormodernen Charakter<br />

des real existierenden Sozialismus erinnert. Vgl. Srubar (1991).<br />

11 Der Jugendhilfeausschuss I im Stadtbezirk Nord in Magdeburg<br />

setzte sich 1980 zusammen aus einer Fürsorgerin, einer Lehrerin<br />

und einem Lehrer, zugeordnet waren in einem spezifischen<br />

Fall: eine weitere Lehrerin, der FDJ-Sekretär der Klasse, die<br />

Vertreterin des Betriebs der Mutter, ein Schulpsychologe und eine<br />

Jugendfürsorgerin. Diese Gruppe legte autoritär eine spezifische<br />

Hilfe (meist: Heimeinweisung) fest (Quelle: Aktenauszug, aus<br />

Anonymisierungsgründen nicht weiter belegt).<br />

12 In Großbritannien wurde dieser Strukturfehler jüngst wiederholt,<br />

als die Kinder- und Jugendhilfe vom Department of<br />

Health in das Department of Education verlagert wurde. Ein<br />

genauer Kenner der Szene, Roger Bullick von der Dartington<br />

Social Research Unit zur Erforschung kindlicher Entwicklung im<br />

Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, beschreibt den Unterschied<br />

so: Im Gesundheitswesen bestehe eine grundsätzliche Sympathie<br />

für Kinder in Not, während sich das Erziehungswesen vor allem<br />

mit den Schülern an der Spitze der Leistungshierarchie befasse<br />

(pers. Mitteilung).<br />

13 Schütze nennt dies „besondere Schwierigkeiten“ (Schütze<br />

1996). Damit ist der Weg in einen Erleidensdiskurs vorgezeichnet,<br />

anders gesprochen: Die Profession wird in eine Opferrolle<br />

gedrängt. Uns interessiert dem gegenüber, wie die Sozialarbeit,<br />

ähnlich wie die Medizin, die mitunter ebenfalls in Zwangskontexten<br />

(Forensik, Gesundheitsamt) tätig werden muss (Brücher<br />

1988), sich zwischen Hilfe und Kontrolle fachlich angemessen zu<br />

organisieren.


14 Zu einer anderen Einschätzung kommt Ute Backer (2007, S.<br />

283ff.), die auf finanzielle Kürzungen im Bereich der Kinder-<br />

und Jugendhilfe des Landes Bremen verweist.<br />

15 Dr. Peter Voll, Hochschule für Soziale Arbeit Luzern, teilt uns<br />

mit, dass in der Schweiz ein entsprechender Unterschied zwischen<br />

dem deutschsprachigen Landesteil und dem französischsprachigen<br />

Landesteil besteht. Dem wird nach Erscheinen seines<br />

umfassenden Untersuchungsberichts über den Kinderschutz für<br />

den Schweizer Nationalfonds (NRP 52, Childhood, Youth and<br />

Intergenerational Relationships) nachzugehen sein. Derzeit liegt<br />

uns nur eine nicht zitierfähige Kurzfassung vor.<br />

16 Die „Organe“ und Einrichtungen der Jugendhilfe haben<br />

die Ansprüche zu erfüllen, „elternlosen, familiengelösten sowie<br />

gefährdeten Kindern und Jugendlichen günstige Bedingungen<br />

für ihre bestmögliche Persönlichkeitsentwicklung zu sichern“<br />

(Rehwald 1989, S. 81).<br />

17 Als pädagogisches Ziel galt die Ausarbeitung eines „individuellen<br />

Erziehungsprogramms“ für jeden Einzelfall, dass von<br />

den Mitgliedern der Jugendhilfekommissionen zu erarbeiten<br />

war („Richtlinie Nr.2 des Zentralen Jugendhilfeausschusses<br />

zur Sicherung einer zielstrebigen und kontinuierlichen Entscheidungstätigkeit<br />

der Jugendhilfeorgane in den Fällen des §50<br />

FGB auf der Grundlage individueller Erziehungsprogramme“,<br />

vgl. Mannschatz 1969, S. 274f.; Jugendhilfe 1985, S. 36f.).<br />

Das individuelle Erziehungsprogramm „steht nicht neben der<br />

Entscheidungstätigkeit, sondern dient ihr als Hauptsteuerungsinstrument.<br />

(…) Das individuelle Erziehungsprogramm<br />

umfasst die pädagogische Zielstellung für den Einzelfall und<br />

den Komplex von Festlegungen und staatlichen Maßnahmen zu<br />

ihrer Verwirklichung. Es ist kollektiv zu erarbeiten, entsprechend<br />

den sich verändernden Bedingungen fortzuschreiben, in seiner<br />

Durchführung zu verfolgen und zu kontrollieren“ (Mannschatz<br />

1969, S. 269).<br />

18 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die Jugendhelfer, werden<br />

als Bürger beschrieben, „die sich für diese Tätigkeit interessierten<br />

und bereit waren, sich dafür zu engagieren. Sie erhielten keine<br />

Vergütung und übten diese Funktion (…) über viele Jahre aus“<br />

(Mannschatz 2003, S. 424). Bezeichnend ist für Jugendhelfer,<br />

die von den ausgebildeten Jugendfürsorgern angeleitet wurden,<br />

dass ihre Kompetenz in der Jugendhilfearbeit der DDR als Laienkompetenz<br />

und Laienwissen gründet.<br />

19 Aufgaben, Zuständigkeit und Arbeitsweise der Jugendhilfeorgane<br />

wurden ausschließlich durch die Jugendhilfeverordnung<br />

( JHVO) geregelt: Erziehungshilfe, Vormundschaft und der<br />

Rechtsschutz für Kinder und Jugendliche waren in der JHVO als<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Aufgabengebiete der Jugendhilfe formuliert. Erziehungshilfen<br />

konnten durch den Jugendhilfeausschuss angeordnet werden<br />

(Maßnahmen zur Sicherung der Erziehung oder der Gesundheit<br />

Minderjähriger §23 JHVO/Jugendhilfe 1985, S. 19). Um Kindern<br />

und Jugendlichen in problematischen Lebenssituationen zu<br />

helfen und diese zu unterstützen, konnten durch Beschlüsse des<br />

Jugendhilfeausschusses den Erziehungsberechtigten bestimmte<br />

Pflichten auferlegt werden (§§23, 27 I JHVO), den Minderjährigen<br />

Weisungen erteilt werden, die Erziehungsaufsicht<br />

für den Minderjährigen arrangiert werden (§24 JHVO), für<br />

ein Kind bzw. Jugendlichen Familienerziehung (§25 JHVO)<br />

in einer anderen Familie oder Heimerziehung (§26 JHVO)<br />

angeordnet werden.<br />

20 Die Jugendhilfekommission war ein „Organ“ der Jugendhilfe<br />

in den Gemeinden, kreisangehörigen Städten und den Wohngebieten<br />

der Stadtkreise und Stadtbezirke (§11 JHVO), deren<br />

Zuständigkeit durch §12 JHVO und Maßnahmen durch §13<br />

JHVO formuliert und rechtlich festgeschrieben wurde (vgl.<br />

Jugendhilfe 1985:16).<br />

21 Im Unterschied dazu herrschen im nördlichen bzw. nordöstlichen<br />

Teil Deutschlands (von Ostholstein bis Vorpommern, vgl.<br />

Landkarte in Bohler & Hildenbrand 2006) gutslandschaftliche<br />

Strukturen vor. Dort sind die Landarbeiter, Pächter etc. in ihrer<br />

Lebensplanung von der Gutsherrschaft abhängig. Dies fördert<br />

die Entwicklung mentaler Strukturen, die geprägt sind durch<br />

die Erfahrung von Heteronomie, wenn es darum geht, die<br />

Verantwortung für das eigene Leben zu entwickeln.<br />

22 In der DDR waren im Schnitt 1 % der unter 18jährigen<br />

Klienten der Kinder- und Jugendhilfe (Seidenstücker 1990).<br />

Wir teilen diese Zahl mit, ohne von ihr überzeugt zu sein, denn<br />

wir kennen nicht die Vorgaben des Berichtswesens in der Nische<br />

der DDR-Kinder- und Jugendhilfe. Von unserem Vergleich<br />

handausgezählter Daten mit den Daten der offiziellen Jugendhilfestatistik<br />

der Bundesrepublik Deutschland (Dortmunder<br />

Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik) wissen wir,<br />

dass auch ausgeklügelte Systeme fehlerbehaftet sein können.<br />

23 “Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur<br />

‘historischen Situation’ gehörigen ‚Tatsachen’<br />

(‚ontologisches’ Wissen), anderseits (…) Wissen<br />

von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, wie<br />

Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren<br />

pflegen (‚nomologisches Wissen’)“, vgl. Weber 1988,<br />

S. 276f.<br />

24 Alle vier der von uns untersuchten leitenden Akteure der<br />

Kinder- und Jugendhilfe weisen in ihrer Herkunftsgeschichte<br />

eine Selbständigkeitstradition auf, die von Frauen (!) aufrechterhalten<br />

wurde.<br />

Seite 43


Seite 44<br />

Wandel in Ereignissen<br />

25 Es ist undenkbar, dass die Stelle eines Amtsarztes nach dem<br />

Muster: Jeder, der schon einmal einen grippalen Infekt erfolgreich<br />

behandelt hat, ist in der Lage, eine Operation am offenen Herzen<br />

durchzuführen, besetzt würde. Die sich hier anschließende Frage<br />

nach dem Verhältnis der „alten“ Profession Medizin zu der „neuen“<br />

(schwachen, weichen, Semi-, bescheidenen, oder wie immer<br />

die Etikette lautet, die Professionalisierungsforscher für die<br />

Sozialarbeit in der Vergangenheit erfunden haben (Nagel 1997,<br />

Schütze 1996, Rabe-Kleberg 1996), soll hier nicht behandelt<br />

werden. Wir gehen insgesamt davon aus, dass die Sozialarbeit in<br />

der Kinder- und Jugendhilfe professionalisierungsbedürftig und<br />

zugleich professionalisierungsfähig ist (vgl. zu dieser Unterscheidung<br />

Oevermann 1996).<br />

26 Folgen wir dem Juristen Salgo, dann ist die Irrelevanz von<br />

Gesetzen für die Institutionenbildung und für das Handeln in<br />

deutschen Jugendämtern der Regelfall. Vgl. das Zitat von Dorett<br />

Funcke am Beginn ihres Beitrags in diesem Band.<br />

27 Vgl. dazu die Graphik in Bohler (2006, S. 15).<br />

28 Wir verfügen aus dem Bereich der Drogen- und Psychosentherapie<br />

über mehrjährige Verlaufsprotokolle, die solche Prozesse<br />

rekonstruierbar machen. Vgl. Equal-Projekt des Europäischen<br />

Sozialfonds „Verbesserung berufsfördernder Integration durch<br />

Information und Kommunikation“, Leiter: Bruno Hildenbrand.<br />

29 Die Ergebnisse dieses Vergleichs werden wir an anderer Stelle<br />

publizieren. Erste Hinweise finden sich in den Beiträgen von<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler und Dorett Funcke in diesem Band.<br />

30 Hier geht es um den Zentralwert Freiheit. Meinungsforscher<br />

beobachten in den letzten Jahren, dass Gleichheit, die in der<br />

ehemaligen DDR immer höher bewertet wurde als Freiheit, nun<br />

auch in der alten Bundesrepublik die Freiheit überholt. Bei der<br />

Entscheidung zwischen „möglichst wenig Eingriffe des Staates“<br />

und „möglichst große soziale Gerechtigkeit“ plädierten 1990 65<br />

% der Westdeutschen und 46 % der Ostdeutschen für Freiheit, 22<br />

% bzw. 42 % für Gleichheit. Im Jahr 2006 plädierten 43 % der<br />

Westdeutschen und 31 % der Ostdeutschen für Freiheit<br />

und 48 % bzw. 59 % für Gleichheit. Die Einheit<br />

kommt voran, aber in anderer Richtung, als viele in<br />

Ost und West sich das 1989 vorgestellt haben. Quelle:<br />

Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen.<br />

31 Wir untersuchen derzeit unter Bezug auf das Material von<br />

C6, ob folgende Gleichungen stimmen: opportunitätsreiche Regionen<br />

= Anerben- und Gewerbelandschaften; opportunitätsarme<br />

Regionen = Gutslandschaften. Vgl. dazu den Beitrag von Karl<br />

<strong>Friedrich</strong> Bohler in diesem Band.<br />

32 Als Beispiele hierfür dienen uns Äußerungen altgedienter<br />

Fürsorgerinnen bzw. heute Sozialarbeiterinnen im Rahmen<br />

von Interviews zum § 249 StGB der DDR, dem sog. Asozialenparagraphen,<br />

in welchen über dessen Vollzug neutral<br />

berichtet, der Paragraph selber aber nicht in den Kontext der<br />

heutigen Rechtsauffassung gestellt wird. In der Fassung vom<br />

28. Juni 1979 lautet dieser Paragraph: „Beeinträchtigung der<br />

öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten.<br />

(1) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder<br />

die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem<br />

er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl<br />

er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung,<br />

Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.<br />

(2) Ebenso wird bestraft, wer der Prostitution nachgeht oder<br />

in sonstiger Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch<br />

eine asoziale Lebensweise beeinträchtigt. (3) In leichteren Fällen<br />

kann von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />

abgesehen und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht<br />

erkannt werden. (4) 1988 aufgehoben. (5) Zusätzlich kann auf<br />

Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht<br />

erkannt werden.“ Weiteres Beispiel: der ebenso<br />

unkommentiert bleibende Umgang mit Kindern nach gelungener<br />

oder gescheiterter „Republikflucht“. Der einzige kritische Kommentar<br />

in diesen Interviews bezieht sich auf das KJHG(!).<br />

33 Als Fazit ihrer empirischen Studie über die Folgen der Kindschaftsrechtsreform<br />

für das jugendamtliche Handeln stellt Nina<br />

Oelkers fest: „Der Zuwachs an Freiheit und Autonomie (…)<br />

erweist sich als fremdbestimmte oder erzwungene Autonomie<br />

(…) Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit<br />

wird vorausgesetzt“ (Oelkers 2007, S. 409) (Hervorh. i. O.).<br />

Was in dieser Studie fehlt, ist ein angemessenes, d. h. dialektisches<br />

Konzept „beschädigter Autonomie“, in welchem die Selbstbestimmung<br />

nicht einfach als Gegenstück zur Fremdbestimmung<br />

angesetzt wird.<br />

34 Soziologen neigen zu solchen 1:1.Relationen, weil ihnen<br />

das klinische Wissen und damit die Fähigkeit der umfassenden<br />

Einordnung eines Krankheitsgeschehens in eine psychische und<br />

soziale Organisation einer Biographie fehlt. Anders gesprochen:<br />

Fernab sozialer Wirklichkeiten lassen sich leicht weitreichende<br />

Diagnosen stellen, was aber mangels Patient zum Glück folgenlos<br />

bleibt.


35 Der ehemalige Marburger Oberbürgermeisterkandidat der<br />

PDS/Marburger Linke, Pit Metz, hat jüngst Vorabmeldungen<br />

über eine mögliche gerichtliche Einschätzung in einem Verfahren<br />

wegen der Straßenblockade einiger Marburger Studenten als<br />

Protest gegen Studiengebühren wie folgt kommentiert: „Gefängnisstrafe<br />

für Protestierer? Das kann doch nicht wahr sein, dass der<br />

zivile Ungehorsam gegen einen offensichtlichen Verfassungsbruch<br />

so geahndet wird“ (OP 27.7.2007). Dies wäre ein Beispiel für<br />

ein mögliches Konfliktfeld, das hier relevant sein könnte, wenn<br />

auch ein harmloses. Aufschlussreich daran ist die Bereitschaft,<br />

das hohe Gut des staatlichen Gewaltmonopols je nach politischer<br />

Opportunität zur Disposition zu stellen.<br />

Bruno Hildenbrand<br />

Seite 45


Seite 46<br />

Beitrag 2<br />

So z I o g r A P h I S C h e AN A ly S e D e r<br />

S o z I A l e N eN t w I C k l u N g IN D e N<br />

u N t e r S u C h t e N kr e I S g e B I e t e N<br />

he I D e N h e I M, oS t h o l S t e I N, rü g e N<br />

u N D SA A l F e l D-ru D o l S tA D t<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Soziographische Analyse<br />

1. üB e r S I C h t<br />

2. DIe V I e r kr e I S g e B I e t e IN S o z I A l S t r u k-<br />

t u r e l l e r u N D M e N tA l I t ä t S g e S C h I C h t l I C h e r<br />

SI C h t:<br />

Fo l g e N D e r P o l I t I S C h e N Sy S t e M D I F F e r e N z<br />

V o N 1945 B I S 1990<br />

ko N t r A S t I e r u N g z w e I e r ty P e N V o N lA N D-<br />

g e B I e t e N<br />

3. Au S w I r k u N g e N V o N r e g I o N A l e N oPPort<br />

u N I t ä t S S t r u k t u r e N A u F D I e ju g e N D h I l F e:<br />

re g I o N A l e re S S o u r C e N l A g e N, FA M I l I e N-<br />

F o r M e N u N D er z I e h u N g S S t I l e<br />

Au S w I r k u N g e N A u F D e N Be D A r F A N S o z I-<br />

A l e N hI l F e N IN D e N V I e r uN t e r S u C h u N g S-<br />

g e B I e t e N<br />

4. er g e B N I S S e D e r Be F r A g u N g V o N Pr o j e k t<br />

C 6 u N D I h r e IN t e r P r e tAt I o N IM rA h M e N<br />

D e S er k e N N t N I S I N t e r e S S e S V o N C 3<br />

1. üB e r S I C h t<br />

Die soziologische Analyse, die sich<br />

methodisch an der Grounded Theory<br />

und der Bedingungsmatrix von<br />

A. Strauss orientiert, beginnt mit der Untersuchung<br />

einer social world, wie Bruno Hildenbrand<br />

oben ausgeführt hat. Die soziographischen<br />

Darstellungen des folgenden Kapitels<br />

haben in diesem Kontext deshalb den Sinn, den<br />

sozialräumlichen Bedingungsrahmen professionellen<br />

Handelns in der Jugendhilfe unserer<br />

Untersuchungsgebiete in einigen wichtigen<br />

Dimensionen zu explizieren. Es geht also um<br />

die sozialen Einbettungsverhältnisse 1 dieses<br />

Handlungskreises, wie sie insbesondere in den


ersten drei Ebenen unserer konditionellen Matrix<br />

thematisiert werden – d.h. der internationalen<br />

Systemebene, der Ebene der nationalen<br />

Vergesellschaftung sowie der regionalen und<br />

lokalen Charakteristika der Sozialwelt. Die<br />

Herausforderungen des Systemumbruchs in<br />

Ostdeutschland und die Herausforderungen<br />

des KJHG für die Jugendhilfe im wiedervereinigten<br />

Deutschland werfen zu allererst die<br />

Frage auf nach den sozialökonomischen und<br />

kulturellen Ressourcen, die in den einzelnen<br />

untersuchten Regionen für die Bewältigung<br />

dieser challenges aktiviert werden können.<br />

Um dieser Frage nach sozialen Ressourcen<br />

nachgehen zu können, so unsere These, ist<br />

zum einen die Rekonstruktion idealtypischer<br />

partikularweltlicher Kollektivbiographien mit<br />

ihren sozialhistorischen Verlaufskurven und<br />

zum anderen der Nachweis milieuspezifischer<br />

Konstitutionsbedingungen der sozialen Identitätsmuster<br />

und Handlungstypik notwendig<br />

(Bohler 2004). Denn nur mit Bezug auf die<br />

Dimensionen der sozialen Konstitution und<br />

Handlungsmotivierung lassen sich die Krisen<br />

und Problemlösungen in den konkreten Fällen<br />

der Kinder- und Jugendhilfe angemessen – und<br />

nicht in einem schlechten Sinne abstrakt – interpretieren<br />

(Schumann 2004). Für die Frage<br />

nach den Beziehungen zwischen strukturellen<br />

Ausgangslagen der Lebensbedingungen und<br />

konkreten subjektiven Lebenslagen gewinnt<br />

schließlich die vermittelnde Ebene der regionalen<br />

und milieuspezifischen Lebenswelten<br />

eine entscheidende Bedeutung (Vester et<br />

al. 2001). Sie wirkt gleichsam als Filter oder<br />

Verstärker bei den Auswirkungen struktureller<br />

Lebensbedingungen auf die Lebenspraxis einzelner<br />

Akteure oder Akteursgruppen, die vor<br />

allem auf der Ebene 4 der Bedingungsmatrix<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

analysiert werden.<br />

Damit treten für unseren soziographischen<br />

Untersuchungsteil drei Ebenen der sozialen<br />

Praxis bzw. unserer konditionellen Matrix in<br />

den Vordergrund:<br />

• Die Ebene der regionalen Teilhabe an der<br />

Abfolge der drei Sozialstrukturformationen:<br />

Agrar-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft<br />

sowie des Sonderfalls der politischen<br />

Teilung von 1945 bis 1990 (Ebene 7 und 8 der<br />

Bedingungsmatrix);<br />

• die Ebene der Milieus mit ihren Wertemustern,<br />

dem jeweiligen kulturellen Anregungspotential<br />

und dem durchschnittlichen sozialen<br />

und ökonomischen Kapital (Ebene 6 der<br />

konditionellen Matrix);<br />

• und auf der individuellen Ebene mit Bezug<br />

auf die sozialen und demographischen<br />

Charakteristika die Frage nach dem Maß<br />

an lebens- und arbeitsweltlicher Integration<br />

(Ebene 3 und 6 der Bedingungsmatrix).<br />

Angesichts dieser Vorgaben ist es eine erste<br />

Aufgabe unseres Kreisvergleichs, die<br />

sozialstrukturellen/-historischen und mentalitätsgeschichtlichen<br />

Daten mit Blick auf<br />

die regionalen Konstitutionsbedingungen der<br />

(potentiellen) Klienten von Jugendhilfe hin<br />

zusammenzustellen und zu analysieren. Wir<br />

fragen dann im Weiteren, mit welchen Deutungsformeln<br />

und welcher Handlungstypik<br />

üblicherweise im Alltag<br />

soziale Probleme wahrgenommen Seite 47<br />

und anerkannt werden bzw. mit welchem<br />

Arsenal an Hilfemöglichkeiten<br />

die jeweilige regionale Lebenswelt auf solche<br />

Schwierigkeiten reagiert.


Soziographische Analyse<br />

2. DIe V I e r kr e I S g e B I e t e IN S o z I A l S t r u kt<br />

u r e l l e r u N D M e N tA l I t ä t S g e S C h I C h t-<br />

l I C h e r SI C h t<br />

Wir werden unter dieser Perspektive im Folgenden<br />

zunächst den kollektivbiographischen<br />

Durchschnitts- oder Gesamthabitus (so die<br />

Formulierungen bei Max Weber) in den von<br />

uns untersuchten ländlichen Kreisgebieten<br />

rekonstruieren, wie er vom Lebensduktus<br />

der historischen Agrarverfassung und einer<br />

möglichen gewerblichen Entwicklung in der<br />

jeweiligen Region hervorgebracht und geprägt<br />

wird. Da sich die regionale Sozialwelt gemäß<br />

des jeweils herrschenden Systems sozialer Ungleichheit<br />

ausdifferenziert, können bestimmte<br />

wiederkehrende Muster an Lebenschancen<br />

festgestellt werden, die einen im engeren<br />

Sinne milieutypischen Habitus hervorbringen.<br />

Mit der Sinnlogik seiner Deutungs- und Wertemuster<br />

ist dieser ein zentraler Bestimmungsfaktor<br />

der Handlungsorientierung.<br />

Um die habitualisierte milieuspezifische<br />

Handlungsorientierung zu erschließen, werden<br />

wir auf die prägenden Lebensbedingungen in<br />

den vier Kreisgebieten rekurrieren. Einen ersten<br />

Aufschluss ergeben hierbei die Fragen:<br />

• über die Zugehörigkeit zu den Grundtypen<br />

der ländlichen Sozial- und regionalen<br />

Agrarverfassung (bäuerliche Anerbengebiete,<br />

Realteilungsgebiete/ländliche Gewerbelandschaften<br />

und (ehemalige)<br />

Seite 48 Güterprovinzen);<br />

• über die Schichtungssysteme, ob sie<br />

der Logik der besitzständischen Abstufung<br />

in bäuerlichen Gebieten, der individuellen<br />

Lebenslage in Realteilungsgebieten und<br />

nichtindustrialisierten Gewerbelandschaften<br />

oder der Klassenschichtung in Gutsbezirken<br />

und Industrieregionen folgen;<br />

• über die typischen Erwerbsstellen und<br />

Formen der Unterschicht: in bäuerlichen Regionen<br />

insbesondere Familienbetriebe mit Gesinde<br />

und Tagelöhnern/Dorfhandwerkern als<br />

Ergänzung; in den Realteilungsgebieten und<br />

Gewerbelandschaften Erwerbskombinationen<br />

aus landwirtschaftlichen Subsistenzbetrieben<br />

(mehr in agrarischen Realteilungsgebieten)<br />

und gewerblicher Arbeit (mehr in Gewerbelandschaften:<br />

dort entweder selbständig in<br />

Heimarbeit oder unselbständig in Fabriken<br />

beschäftigt); und in Güterprovinzen unselbständige<br />

Formen der Landarbeit mit Deputatstellen<br />

und Saisonarbeitern.<br />

Folgen der politischen Systemdifferenz von<br />

1945 bis 1990<br />

Mit dieser Ausrichtung der Untersuchung<br />

bewegen wir uns zumeist auf den Ebenen 3 bis<br />

6 der Bedingungsmatrix. Allerdings kommen<br />

wir nicht umhin, die Ebenen 7 und 8 kurz zu<br />

beleuchten, da die beiden deutschen Staaten<br />

auf Grund der internationalen Ordnung der<br />

politischen Systeme in der Phase des Kalten<br />

Krieges von 1945 bis 1990 unterschiedlichen,<br />

z.T. gegensätzlichen politischen und ökonomischen<br />

Bedingungen unterworfen waren.<br />

Während in der Bundesrepublik nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg die Marktwirtschaft wieder<br />

zur Geltung kam, wurden die Betriebe in der<br />

DDR bis 1972 zum größten Teil kollektiviert,<br />

während also in Westdeutschland das Bürgertum<br />

seine wirtschaftliche Basis behielt, verlor<br />

die DDR mit der Enteignung und der Abwanderung<br />

dieser Bevölkerungsschicht für ihre<br />

Entwicklung wichtige Träger von Humankapital.<br />

So wurde spätestens seit den 1970er Jahren


die Sozialstruktur der DDR durch eine relativ<br />

homogene Gesellschaft der Staatsangestellten,<br />

der unmittelbar Abhängigen und ökonomisch<br />

Unselbständigen geprägt. Während also in der<br />

alten Bundesrepublik der „organische Entwicklungspfad“<br />

moderner Gesellschaften in Gestalt<br />

eines fortschreitenden Differenzierungs- und<br />

Individualisierungsprozesses beschritten wurde,<br />

fand in der DDR „ein machtpolitisch durchgesetzter<br />

sozialer Entdifferenzierungsprozess<br />

statt, der die ökonomischen, wissenschaftlichen,<br />

rechtlichen oder kulturellen Subsysteme ihrer<br />

Eigenständigkeit beraubte, ihre spezifischen<br />

Rationalitätskriterien außer Kraft setzte oder<br />

politisch-ideologisch überlagerte“ (Meuschel<br />

1992, S. 10). Dass in diesem Kontext die Gesellschaft<br />

und nicht der Staat „abstarb“, wie es<br />

abschließend an der zitierten Stelle heißt, zeigt<br />

sich in der Jugendhilfe paradigmatisch am<br />

Fehlen der freien, zivilgesellschaftlichen Träger<br />

und Akteure der Jugendwohlfahrt.<br />

Brachte schließlich die „Kulturrevolution“ von<br />

1968 in Westdeutschland einen politischen<br />

Demokratisierungs- und zivilgesellschaftlichen<br />

Entwicklungsschub hervor, so reproduzierte<br />

sich in Ostdeutschland trotz oder gerade wegen<br />

der „penetranten Politik der Mobilisierung der<br />

Massen“ durch die SED-Herrschaft die für das<br />

Deutschland in der obrigkeitsstaatlichen Phase<br />

typische unpolitische Haltung. Sie schlug sich<br />

in der DDR in zunehmenden Formen des<br />

Privatismus und der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit<br />

nieder. Mit ihr verloren die<br />

Einzelnen den Sinn für soziale Heterogenität,<br />

für „naturwüchsigen“ sozialen Wandel und einen<br />

vernünftigen Umgang mit allem Fremden<br />

(Meuschel 1992, S. 20). Es ist von daher zu erwarten,<br />

dass insbesondere in politiknahen und<br />

zivilgesellschaftlichen Bereichen die DDR-<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Strukturen von mittlerer Dauer die jeweiligen<br />

regionaltypischen Sozialstrukturen von langer<br />

Dauer überlagern oder doch stark modifizieren<br />

werden, was sich in den sozialen Indikatoren<br />

entsprechend niederschlagen kann. Bei der<br />

folgenden Kontrastierung unterschiedlicher<br />

ländlicher Regionaltypen orientieren wir uns<br />

allerdings an den tiefer liegenden Strukturen<br />

von langer Dauer und nicht an den zwar noch<br />

merklich nachwirkenden, aber auf längere<br />

Sicht sich abschwächenden Einflussfaktoren<br />

der mittelfristigen Phase der politischen Spaltung.<br />

Kontrastierung zweier Typen von Landgebieten<br />

Da bäuerliche Gebiete ihre „sozialen Probleme“<br />

lange Zeit durch Bevölkerungsabgabe<br />

„aus der Welt geschafft“ haben und der bäuerliche<br />

Familienbetrieb seine Probleme vor<br />

allem intern regelt, waren und sind in diesen<br />

Regionen die Anforderungen an die sozialen<br />

Hilfen und die Notwendigkeit ihrer Bereitstellung<br />

durch öffentliche Träger unterdurchschnittlich<br />

(Bohler 1995). Wir haben uns deshalb<br />

bei der Wahl der Untersuchungsgebiete<br />

auf Landkreise konzentriert, die mehrheitlich<br />

entweder dem Typus der Gewerbelandschaft<br />

und des Realteilungsgebiets zugehören<br />

(Saalfeld-Rudolstadt, Heidenheim) oder dem<br />

einer ehemaligen Gutslandschaft (Rügen,<br />

Ostholstein).<br />

a) Die Landkreise Heidenheim und Seite 49<br />

Saalfeld-Rudolstadt<br />

Wir beginnen die Analyse mit einem<br />

Vergleich der beiden gewerblich entwickelten<br />

Kreisgebiete in Baden-Württemberg und<br />

Thüringen. (Hinsichtlich der in Aufsätzen und


Soziographische Analyse<br />

Büchern publizierten Quellen, die hier insbesondere<br />

aus stilistischen und Platzgründen<br />

nicht im Einzelnen angeführt sind, verweisen<br />

wir auf die Auswahl der wichtigsten ausgewerteten<br />

Arbeiten zu den einzelnen Kreisgebieten<br />

am Ende des jeweiligen Unterkapitels.)<br />

(1) Naturraum: Die Gemeinsamkeiten hinsichtlich<br />

der naturräumlichen Lage der Landkreise<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

sind offensichtlich: Beides sind Gebiete in und<br />

am Rande von Mittelgebirgen (Schwäbische<br />

Alb und Thüringer Wald), die durch ausgeprägte<br />

Tallandschaften (Brenz und Saale)<br />

gekennzeichnet sind. Was bedeutet das für die<br />

regionalen Entwicklungsressourcen? In allen<br />

Mittelgebirgsregionen finden bzw. fanden sich<br />

Metallvorkommen, und Flüsse sind im System<br />

der vormodernen Technik eine der wichtigsten<br />

nutzbaren Energiepotentiale. So ist es nicht<br />

verwunderlich, dass es in beiden Landkreisen<br />

zeitweise und schon seit dem Mittelalter (im<br />

Lkr. Heidenheim z. B. seit 1365) Bergbau gab<br />

– allerdings im Kreis Saalfeld-Rudolstadt seit<br />

dem 15. Jahrhundert deutlich mehr, während<br />

im Fall Heidenheim der Schwerpunkt des<br />

Bergbaus im benachbarten Ostalbkreis lag.<br />

(2) Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerungsentwicklung<br />

verläuft in beiden<br />

Landkreisen im 19. und 20. Jahrhundert<br />

bis 1945 parallel. Aufgrund der industriellgewerblichen<br />

Entwicklung zeigt sich<br />

insgesamt eine kontinuierliche Be-<br />

Seite 50 völkerungszunahme – auch wenn es<br />

vor 1900 immer wieder zu kleineren<br />

Auswanderungswellen, vor allem in<br />

die USA, kam. Sowohl der Landkreis Heidenheim<br />

(er hat den höchsten Anteil in Baden-<br />

Württemberg nach dem Kreis Böblingen)<br />

als auch insbesondere der Altkreis Saalfeld<br />

(Zunahme um ca. 1/3 von 1944 bis 1946, im<br />

Altkreis Rudolstadt in diesem Zeitraum noch<br />

eine um 22%) verzeichnen nach 1945 deutlich<br />

über dem Landesdurchschnitt liegende Zuzüge<br />

an Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgesiedelten.<br />

Danach macht sich die unterschiedliche<br />

politische Entwicklung bemerkbar: Bis<br />

1950 fällt die Bevölkerungszahl im Gebiet des<br />

heutigen Landkreises Saalfeld-Rudolstadt von<br />

ca. 210.000 auf etwa 145.000, somit unter die<br />

von 1939. Es ist davon auszugehen, dass hier<br />

teilweise ein Bevölkerungsaustausch stattfand:<br />

Geflohene „bürgerliche Schichten“ wurden<br />

durch eher untere Schichten aus der Flüchtlings-<br />

und Vertriebenenpopulation ersetzt. Im<br />

Landkreis Heidenheim dagegen blieben die<br />

Zugezogenen (von 62.500 im Jahr 1939 auf<br />

92.000 im Jahr 1950) nicht nur im Kreisgebiet,<br />

sondern der Bevölkerungszuwachs setzt sich –<br />

wenn auch mit Unterbrechungen – weiter fort<br />

(1961: 113.500, 1970: 127.000). Dabei wird<br />

der Geburtenrückgang vor allem durch Zuzüge<br />

von Gastarbeitern und ihren Familien, später<br />

von Spätaussiedlern mehr als ausgeglichen. Im<br />

Landkreis Heidenheim ist weiter davon auszugehen,<br />

dass die Unterschicht in den letzten 40<br />

Jahren zum großen Teil ausgetauscht wurde:<br />

An die Stelle einer deutschen treten Unterschichtpopulationen<br />

„mit Migrationshintergrund“.<br />

Etwa zur letzten Jahrhundertwende<br />

kreuzen sich die Bevölkerungsentwicklungen:<br />

Hatte der Landkreis Saalfeld-Rudolstadt bei<br />

seiner Gründung 1994 noch 140.000 Einwohner,<br />

sind es 1999 134.000 und 2005 noch<br />

125.000. Im Landkreis Heidenheim steigt die<br />

Bevölkerungszahl dagegen von 127.000 (1970)<br />

auf 136.000 (im Jahr 2005). Was sich im Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt nach 1945 (bis 1961)<br />

schon einmal ereignet hat, reproduziert sich –


allerdings in kleinerem Ausmaß – nach 1990<br />

noch einmal: Es ist ein Verlust von mobilen,<br />

leistungsorientierten Teilen der Bevölkerung<br />

und eine relative Zunahme „problematischer“,<br />

da immobiler, Unterschichtmilieus zu vermuten.<br />

Im Kreis Heidenheim dagegen dürfte ein<br />

größerer Teil sozialer Hilfebedürftigkeit mit<br />

der Migration „importiert“ worden sein.<br />

(3) Historische Agrarverfassung: Der Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt liegt in einem klein-<br />

und mittelbäuerlich geprägten Teil Thüringens,<br />

in dem ursprünglich Anerbenrecht galt. Der<br />

mit dieser Struktur verbundene Betriebstyp<br />

- der sog. rationellen Bauernwirtschaft mit<br />

Getreidebau und Viehhaltung - hat sich in<br />

den bäuerlichen Gemeinden bis zur Zeit der<br />

Kollektivierung in der DDR als vorherrschend<br />

erhalten. In den Gemeinden mit Gewerbeentwicklung,<br />

vor allem in den Tälern, setzte sich<br />

seit dem 19. Jahrhundert die Teilung von landwirtschaftlichen<br />

Betrieben bis zur Größe von<br />

arbeiterbäuerlichen Subsistenzwirtschaften<br />

durch. Auf den Höhen des Thüringer Schiefergebirges<br />

dominierten von Beginn an bei der<br />

Versorgung der Familien Erwerbskombinationen<br />

und landwirtschaftliche Zwergwirtschaft<br />

auf karger Basis.<br />

Der größte Teil des Landkreises Heidenheim<br />

gehört seit dem Ende des 15. Jahrhunderts (mit<br />

kurzen Unterbrechungen im 16. und 17. Jh.)<br />

zum Herzogtum Württemberg und damit zu<br />

einem „klassischen“ Territorium des südwestdeutschen<br />

Realteilungsgebietes. Das östliche<br />

Viertel des Kreisgebietes, ehemals klösterliche<br />

und ritterschaftliche Besitzungen, zählt zu den<br />

neuwürttembergischen Anerbengebieten. Die<br />

dortigen Dörfer blieben bis heute relativ klein,<br />

lange landwirtschaftlich strukturiert und ohne<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

nennenswerte gewerbliche Entwicklung. Insgesamt<br />

gesehen war von daher die strukturelle<br />

Notwendigkeit zur Suche nach außerlandwirtschaftlichen<br />

Erwerbschancen aus Gründen<br />

des Naturraums und der historischen Agrarverfassung<br />

im Thüringer Schiefergebirge bzw.<br />

im Saaletal im Falle des Landkreises Saalfeld-<br />

Rudolstadt und im altwürttembergischen Teil<br />

des Kreises Heidenheim am größten.<br />

Wenig berührt von dieser Entwicklung blieben<br />

die peripheren bäuerlichen Gemeinden<br />

in beiden Landkreisen. Genauer gesagt: Diese<br />

werden vor allem im späten 19. und im 20.<br />

Jahrhundert durch den Wegzug nichtlandwirtschaftlich<br />

gebundener Bevölkerungsgruppen<br />

einen Prozess der sekundären Verbäuerlichung<br />

durchgemacht haben – mit dem Resultat, dass<br />

zumeist nur noch die am bäuerlichen Wertemuster<br />

orientierten Dorfbewohner ansässig<br />

blieben.<br />

(4) Gewerbeentwicklung und Industrialisierung:<br />

Die neuzeitliche Gewerbeentwicklung<br />

im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt kann<br />

insbesondere als eine Folge des endogenen<br />

Wirtschaftsfaktors Erzabbau gesehen werden,<br />

während sie im Kreis Heidenheim auch<br />

stark durch den exogenen sozialrechtlichen<br />

Faktor Realerbteilung in der Landwirtschaft<br />

angetrieben wurde. Ansonsten zeigen sich<br />

große Gemeinsamkeiten. Der bedeutendere<br />

Bergbau im Landkreis Saalfeld-<br />

Rudolstadt (seit der ersten Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts befindet sich in Seite 51<br />

Unterwellenborn das einzige Eisenund<br />

Stahlwerk Thüringens) taucht<br />

wie bereits erwähnt auch in Heidenheim auf.<br />

In beiden Kreisgebieten entwickelt sich daraus<br />

eine bedeutende Maschinenbauindustrie (in


Soziographische Analyse<br />

der Stadt Heidenheim, im 19. Jahrhundert das<br />

„schwäbische Manchester“ genannt, bereits<br />

seit 1825). Im damaligen Oberamt Heidenheim<br />

kam als zweite gewerbliche Basis die<br />

Textilindustrie hinzu, die sich aus der heimgewerblichen<br />

Leinenverarbeitung für den<br />

Ulmer Handel in den Donauraum („Ulmer<br />

Barchent“) heraus entwickelte (u.a. erster mechanischer<br />

Baumwollwebstuhl 1825 und erste<br />

Wollspinnereifabrik in Württemberg 1830,<br />

erste Dampfmaschine in einer württembergischen<br />

Kattunmanufaktur 1841) – allerdings<br />

gab es auch in Saalfeld eine Nähmaschinenfabrik,<br />

1860 als erste in Thüringen gegründet,<br />

und später in Schwarza ein Chemiefaserwerk<br />

(Textilindustrie dagegen in den benachbarten<br />

Städten Pößneck, Neustadt/Orla und Gera).<br />

In beiden Landkreisen gab und gibt es leichtindustrielle<br />

Gewerbezweige wie Porzellan-<br />

und Spielzeugherstellung (erste Porzellanmanufaktur<br />

in einem Vorort von Rudolstadt<br />

1762), die handwerkliches Geschick und (wie<br />

in der Maschinenbau- und elektrotechnischen<br />

Industrie) eine hohe Präzision in der Arbeit<br />

abfordern.<br />

Das heißt zusammengefasst: Die Gewerbeentwicklung<br />

findet in beiden Kreisgebieten<br />

gemessen am Durchschnitt deutscher Regionen<br />

und Territorien sehr früh statt (vgl.<br />

Fremdling & Tilly 1979, Pollard 1980), sie<br />

ist in ihren Formen und Branchen vielfältig,<br />

die Industrialisierung schließt z.T.<br />

unmittelbar an die alte Gewerbe-<br />

Seite 52 entwicklung an, sie reicht von „proletarischen“<br />

Tätigkeiten in Bergbau<br />

und Schwerindustrie bis zu sehr<br />

anspruchsvollen Facharbeiterberufen z. B.<br />

in der Schreibmaschinenbau-, elektrotechnischen<br />

und Porzellanindustrie. Beide Land-<br />

kreise haben schon im 19. Jahrhundert einen<br />

der landesweit höchsten Gewerbeanteile in<br />

der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur<br />

(Saalfeld-Rudolstadt im Gebiet des heutigen<br />

Thüringen und Heidenheim im ehemaligen<br />

Kgr. Württemberg). Aus diesem relativ hohen<br />

Anteil alter Gewerbe- und Industriezweige<br />

ergeben sich seit 30 bis 40 Jahren Anpassungsprobleme<br />

– z. B. schleichende Auszehrung des<br />

noch 1960 zweitwichtigsten Industriesektors<br />

Textilherstellung im Landkreis Heidenheim<br />

und Abbau von Arbeitsplätzen im wichtigsten<br />

und großbetrieblich organisierten Bereich des<br />

Maschinenbaus (deshalb hat der Kreis Heidenheim<br />

2005 mit 8,6 Prozent die höchste<br />

Arbeitslosenrate in Baden-Württemberg)<br />

oder der Kollaps der Chemiefaserindustie in<br />

Rudolstadt-Schwarza und der Rückgang der<br />

Beschäftigung in der Stahl- (ehemals Maxhütte)<br />

und optischen Industrie (erstes Zweigwerk<br />

der Zeissbetriebe außerhalb <strong>Jena</strong>s) in Saalfeld<br />

nach 1990. Die Arbeitslosenrate verharrt im<br />

Landkreis Saalfeld-Rudolstadt seit Jahren<br />

(trotz der Nähe zum Nachbarland Bayern)<br />

etwas über dem Durchschnitt des Freistaats<br />

Thüringen (vgl. unten Abschnitt 6).<br />

(5) Innere Differenzierung nach Wirtschaftsschwerpunkten<br />

und Gemeindetypen: Beide<br />

Landkreise sind durch Zentralorte mit einem<br />

hohen Industrialisierungsgrad geprägt (Heidenheim,<br />

Herbrechtingen und Giengen (ehem.<br />

Reichsstadt) auf der einen Seite, Saalfeld und<br />

Rudolstadt-Schwarza auf der anderen – davon<br />

insbesondere Saalfeld und Heidenheim mit<br />

Großbetrieben).<br />

Die Täler weisen ergänzende Gewerbeorte (mit<br />

arbeiterbäuerlicher Bevölkerung) auf. Insbesondere<br />

seit dem Zweiten Weltkrieg kommen


in diesem Teilraum Pendlerwohngemeinden<br />

bzw. Mischformen zwischen diesen beiden<br />

Gemeindeformen hinzu.<br />

Auf den Höhen der Mittelgebirge (zwischen<br />

500 und 700 m hoch) finden wir alte, mehr<br />

oder weniger aufgegebene Bergbau- und<br />

Schieferabbaugemeinden (z. B. Königsbronn<br />

im Lkr. Heidenheim und Lehesten im Lkr.<br />

Saalfeld-Rudolstadt) oder ursprünglich stark<br />

forstwirtschaftlich geprägte Orte.<br />

An der Peripherie beider Landkreise gibt es bis<br />

heute bäuerlich geprägte Gemeinden: Im Kreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt im Südosten (zwischen<br />

Saaletalsperren und Frankenwald) sowie im<br />

Nordosten (zwischen Rudolstadt und Weimar);<br />

im Kreis Heidenheim im neuwürttembergischen<br />

östlichen Viertel des Kreisgebiets.<br />

(6) Soziale Situation und Arbeitsmarktlage 2 :<br />

Die Kehrseite der Wirtschaftskraft einer Region<br />

stellt gewissermaßen die – relative oder<br />

absolute – Belastung durch die notwendigen<br />

Sozialleistungen dar. Zwar gibt es einerseits<br />

keine direkt wirkende und deshalb unmittelbar<br />

„gesetzmäßige“ Beziehung zwischen materieller<br />

Notlage und Erziehungsproblemen, für die<br />

Jugendhilfe in Anspruch genommen werden<br />

muss. Doch andererseits ist die statistische<br />

Wahrscheinlichkeit dieses Zusammenhangs<br />

schon seit langem nachgewiesen. Der Sozialdezernent<br />

im Landratsamt Heidenheim zum<br />

Beispiel geht wie selbstverständlich davon<br />

aus, dass der besondere Sozialbelastungsindex<br />

des Landkreises sich insgesamt auf die Interventionsnotwendigkeiten<br />

des Jugendamtes<br />

auswirkt. Die in der amtlichen Statistik gängigsten<br />

Indikatoren für die soziale Situation<br />

eines Landkreises, seine sozialökonomischen<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Milieubedingungen und die jeweilige wohlfahrtsstaatliche<br />

Belastung sind die Arbeitslosenstatistik<br />

und die regionalen Quoten des<br />

Bezugs von ALG I (Arbeitslosengeld) nach<br />

SGB III und ALG II (früher: Arbeitslosen-<br />

und Sozialhilfe) nach SGB II. Es ist auf Grund<br />

der allgemeinen Entwicklung in Ost- und<br />

Westdeutschland zu erwarten, dass nach wie<br />

vor auf dieser wohlfahrtsstaatlichen Ebene der<br />

Sozialstruktur - und zwar insbesondere in den<br />

Quoten der Arbeits- und Sozialstatistik – vordringlich<br />

die Ost-West-Differenz zum Ausdruck<br />

kommt. Der verzögerte Strukturwandel<br />

der Industrie in der DDR vor 1990 und der<br />

ökonomische „Transformationsschock“ in den<br />

Neuen Bundesländern nach 1990 mussten eine<br />

altindustrielle Region wie den Kreis Saalfeld-<br />

Rudolstadt besonders treffen. Andererseits<br />

wurde auch der Landkreis Heidenheim nach<br />

1992 mit einer ersten – noch schwächeren,<br />

eher rezessionsbedingten – Deindustrialisierungswelle<br />

konfrontiert, der nach 2001 eine<br />

zweite – eher strukturelle, da vor allem auch<br />

globalisierungsbedingte – folgte. Um diese<br />

Zusammenhänge zu verdeutlichen, führen<br />

wir ausgewählte und zugängliche Daten der<br />

Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik von<br />

1989 bis 2006 an. Betrachten wir zuerst die<br />

regionale Arbeitslosenstatistik. Aus Tabelle<br />

1 sind die Arbeitslosenquoten in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

zwischen 1989 und 2004 und die jeweils<br />

geringste Zahl an Arbeitslosen im<br />

Sommerhalbjahr und die höchste im<br />

Winterhalbjahr zwischen 1997 und<br />

2004 zu entnehmen.<br />

Seite 53


Seite 54<br />

Soziographische Analyse<br />

Tabelle 1: Arbeitslosenquote der Landkreise Heidenheim und<br />

Saalfeld-Rudolstadt im Jahresdurchschnitt und im saisonalen Vergleich<br />

Arbeitslosenquote aller abh. Erwerbspersonen im Jahresdurchschnitt,<br />

sowie Minimum im Sommer- und Maximum im Winterhalbjahr in %<br />

Heidenheim Saalfeld-Rudolstadt<br />

Jahr Min. Max. Jahr Min. Max.<br />

1989 4,4 3,9 5,2 - - -<br />

1997 9,8 9,5 10,3 20,1 18,9 20,9<br />

2001 6,3 5,9 6,8 16,9 15,4 18,7<br />

2002 7,0 6,4 7,5 17,3 16,3 18,7<br />

2003 8,3 7,8 8,7 18,6 17,1 20,5<br />

2004 8,9 8,4 9,2 18,2 16,7 19,9<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />

Deutlich und nicht überraschend ist der Ost-<br />

West-Gegensatz in der durchschnittlichen Höhe<br />

der Arbeitslosigkeit, allerdings vor dem Hintergrund<br />

einer großen strukturellen Gemeinsamkeit.<br />

Letztere ist zum Beispiel aus einer Art von<br />

„Gleichklang“ der Quoten im Jahresdurchschnitt<br />

zu ersehen. In der zweiten Tabelle geben wir<br />

die Arbeitslosenzahlen der beiden Landkreise<br />

getrennt nach Beziehern von Arbeitslosengeld<br />

I und II wieder. Und zwar beispielhaft für den<br />

Dezember 2005 und Juni 2006.<br />

Arbeitslosenquote aller zivilen Erwerbspersonen nach SGB II und SGB III<br />

Arbeitslosenquote<br />

Dezember<br />

2005 in %<br />

SGB II SGB III<br />

Arbeitslosenquote<br />

Juni<br />

2006 in %<br />

SGB II SGB III<br />

Heidenheim 8,6 4,2 4,4 7,5 4,0 3,5<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Tabelle 2: Arbeitslosenquote nach SGB II und SGB III in den<br />

Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

16,8 9,3 7,5 15,2 9,1 6,2<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“


Wir können dem Datentableau entnehmen,<br />

dass im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt – im<br />

Gegensatz zum Landkreis Heidenheim – die<br />

Zahl der Langzeitarbeitslosen (in der Spalte<br />

SGB II) das ganze Jahr über höher ist als<br />

die der bis zu einem Jahr Arbeitslosengeld I<br />

Beziehenden. Darüber hinaus schwankt die<br />

jahreszeitliche Arbeitslosenquote im Kreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt stärker als im Heidenheimer<br />

Kreisgebiet, was unter anderem auf den<br />

höheren Anteil des Baugewerbes zurück ge-<br />

25,0<br />

20,0<br />

15,0<br />

10,0<br />

5,0<br />

0,0<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

führt werden kann. Die jahreszeitlichen<br />

Schwankungen in der Beschäftigungslage<br />

stellen für Familien eine Quelle von „Stress“<br />

in der Paar- und Eltern-Kind-Beziehung dar,<br />

den es zu bewältigen gilt. (Dies wird in einigen<br />

der von uns untersuchten Jugendämtern<br />

so wahrgenommen und als Problem gesehen.)<br />

Die Charakteristik der Beschäftigung im<br />

jahreszeitlichen Ablauf in den beiden Kreisgebieten<br />

wird im folgenden Schaubild noch<br />

deutlicher:<br />

Schaubild 1: Arbeitslosenquote der Landkreise Heidenheim und<br />

Saalfeld-Rudolstadt im jahreszeitlichen Ablauf (2001-2004)<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

2001 2002 2003 2004<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />

Im Folgenden betrachten wir die aktuellsten<br />

uns vorliegenden Zahlen zur Arbeitslosigkeit<br />

von Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen im Alter zwischen 16 und<br />

25 Jahren in den Landkreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt. Dabei<br />

Kreis Saalfeld-Rudolstadt Kreis Heidenheim<br />

beschränken wir uns auf die Häufig- Seite 55<br />

keit des Bezugs von ALG II in beiden<br />

Kreisgebieten. Denn sie ist mehr<br />

als die Häufigkeit von ALG I ein Indikator<br />

für belastete Lebenslagen und belastende Lebenssituationen.


Soziographische Analyse<br />

Tabelle 3: Arbeitslose unter 25 Jahre nach SGB II Juni 2006: Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

Bestand insgesamt<br />

Darunter:<br />

Männer<br />

Frauen<br />

Ausländer<br />

Davon nach Schulabschluss:<br />

Kein Schulabschluss<br />

Hauptschule/mittlere Reife<br />

FH/HS-Reife<br />

Heidenheim<br />

Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />

Insgesamt<br />

11,5<br />

5,9<br />

5,6<br />

1,8<br />

2,3<br />

8,9<br />

0,3<br />

Auffallend an diesem Vergleich ist, dass zum<br />

einen der Gesamtbestand an Arbeitslosen<br />

unter 25 Jahren im Landkreis Heidenheim<br />

leicht höher liegt als in Thüringen, während<br />

dort die Langzeitarbeitslosigkeit (in Gestalt<br />

des ALG II-Bezugs) ein größeres Problem<br />

darstellt. Das erstere hätte man nicht erwartet,<br />

das letztere, das auf prekärere Lebensverhältnisse<br />

schließen lässt, dagegen sehr wohl.<br />

Allerdings weichen die Verhältniszahlen nicht<br />

sehr voneinander ab. Sollte der Gesamtbestand<br />

an arbeitslosen Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen in den<br />

Seite 56 Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

sich eher entsprechen<br />

als der zu den Kreisen Ostholstein und<br />

Rügen, dann würde dies für Chancenprofile der<br />

von Arbeitslosigkeit und prekärer Lebenslage<br />

betroffenen Problemgruppen sprechen, die<br />

im Rechtskreis<br />

SGB II<br />

6,2<br />

3,1<br />

3,1<br />

1,2<br />

Saalfeld-Rudolstadt<br />

Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />

Insgesamt<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslose unter 25 Jahren nach dem Rechtskreis SGB II<br />

1,6<br />

4,4<br />

0,2<br />

11,0<br />

6,9<br />

4,1<br />

0,1<br />

1,9<br />

7,7<br />

1,4<br />

im Rechtskreis<br />

SGB II<br />

7,7<br />

4,7<br />

3,0<br />

0,1<br />

1,7<br />

5,2<br />

0,8<br />

sich mehr auf die sozialgeschichtliche Situation<br />

und den regionalen Habitus als auf die politische<br />

Systemdifferenz vor allem in der zweiten<br />

Hälfte des letzten Jahrhunderts beziehen. Ob<br />

dies zutrifft, wird der Vergleich unter und<br />

mit den norddeutschen Kreisgebieten zeigen.<br />

Ein hoher Sozialbelastungsindex, wie er für<br />

den Landkreis Heidenheim im Vergleich aller<br />

baden-württembergischen Kreise und für den<br />

Landkreis Saalfeld-Rudolstadt am bundesdeutschen<br />

Durchschnitt gemessen vorliegt,<br />

hat für die Jugendhilfe auch unmittelbare<br />

finanzielle Folgen. So stellt zum Beispiel das<br />

Sozialdezernat in Heidenheim fest, dass sich<br />

die Zahl der Leistungsempfänger der Unterhaltsvorschusskasse<br />

aus dem Bereich der wirtschaftlichen<br />

Jugendhilfe seit einigen Jahren auf<br />

einem hohen Niveau hält. Die Verantwortlichen<br />

sehen die Gründe hauptsächlich in der


vorhandenen hohen Arbeitslosenquote und der<br />

daraus resultierenden mangelnden Leistungsfähigkeit<br />

der Unterhaltsverpflichteten. Aber<br />

auch der Hilfe- und Beratungsbedarf ist davon<br />

betroffen. Wenn nämlich bei eingetretener<br />

oder drohender Arbeitslosigkeit drängende<br />

Überschuldungsprobleme häufig und im Einzelfall<br />

erhebliche Existenzprobleme darstellen,<br />

so ist die Einrichtung einer Schuldnerberatung<br />

sozialpolitisch unabdingbar. Wenn solche Zusammenhänge<br />

und Probleme schon im Landkreis<br />

Heidenheim als gravierend und belastend<br />

gesehen werden, dann ist davon auszugehen,<br />

dass die anderen von uns untersuchten Kreisgebiete<br />

mit ihren an Heidenheim gemessen<br />

höheren Sozialbelastungsindices entsprechend<br />

massiver hiervon betroffen sind.<br />

(7) Regionale Opportunitäten für soziale Entwicklung<br />

3 : Bruno Hildenbrand hat in seinem<br />

Einleitungsteil bereits darauf hingewiesen, dass<br />

wir bei unseren Analysen des Zusammenhangs<br />

von Region und Mentalität auch die für uns<br />

interessanten Ergebnisse des C 6-Projekts (vgl.<br />

Silbereisen et al. 2006) mit einbeziehen werden.<br />

In wie weit bestätigt eine Betrachtung unter<br />

der Kategorie von Opportunitätsstrukturen<br />

in den jeweiligen Regionen die von uns bisher<br />

rekonstruierten Strukturdifferenzen zwischen<br />

ehemaligen Gutslandschaften auf der einen<br />

Seite und bäuerlichen sowie gewerblich entwickelten<br />

Gebieten auf der anderen Seite? Aber<br />

auch umgekehrt: In wie weit bestätigen unsere<br />

Ergebnisse die konzeptionellen Überlegungen<br />

im Projekt C 6? Die Arbeitsgruppe in diesem<br />

Projekt zielt mit ihrem Untersuchungsdesign<br />

auch auf die Bildung von vier Teilgruppen, die<br />

anhand der Merkmalskombination von Betroffenheit<br />

von sozialem Wandel (niedrig versus<br />

hoch) und dem Ausmaß von Ressourcen (eben-<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

falls niedrig versus hoch) ausgewählt werden.<br />

Beziehen wir unsere bisherigen Analysen und<br />

Überlegungen auf diese sozialen Merkmale, so<br />

ist zu erwarten, dass im ostwürttembergischen<br />

Raum um Heidenheim die Betroffenheit von<br />

sozialem Wandel niedriger und die strukturellen<br />

Ressourcen zur Bewältigung höher<br />

als im Ostthüringer Raum um Saalfeld und<br />

Rudolstadt sind. Dahinter steht die einfache<br />

Überlegung: Ostdeutsche lebten zwischen<br />

1945 und 1989 einerseits unter – vorsichtig<br />

ausgedrückt – „formierten“ Gesellschaftsbedingungen<br />

und konnten damit weniger<br />

Kompetenzen zum Umgang mit sozialem<br />

Wandel erwerben. Sie hatten andererseits aber<br />

im Zusammenhang mit dem Systemumbruch<br />

und dem sozialökonomischen Ressourcenverlust<br />

ein höheres Ausmaß an sozialem Wandel<br />

zu bewältigen als Westdeutsche. Auf dieses<br />

Spannungsfeld bezogen sind in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

entsprechende Muster bei der Ausprägung<br />

der Bewältigungsressourcen und des daraus<br />

resultierenden sozialökonomischen Leistungsprofils<br />

zu erwarten. Allerdings ist bei<br />

der Betrachtung der Konzeption von C 6 zu<br />

berücksichtigen, dass der Ressourcenbegriff in<br />

der Entwicklungspsychologie ein anderer ist<br />

als in der strukturtheoretischen Soziologie.<br />

Geht letztere davon aus, dass sich durch die<br />

Spezifik des Systemumbruchs in Ostdeutschland<br />

die Ressourcenlage in einem strukturellen<br />

Sinne verschlechtert hat, schließt erstere<br />

von einem höheren Ausmaß an<br />

sozialem Wandel auf mehr Gelegen- Seite 57<br />

heiten, Handlungsressourcen zur Bewältigung<br />

des Wandels zu erwerben,<br />

also zuerst einmal auf eine potentielle Verbesserung<br />

der subjektiv relevanten Ressourcen.<br />

Eine Konvergenz der soziologischen und ent-


Soziographische Analyse<br />

wicklungspsychologischen Wirklichkeitsdeutung<br />

zeigt sich erst bei einem zweiten Schritt,<br />

der die Opportunitäten mit berücksichtigt.<br />

Denn die strukturelle Situation der jeweiligen<br />

regionalen Opportunitäten setzt im einen Fall<br />

den Entfaltungschancen der Akteure mit hohen<br />

Bewältigungsressourcen von Krisen enge<br />

Grenzen und motiviert jene tendenziell zum<br />

Wegzug, während im anderen Fall Gebiete<br />

mit günstigen Opportunitäten bessere<br />

Deutlich wird an Tabelle 4, welche die Landkreise<br />

Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt vergleicht, ein unmittel-<br />

Seite 58 bar plausibler Zusammenhang von<br />

sozialökonomischen Opportunitäten<br />

(BIP, durchschnittlich verfügbares<br />

Haushaltseinkommen) und Bevölkerungsentwicklung<br />

(einschließlich Wanderungssaldo):<br />

Der wirtschaftsstärkere Kreis Heidenheim hat<br />

Bevölkerungsentwicklunga<br />

Wanderungssaldob Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) c<br />

Verfügbares Haushaltseinkommen<br />

d<br />

Heidenheim 7,8 -38,4 26.217 17.395<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

-95,7 -48,1 16.868 14.004<br />

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />

a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />

b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />

c BIP je Einwohner 2004<br />

Bedingungen für Entwicklungen bieten,<br />

aktivere Personen anziehen und damit ihre<br />

strukturelle Ressourcensituation weiter verbessern.<br />

Ein Indiz für diesen strukturellen<br />

Zusammenhang sind die von den Statistischen<br />

Ämtern erhobenen Kennziffern für die regionale<br />

Wirtschaftskraft (BIP) und die statistisch<br />

dokumentierte Bevölkerungsentwicklung in<br />

den Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt. 4<br />

d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />

eine günstigere Bevölkerungsentwicklung als<br />

der vom Systemumbruch 1989/90 betroffene<br />

Kreis Saalfeld-Rudolstadt. Allerdings weisen<br />

die Zahlen des Wanderungssaldos darauf hin,<br />

dass die Verhältnisse nicht so einfach liegen,<br />

wie sie zu erwarten wären, wenn man unmittelbar<br />

kausal von der Wirtschaftskraft (BIP)<br />

und dem verfügbaren Haushaltseinkommen<br />

auf den Wanderungssaldo schließen könnte.


Wir hatten bereits festgestellt, dass der Landkreis<br />

Heidenheim im regionalen Maßstab<br />

Baden-Württembergs fast eine Krisenregion<br />

darstellt: Unter diesem Gesichtspunkt gesehen<br />

ist die unerwartet hohe Abwanderung<br />

ein Indiz für subjektive Handlungsressourcen<br />

und eine Haltung aktiver Krisenbewältigung.<br />

Fraglich ist weiter, wer bzw. aus welchen<br />

Motiven Personen ab- und zuwandern.<br />

Auf solche Fragen müssen wir beim abschließenden<br />

Vergleich aller vier Kreisgebiete<br />

im nächsten Unterkapitel eingehen.<br />

(8) Politisches System: Die gewerbliche Entwicklung<br />

im marktwirtschaftlichen System<br />

stützt sich auf der Akteursebene auf eine<br />

autonome Handlungsorientierung oder<br />

In dieser Tabelle drückt sich zunächst mehr<br />

der Ost-West-Gegensatz durch. Unseren Erwartungen<br />

entspricht nur das Wahlergebnis im<br />

Kreis Heidenheim, nicht jedoch das im Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt. Allerdings hatten<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Tabelle 5: Wahlergebnisse der Kommunalwahlen 2004<br />

Partei Heidenheim a Saalfeld-Rudolstadt b<br />

CDU 34,6 40,1<br />

SPD 26,4 21,1<br />

FDP - -<br />

Grüne 13,1 5,5<br />

PDS - 20,4<br />

Fr. Wähler/BI 21,1 12,9<br />

Sonstige 4,7 -<br />

a Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg)<br />

b Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Thüringer Landesamt für Statistik)<br />

Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, die sich in<br />

entsprechenden strukturaffinen Wählerpräferenzen<br />

widerspiegeln müsste. Auf der Ebene<br />

der Kommunalparlamente sehen wir als Indikator<br />

für eine Autonomieorientierung den<br />

jeweiligen Anteil der freien und unabhängigen<br />

Wählervereinigungen. Unsere These an dieser<br />

Stelle ist, dass die Gewerbelandschaften einen<br />

relativ hohen Anteil an „freien Wählern“ –<br />

und signifikant höheren als in den ehemaligen<br />

Güterprovinzen – haben müssten. Betrachtet<br />

man in dieser Hinsicht nur den Anteil der<br />

freien Wählervereinigungen bei den letzten<br />

Kommunalwahlen, so zeigt sich für unsere<br />

beiden industriell-gewerblich entwickelten<br />

Landkreise das folgende Bild:<br />

Seite 59<br />

wir bereits oben darauf hingewiesen,<br />

dass in diesem Bereich die Folgen<br />

der politischen Spaltung wahrscheinlich<br />

noch deutlich zu spüren sein werden. Man<br />

könnte an dieser Stelle auch von einer


Soziographische Analyse<br />

besonderen Deformation dieses Typs von<br />

Regionalgesellschaft in der ehemaligen DDR<br />

sprechen. Eine endgültige Überprüfung der<br />

Ausgangsthese ist deshalb erst nach einer Betrachtung<br />

der entsprechenden Zahlen aus den<br />

nordostdeutschen Vergleichskreisen möglich.<br />

Noch eine Bemerkung zur politischen Jugendkultur:<br />

Eine auffallende Gemeinsamkeit<br />

beider Kreisgebiete in diesem Bereich ist,<br />

dass sowohl die Stadt Heidenheim als auch<br />

die Städte Saalfeld und Rudolstadt in ihren<br />

jeweiligen Bundesländern „prominente“ Orte<br />

einer rechtsradikalen Jugendszene darstellen.<br />

In diesem Sachverhalt drückt sich angesichts<br />

der unterschiedlichen Geschichte von 1945<br />

bis 1990 dann doch wieder die Gemeinsamkeit<br />

einer durch fürsorglich-großbetriebliche<br />

Strukturen formierten und nun – wenn auch<br />

aus unterschiedlichen Gründen – in ihren<br />

Erwartungen enttäuschten Mentalität durch.<br />

Es ist dann eine jugendamtsrelevante Frage,<br />

wie auf dem Feld der Jugendarbeit mit dieser<br />

Problematik umgegangen wird.<br />

(9) Kulturelle Prägungen: Welche mentalen<br />

Prägungen hat die sozialökonomische Entwicklung<br />

in den Realteilungsgebieten und früheren<br />

Gewerbelandschaften hervorgebracht, wenn<br />

wir davon ausgehen, dass eine regionalspezifische<br />

Mentalität verstanden werden sollte<br />

als die kollektive Bewusstseinsformung und<br />

habituelle Prägung einer Bevölkerungsgruppe<br />

durch ihre Lebenswelt<br />

Seite 60 sowie den von ihr ausgehenden und<br />

in ihr gemachten Erfahrungen? Das<br />

Besondere in der Entwicklung von<br />

Regionen wie den Landkreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt besteht in dieser<br />

Sichtweise darin, dass schon früh die bauern-<br />

weltliche, an der Stelle haftende Orientierung<br />

durch eine subjektive Leistungsorientierung<br />

relativiert – also ergänzt oder sogar ersetzt<br />

– wurde. Denn durch Besitzteilung und den<br />

Aufbau immer kleinerer Nebenerwerbs- und<br />

Gewerbestellen werden die unteren Schichten<br />

– in früheren Zeiten machten diese die Mehrzahl<br />

der Bevölkerung aus – an den Rand des<br />

potentiellen Subsistenzniveaus gedrückt. Sie<br />

haben mit dem Problem der Subsistenzfalle zu<br />

kämpfen, das als strukturell ungelöstes (im Gegensatz<br />

zur „Stellenordnung“ in der klassischen<br />

Bauernwelt, die eine Stelle „von vornherein“ an<br />

die Sicherung der „Familiennahrung“ bindet)<br />

durch subjektive Anstrengungen bewältigt<br />

werden muss.<br />

Diese Bewältigungsleistungen implizieren<br />

einen subjektiven Bewährungsdruck. So kann<br />

es nicht verwundern, wenn in beiden Landkreisen<br />

pietistische Einflüsse, also Formen von<br />

„Erweckungsbewegungen“, nachweisbar sind.<br />

Der Hof der Herzöge von Sachsen-Saalfeld<br />

war bereits Ende des 17. Jahrhunderts eine<br />

„Hochburg“ des Pietismus in Thüringen. Der<br />

pietistische „Reformator“ im Hzt. Württemberg,<br />

Bengel, war im 18. Jahrhundert zeitweise<br />

Pfarrer in Heidenheim. Entsprechend alt sind<br />

die sozialen Einrichtungen vor allem der evangelischen<br />

Landeskirche bzw. der diakonischen<br />

Anstalten. Die Jugendhilfe wird sich hier eher<br />

– anders als in ehemaligen Güterprovinzen –<br />

auf einen überkommenen Bestand an freien<br />

Trägern und ihren Einrichtungen stützen<br />

können. Im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt<br />

stellen allerdings die DDR-Jahre, wie bereits<br />

angedeutet, eine massive Unterbrechung der<br />

historisch motivierten „organischen“ Pfadentwicklung<br />

dar.


(10) Ehrenamtliches Engagement: Die politische<br />

und kulturelle Prägung durch einen<br />

Sozialraum und die dort vorherrschende<br />

Mentalität schlägt sich, so unsere These, in regional<br />

unterschiedlichen Entwicklungsformen<br />

der Bürger- oder Zivilgesellschaft nieder. Die<br />

unterschiedliche Prägung durch die vorherrschende<br />

Form der Daseinsbewältigung führt<br />

zu positiven oder negativen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen<br />

(self-efficacy beliefs). Die<br />

Entwicklung in die eine oder andere Richtung<br />

spiegelt sich gesellschaftspraktisch im jeweiligen<br />

Umfang und in der unterschiedlichen<br />

Intensität eines ehrenamtlichen bürgerschaftlichen<br />

Engagements wider. Dieses Engagement<br />

hat im Bereich des Sozialwesens seine<br />

Relevanz für die Bestandsdauer, die Dichte<br />

und den institutionellen Geist der freien Träger<br />

der Jugendwohlfahrt. Auch hier müssen<br />

wir – wie im Fall freier Wählervereinigungen<br />

im politischen Feld – zum einen vermuten,<br />

dass in den alten Gewerbelandschaften mit<br />

einer breiten bürgerlichen Schicht sowie einer<br />

verbürgerlichten Facharbeiterschicht dieses<br />

zivilgesellschaftliche Engagement signifikant<br />

höher ist als in den ehemaligen Güterprovinzen.<br />

Und zum anderen können wir wieder erwarten,<br />

dass die entsprechenden politischen Maß-<br />

Baden-<br />

Württemberg<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

nahmen der SED-Machthaber die zivilgesellschaftliche<br />

Infrastruktur für bürgerschaftliches<br />

Engagement in Ostdeutschland weitgehend<br />

zerstört haben werden.<br />

Um diese Fragen zu beantworten, ziehen wir<br />

die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung<br />

zum ehrenamtlichen Engagement in<br />

Deutschland heran, die 1999 und 2004 durchgeführt<br />

wurden. 5<br />

Da sich die Auswertung der Befragung auf<br />

die Anteile des ehrenamtlichen Engagements<br />

der einzelnen Länder im Bundesgebiet bezog,<br />

können wir hier nur die Prozentzahlen<br />

von Baden-Württemberg und Thüringen<br />

heranziehen. Diese sind unseres Erachtens<br />

relativ aussagekräftig, da sich die Landkreise<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt, was<br />

Sozialstruktur und Mentalität betrifft, nur<br />

unwesentlich vom jeweiligen Landesdurchschnitt<br />

unterscheiden. Wir betrachten aus der<br />

Gesamtheit der erhobenen Engagementbereiche<br />

die folgenden vier für das Sozialwesen<br />

relevanten: Soziales, Gesundheit, Schule/<br />

Kindergarten und Jugend-/Bildungsarbeit<br />

(sowie die Vergleichszahlen für das Ehrenamt<br />

insgesamt).<br />

Tabelle 6: Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Bereichen (Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesländer in %)<br />

Soziales Gesundheit<br />

Schule/<br />

Kindergarten<br />

Jugend-/<br />

Bildungsarbeit<br />

Ehrenamt<br />

Insgesamt<br />

1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004<br />

8,71 11,53 4,17 2,94 7,61 11,27 7,61 8,39 38,29 41,91<br />

Thüringen 4,12 6,36 1,34 2,22 8,16 7,80 8,16 5,46 27,91 31,69<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon<br />

Seite 61


Seite 62<br />

Soziographische Analyse<br />

Die Unterschiede sind auffallend deutlich und<br />

sprechen für unsere Ausgangsthese in diesem<br />

gesellschaftlichen Handlungsfeld. Einzelne<br />

Verschiebungen zwischen den Jahren 1999<br />

und 2004 deuten allerdings auch an, dass die<br />

Aussagekraft dieser Erhebung sich auf die generelle<br />

Größenordnung und die allgemeinen<br />

Entwicklungstendenzen beschränkt. Bezieht<br />

man sie in diesem Sinne einer vorsichtigen<br />

Generalisierung auf das regionale Sozialkapital<br />

(i.S. Putnams), dann wird an den Zahlen<br />

des Freistaats Thüringen wieder manifest,<br />

dass die südlichen, gewerblich-industriell<br />

entwickelten Bezirke der DDR viel mehr<br />

unter den Folgen der Entbürgerlichung durch<br />

die sozialistische Politik gelitten haben als die<br />

nördlichen mit ihrem hohen Anteil an ehemaligen<br />

Güterdistrikten, die keine bedeutenden<br />

bürgerlichen Bevölkerungsteile kannten.<br />

Weitere Aufschlüsse versprechen wir uns<br />

wieder vom Vergleich mit den norddeutschen<br />

Untersuchungsgebieten.<br />

(11) Bildungssektor: Es zeigt sich in Gewerbegebieten<br />

früh und allgemein ein hoher Stellenwert<br />

von Bildung und Ausbildung – sowohl<br />

auf Seiten der Herrschaft wie der Wirtschaft<br />

(z. B. erste Elementarschulordnung im Hzt.<br />

Württemberg 1559, Gewerbeschulen und<br />

sog. Industrieschulen im Kgr. Württemberg<br />

bzw. Heidenheim seit der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts oder der erste Kindergarten<br />

überhaupt im Kreis Saalfeld-Rudolstadt im 19.<br />

Jahrhundert). Interessant ist für uns zu fragen,<br />

ob sich diese Geschichte des Bildungssektors<br />

entsprechend auf die aktuellen Zahlen der<br />

Schüler in den verschiedenen Schultypen<br />

auswirken wird. Wie sieht die aktuelle Schulstatistik<br />

in den beiden Landkreisen aus?<br />

Tabelle 7: Verteilung der Schüler auf die besuchten Schulformen 2005<br />

Schulformen Heidenheim Saalfeld-Rudolstadt<br />

Gesamtanzahl der Schüler<br />

nach Schulform a 8369 6387<br />

Hauptschule k.A. b wird in Regelschule<br />

zusammengefasst<br />

Realschule/Regelschule 43,02% 47,50%<br />

Gymnasium 49,13% 39,13%<br />

Förderschule/Sonderschule 7,83% 13,37%<br />

Quelle: Berichte der Statistischen Landesämter von Baden-Württemberg und Thüringen 2006<br />

a Die Gesamtzahl bezieht sich nur auf die hier abgefragten Schulformen. Grundschule sowie integrative Gesamtschulen<br />

werden nicht mit einbezogen.<br />

b In Heidenheim werden Grund- und Hauptschule zusammengefasst. Somit besteht keine Möglichkeit, die Hauptschüler<br />

gesondert zu quatifizieren.


Betrachtet man diese schulstatistischen<br />

Zahlen aus den Landkreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt, dann fällt auf,<br />

dass der Anteil an Regel-/Haupt- und<br />

Realschülern am wenigsten differiert. Die<br />

großen Unterschiede zeigen sich zum einen<br />

beim Gymnasium. Der Anteil der Gymnasiasten<br />

liegt im Landkreis Heidenheim<br />

um etwa 10 Prozent höher als im Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt. Und zum anderen bei<br />

den Förderschülern, wo im Landkreis Saalfeld-<br />

Rudolstadt fast der doppelt so hohe Anteil<br />

(7,83 zu 13,37 Prozent) festzustellen ist. Der<br />

Malus einer „Sonderschulkarriere“ belastet im<br />

Thüringer Kreisgebiet also mehr Kinder und<br />

Jugendliche als im Württembergischen. Entsprechend<br />

höher ist die Wahrscheinlichkeit<br />

einer sozialen und sozialpädagogischen Hilfebedürftigkeit<br />

zu veranschlagen. Der größere<br />

Anteil an Gymnasiasten im Landkreis Heidenheim<br />

korreliert mit dem höheren Urbanisierungsgrad<br />

in der Siedlungsweise. Von daher<br />

deutet dieser Vergleich auf einen höheren Peripherisierungsgrad<br />

des Saalfeld-Rudolstädter<br />

Kreisgebiets hin.<br />

Allerdings sind solche „nackten“, kontextfreien<br />

Zahlen für einen tieferen regionalen Vergleich<br />

nur sehr bedingt aussagekräftig. Schon die<br />

Bedeutung und die Qualität der Hauptschule<br />

ist insbesondere in Stadt und Land sowie von<br />

Bundesland zu Bundesland verschieden. Des<br />

Weiteren gibt es innerhalb gewisser Grenzen<br />

der Verteilung nach unten und nach oben zum<br />

Beispiel keinen eindeutigen Zusammenhang<br />

vom Anteil der Hauptschüler unter den Schulabgängern<br />

eines Jahrgangs und der regionalen<br />

Arbeitslosenrate sowie der Wirtschaftskraft<br />

eines Bundeslandes oder einer Region. Die<br />

süddeutschen Bundesländer, insbesondere<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Bayern, haben einen relativ hohen Anteil an<br />

Hauptschülern, gleichzeitig aber die niedrigste<br />

Arbeitslosenrate und, zum Beispiel am<br />

Länderfinanzausgleich gemessen, die höchste<br />

Wirtschafts- und Steuerkraft. Die entscheidende<br />

Variable scheint hier das Passungsverhältnis<br />

der Verteilung von Absolventen der<br />

verschiedenen Schulformen zum Anforderungsprofil<br />

des regionalen Arbeitsmarktes bzw.<br />

der vorhandenen Betriebs- und Produktionsformen<br />

zu sein. Generell ist aber davon auszugehen<br />

– und wird in den Expertengesprächen<br />

bestätigt – , dass die Zahl der Arbeitsplätze für<br />

Förderschüler und Schulabbrecher gerade auch<br />

in industrialisierten Gewerbelandschaften abnimmt<br />

und weiter abnehmen wird. Der hohe<br />

Anteil an Realschülern und Gymnasiasten,<br />

vor allem im Landkreis Heidenheim, „passt“<br />

dagegen zu den gestiegenen Anforderungen<br />

im kaufmännischen und technischen Bereich<br />

moderner Produktionsbetriebe. Auf die Probleme<br />

dieses Passungsverhältnisses wird bei<br />

der Betrachtung der norddeutschen Kreisgebiete<br />

zurückzukommen sein. Die zum Teil<br />

großen regionalen Differenzen beim Besuch<br />

der verschiedenen Schulformen deuten jedoch<br />

darauf hin, dass das pädagogische Feld einer<br />

eigenlogischen, die regionale Sozialstruktur<br />

nicht unmittelbar „abbildenden“ politischen<br />

Gestaltung zu unterliegen bzw. für diese offen<br />

zu sein scheint.<br />

Ausgewählte Literatur zur Entwicklung<br />

in den Kreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt<br />

Landkreis Heidenheim<br />

Assion, P. (1978) Altes Handwerk und frühe<br />

Industrie im deutschen Südwesten. Ein Litera-<br />

Seite 63


Seite 64<br />

turbericht. Freiburg i.Br.<br />

Soziographische Analyse<br />

Beschreibung des Oberamts Heidenheim (1844)<br />

(hrsg. vom königlich statistisch-topographischen<br />

Büreau). Stuttgart und Tübingen.<br />

Boelcke, W.A. (1987) Wirtschaftsgeschichte<br />

Baden-Württembergs von den Römern bis heute.<br />

Stuttgart.<br />

Borchardt, Chr. (1991) Baden-Württemberg.<br />

Eine Geographische Landeskunde. Darmstadt.<br />

Borscheid, P. (1978) Textilarbeiterschaft in der<br />

Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität<br />

in Württemberg (19. Jahrhundert). Stuttgart.<br />

Borst, O. (Hrsg.) (1989) Wege in die Welt. Die<br />

Industrie im deutschen Südwesten seit Ausgang<br />

des 18. Jahrhunderts. Stuttgart.<br />

Fischer, H. (1962) Albuch und Härtsfeld. Randlandschaften<br />

der schwäbischen Ostalb. Berichte<br />

zur deutschen Landeskunde Jg. 29, S. 29-64.<br />

Grees, H. (1961) Die bäuerliche Kulturlandschaft<br />

der Ostalb (Diss.). Tübingen.<br />

Grees, H. (1963) Das Seldnertum im östlichen<br />

Schwaben und sein Einfluß auf die Entwicklung<br />

der ländlichen Siedlungen. Berichte zur deutschen<br />

Landeskunde Jg. 31, S. 104-150.<br />

Grees, H. (1975) Ländliche Unterschichten<br />

und ländliche Siedlung in<br />

Ostschwaben. Tübinger geographische<br />

Studien Heft 58. Tübingen.<br />

Gysin, J. (1986) „Fabriken und Manufakturen“<br />

in Württemberg während des ersten Drittels des<br />

19. Jahrhunderts (Diss.) Mannheim.<br />

Heinrichs, B. (1906) Die Württembergische<br />

Cattun-Manufaktur Heidenheim/Brenz. Ihre<br />

Entstehung und Entwicklung 1856-1906. Stuttgart.<br />

Jahn, G. (1937) Heidenheim und seine Industrie,<br />

ihr Einfluß auf Landschaft und Bevölkerung.<br />

Tübinger geographische und geologische Abhandlungen<br />

I Heft 24.<br />

Landkreis Heidenheim (1971) In: Das Land Baden-Württemberg.<br />

Bd. 2: Amtliche Beschreibung<br />

nach Kreisen und Gemeinden. Nordwürttemberg.<br />

Teil 1 (hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung<br />

Baden-Württemberg). Stuttgart, S. 600-623.<br />

Landkreis Heidenheim (1989) In: Das Land<br />

Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach<br />

Kreisen und Gemeinden. Bd. 4: Regierungsbezirk<br />

Stuttgart, Regionalverbände Franken und Ostwürttemberg<br />

(hrsg. von der Landesarchivdirektion<br />

Baden-Württemberg). Stuttgart, S. 559-633.<br />

Schädle, E. (1920) Die Entwicklung der Textilindustrie<br />

im Oberamt Heidenheim (Diss.).<br />

Tübingen.<br />

Scharfe, M. (1980) Die Religion des Volkes. Kleine<br />

Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus.<br />

Gütersloh.<br />

Theiß, K., Schleuning, H. (Hrsg.) (1979) Der<br />

Kreis Heidenheim. Stuttgart und Aalen.<br />

Landkreis Saalfeld-Rudolstadt<br />

Bachstedt, G. (1932) Betriebsverhältnisse in<br />

bäuerlichen Wirtschaften im Lande Thüringen<br />

(Diss.). <strong>Jena</strong>.


Beiträge zur Statistik des Landes Thüringen<br />

(1921) (hrsg. vom Thüringer Statistischen Landesamt).<br />

Weimar.<br />

Beyermann, A., Kombinate (2000) (hrsg. von der<br />

Landeszentrale für politische Bildung Thüringen).<br />

Erfurt.<br />

Breitschuh, G. et al. (1999) Thüringer Landwirtschaft<br />

zwischen 2. Weltkrieg und Wiedervereinigung.<br />

(hrsg. vom Verband für Agrarforschung und<br />

–bildung Thüringen e.V.) <strong>Jena</strong>.<br />

Drescher, L. (1929) Der Grund und Boden in<br />

der gegenwärtigen Agrarverfassung Thüringens.<br />

<strong>Jena</strong>.<br />

Eckart, K. et al. (1992) Thüringen. Materialien<br />

zum Wirtschaftsstrukturwandel. Saarbrücken.<br />

Hahn, H.-W. et al. (2001) Bürgertum in Thüringen.<br />

Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19.<br />

Jahrhundert. Rudolstadt.<br />

Heckmann, H. (Hrsg.) (1986) Thüringen. Würzburg.<br />

Heinevetter, B. (1994) Sozialpolitik in Thüringen<br />

seit über 100 Jahren (Diss.). Münster.<br />

Hildebrand, B. (1871) Statistik Thüringens.<br />

<strong>Jena</strong>.<br />

Jonscher, R. (1993) Kleine thüringische Geschichte.<br />

<strong>Jena</strong>.<br />

Kadner, B. (2000) Bevölkerungsentwicklung ab<br />

1950 (hrsg. von der Landeszentrale für politische<br />

Bildung Thüringen). Erfurt.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Landratsamt Saalfeld-Rudolstadt (Hrsg.)<br />

(2006) Sozialstrukturatlas 2006 des Landkreises<br />

Saalfeld-Rudolstadt. Saalfeld.<br />

Lange-Vester, A. (2007) Habitus der Volksklassen.<br />

Kontinuität und Wandel seit dem 18. Jahrhundert<br />

in einer Thüringer Familie. Münster.<br />

Lütge, F. (1957) Die mitteldeutsche Grundherrschaft<br />

und ihre Auflösung. Stuttgart.<br />

Lundgreen, F. (1936) Die Geschichte einer kleinen<br />

Residenz. Führer durch Rudolstadt. Rudolstadt.<br />

Mader, R. (1997) Handwerk und Technik damals<br />

in Thüringen. Bingen.<br />

Mühlfriedel, W. (2001) Die Industrialisierung<br />

in Thüringen. Grundzüge der gewerblichen<br />

Entwicklung in Thüringen von 1800 bis 1945.<br />

Erfurt.<br />

Müller, J. (1928) Wirtschaftskunde des Landes<br />

Thüringen. <strong>Jena</strong>.<br />

Müller, J. (1930) Die thüringische Industrie.<br />

Eine wirtschaftskundliche Darstellung, zugleich<br />

ein Beitrag zur Lehre von den Standortfaktoren<br />

der Fertigindustrie. <strong>Jena</strong>.<br />

Patze, H./Schlesinger, W. (Hrsg.) (1968-1979)<br />

Geschichte Thüringens (6 Bde.). Köln u.a.<br />

Schwarze, E. (1975) Soziale Struktur<br />

und Besitzverhältnisse der ländlichen<br />

Bevölkerung Ostthüringens im 16.<br />

Jahrhundert. Weimar.<br />

Ullrich, W. (1986) Studien zur industriellen<br />

Entwicklung Süd- und Ostthüringens in den<br />

Seite 65


Soziographische Analyse<br />

30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. <strong>Jena</strong>.<br />

Vesper, J. (1992) Strukturwandel in Thüringen.<br />

Erfurt.<br />

Wotschke, T. (1929) Der Pietismus in Thüringen.<br />

Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte<br />

und Kunst Jg. 18.<br />

b) Kreis Ostholstein und Landkreis Rügen<br />

Wir wenden uns im Folgenden den Sozialverhältnissen<br />

in den beiden norddeutschen<br />

Untersuchungsgebieten zu. (Zur relevanten,<br />

für diesen Abschnitt ausgewerteten Literatur<br />

verweisen wir wieder auf das Verzeichnis am<br />

Ende des Unterkapitels.)<br />

(1) Naturraum: Die naturräumliche Lage an<br />

der Ostsee ist das Gemeinsame der Kreisgebiete<br />

Ostholstein und Rügen. Während der<br />

Landkreis Rügen aber nur das Gebiet der<br />

Insel umfasst, liegt der größte Teil des Kreises<br />

Ostholstein auf dem Festland und nur mit<br />

Fehmarn ein kleiner auf einer Insel. Bodenschätze<br />

wie in den deutschen Mittelgebirgen,<br />

die zum Kristallisationskern für eine gewerblich-industrielle<br />

Entwicklung werden konnten,<br />

fehlen in den beiden Regionen (sieht man vom<br />

Sonderfall der lokalen Kreidevorkommen auf<br />

Rügen ab). Neben der Landwirtschaft eröffnet<br />

die natürliche Lage nur noch die Möglichkeit<br />

der Nutzung der Ostsee – zuerst vor allem<br />

für den Fischfang, in der letzten Zeit eher für<br />

den Tourismus. Allerdings sind die<br />

Synergien von Landwirtschaft und<br />

Seite 66 Fischfang für die moderne sozialökonomische<br />

Entwicklung denkbar gering.<br />

Sie schlagen sich eigentlich nur<br />

in den – entwicklungstheoretisch gesehen: defensiven<br />

– Strategien zur Subsistenzsicherung<br />

bei kleinen Familienbetrieben des primären<br />

Wirtschaftssektors nieder.<br />

(2) Bevölkerungsentwicklung: Die Bevölkerungsentwicklung<br />

auf Rügen zeigt von 1738<br />

bis 1919 (51.000 Einw.) etwas mehr als eine<br />

Verdopplung der Einwohnerzahl – das ist<br />

vergleichsweise wenig und hat wohl etwas<br />

mit der gutsherrschaftlichen Bevölkerungskontrolle<br />

(d.h. im Gutsbezirk durfte nur mit<br />

Zustimmung des Gutsherrn geheiratet und<br />

eine Familie gegründet werden) zu tun. Der<br />

größte Zuwachs findet nach 1945 auf 85.000<br />

Einwohner statt. Anders als im Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt erweist sich diese Zunahme<br />

in der DDR-Zeit als stabil. Zwischen 1990<br />

und 2002 geht die Bevölkerungszahl dann<br />

kontinuierlich von 85.200 auf 73.600 Einwohner<br />

zurück. Die Geburtenrate sinkt stärker<br />

als im Land Mecklenburg-Vorpommern. Zu<br />

fragen bleibt, ob dies mit dem Wegzug junger<br />

Familien aus ehemaligen Militärstützpunkten<br />

zu tun hat. Rügen gehört nach Angaben des<br />

Statistischen Bundesamts bzw. seiner Statistischen<br />

Jahrbücher deutschlandweit zu den<br />

Kreisen mit den höchsten Scheidungsraten<br />

(derzeitiger Bundesdurchschnitt 23,5 pro<br />

10.000 Einwohner, Rügen: 31,3). Den größten<br />

Bevölkerungsverlust haben nach 1990 nicht<br />

die Landgemeinden, sondern die Stadt Bergen<br />

aufzuweisen. Das ergibt insgesamt für die Insel<br />

Rügen ein sehr negatives demographisches<br />

Bild.<br />

Wie sieht die Situation in Ostholstein aus?<br />

Der heutige Kreis hat 1950 mit seiner Bevölkerung<br />

nach dem Kreis Flensburg den höchsten<br />

Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen: Der<br />

Altkreis Eutin 44,2% (= 47.200 von 107.000<br />

Einwohnern) und der Altkreis Oldenburg i.H.<br />

42,9% (= 39.900 von 93.000 Einwohnern).


Der Anteil in Ostholstein nahm bis 1961 nur<br />

wenig auf 39,5% im Altkreis Eutin (35.100 von<br />

89.000) und etwas mehr auf 33,2% (26.400<br />

von 79.500) im Altkreis Oldenburg i.H. ab.<br />

Die Flüchtlinge aus den Gebieten östlich von<br />

Oder und Neiße mit ländlicher Herkunft verblieben<br />

am längsten am Ort der Ankunft nach<br />

der Flucht - Notunterkünfte wurden zum Teil<br />

erst um 1970 verlassen. Seit 1970 hat die Bevölkerungszahl<br />

zwar um etwa 15.000 auf über<br />

200.000 zugenommen. Von dieser geringen<br />

Zunahme sind die einzelnen Kreisteile jedoch<br />

sehr unterschiedlich betroffen: Sie konzentriert<br />

sich auf die suburbanen Vorortgemeinden von<br />

Lübeck (Zuwachs ca. 25%); dagegen findet<br />

sich vor allem im Nordteil eine kontinuierliche<br />

Abnahme (was eine deutliche Parallele zu<br />

Rügen darstellt), während die Bevölkerungszahl<br />

im Mittelteil des Kreises fast konstant<br />

bleibt. Die geringe Zahl von Zuwanderern (bei<br />

denen die über 50jährigen, die Ausländer und<br />

die Erwerbstätigen zwischen 30 und 50 Jahren<br />

überrepräsentiert sind), die sehr niedrige<br />

Geburtenrate und eine überdurchschnittlich<br />

hohe Zahl an Gestorbenen (u.a. Rentiers in<br />

den Bädergemeinden) führt (wie auf Rügen)<br />

zu einer Überalterung der Kreisbevölkerung.<br />

Während jedoch auf Rügen mehr junge Frauen<br />

fort ziehen, sind es (jedenfalls 1990 in unserer<br />

ersten Untersuchung) in Ostholstein überdurchschnittlich<br />

viele junge Männer im Alter<br />

zwischen 18 und 30 Jahren. Der Anteil der<br />

ausländischen Wohnbevölkerung liegt (2004)<br />

im Kreis Ostholstein mit insgesamt 2,7% nur<br />

wenig über dem in den Landkreisen Saalfeld-<br />

Rudolstadt (2,1%) und Rügen (1,9%) – ganz<br />

im Gegensatz zum Landkreis Heidenheim mit<br />

10,1% Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung.<br />

In Ostholstein wurde schließlich der Bevölkerungsschwund<br />

seit 1990 vor allem durch<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

eine Zuwanderung aus dem benachbarten<br />

Mecklenburg-Vorpommern gestoppt.<br />

(3) Historische Agrarverfassung: Ostholstein<br />

und Rügen zählen zu den ehemaligen Güterprovinzen<br />

mit einer scharf ausgeprägten Form<br />

der Gutsherrschaft. Über 50% der Landfläche<br />

wurde vor dem letzten Weltkrieg von Gütern<br />

bewirtschaftet (in Ostholstein waren es etwa<br />

55%, auf Rügen hatte dieser Anteil auf seinem<br />

Höhepunkt um 1800 sogar ca. 80% betragen,<br />

um von da an mehr oder weniger langsam zu<br />

sinken). Die Folgen beschreiben zeitgenössische<br />

Beobachter aus dem 19. Jahrhundert:<br />

Das „physische und moralische Elend“ hatte<br />

sich den Gesichtszügen und der ganzen Haltung,<br />

also dem Habitus, der Leibeigenen und<br />

Landarbeiter „tief und gewissermaßen erblich<br />

eingeprägt“. Auf den ersten Blick waren sie<br />

von den Einwohnern „freier Landdistrikte“<br />

zu unterscheiden (Hanssen 1975). Allerdings<br />

schreibt Max Weber (1988) in seiner Enquete<br />

zur Lage der ostelbischen Landarbeiter, dass<br />

die durch Deputate und Überlassung kleiner<br />

Wirtschaftsflächen versorgten Landarbeiter in<br />

den Gutsbezirken Ostholsteins – insbesondere<br />

wegen des hohen Anteils der Viehhaltung<br />

und der damit verbundenen besseren Chance<br />

auf ganzjährige Beschäftigung – die relativ<br />

günstigsten Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

unter allen ostelbischen Güterprovinzen<br />

Preußen-Deutschlands gehabt und die Landarbeiter<br />

auf Rügen, zum Beispiel bei<br />

der Wohnraumversorgung, merklich<br />

besser gestanden hätten als ihre Stan- Seite 67<br />

desgenossen auf den festländischen<br />

Gütern Vorpommerns und erst recht<br />

als in Hinterpommern. Von dieser allgemeinen<br />

Charakteristik eines Güterdistrikts wichen<br />

sowohl auf Rügen wie in Ostholstein nur


Soziographische Analyse<br />

zwei kleine Teile der heutigen Kreisgebiete<br />

ab: Mönchgut sowie Ummanz auf Rügen<br />

und die Insel Fehmarn sowie das ehemalige<br />

Klostergebiet um Cismar in Ostholstein.<br />

Die vorhandenen Bauernhöfe wurden allgemein<br />

geschlossen vererbt. Auf Rügen gab es<br />

die Kombination Bauer und Fischer öfter,<br />

während sich in Ostholstein die Fischerei in<br />

den kleinen Hafenstädten wie Heiligenhafen<br />

oder Neustadt i.H. konzentrierte, weshalb die<br />

lokale kollektive Orientierung auf das Land<br />

oder auf das Meer hin sozialräumlich klarer<br />

differenziert waren als auf Rügen.<br />

(4) Gewerbeentwicklung und Industrialisierung:<br />

In den Gutsbezirken beschränkte<br />

sich die Gewerbeentwicklung auf die für den<br />

landwirtschaftlichen Betrieb notwendigen<br />

Handwerkszweige. In einigen Hafenstädten<br />

Ostholsteins gab es kleine Werften und anderes<br />

Gewerbe im Umfeld von Fischerei und<br />

Schifffahrt – auf Rügen bis in die DDR-Zeit<br />

hinein noch weniger desselben; hier eröffneten<br />

sich nur für Pendler Beschäftigungschancen<br />

in der Stralsunder Werft, während sich der<br />

in den 1980er Jahren gebaute Fährhafen<br />

Mukran schon nicht mehr richtig entfalten<br />

konnte. Industrialisierung fand in Ostholstein<br />

auf der Basis von kleinen mittelständischen<br />

Unternehmen eigentlich erst nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg im Lübecker Umland und<br />

punktuell in den anderen größeren Orten<br />

des Kreisgebiets statt. Industrie und<br />

Gewerbe schafften es jedoch nur<br />

Seite 68 ein oder zwei Jahre in der Mitte der<br />

1960er Jahre, größter Wirtschaftssektor<br />

im Kreis Ostholstein zu werden.<br />

Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre bilden<br />

die Dienstleistungen den wichtigsten Sektor,<br />

insbesondere im Umfeld des Tourismus. Auf<br />

Rügen beginnt der Fremdenverkehr im 19.<br />

Jahrhundert noch früher und intensiver als in<br />

Ostholstein. Das erste Ferienzentrum wurde<br />

in Deutschland von den Nationalsozialisten<br />

in Prora auf Rügen geplant und zu bauen<br />

begonnen, die meisten Ferienzentren im Altbundesgebiet<br />

gibt es seit etwa 1970 im Kreis<br />

Ostholstein. Industrie ist auf Rügen nur punktuell<br />

vorhanden (z. B. Fischfabrik in Sassnitz).<br />

Wie in Ostholstein dominiert der tertiäre<br />

Sektor. Die Neugründung von Betrieben nach<br />

1990 konzentriert sich neben dem Handwerk<br />

auf diesen Bereich. Beide Kreisgebiete haben<br />

die prägende Formationsphase durch einen<br />

vorherrschenden Industrie- und Gewerbesektor<br />

so gut wie übersprungen. Die Integration<br />

in ein entsprechendes Berufssystem wurde nie<br />

zum selbstverständlichen Bestandteil des regionalen<br />

Handlungs- und Erziehungsmusters.<br />

Es ist davon auszugehen, dass dieser Mangel<br />

sich auf die Familienstruktur der unteren Bevölkerungsschichten<br />

auswirken wird. Besonders<br />

für die Vaterrolle scheint auch noch in der<br />

modernen Gesellschaft die stabile Verbindung<br />

von Familie und Beruf(sstelle) eine wichtige<br />

Voraussetzung zu sein. (Der relativ hohe Anteil<br />

an alleinerziehenden Müttern und Scheidungen<br />

in Ostholstein und auf Rügen unter<br />

den Klienten der Jugendhilfe scheint die These<br />

von einer „sekundären Entfamilialisierung“ des<br />

Vaters durch den Verlust seines Berufsstatus zu<br />

bestätigen.)<br />

(5) Innere Differenzierung nach Wirtschaftsschwerpunkten<br />

und Gemeindetypen: Wie zum<br />

Teil schon aus dem Vorhergehenden ersichtlich<br />

wurde, teilt sich Rügen in vier und Ostholstein<br />

in fünf Gemeindetypen mit unterschiedlichem<br />

sozialökonomischen Profil:


• Ehemalige Gutsdörfer, zum Teil mit Bauernstellen<br />

aufgesiedelt, im größeren Teil der<br />

Kreisgebiete,<br />

• alte Bauerndörfer in den „immer schon freien“<br />

Gemeinden der Kreise,<br />

• städtische Verwaltungs- (Bergen auf Rügen/<br />

Eutin, Oldenburg, Burg a.F. in Ostholstein)<br />

und gewerbliche Zentralorte (Sassnitz auf<br />

Rügen/Neustadt i.H.),<br />

• zahlreiche Badeorte und Ferienzentren in<br />

beiden Kreisgebieten<br />

• und in Ostholstein noch der suburbane Raum<br />

um Lübeck (für entsprechende Suburbanisierungsprozesse<br />

auf Rügen liegen Stralsund und<br />

Greifswald „zu weit weg“, außerdem differieren<br />

diese beiden Städte deutlich mit Lübeck, was<br />

die Größenklasse im sozialgeographischen<br />

Konzept der zentralen Orte anbelangt).<br />

(6) Soziale Situation und Arbeitsmarktlage:<br />

Nach der wirtschaftlichen Situation betrachten<br />

wir wieder die Kehrseite des Sozialbelastungsindexes<br />

und des wohlfahrtsstaatlichen<br />

Leistungsprofils in beiden Landkreisen. In<br />

Nordostdeutschland gab es bis in die 1960er<br />

Jahre im Falle des Kreises Ostholstein und bis<br />

1990 auf Rügen noch zahlreiche Landarbeiter.<br />

Mit der Technisierung und Rationalisierung<br />

der großbetrieblichen Landwirtschaft verloren<br />

von da ab die meisten ihren Arbeitsplatz<br />

im Agrarsektor. Ein Teil der Freigesetzten<br />

fand in der regionalen Bauwirtschaft oder<br />

als Gemeindearbeiter eine neue Stelle. Der<br />

andere blieb arbeitslos, zog – nicht zuletzt aus<br />

einem Mangel an Humanvermögen für Tätigkeiten<br />

in der modernen Industrie und den an<br />

kommunikativem Vermögen ausgerichteten<br />

Dienstleistungen – aber auch nicht „der Arbeit<br />

hinterher“. Nimmt man das Datum hinzu,<br />

dass die anderen regionalen Wirtschaftszweige<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

wie Fischerei und die daran anschließenden<br />

Verarbeitungsbetriebe sowie Kleinindustrie<br />

(z. B. kleine und sehr kleine Werftbetriebe)<br />

ebenfalls seit den 1970er bzw. 1990er Jahren<br />

stark abgenommen haben (allerdings spielt<br />

die Stralsunder Werft für Arbeiterpendler<br />

auf der Insel Rügen nach wie vor eine gewisse<br />

Rolle), müssen wir von einer höheren<br />

durchschnittlichen Arbeitslosigkeit als in den<br />

süddeutschen Landkreisen Heidenheim und<br />

Saalfeld-Rudolstadt ausgehen. Wie sehen die<br />

Quoten der Arbeitslosigkeit in Tabelle 1 im<br />

Kreis Ostholstein und auf Rügen zwischen<br />

1989 und 2006 dann tatsächlich aus?<br />

Seite 69


Seite 70<br />

Soziographische Analyse<br />

Tabelle 1: Arbeitslosenquote der Kreise Ostholstein und Rügen im<br />

Jahresdurchschnitt und im Vergleich<br />

In beiden Kreisgebieten ist eine ausgeprägte<br />

saisonale Schwankung der Arbeitslosenquote<br />

festzustellen. Das gibt die strukturelle Homologie<br />

in der Regionaltypik wieder und ist<br />

mit ihr zu erklären. Dazu gehört insbesondere<br />

die große Bedeutung von Tourismus und<br />

Ferienindustrie. Der Ost-West-Gegensatz<br />

drückt sich wie im Falle der Landkreise<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt durch<br />

eine in etwa doppelt so hohe Arbeitslosen-<br />

Arbeitslosenquote aller abh. Erwerbspersonen im Jahresdurchschnitt,<br />

sowie Minimum im Sommer- und Maximum im Winterhalbjahr in %<br />

Ostholstein Rügen<br />

Jahr Min. Max. Jahr Min. Max.<br />

1989 10,4 7,6 15,5 - - -<br />

1997 11 9,4 13,3 19,5 16,1 23,5<br />

2001 9,9 8,2 12,7 20,4 17,5 25,4<br />

2002 9,9 8,6 12,5 21,1 17,0 26,5<br />

2003 11,1 9,4 13,7 22,7 18,4 29,1<br />

2004 11,1 9,5 13,7 22,9 19,2 27,9<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />

rate des jeweiligen ostdeutschen Kreises aus.<br />

In der nächsten Tabelle betrachten wir wieder<br />

die Anteile der Arbeitslosengeld I (nach SGB<br />

III) und Arbeitslosengeld II (nach SGB II)<br />

Beziehenden im Dezember 2005 (für das<br />

Winterhalbjahr) und im Juni 2006 (für das<br />

Sommerhalbjahr). Sie ermöglichen uns den<br />

Rückschluss auf die jeweilige Langzeitarbeitslosigkeit<br />

in den beiden Kreisgebieten.<br />

Arbeitslosenquote aller zivilen Erwerbspersonen nach SGB II und SGB III<br />

Arbeitslosenquote<br />

Dezember<br />

2005 in %<br />

SGB II SGB III<br />

Arbeitslosenquote<br />

Juni<br />

2006 in %<br />

SGB II SGB III<br />

Heidenheim 8,6 4,2 4,4 7,5 4,0 3,5<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Tabelle 2: Arbeitslosenquote nach SGB II und SGB III in den Kreisen Ostholstein und Rügen<br />

16,8 9,3 7,5 15,2 9,1 6,2<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“


Auf der einen Seite sind aus Tabelle 2 Zahlen<br />

zur regionalen Arbeitslosigkeit zu ersehen,<br />

die man nach allgemeiner Einschätzung so<br />

erwartet. Auf Rügen ist die Quote immer höher<br />

als in Ostholstein. Auf der anderen Seite<br />

zeigt sich aber auch ein auf den ersten Blick<br />

überraschender statistischer Befund: Im Kreis<br />

Ostholstein ist ein zwar kleinerer, aber dafür<br />

stabilerer Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit<br />

festzustellen.<br />

35,0<br />

30,0<br />

25,0<br />

20,0<br />

15,0<br />

10,0<br />

5,0<br />

0,0<br />

Dieses erste Schaubild zeigt anschaulich, dass<br />

auf Rügen nicht nur die durchschnittliche<br />

Arbeitslosenquote höher als in Ostholstein ist,<br />

sondern auch die Ausschläge hinsichtlich Minimum<br />

und Maximum in der jahreszeitlichen<br />

Statistik prägnanter ausfallen. (Obwohl wir<br />

der Tabelle 1 in diesem Abschnitt entnehmen<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Schaubild 1: Arbeitslosenquote der Kreise Ostholstein und Rügen<br />

im jahreszeitlichen Ablauf (2001-2004)<br />

Denn sowohl im Sommer als auch im Winter<br />

(hier anders als auf Rügen) ist der Anteil an<br />

ALG II-Empfängern höher als der der ALG<br />

I-Empfänger. In beiden Kreisgebieten fällt<br />

zuerst wieder die hohe saisonale Schwankung<br />

der Arbeitslosenquoten ins Auge. Dies wird in<br />

unserem nächsten Schaubild noch deutlicher<br />

hervorgehen.<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

2001 2002 2003 2004<br />

Kreis Ostholstein Kreis Rügen<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />

konnten, dass diese Schwankungen in<br />

Ostholstein auch schon einmal größer<br />

waren – vgl. Bohler & Bieback-Diel<br />

2001, S. 71)<br />

Seite 71


Soziographische Analyse<br />

Im Folgenden betrachten wir im Juni 2006 die<br />

Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen in den Kreisen Ostholstein und<br />

Rügen. Da wir uns auf die Häufigkeit des<br />

Bestand insgesamt<br />

Darunter:<br />

Männer<br />

Frauen<br />

Ausländer<br />

Davon nach Schulabschluss:<br />

Kein Schulabschluss<br />

Hauptschule/mittlere Reife<br />

FH/HS-Reife<br />

Ostholstein<br />

Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />

Insgesamt<br />

Erwartungsgemäß – allerdings viel weniger<br />

als ursprünglich von uns vermutet – liegen<br />

das Niveau der Arbeitslosigkeit und die<br />

Wahrscheinlichkeit prekärer Lebenslagen in<br />

den Kreisen Ostholstein und Rügen (11,9%<br />

und 13,4%) höher als in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt (11,5%<br />

und 11,0%). Dagegen differieren die Anteile<br />

in den beiden westdeutschen<br />

Kreisgebieten deutlich weniger als<br />

Seite 72 in den ostdeutschen. Erstaunlich ist<br />

jedoch in diesem Zusammenhang,<br />

dass der Anteil der Bezieher von<br />

ALG II im Landkreis Heidenheim – zwar<br />

nur leicht, aber insgesamt doch – höher<br />

liegt als im generell strukturschwächeren<br />

Bezugs von Arbeitslosengeld II beschränken,<br />

erwarten wir mehr als nur einen mittelbaren<br />

Hinweis auf prekäre Lebenslagen in der Altersgruppe<br />

der 16- bis 25-Jährigen.<br />

Tabelle 3: Arbeitslose unter 25 Jahre nach SGB II Juni 2006: Ostholstein und Rügen<br />

11,9<br />

6,8<br />

5,1<br />

0,6<br />

2,4<br />

8,9<br />

0,6<br />

im Rechtskreis<br />

SGB II<br />

5,9<br />

3,5<br />

2,4<br />

0,4<br />

1,6<br />

4,0<br />

0,3<br />

Rügen<br />

Arbeitslose unter 25 Jahren in %<br />

Insgesamt<br />

13,4<br />

8,3<br />

5,1<br />

-<br />

2,7<br />

10,2<br />

0,5<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslose unter 25 Jahren nach dem Rechtskreis SGB II<br />

im Rechtskreis<br />

SGB II<br />

9,1<br />

5,6<br />

3,5<br />

-<br />

2,3<br />

6,6<br />

0,2<br />

Kreis Ostholstein. Um die Gründe für solche<br />

Befunde herausarbeiten zu können, wären<br />

in diesem Bereich weitere Untersuchungen<br />

notwendig. Hier scheinen sich vielfältige<br />

Bedingungsfaktoren (wie zum Beispiel Mobilitätsneigung,<br />

arbeitsmarktpolitische Maßnahmen<br />

usw.) zu kreuzen. Darauf gehen wir im<br />

nächsten Abschnitt 7 nochmals ein.<br />

Kommen wir an dieser Stelle zu einem Resümee<br />

des gesamten Kreisvergleichs für den Bereich<br />

der Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Wie nehmen<br />

sich die Relationen der Arbeitslosigkeit in<br />

Ostholstein und auf Rügen im Vergleich mit<br />

den süddeutschen Landkreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt aus? Nimmt man


zum Beispiel die Arbeitslosenzahlen von 2004<br />

(jeweils aus Tabelle 1: Heidenheim: 8,9%,<br />

Saalfeld-Rudolstadt: 16,8%, Ostholstein<br />

11,1%, Rügen: 22,9%), so spiegelt sich darin<br />

das aus der allgemeinen gesellschaftlichen<br />

Entwicklung von uns Erwartete:<br />

Es überschneiden sich der Ost-West- und<br />

der Nord-Süd-Effekt. Auf der einen Seite<br />

haben die westdeutschen Kreise (Heidenheim,<br />

Ostholstein) eine geringere Quote als ihr<br />

jeweiliges ostdeutsches Pendant (Saalfeld-<br />

Rudolstadt, Rügen). Auf der anderen Seite<br />

zeigen die süddeutschen Kreise (Heidenheim,<br />

Saalfeld-Rudolstadt) eine niedrigere als ihre<br />

norddeutschen Kontrastgebiete in den alten<br />

und neuen Bundesländern (Ostholstein, Rügen).<br />

Wir hatten im Abschnitt zu den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

oben schon darauf hingewiesen, dass im Allgemeinen<br />

aus einer höheren sozialen Belastung<br />

der Region auf die verstärkte Notwendigkeit<br />

von Interventionen der sozialen Dienste und<br />

Beratung durch Einrichtungen (wie z. B.<br />

Schuldnerberatung) oder eine große Zahl von<br />

Leistungsempfängern der Sozialkassen (wie z.<br />

B. im Bereich der Jugendhilfe die Unterhaltsvorschusskasse)<br />

geschlossen wird. Das entsprechende<br />

Bedarfsprofil der sozialen Dienste und<br />

Einrichtungen verschärft sich auf der Basis der<br />

vier Kreisstatistiken tendenziell von West nach<br />

Ost und von Süd nach Nord. Das bestätigt die<br />

allgemeinen Erwartungen. Unübersichtlicher<br />

ist die Situation in den beiden Tabellen 2. In<br />

ihnen wird neben der Angabe der saisonalen<br />

Schwankungen zwischen Lang- (SGB II) und<br />

Kurzzeitarbeitslosen (SGB III) differenziert.<br />

Und hier zeigt sich bei den norddeutschen<br />

Kreisgebieten, dass der Kreis Ostholstein im<br />

Vergleich zur Insel Rügen zwar die insgesamt<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

geringere Arbeitslosenquote, jedoch den<br />

relativ größeren und stabileren „Sockel“ an<br />

Langzeitarbeitslosen aufweist. Denn nur in<br />

Ostholstein ist auch im Winter der Anteil<br />

der Langzeitarbeitslosen (ALG II) höher<br />

als der der Arbeitslosengeld (ALG I) Beziehenden.<br />

Umgekehrt ist die Relation in den<br />

süddeutschen Kreisgebieten. Der Landkreis<br />

Heidenheim hat nicht nur die geringste saisonale<br />

Schwankung in den Arbeitslosenquoten<br />

– wie aus dem nebenstehenden Schaubild der<br />

saisonell bedingten Schwankung der Arbeitslosenquote<br />

im Vergleich der vier Landkreise<br />

deutlich hervorgeht – , sondern auch die geringste<br />

Sockelarbeitslosigkeit. Allerdings teilt<br />

Heidenheim mit der Insel Rügen dasselbe<br />

Grundmuster in der Verteilung von Kurz- und<br />

Langzeitarbeitslosen, ebenso wie der Kreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt mit Ostholstein. Was<br />

könnte hierfür ein Grund sein? Aus unserer<br />

sozialstrukturellen Betrachtung zu Anfang der<br />

beiden Regionalvergleiche ging bereits hervor,<br />

dass der Arbeitsplatzabbau im primären Sektor<br />

und im Baugewerbe in Ostholstein mindestens<br />

ein bis zwei Jahrzehnte früher einsetzte<br />

als auf Rügen. Die Sockelarbeitslosigkeit<br />

würde diesen zeitlichen Ablauf wiedergeben.<br />

Dazu kontrastiert der Beschäftigungswandel<br />

in den industrialisierten süddeutschen Kreisgebieten.<br />

Der „große“ Abbau gewerblicher<br />

Arbeitsplätze fand im Landkreis Saalfeld-<br />

Rudolstadt – „wendebedingt“ – zu Anfang der<br />

1990er Jahre, im Landkreis Heidenheim<br />

– globalisierungsbedingt – zehn<br />

Jahre später, nämlich zu Anfang Seite 73<br />

des 21. Jahrhunderts statt. Auch<br />

dieses strukturelle Ablaufmuster der<br />

Beschäftigungssituation spiegelt sich in der<br />

Arbeitslosenstatistik wider.


Seite 74<br />

Soziographische Analyse<br />

Schaubild 2: Saisonal bedingte Schwankung der Arbeitslosenquote im Vergleich<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit: „Zeitreihe Arbeitslose und Quoten nach Kreisen ab 1985“<br />

Heidenheim 9,2 5,9 3,3<br />

Saalfeld-Rudolstadt 13,5 8,4 5,1<br />

Ostholstein 18,7 13,2 5,5<br />

Rügen 29,1 17,0 12,2<br />

Kreis Max. Min. Diff. Max.-Min.<br />

2001 2002 2003 2004<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Januar<br />

Februar<br />

März<br />

April<br />

Mai<br />

Juni<br />

Juli<br />

August<br />

September<br />

Oktober<br />

November<br />

Dezember<br />

Kreis Saalfeld-Rudolstadt<br />

Kreis Heidenheim<br />

Kreis Ostholstein<br />

Kreis Rügen


(7) Regionale Opportunitäten für soziale Entwicklungen:<br />

Wie im ersten Teil des Kapitels zu<br />

den Regionen um Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt fragen wir auch hier wieder nach<br />

den Ergebnissen des C 6-Projekts zur Entwicklung<br />

und zu den psychosozialen Effekten<br />

im Rahmen der Bewältigung sozialen Wandels.<br />

Dieses Projekt zielt ja mit seinen Analysen<br />

unter anderem auf die Modellierung von vier<br />

Teilgruppen, die sich anhand kontrastierender<br />

Merkmalskombinationen bei der Betroffenheit<br />

durch sozialen Wandel und den Ressourcen zu<br />

dessen Bewältigung ergeben. Wir hatten beim<br />

Vergleich der ostwürttembergischen und ost-<br />

thüringischen Gebiete gesehen, dass diese sich<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

in der typologischen Betrachtung entsprechend<br />

unterscheiden. Beziehen wir nun die Gebiete<br />

des östlichen Holsteins und das nordöstliche<br />

Vorpommern in diese Betrachtung mit ein,<br />

dann müssen wir vor dem Hintergrund unserer<br />

bisherigen Rekonstruktionen zu dem Schluss<br />

kommen, dass wir mit unseren Untersuchungsgebieten<br />

alle vier Teilgruppen, wie sie im<br />

Projekt C 6 herausgestellt werden, „abdecken“.<br />

Das bedeutet, es ergibt sich hinsichtlich der<br />

Betroffenheit von sozialem Wandel (niedrig<br />

versus hoch) und dem Ausmaß an Ressourcen<br />

(niedrig versus hoch) eine Vier-Felder-Matrix,<br />

in die sich unsere Untersuchungsgebiete wie<br />

folgt einfügen:<br />

Schaubild 3: Betroffenheit von sozialem Wandel und Ressourcen zu seiner Bewältigung<br />

hohe Betroffenheit niedrige Betroffenheit<br />

viele Ressourcen Saalfeld-Rudolstadt Heidenheim<br />

wenige Ressourcen Rügen Ostholstein<br />

Diese Anordnung der Untersuchungsgebiete<br />

begründen wir mit folgenden Überlegungen<br />

und Indikatoren. Zuerst einmal spiegelt die<br />

Position in der Matrix die internen Relationen<br />

wider. Die höhere Betroffenheit durch<br />

sozialen Wandel im Falle der Insel Rügen<br />

und des Kreises Saalfeld-Rudolstadt bezieht<br />

sich bei C 6 auf den Systemumbruch<br />

1989/90. Im Vergleich dazu ist der Wandel<br />

mit seinen Folgen für die soziale Belastung<br />

der Kommunen im Landkreis Heidenheim<br />

geringer – obwohl Heidenheim in Relation<br />

zu seinen direkten Nachbarkreisen deutlich<br />

mehr unter den sozialen und wirtschaftlichen<br />

Entwicklungen der letzten 15 Jahre zu leiden<br />

hat. Diese Beziehungen sind unmittelbar<br />

nachzuvollziehen. Hinsichtlich der strukturellen<br />

Ressourcenfrage und ihrer Verbindung<br />

mit der Höhe der Betroffenheit durch Wandel<br />

greifen wir wieder auf unsere Indikatoren<br />

Regionale Wirtschaftskraft und Be-<br />

völkerungsentwicklung zurück. Danach<br />

ergibt sich das in der folgenden<br />

Tabelle wiedergegebene Bild.<br />

Seite 75


Soziographische Analyse<br />

Deutlich kontrastieren in Tabelle 4 die Kreisgebiete<br />

Ostholstein und Rügen – und zwar so<br />

deutlich, dass man einen Moment an ihrer Zugehörigkeit<br />

zu einem Regionaltypus zweifeln<br />

könnte. Allerdings gilt es hier zu bedenken,<br />

um wie viel größer die Strukturdifferenzen<br />

innerhalb des Kreises Ostholstein als die auf<br />

Rügen sind: Der Abstand hinsichtlich der<br />

Wirtschaftskraft des Gebietes des Altkreises<br />

Oldenburg i.H. – wo unser Untersuchungsschwerpunkt<br />

im Kreis Ostholstein liegt – zur<br />

Insel Rügen dürfte merklich geringer sein<br />

als der von Rügen zum südlicher gelegenen<br />

Altkreis Eutin. Auch verliert der Nordteil des<br />

Kreises Ostholstein seit dem Abebben<br />

der „Flüchtlingswelle“ in der Nach-<br />

Seite 76 kriegszeit stetig an Bevölkerung. Dies<br />

war z. B. zwischen 1970 und 1990 der<br />

Fall, wie wir aus früheren Untersuchungen<br />

(Bohler & Bieback-Diel 2001) wissen:<br />

Während der Südteil um Lübeck in dieser<br />

Zeit eine Bevölkerungszunahme von 22% zu-<br />

Tabelle 4: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft:<br />

Ostholstein und Rügen im Vergleich<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

a Wanderungssaldo b Bruttoinlands<br />

produkt (BIP) c<br />

Verfügbares Haushaltseinkommen<br />

d<br />

Ostholstein 21,6 58,5 19.219 16.038<br />

Rügen -91,8 -65,0 16.707 13.702<br />

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />

a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />

b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />

c BIP je Einwohner 2004 in Euro<br />

d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 in Euro (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />

verzeichnen hatte, nahm die Einwohnerzahl<br />

des Nordteils ab – in der Mitte des Kreises um<br />

Eutin blieb sie in etwa konstant.Wir hatten<br />

im Abschnitt zu Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt darauf hingewiesen, dass die Frage<br />

nach Ressourcen und regionalen Opportunitäten<br />

nicht einfach zu beantworten ist. Um ein<br />

vollständigeres Bild zu bekommen, fassen wir<br />

in der folgenden Tabelle 5 die Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />

und zur Wirtschaftskraft<br />

aller vier Kreisgebiete zusammen.


In dieser Gesamtübersicht tritt besonders<br />

hervor, dass die beiden altindustriellen Gewerbegebiete<br />

Heidenheim und Saalfeld sich in den<br />

Kennzahlen näher stehen als die beiden nordostdeutschen<br />

Kreise Ostholstein und Rügen.<br />

Des Weiteren fällt auf, dass die Erwartungen<br />

hinsichtlich der Wirtschaftskraft der einzelnen<br />

Landkreise bestätigt werden: Im Nord-Süd-<br />

Vergleich (alte und neue Bundesländer je für<br />

sich betrachtet) haben die Kreisgebiete im<br />

Süden ein höheres BIP und ein höheres durchschnittlich<br />

verfügbares Haushaltseinkommen<br />

als die beiden Vergleichskreise im Norden.<br />

Dass der (Wieder-)Aufbau des gewerblichindustriellen<br />

Sektors in Ostdeutschland<br />

noch nicht abgeschlossen ist, zeigen die unterschiedlichen<br />

Abstände im westdeutschen<br />

Nord-Süd-Vergleich und seinem ostdeutschen<br />

Pendant: Zwischen den Kreisen Heidenheim<br />

und Ostholstein liegen beim BIP ziemlich<br />

genau 2.000 Euro je Einwohner, zwischen<br />

den Landkreisen Saalfeld-Rudolstadt<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Bevölkerungsentwicklunga<br />

Wanderungssaldob Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) c<br />

Verfügbares Haushaltseinkommen<br />

d<br />

Heidenheim 7,8 -38,4 26.217 17.395<br />

Ostholstein 21,6 58,5 19.219 16.038<br />

Rügen -91,8 -65,0 16.707 13.702<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Tabelle 5: Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftskraft im Vergleich aller Landkreise<br />

-95,7 -48,1 16.868 14.004<br />

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder: „Atlas zur Regionalstatistik 2006“<br />

a Bevölkerungsentwicklung je 10.000 Einwohner 2004<br />

b Wanderungssaldo je 10.000 Einwohner 2004<br />

c BIP je Einwohner 2004<br />

d Verfügbares Einkommen je Haushalt 2003 (aus: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder 2006)<br />

und Rügen dagegen nur gut 150 Euro.<br />

Beim verfügbaren Haushaltseinkommen sind<br />

die Verhältnisse zwar nicht in der Reihenfolge,<br />

aber in den internen Relationen zwischen ostund<br />

westdeutschen Kreisgebieten anders: Der<br />

Abstand zwischen Heidenheim und Ostholstein<br />

ist bezogen auf den BIP-Vergleich viel<br />

geringer (nur etwa 1350 Euro je Haushalt),<br />

während hier der Abstand zwischen Saalfeld-<br />

Rudolstadt und Rügen relativ größer wird (ca.<br />

300 Euro). Diese statistischen Befunde zur<br />

Wirtschaftskraft und zum verfügbaren Haushaltseinkommen<br />

lassen sich – zum Beispiel<br />

durch den Hinweis auf den Zuzug relativ wohlhabender<br />

Ruheständler in Ostholstein<br />

– recht schnell plausibel erklären.<br />

Anders sieht es bei der Bevölkerungs- Seite 77<br />

entwicklung, und hier insbesondere<br />

hinsichtlich des Wanderungssaldos,<br />

aus. Je für sich lassen sich die statistischen<br />

Befunde zur Bevölkerungsentwicklung<br />

und zu den Wanderungsbewegungen wie-


Soziographische Analyse<br />

der nachvollziehen: Der Landkreis Heidenheim<br />

zum Beispiel hat im fraglichen<br />

Zeitraum sowohl eine der höchsten Arbeitslosenraten<br />

in Baden-Württemberg als auch den<br />

negativsten Wanderungssaldo (wie ein Blick in<br />

den „Atlas zur Regionalstatistik 2006“ zeigt).<br />

Die Insel Rügen verliert mehr Einwohner<br />

durch Wegzug als durch eine negative Geburtenrate<br />

wie im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt.<br />

Saldo<br />

Arbeitswanderer a<br />

Betrachtet man diese Vergleichszahlen in den<br />

einzelnen Landkreisen, so fällt zuerst auf, dass<br />

überall der Saldo an Arbeitswanderern am<br />

ungünstigsten ist, dass aber jeweils die Kreise<br />

Heidenheim und Ostholstein sowie Saalfeld-<br />

Rudolstadt und Rügen dieselbe Reihenfolge<br />

in den Wanderungssalden aufweisen<br />

(in den beiden westdeutschen Kreisen<br />

Seite 78 ist der Saldo der Familienwanderung<br />

am positivsten, in den ostdeutschen<br />

der Wanderungssaldo der Ruheständler).<br />

Unseren Erwartungen entspricht,<br />

dass die Insel Rügen bei Ruhestands- und<br />

Familienwanderung günstigere Daten als der<br />

Tabelle 6: Wanderungsgruppen in den vier Landkreisen<br />

Wanderungssaldo<br />

Ruheständler b<br />

Saldo<br />

Familienwanderer c<br />

Heidenheim -3,4 1,5 2,7<br />

Ostholstein 3,1 8,7 10,2<br />

Rügen -23,4 -0,1 -2,5<br />

Saalfeld-Rudolstadt -17,8 -2,4 -5,3<br />

Quelle: INKAR - Indikatoren und Karten zur Raumentwicklung 2005<br />

Wie aber sind die auf den ersten Blick nicht<br />

vermuteten Verhältnisse in Ostholstein zu<br />

deuten? Um dieser Frage nachzugehen, ziehen<br />

wir in Tabelle 6 noch die Situation bei unterschiedlichen<br />

Wanderungsgruppen (aus Gründen<br />

des Arbeitsplatzes, des Umzugs in den<br />

Altersitz oder der Familienzusammenführung)<br />

in den Kreisgebieten für unsere Interpretation<br />

heran:<br />

a Arbeitsplatzwanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. von 25 bis unter 30 J. je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />

b Ruhestandswanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. 65j. und älter je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />

c Familienwanderer - Binnenwanderungssaldo der Einw. unter 18 J. und 30 bis unter 50J. je 1.000 Einw. der Altersgruppe 2003<br />

Landkreis Saalfeld-Rudolstadt aufweist (-2,6<br />

: -7,7), und umgekehrt Saalfeld-Rudolstadt<br />

beim Wanderungsverlust durch Arbeitsuchende<br />

günstigere Verhältnisse zeigt (-17,8 : -23,4).<br />

Die Relation im ersten Vergleich von Ruhestands-<br />

und Familienwanderern findet<br />

sich entsprechend beim Vergleich der Kreise<br />

Heidenheim und Ostholstein. Nicht so jedoch<br />

bei der Arbeitswanderung. In diesem Zusammenhang<br />

ist weiter zu bemerken, dass nur der<br />

Kreis Ostholstein in allen drei Wanderungskategorien<br />

eine positive Bilanz aufweist. Bezogen<br />

auf die Wirtschaftskraft und die Arbeitslosenrate<br />

– und das abstrakte Handlungskalkül eines


homo oeconomicus zugrunde gelegt – müsste<br />

dies jedoch der Landkreis Heidenheim sein.<br />

Wir haben hier nicht die Gelegenheit, diesen<br />

unerwarteten Sachverhalt endgültig aufzuklären.<br />

Wir können zuerst einmal nur auf die<br />

bereits angeführten bevölkerungsstatistischen<br />

Aussagen verweisen, wonach die Entwicklung<br />

in den ländlich-peripheren Kreisteilen<br />

Ostholsteins und in den suburbanisierten (vor<br />

allem bei Arbeits-, aber auch bei Familienwanderung)<br />

deutlich differiert sowie der Gemeindetypus<br />

der Ferienorte am meisten durch<br />

den dort oft sehr positiven Wanderungssaldo<br />

an Ruhestandswanderung gewinnt (Bohler<br />

& Bieback-Diel 2001, S. 72ff. – Ein weiterer<br />

Gesichtspunkt, der möglicherweise noch eine<br />

Rolle spielt, wird unten in Abschnitt 11 zur<br />

Situation der Schulbildung angesprochen. Er<br />

würde wieder auf die Bedeutung von Mentalität<br />

und subjektiven Handlungsressourcen<br />

hinweisen.) Der am meisten die Erwartungen<br />

irritierende Befund bei der Arbeitswanderung<br />

in Ostholstein verweist auf der Ebene des<br />

Kreises auf die Disparität und die zunehmende<br />

Dominanz des suburbanisierten Südens, auf<br />

der wirtschaftsstrukturellen Ebene aber auf<br />

den Tatbestand, dass der Dienstleistungssektor<br />

– der in Ostholstein merklich größer ist<br />

als im Landkreis Heidenheim – Arbeitsplätze<br />

aufbaut, während der sekundäre Sektor seit<br />

der Strukturkrise der Massenproduktion in<br />

Deutschland Beschäftigung abbaut. (Letzteres<br />

muss dann die altindustriellen Städte – in<br />

Baden-Württemberg neben Heidenheim vor<br />

allem Mannheim und Heilbronn, die sich<br />

früher und intensiver an der industriellen<br />

Entwicklung beteiligten als der (heute dominierende)<br />

Großraum Stuttgart – in ihrem<br />

Arbeitsplatzbestand besonders treffen.)<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Wenn wir die uns bekannt gewordenen Fälle<br />

der Jugendhilfe in den vier Kreisen unter dem<br />

Gesichtspunkt der Wanderungstypologie<br />

betrachten, so finden wir – außer bei der<br />

Ruhestandswanderung, die sich aus Gründen<br />

der Generationenlage mit der Kinder- und<br />

Jugendhilfe wenig überschneidet – Mobilität<br />

aus Gründen der Arbeitsmöglichkeiten und<br />

der Familienzusammenführung. Diese Wanderungsgruppen<br />

scheinen sich eher auf den<br />

Zuzug vom Land in die Stadt zu konzentrieren.<br />

Dagegen gibt es vor allem in den Jugendamtsakten<br />

Ostholsteins, aber inzwischen auch<br />

schon auf Rügen, immer wieder Fälle von<br />

Klienten aus Ballungsräumen (Ruhrgebiet,<br />

Rhein-Main-Gebiet), die hoffen, ihren Problemen<br />

durch den Umzug in ein Feriengebiet<br />

„entkommen“ zu können. Hier sind dann<br />

gewisse Parallelen zur Ruhestandswanderung<br />

in Regionen wie Ostholstein und Rügen zu<br />

erkennen.<br />

(8) Politisches System: Wir hatten im ersten<br />

Vergleich der Landkreise Heidenheim und<br />

Saalfeld-Rudolstadt darauf hingewiesen, dass<br />

wir im Anteil der freien Wählervereinigungen<br />

bei den letzten Kommunalwahlen einen Indikator<br />

bezüglich des regionalen Autonomiepotentials<br />

sehen. Außerdem haben wir uns vom<br />

Vergleich der Zahlen aus Baden-Württemberg<br />

und Thüringen mit denen aus Mecklenburg-<br />

Vorpommern und Schleswig-Holstein<br />

versprochen, den Einfluss des inter-<br />

venierenden Ost-West-Gegensatzes<br />

eingrenzen zu können. Welches Bild<br />

ergeben die Vergleichszahlen der<br />

letzten Kommunalwahlen in den<br />

Kreisen Ostholstein und Rügen?<br />

Seite 79


Soziographische Analyse<br />

Partei Ostholstein a Rügen b<br />

CDU 52,6 41,1<br />

SPD 30,0 10,7<br />

FDP 5,5 11,7<br />

Grüne 6,2 2,7<br />

PDS - 22,3<br />

Fr. Wähler/BI 5,2 10,5<br />

Sonstige - 1,0<br />

Die Unterschiede in Tabelle 7 bei den freien<br />

Wählern zwischen den Kreisen Heidenheim<br />

(21,1%) und Ostholstein (5,2%) entsprechen<br />

fast schon paradigmatisch unserer Ausgangshypothese,<br />

wonach sich ein größeres regionales<br />

Autonomiepotential in einem signifikant<br />

höheren Anteil an freien und unabhängigen<br />

Wählergemeinschaften niederschlägt. Anders<br />

sieht es beim Vergleich der Insel Rügen mit<br />

dem Landkreis Saalfeld-Rudolstadt aus. Zwar<br />

ist auch hier der Anteil im gewerblich entwickelten<br />

Thüringer Kreis etwas höher als der in<br />

der ehemaligen Güterprovinz, doch er ist nicht<br />

signifikant höher (12,9% zu 10,5%).<br />

Die „Erbschaft“ der DDR scheint<br />

Seite 80 sich hier wieder nachhaltig auszuwirken<br />

– was auch nicht überraschend<br />

ist, wenn man nur an den Verlust<br />

bürgerlicher Schichten denkt, der Thüringen<br />

nach 1945 mehr betreffen musste als Vorpommern<br />

(wir erinnern hier an Abschnitt 2 und<br />

Tabelle 7: Ergebnisse der Kommunalwahlen 2003 und 2004<br />

a Kreistagswahl 2003: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein)<br />

b Kreistagswahl 2004: Endgültiges Ergebnis (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern)<br />

die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung<br />

in beiden ostdeutschen Kreisen zu DDR-<br />

Zeiten).<br />

Betrachtet man die Wahlergebnisse schließlich<br />

noch unter dem Gesichtspunkt politischer<br />

Lager („konservatives“ Lager aus CDU und<br />

FDP sowie ein „linkes“ Lager aus SPD und<br />

PDS), dann fällt auf, dass diese Lager in beiden<br />

Landkreisen fast gleich stark sind – was<br />

auf entsprechende Gemeinsamkeiten der<br />

sozialstrukturellen und mentalen Situation<br />

hindeutet. Hier unterscheiden sich die Landkreise<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt<br />

deutlicher voneinander, was unter anderem mit<br />

einer unterschiedlich intensiven Teilhabe am<br />

Individualisierungsprozess der Moderne zusammenhängen<br />

könnte, der gerade am Abbau<br />

traditioneller politischer Lager als unmittelbare<br />

„Abbildung“ der überkommenen sozialstrukturellen<br />

Situation „arbeitet“ (paradigmatisch


hierfür steht die „postmoderne“ Partei der<br />

„Grünen“).<br />

Zum Abschluss wieder eine Anmerkung<br />

zur politischen Jugendkultur. Während<br />

Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-<br />

Holstein – glaubt man den veröffentlichten<br />

Daten zu diesem Feld – als Bundesländer<br />

einen überdurchschnittlich hohen Anteil an<br />

rechtsradikalen Jugendlichen aufweisen, sind<br />

die hier untersuchten beiden Kreisgebiete im<br />

Gegensatz insbesondere zu den Hauptorten<br />

der Landkreise Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt keine auffallenden Zentren für<br />

solche Entwicklungen. An dieser Stelle muss<br />

allerdings offen bleiben, ob dies eher als Folge<br />

der peripheren Lage oder als ein kollektiver<br />

Charakterzug der sozialen Teilnahmslosigkeit<br />

(in einem übergreifenden lebensweltlichen<br />

Sinne) in der Mentalität und an habitualisierter<br />

Resignation in der Handlungsorientierung<br />

zu interpretieren ist.<br />

(9) Kulturelle Prägungen: Die Mehrzahl der<br />

Bevölkerung in den ostelbischen Gutsbezirken<br />

bestand in der Zeit vor den Weltkriegen aus<br />

Landarbeitern. Für sie gibt es kein alltägliches<br />

Subsistenzproblem, so lange sie arbeitsrechtlich<br />

und deputatswirtschaftlich in eine Gutswirtschaft<br />

eingebunden blieben. Mit dieser<br />

Einbindung und Unterordnung sind bei der<br />

durchschnittlichen Landarbeiter-Existenz<br />

wenig autonome Anteile der Lebensführung<br />

auszumachen. Die Genese von ausgeprägten<br />

Selbstwirksamkeitsüberzeugungen ist in<br />

diesem regionalgesellschaftlichen Kontext –<br />

anders als in einem gewerblich entwickelten<br />

– unwahrscheinlich. Sowohl die Formen der<br />

Unterordnung auf der einen Seite als auch das<br />

Recht auf Fürsorge (auf Grund der Konserva-<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

tionspflicht des Gutsherrn) auf der anderen<br />

hat dieser Bevölkerungsgruppe die selbständige<br />

Sorge um die Daseinsbewältigung<br />

„abgenommen“. Diese ausgesprochen heteronomen<br />

Formen der Kontrolle und Fürsorge<br />

stellen die Landarbeiter vor das Problem der<br />

Autonomiefalle. Im Gegensatz zu den Gewerbe-<br />

und Realteilungsgebieten minimiert diese<br />

lebensweltliche Ordnung den subjektiven<br />

Bewährungsdruck. Von daher „passt“ es geradezu,<br />

dass – obwohl beide Kreisgebiete zum<br />

protestantischen norddeutschen Raum gehören<br />

– hier „Erweckungsbewegungen“ wenig<br />

Spuren hinterlassen haben (und wenn, wie z.B<br />

in Hinterpommern, dann eher im Milieu der<br />

Gutsherren). Da die Pfarrer meist von einem<br />

Patronatsherrn eingesetzt wurden, sahen sie<br />

die Landarbeiter als Teil des Herrschaftsapparates.<br />

Weil die Fürsorgepflicht die soziale<br />

Kehrseite zur Gutsherrschaft darstellte, gab<br />

es des Weiteren bei den Landeskirchen kaum<br />

diakonische Anstrengungen bzw. es entwickelten<br />

sich auf dem Land keine diakonischen<br />

Einrichtungen. Freie Träger im Kernbereich<br />

der Jugendhilfe haben sich so auch erst in den<br />

1980er (Ostholstein) und 90er Jahren (Rügen)<br />

etabliert.<br />

(10) Ehrenamtliches Engagement: Wir hatten<br />

im vorigen Teil bereits darauf hingewiesen, dass<br />

das ehrenamtliche Engagement im Bereich<br />

des Sozialwesens von regional recht unterschiedlicher<br />

Bedeutung war und ist.<br />

Das größere sozial-kulturelle Kapital<br />

der alten gewerblich entwickelten Seite 81<br />

und in ihren zentralen Orten industrialisierten<br />

Kreisgebiete müsste sich<br />

in einem intensiveren und umfangreicheren<br />

bürgerschaftlichen Engagement niederschlagen,<br />

die historischen Sozialverhältnisse


Seite 82<br />

Soziographische Analyse<br />

in den ehemaligen Güterdistrikten in einem<br />

entsprechend schwach ausgeprägten. Weiter ist<br />

zu vermuten, dass sich in diesen Gebieten die<br />

gesellschaftspolitischen Maßnahmen und der<br />

Bevölkerungsverlust (der ja bis 1961 die DDR<br />

massiv betraf ) viel weniger im Hinblick auf einen<br />

regionalen Mentalitätswandel ausgewirkt<br />

haben. Wir vergleichen die Ergebnisse der<br />

oben angeführten Erhebung zum ehren-<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Schleswig-<br />

Holstein<br />

Baden-<br />

Württemberg<br />

Soziales Gesundheit<br />

amtlichen Engagement in Deutschland in<br />

den Jahren 1999 und 2004 in Mecklenburg-<br />

Vorpommern und Schleswig-Holstein.<br />

Darüber hinaus führen wir als maximalen<br />

Kontrast noch einmal die entsprechenden<br />

Zahlen aus Baden-Württemberg an, die sich<br />

auf die Bereiche Soziales, Gesundheit, Schule/<br />

Kindergarten und Jugend-/Bildungsarbeit<br />

sowie das Ehrenamt insgesamt beziehen.<br />

Tabelle 8: Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Bereichen (Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesländer in %)<br />

Schule/<br />

Kindergarten<br />

Jugend-/<br />

Bildungsarbeit<br />

Ehrenamt<br />

insgesamt<br />

1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004 1999 2004<br />

5,44 8,12 1,89 2,67 7,89 7,05 7,89 5,45 27,14 30,16<br />

8,52 8,50 3,13 2,20 6,61 10,44 6,61 5,63 31,49 33,88<br />

8,71 11,53 4,17 2,94 7,61 11,27 7,61 8,39 38,29 41,91<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt: http://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon


Diese prozentuale Verteilung unter den zum<br />

ehrenamtlichen Engagement Befragten bestätigt<br />

zum einen die anfängliche Hypothese,<br />

dass die „klassischen“ Gewerbelandschaften<br />

ein größeres ehrenamtliches Engagement<br />

zeigen. In allen fünf Feldern zeigt Baden-<br />

Württemberg den mit Abstand höchsten Wert,<br />

während im Vergleich dazu Mecklenburg-<br />

Vorpommern und Schleswig-Holstein relativ<br />

eng beieinander liegen. 6 Tendenziell bestätigt<br />

wird mit den Vergleichszahlen aus Mecklenburg-Vorpommern<br />

und Schleswig-Holstein,<br />

dass die Einflüsse und Maßnahmen der SED<br />

zu DDR-Zeiten im Norden, insbesondere in<br />

den ehemaligen Güterprovinzen mit ihrem an<br />

Sozialdisziplinierung und Fürsorglichkeit orientierten<br />

Gesellschaftsbild, hinsichtlich eines<br />

Mentalitätswandels deutlich weniger stark ins<br />

Gewicht fallen. Entsprechend geringer sind<br />

die Unterschiede zwischen Mecklenburg-Vorpommern<br />

und Schleswig-Holstein, während<br />

das beim Vergleich von Baden-Württemberg<br />

und Thüringen ganz anders aussah.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

(11) Bildungssektor: Die Bildungssituation<br />

in den Gutsdörfern war im Allgemeinen<br />

schlecht bis katastrophal. Sie sind auch in<br />

diesem Bereich ein maximaler Kontrast zu den<br />

Gewerbelandschaften – schon weil der Bedarf<br />

an beruflicher Ausbildung und Fachschulung<br />

in dieser Wirtschaftsform sehr gering ist.<br />

Minimale Anstrengungen gab es durch den<br />

preußischen Staat seit 1815 (Rügen) bzw. 1866<br />

(nördliches Ostholstein). Eine relative Ausnahme<br />

bildet das ehemals oldenburgische Eutin<br />

(also das südliche Ostholstein) mit seinem<br />

alten Landesgymnasium. Wenn wir von diesem<br />

sozialhistorischen Befund ausgehen, dann liegt<br />

zum Beispiel der Schluss nahe, dass der Anteil<br />

der Förderschüler in Ostholstein und auf<br />

Rügen höher sein wird als in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt. Wie sehen<br />

die aktuellen Zahlen im Schulbereich der<br />

beiden norddeutschen Kreisgebiete aus?<br />

Tabelle 9: Verteilung der Schüler auf die besuchten Schulformen 2005<br />

Schulformen Ostholstein Rügen<br />

Gesamtanzahl der Schüler<br />

nach Schulform a 14231 3845<br />

Hauptschule 21,50% 5,07%<br />

Realschule/Regelschule 35,72% 34,22%<br />

Gymnasium 38,89% 48,94%<br />

Förderschule/Sonderschule 3,89% 11,75%<br />

Quelle: Berichte der Statistischen Landesämter von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig- Holstein 2006<br />

a Die Gesamtzahl bezieht sich nur auf die hier abgefragten Schulformen. Grundschule sowie integrative Gesamtschulen werden nicht<br />

mit einbezogen.<br />

Seite 83


Soziographische Analyse<br />

Der Vergleich der Landkreise Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt hatte in gewisser<br />

Weise das übliche Ost-West-Vorurteil bestätigt:<br />

Im westdeutschen Kreis gingen deutlich<br />

mehr Schüler auf das Gymnasium als im ostdeutschen.<br />

Der Vergleich der Schülerzahlen<br />

in den verschiedenen Schulformen der Kreise<br />

Ostholstein und Rügen widerlegt dieses<br />

Vorurteil. Wie in den süddeutschen Ländern<br />

ist der Anteil der Real- und Haupt-/Regelschüler<br />

am ausgeglichensten. Doch bei den<br />

Gymnasiasten werden die von den sozialen<br />

Verhältnissen her gesehen naheliegenden Erwartungen<br />

nachdrücklich enttäuscht. Das in<br />

jeder Hinsicht periphere Rügen zählt deutlich<br />

mehr Gymnasiasten als das in seinem Südteil<br />

suburbanisierte Ostholstein (was immerhin<br />

fast 30 Prozent der Kreisbevölkerung betrifft).<br />

Das bedeutet, dass die im Vergleich zwischen<br />

den Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt unterstellte statistische Korrelation<br />

von Urbanisierungsgrad und Anzahl<br />

an Gymnasiasten sowie periphere Lage und<br />

höherer Anteil an Haupt- und Förderschülern<br />

keine gesetzmäßige ist, sondern unter anderem<br />

etwas mit der Landes- und kommunalen<br />

Schulpolitik zu tun hat.<br />

Betrachtet man den Anteil der Hauptschüler<br />

und der Förderschüler für sich, so wird das<br />

andere landläufige Vorurteil widerlegt, dass in<br />

den Schulen der Neuen Bundesländer mehr<br />

gemeinschaftsorientiert und weniger<br />

leistungsbezogen unterrichtet würde.<br />

Seite 84 Der Anteil der Hauptschüler ist im<br />

Kreis Ostholstein gut vier Mal so<br />

hoch wie auf Rügen. Ein Teil erklärt<br />

sich aus dem höheren Anteil an Gymnasiasten.<br />

Ein anderer Teil verweist jedoch auf den<br />

Unterschied in der Anzahl der Förderschüler.<br />

In dieser Schulform weist die Insel Rügen eine<br />

fast drei Mal so hohe Zahl auf als der Kreis<br />

Ostholstein. Aus diesen Zahlen kann man in<br />

etwa ersehen, dass im „westdeutschen“ Kreis<br />

Ostholstein die Schulpolitik daran interessiert<br />

zu sein scheint, wenig Kinder in den Förderschulen<br />

einzuschulen, während im „ostdeutschen“<br />

Kreis Rügen eine deutlich größere<br />

Tendenz zur „Aussonderung“ oder speziellen<br />

Förderung – beide Lesarten sind möglich –<br />

leistungsschwacher und verhaltensauffälliger<br />

Schüler festzustellen ist.<br />

Am Ende des Vergleichs der Landkreise Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt sowie bei<br />

der Diskussion der Opportunitätsstrukturen<br />

(in Abschnitt 7) wurde bereits das Passungsverhältnis<br />

von Schulformen und regionalem<br />

Arbeitsmarkt angesprochen. Die Zahl an<br />

Arbeitsplätzen im gewerblichen Sektor ist in<br />

Ostholstein und auf Rügen begrenzt. Deshalb<br />

ist ein nicht allzu hoher Anteil an Realschülern<br />

nicht unpassend. Wichtig wird sein, welche<br />

Qualifikation die Tätigkeiten – von Berufen<br />

kann man in diesem Bereich oft nicht sprechen<br />

– im Tourismusgewerbe erfordern, ob sie eine<br />

formal anspruchsvolle Ausbildung voraussetzen<br />

oder nicht. Nehmen die Anforderungen auch<br />

in diesem Sektor zu, ist davon auszugehen, dass<br />

die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen und<br />

jungen Erwachsenen weiter zunehmen wird,<br />

da gering Qualifizierte, statistisch gesehen, die<br />

geringste Neigung zur Mobilität haben.<br />

Anders sieht die Situation bei Gymnasiasten<br />

aus. In den Feriengebieten und Tourismuszentren<br />

mit gehobenen Hotels liegt<br />

ein gewisser Bedarf an Arbeitskräften mit<br />

Fremdsprachenkenntnissen vor. (Stimmt diese<br />

Annahme, sollten die Gymnasien in diesen


Regionen bevorzugt neusprachliche sein.) Im<br />

suburbanisierten Süden Ostholsteins sind für<br />

Gymnasiasten, Abiturienten und Akademiker<br />

durchschnittliche Berufschancen zu erwarten.<br />

Prekär dürfte dagegen die Situation im Nordteil<br />

Ostholsteins und in großen Teilen der<br />

Insel Rügen sein. Die gymnasiale Schulbildung<br />

bekommt hier (außerhalb von Hotellerie u.ä.)<br />

den Charakter einer „Lizenz zum Gehen“.<br />

Während aber der Kreis Ostholstein durch sein<br />

insgesamt niedriges Bildungsniveau „bindet“,<br />

zeigt sich auf Rügen eine Disparität: Auf der<br />

einen Seite wird hier von Seiten der Schule die<br />

Voraussetzung für Bildungs- und berufliche<br />

Mobilität in einem größeren Umfang als in<br />

Ostholstein geschaffen; auf der anderen Seite<br />

aber durch die große Zahl an Förderschülern<br />

die Schicht an potentiellen Bildungs- und<br />

Modernisierungsverlierern vergrößert, die zu<br />

einem gewissen Teil Klienten von Einrichtungen<br />

der sozialen Hilfen sind oder werden<br />

können.<br />

(12) Zwischenresümee: Fassen wir an dieser<br />

Stelle das Weiterführende dieser soziographischen<br />

Übersicht zu unseren Unterersuchungsgebieten<br />

zusammen. Die institutionelle<br />

Ressourcenlage für soziale Hilfen wird in den<br />

einzelnen Landkreisen neben den gesetzlich<br />

geforderten öffentlichen Trägern durch zivilgesellschaftliche<br />

Träger der freien Wohlfahrt<br />

bestimmt. Die Befunde zu freien Wählergemeinschaften<br />

und zum bürgerschaftlichen<br />

Engagement können als Indikator für die zu<br />

erwartende regionale Dichte der freien Träger<br />

der Jugendhilfe in den vier untersuchten Gebieten<br />

dienen. Wir haben demnach im Kreis<br />

Heidenheim die dichteste (insbesondere im<br />

Vergleich zu den ehemaligen Güterprovinzen<br />

Ostholstein und Rügen) und am ehesten<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

kontinuierlich sich entwickelnde „Landschaft“<br />

an freien Trägern zu erwarten (letzteres vor<br />

allem im Vergleich zum Landkreis Saalfeld-<br />

Rudolstadt, für das die DDR mit ihrer Wirtschafts-<br />

und Gesellschaftspolitik den größeren<br />

Strukturbruch als auf Rügen bewirkte).<br />

Das pädagogische Feld scheint zum Zweiten<br />

eine besondere Ansatzstelle für sozialen<br />

Wandel zu sein. Drei Argumente auf unterschiedlichen<br />

Ebenen sprechen dafür. Zuerst<br />

der biographisch-entwicklungspsychologische<br />

Gesichtspunkt, dass Kinder und Jugendliche<br />

noch „bildbar“ sind, wie es in der älteren Pädagogensprache<br />

hieß, und unmittelbare Milieueinflüsse<br />

bei entsprechenden Anstrengungen<br />

noch korrigiert werden können. Auf der<br />

institutionellen Ebene kann der Sachverhalt<br />

angeführt werden, dass das Fachpersonal pädagogischer<br />

Einrichtungen nicht lokal rekrutiert<br />

werden und deshalb nicht unbedingt in die<br />

regionale Mentalität einsozialisiert sein muss.<br />

Und schließlich wird das pädagogische Feld<br />

maßgeblich durch Bundes- und Landesgesetze<br />

mit strukturiert bzw. durch einen übergeordneten<br />

politischen Willen stark beeinflusst.<br />

Aus dieser Konstellation resultiert ein verstärkter<br />

Einfluss des Vergesellschaftungsprozesses<br />

auf Kosten der lebensweltlichen Vergemeinschaftung<br />

und Traditionsbildung, die sich<br />

besonders in den unteren Schichtmilieus<br />

peripherer Regionen wie Ostholstein<br />

und Vorpommern zu einem regionalgesellschaftlichen<br />

und biographischen Seite 85<br />

Zielkonflikt zwischen guter Bildung<br />

und Weggehen auf der einen Seite sowie mangelhafter<br />

Bildung und Bleiben als Form der<br />

Immobilität auf der anderen führen wird – oder<br />

kürzer gesagt: Zu einer Spannung zwischen


Soziographische Analyse<br />

individuell-biographischen und regionalgesellschaftlichen<br />

Entwicklungschancen. Wir<br />

ziehen aus dieser Skizze der Schulsituation,<br />

ihrer Konstitution und gesellschaftlichen Bedeutung<br />

darüber hinaus den grundsätzlichen<br />

Schluss, dass solche Konstellationen für das<br />

gesamte pädagogische Handlungsfeld von entsprechend<br />

großer Bedeutung sein werden, was<br />

eine erste Hypothesenbildung für den besonderen<br />

Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik<br />

erlaubt: Die Konstitution der Klientel<br />

der Jugendhilfe und die praktisch leitenden<br />

Kategorien für die soziale und sozialpädagogische<br />

Arbeit müssen nicht der Logik der nur<br />

auf der alltagsweltlichen Ebene gemeinsamen<br />

Regionalgesellschaft entstammen, sondern<br />

können auf Grund eigenlogischer Entwicklungen<br />

zueinander in Spannung treten.<br />

Ausgewählte Literatur zur Entwicklung in<br />

den Kreisen Ostholstein und Rügen<br />

Kreis Ostholstein<br />

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Wehrmann, M. (1919/21) Geschichte von Pommern.<br />

Gotha. 2 Bde. (2. Auflage).<br />

Wiegen, B. bei der (1999) Die Entwicklung der<br />

pommerschen Bevölkerung 1701 bis 1918. Weimar.<br />

3. Au S w I r k u N g e N V o N r e g I o N A l e N oPPort<br />

u N I t ä t S S t r u k t u r e N A u F D I e ju g e N D h I l F e<br />

Nachdem im letzten Kapitel die prägenden<br />

Lebensbedingungen der Kreisgebiete mit ihren<br />

Folgen für die vorherrschende Mentalität<br />

der Bevölkerung in der jeweiligen regionalen<br />

Sozialwelt skizziert wurden, ist für unsere<br />

Fragestellung nach den Entwicklungen in<br />

der Kinder- und Jugendhilfe nun von Interesse,<br />

wie diese Rahmenbedingungen über<br />

das durchschnittliche, regional typische Maß<br />

an Handlungsressourcen und Opportunitäten<br />

sowie das Öffnen und Schließen von Lebenschancen<br />

die jeweiligen Vorstellungen über<br />

Familienleben, Kindererziehung und<br />

Formen der sozialen Unterstützung,<br />

Seite 88 insbesondere der Hilfen zur Erziehung,<br />

beeinflussen. Wir stellen zuerst<br />

in einer idealtypischen Konstruktion<br />

die strukturellen Erwartungen vor, die wir in<br />

dieser Hinsicht mit den jeweiligen sozialen und<br />

mentalen Profilen der einzelnen untersuchten<br />

Regionen verbinden. Vor diesem Hintergrund<br />

betrachten und interpretieren wir die Ergebnisse<br />

unserer Auszählungen in den untersuchten<br />

Jugendämtern zu den Erziehungshilfen und<br />

ziehen abschließend die Befragungsergebnisse<br />

des Projekts C 6 zu Kontakten im Bereich der<br />

sozialen Unterstützung einschließlich der Kinder-<br />

und Jugendhilfe für unsere Analysen und<br />

Schlussfolgerungen heran.<br />

Regionale Ressourcenlagen, Familienformen<br />

und Erziehungsstile<br />

Wir kontrastieren zuerst die für unsere Untersuchung<br />

relevanten Milieus in den Gewerbelandschaften<br />

auf der einen Seite sowie in den<br />

peripheren ehemaligen Güterprovinzen auf der<br />

anderen. 7<br />

a) Realteilungs- und Gewerbelandschaften<br />

Wie ist die Situation in Realteilungsgebieten<br />

und Gewerbelandschaften einzuschätzen? In<br />

Realteilungsgebieten wie im Landkreis Heidenheim<br />

zeigt sich schon früh die Neigung,<br />

die Stellen, die eine Familie bewirtschaftete,<br />

über die Grenzen des Nahrungsspielraums<br />

hinaus zu teilen. So entstehen im 18. und 19.<br />

Jahrhundert immer mehr Stellen, „die zwar<br />

noch einen sozialen Wert hatten – sie blieben<br />

die Voraussetzung für die Familiengründung –,<br />

deren ökonomische Tragfähigkeit aber häufig<br />

kaum noch oder nicht mehr ausreichte, die Familie<br />

vor dem sozialen Abstieg zu bewahren“<br />

(Marschalck 1984, S. 23). Der übliche Ausweg<br />

bestand entweder in einem familiär organisierten<br />

System der Erwerbskombination zur Subsistenzsicherung<br />

oder in einem Übergang von<br />

der besitzständischen Stellenorientierung zu<br />

einer berufsständischen Leistungsorientierung.<br />

Paradigmatisch für ersteres ist die Entwicklung


der ländlichen Hausindustrie vor allem in den<br />

Dörfern im Süden und Westen des Heidenheimer<br />

Kreisgebietes. Die ökonomische<br />

Tragfähigkeit vieler dieser Stellen war wegen<br />

der zu kleinen Landwirtschaft außerordentlich<br />

gering, aufgrund der Konjunkturabhängigkeit<br />

dauernd gefährdet und überhaupt nur dadurch<br />

zu bewahren, dass alle Familienmitglieder in<br />

den Produktionsprozess eingespannt waren.<br />

Der Übergang zur berufsständischen Orientierung<br />

geht typischerweise vom Handwerk<br />

aus und bewährt sich in dem Maße, wie in der<br />

industriellen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts,<br />

im Manufaktur- und Fabriksystem,<br />

die Familiennahrung sichernden, so genannten<br />

vollen, Arbeitsstellen geschaffen werden, deren<br />

Anforderungen nur auf der Grundlage einer<br />

fachlichen Berufsausbildung zu bewältigen<br />

sind. Sowohl das alte Heidenheimer als auch<br />

das Saalfeld-Rudolstädter Kreisgebiet zeigen<br />

schon ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

eine solche für Deutschland insgesamt gesehen<br />

sehr frühe Entwicklung.<br />

Dieser Aufbau (heim-)gewerblich-industrieller<br />

Strukturen hat für die Sozialisationsbedingungen<br />

und die Kindererziehung entsprechende<br />

Konsequenzen. Im landwirtschaftlichheimgewerblichen<br />

Milieu werden Kinder so<br />

früh als möglich und so intensiv als nötig in<br />

die familiäre Arbeitsgemeinschaft bzw. in ihr<br />

System der Erwerbskombination eingereiht.<br />

Sie werden in dieser Lebenswelt mit ihrer<br />

Arbeitsleistung zu einem Bestandteil der<br />

alltäglichen Nutzenökonomie, die hier die<br />

Daseinsbewältigung mental prägt. Radikalisiert<br />

im Sinne einer Subjektivierung der<br />

Leistungsanforderungen wird dieser Sozialisationsmodus,<br />

wenn im System der technisch<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

anspruchsvollen Arbeits- und Berufsstellen<br />

die Notwendigkeit und Qualität der formalen<br />

schulischen Bildung und beruflich-betrieblichen<br />

Ausbildung ein neues Anspruchsniveau<br />

erreicht. Die Sozialisationsbedingungen sind<br />

in diesen Gewerbelandschaften deshalb durch<br />

einen „alltagsweltlichen Funktionalismus“<br />

und arbeitsgemeinschaftliche oder formale<br />

Leistungsanforderungen gekennzeichnet. Die<br />

Erziehung zielt auf Arbeitsamkeit und die<br />

Konstitution eines subjektiven Leistungsvermögens.<br />

Mit der wachsenden Bedeutung eines alltagsweltlichen<br />

Funktionalismus und insbesondere<br />

des technischen Wissens verstärken sich im<br />

milieuweltlichen Deutungssystem die Anteile<br />

eines technokratischen Bewusstseins, die<br />

auch die Deutung psychosozialer Probleme<br />

beeinflussen. Kinder und Jugendliche, die<br />

nicht „funktionieren“, obwohl der milieuweltliche<br />

Duktus der Daseinsbewältigung die<br />

Notwendigkeit funktioneller oder formaler<br />

Leistungserbringung und die Einhaltung<br />

sozialmoralischer Standards unmittelbar<br />

einsichtig zu machen scheint, werden – sehr<br />

zugespitzt formuliert – ein Stück weit gedeutet<br />

als „reparaturbedürftige“ Familienmitglieder,<br />

denen in einem „Spezialbetrieb“ das auffällige<br />

Verhalten und Unvermögen in der Welt<br />

leistungsorientierter Sozialsysteme „entfernt“<br />

und dafür eine positive Einstellung bzw. voll<br />

entfaltete Kompetenzen „eingesetzt“<br />

werden soll. Auch die soziale Unterstützung<br />

und Beratung ist in diesem<br />

Weltbild zuerst einmal eine Form der<br />

instrumentellen Hilfe im weitesten<br />

Sinne.<br />

Seite 89


Soziographische Analyse<br />

Die wichtigsten Folgerungen aus der sozialstrukturellen<br />

und mentalitätsgeschichtlichen<br />

Analyse für die Situation von Familie und<br />

Erziehung in alten Gewerbelandschaften sind<br />

deshalb in einer knappen Zusammenfassung:<br />

• Ausgehend von den Zeiten, in denen die<br />

Subsistenzfrage eine große Rolle spielte, hat die<br />

Familie den Charakter einer Ressource,<br />

• da sie aber keinen hinreichend großen Besitzstand<br />

zu vererben hat, bekommt die Berufsfrage<br />

als Voraussetzung für einen spezifisch subjektiven<br />

Modus der Daseinsbewältigung eine<br />

zentrale Bedeutung.<br />

• Die Kindererziehung ist davon geprägt. Ihr<br />

lebenspraktisches Ziel ist die Ausbildung eines<br />

Leistungsvermögens im Berufs- und Wirtschaftssystem<br />

– verbreitet deshalb die Vorstellung<br />

eines „sozialen Funktionalismus“ auch in<br />

der Familie.<br />

• Dieses funktionale Weltbild beeinflusst auch<br />

die sozialen Hilfevorstellungen: Hilfe ist zuerst<br />

einmal instrumentelle Hilfe im weitesten Sinne;<br />

Kinder werden im Extremfall dem Selbstverständnis<br />

der Sorgeberechtigten nach zur „Reparatur“<br />

abgegeben.<br />

b) Ehemalige Güterdistrikte<br />

Wie sieht dagegen die Situation in den ehemaligen<br />

Güterprovinzen Ostelbiens aus? Landarbeiter<br />

in den ehemaligen Güterdistrikten und<br />

landwirtschaftlichen Produktionsorganisationen<br />

wie in Ostholstein und auf Rügen<br />

bemessen die berufliche Wertschät-<br />

Seite 90 zung nach dem Maß des körperlichen<br />

Krafteinsatzes und der Größe der zu<br />

beherrschenden Maschinen. Es gilt<br />

die Logik eines „natürlichen Wertemusters“.<br />

Ein solcherart normativ strukturiertes Weltbild<br />

und Deutungssystem erschwert den Umstieg<br />

in das moderne, gerade kognitiv immer anspruchsvollere<br />

Berufs- und Beschäftigungssystem.<br />

Hier gibt es nicht das (inzwischen<br />

allerdings eher historische) „Scharnier“ einer<br />

selbständigen betrieblichen Disposition in den<br />

kleinbäuerlich-heimgewerblichen oder dorfhandwerklichen<br />

(Nebenerwerbs-)Stellen wie<br />

in den süd- und mitteldeutschen Landkreisen,<br />

sondern es „wirkt“ die oben skizzierte Autonomiefalle<br />

mentalitätsprägend. In der Milieuwelt<br />

der Landarbeiter herrscht ein dualistisches<br />

Welt- und Gesellschaftsbild, wonach das<br />

äußerst beschränkte Maß an Lebenschancen<br />

natur- oder schicksalsgegeben ist. Eine Veränderung,<br />

ein Aufstieg im Schichtungssystem<br />

der modernen Gesellschaft übersteigt die<br />

überkommene Vorstellung des „normalen“<br />

sozialen Möglichkeitsraumes. Das (implizite)<br />

Nutzenkalkül in der Immanenz der Milieuwelt<br />

der abhängigen Land- oder LPG-Arbeiter<br />

besteht deshalb darin, die Autonomiefalle<br />

gleichsam anzunehmen, aber zu versuchen, sie<br />

durch Leistungsbegrenzung bei stabiler Subsistenzsicherung<br />

und gegebener Fürsorgeberechtigung<br />

zum eigenen Vorteil zu wenden. Dieses<br />

Kalkül mag in den Grenzen des Systems der<br />

LPG- und Gutswirtschaft ein plausibles und<br />

realitätstüchtiges mentales Muster sein. Nur<br />

hat seine Habitualisierung zur Konsequenz,<br />

dass in der Regel kein selbständiges Leistungsbewusstsein<br />

und keine intrinsische Arbeitsmotivation<br />

entstehen, die für die moderne<br />

autonome Daseinsbewältigung zumeist – auch<br />

im Rahmen abhängiger Beschäftigung – notwendige<br />

Voraussetzungen sind, und das mit<br />

weiter zunehmender Bedeutung.<br />

Wer aber aus dem Landarbeitermilieu im 20.<br />

und 21. Jahrhundert das strukturell gegebene<br />

Ansinnen nach selbständiger Daseinsbe-


wältigung weiter ablehnt, nimmt je später<br />

desto mehr nur in negativer Form – durch den<br />

Verlust der überkommenen Subsistenzbasis<br />

an Deputatstellen, LPG-Arbeitsstellen und<br />

betrieblicher Fürsorgeberechtigung – am Autonomisierungsprozess<br />

der Moderne teil. Diese<br />

ländliche Bevölkerungsgruppe in Ostholstein<br />

und auf Rügen zählt dann sozialtypologisch zu<br />

den so genannten Modernisierungsverlierern<br />

(vgl. Allert et al. 1994). Ihr Handlungs- und<br />

Deutungsmuster ist durch ein Festhalten an<br />

traditionellen Milieuwerten gekennzeichnet.<br />

Fatal ist, dass dieses Festhalten bei Klientenfamilien<br />

der sozialen Hilfen oft durch den Verlust<br />

der Stellung im Arbeitsgefüge der Guts- oder<br />

LPG-Wirtschaft oder eine habitualisierte<br />

subjektive Handlungsschwäche verstärkt und<br />

nicht abgebaut wird.<br />

Auf den Verlust an Subsistenzsicherheit und<br />

traditioneller Daseinsgewissheit in einer partikularen<br />

Lebens- bzw. Arbeitswelt reagiert ein<br />

Teil der Akteure mit einem Rückzug in und auf<br />

die Familie sowie einer „Schließung“ des Horizonts<br />

an denkbaren sozialen Veränderungs-<br />

und Handlungsmöglichkeiten. Daraus resultieren<br />

Sozialisationsbedingungen, auf Grund<br />

derer die Bedeutung schulischer Bildung und<br />

fachlicher Berufsausbildung entweder nicht<br />

begriffen wird oder keine „gangbaren Wege“<br />

gesehen werden, damit diese ihrer Rolle für<br />

die biographische Entwicklung von Kindern<br />

und Jugendlichen in einer modernen Gesellschaft<br />

gerecht werden können. Dazu kommt<br />

ein generelles Charakteristikum so genannter<br />

bildungsferner Milieus, auf das wir am Beispiel<br />

Rügens bereits hingewiesen hatten: Ein<br />

Kind aus dieser Lebenswelt „bezahlt“ seinen<br />

Bildungserfolg tendenziell mit dem „Verlust“<br />

seines (Herkunfts-)Milieus.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

In diesem Milieu bzw. bei der Klientengruppe,<br />

die diesem Unterschichtmilieu entstammt,<br />

wird die Frage der Grenze zwischen der<br />

Privatheit der Familie und der Öffentlichkeit<br />

der Jugendhilfe besonders virulent: Während<br />

in den durch bäuerlich-bürgerliche Werte<br />

geprägten Realteilungs- und Gewerbegebieten<br />

eine klare Grenze zwischen privat und<br />

öffentlich gezogen ist, verläuft diese Grenze<br />

bei Landarbeiterfamilien im System der<br />

Gutswirtschaft und/oder bei Familien, die seit<br />

Generationen mit Hilfeinstitutionen zu tun<br />

haben, innerhalb der Familie. Entsprechend<br />

prekärer ist die Autonomiefrage und ist die<br />

Unterstellung einer für die „Hilfe zur Selbsthilfe“<br />

notwendigen Handlungsautonomie, wie<br />

sie etwa im KJHG stillschweigend unterstellt<br />

und vorausgesetzt wird.<br />

Die wichtigsten Folgerungen der vorausgehenden<br />

Untersuchungen für die Situation von<br />

Familie und Erziehung in den norddeutschen<br />

Untersuchungsgebieten lauten in der Zusammenfassung<br />

wie folgt:<br />

• In der ländlichen Unterschicht der ehemaligen<br />

Güterprovinzen kann die Familie nur<br />

bedingt eine Ressource sein.<br />

• Sie kann aber durch ihre Erziehung oft auch<br />

nicht zur Bildung subjektiven Humankapitals<br />

beitragen; deshalb kommt Schule und<br />

Erziehungshilfe gerade in diesem Milieu die<br />

Aufgabe der Kompensation zu.<br />

• Das Ziel der familiären Kindererziehung<br />

ist wenig bestimmt, da sie Seite 91<br />

als Teil des natürlichen Prozesses des<br />

Wachsens gesehen wird. Letztendlich<br />

entscheidet nach dieser Vorstellung die Natur<br />

über das Gelingen der Kinderaufzucht.<br />

• Außerdem sind die Voraussetzungen für


Soziographische Analyse<br />

eine methodische Lebensführung und einen<br />

hinreichend weiten familiären wie individuellen<br />

Planungshorizont in vielen Fällen kaum<br />

gegeben.<br />

• Von daher fehlt ein durch Milieueinbettung<br />

und Familiendisposition vorgeprägter Weg ins<br />

Bildungs- und Berufssystem.<br />

• Die Erwartungen an Hilfe tragen entweder<br />

Züge einer Fürsorgeorientierung oder sie werden<br />

als Teil der sozialen Kontrolle „erzieherischen<br />

Nichtfunktionierens“ hingenommen.<br />

Auswirkungen auf den Bedarf an sozialen<br />

Hilfen in den vier Untersuchungsgebieten<br />

Versucht man vor diesem soziographisch<br />

und mentalitätsgeschichtlich ausgeleuchteten<br />

Hintergrund der Lebenswelt die Auswirkungen<br />

gewerbelandschaftlicher und ehemals<br />

güterprovinzieller Strukturen auf den Bedarf<br />

an sozialen Hilfen im Allgemeinen und<br />

Erziehungshilfen im Besonderen näher zu<br />

bestimmen, so bieten sich zwei aus der sozialhistorischen<br />

Literatur bekannte Deutungsformeln<br />

an. Eine problemorientierte Sicht auf<br />

die Entwicklungspfade von reinen Land- und<br />

gewerblich entwickelten Gebieten (dafür<br />

stehen z. B. im 19. Jahrhundert Malthus oder<br />

F. Engels) stellt folgenden hypothetischen<br />

Zusammenhang heraus: Je ländlicher und je<br />

kleinräumiger sozial kontrolliert Regionen<br />

sind, desto weniger soziale Hilfen<br />

werden notwendig, je dichter die<br />

Seite 92 Siedlungsform und intensiver das<br />

Wirtschaftsgeschehen, desto mehr<br />

Anomie und damit mehr Bedarf an<br />

sozialen Hilfen können erwartet werden.<br />

Dagegen steht eine ressourcenorientierte<br />

Sicht auf die Entwicklungspfade von Land-<br />

und urbanisierten Gewerbegebieten, die auf<br />

die größere Bildung von ökonomischem und<br />

kulturellem Kapital abhebt (u.a. vertreten von<br />

dem Göttinger Agrar- und Wirtschaftshistoriker<br />

Wilhelm Abel): In dieser Perspektive<br />

ist in „zurückgebliebenen“ Landgebieten ein<br />

größerer sozialer Hilfebedarf zu erwarten als<br />

in „entwickelten“ Gewerbelandschaften. (Wir<br />

lassen an dieser Stelle die Sondersituation<br />

bäuerlicher Anerbengebiete außer Betracht –<br />

sie würde die einfache Kontrastbildung, wie<br />

wir sie hier für unsere Zwecke benötigen, nur<br />

unnötig verkomplizieren.)<br />

In gewisser Weise schließen unsere Untersuchungen<br />

und Überlegungen an die zuletzt<br />

skizzierte Sichtweise an, was bedeuten würde,<br />

dass wir in den ländlich-peripheren Kreisgebieten<br />

von Ostholstein und Rügen einen<br />

größeren Bedarf an Hilfen zur Erziehung erwarten<br />

als in den gewerblich früh entwickelten<br />

Landkreisen Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt. Als Indikator ziehen wir die selbst<br />

erhobenen Fallzahlen in den vier untersuchten<br />

Kreisjugendämtern heran, die im Folgenden<br />

wiedergegeben werden. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass der Erhebungszeitraum mit<br />

dem Fortgang unserer Untersuchung differiert.<br />

So werteten wir im Falle der Landkreise Rügen<br />

und Saalfeld-Rudolstadt die Jugendamtsakten<br />

bezüglich der Hilfen zur Erziehung des Jahres<br />

2001 aus, in Ostholstein lag der Auswertung<br />

das Jahr 2004 zugrunde, und im Kreis<br />

Heidenheim schließlich wurden die Akten<br />

des Jahres 2005 berücksichtigt. Da der Kreis<br />

Ostholstein deutlich größer ist als die anderen<br />

drei Vergleichskreise, haben wir hier nur die<br />

Fallakten aus der Hälfte des Kreis gebiets im<br />

Nordosten – die den Verhältnissen auf Rügen


nach den Kriterien des minimalen Kontrastes<br />

am nächsten kommt – ausgewertet. Dieses<br />

Vorgehen ist trotz der methodischen Nachteile<br />

nicht zu umgehen, da es von Seiten der<br />

Statistischen Ämter keine einheitlichen Daten<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Tabelle 1: Anzahl der Fälle von Hilfen zur Erziehung in den vier<br />

untersuchten Landkreisen (absolut) und relative Häufigkeit (in Prozent)<br />

Die Fall- und Prozentzahlen aus den vier<br />

Kreisgebieten bestätigen weitgehend die<br />

ressourcenorientierte Sichtweise. Der Anteil<br />

Hilfebedürftiger ist in den ländlichen „Feriengebieten“<br />

höher als in den Landkreisen<br />

Heidenheim und Saalfeld-Rudolstadt mit<br />

ihren fast „altindustriellen“ Entwicklungselementen.<br />

Und er ist in den nach modernisierungstheoretischen<br />

Kriterien weniger<br />

entwickelten Rügen höher als im weniger<br />

peripheren Ostholstein. Anders ist die<br />

für einen aussagekräftigen Regionalvergleich<br />

im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gibt.<br />

Eine Sozialforschung wie unsere ist hier nach<br />

wie vor auf die „archaische“ Methode des<br />

„Handauszählens“ angewiesen.<br />

Heidenheim Ostholstein Rügen<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Anzahl der Fälle 471 323 404 355<br />

Anzahl der Kinder und<br />

Jugendlichen unter 18 Jahre<br />

Anzahl der Fälle pro Kinder<br />

und Jugendliche<br />

26975 16987 13378 22907<br />

1,74% 1,90% 3,02% 1,55%<br />

Ausländeranteil in den Landkreise 10,1% 5,4% a 1,9% 2,1%<br />

Prozentzahl der Hilfefälle<br />

vermindert um den Ausländeranteil<br />

1,57% 1,80% 2,96% 1,52%<br />

a Diese Prozentzahl wurde lediglich durch den Mittelwert der ausländischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein gewonnen und auf<br />

den Kreis Ostholstein übertragen, weil der Anteil in Ostholstein dem Mittelwert des Landes Schleswig-Holstein in früheren Jahren<br />

immer relativ nahe lag.<br />

Situation im Vergleich der beiden gewerblich<br />

entwickelten Kreisgebiete. Hier macht sich<br />

ein „Anomiepotential“ auf Grund des höheren<br />

Migrantenanteils (sowohl der innerdeutschen<br />

als auch der internationalen<br />

Wanderungsbewegungen, wie Seite 93<br />

aus einem Überblick der Fallakten<br />

zu ersehen war) bemerkbar. Bei genauerem<br />

Hinsehen sind also die problem- und<br />

die ressourcenorientierte Sichtweise auf die<br />

regionale Entwicklung keine sich ausschlie


Soziographische Analyse<br />

ßenden Perspektiven. Auf der Basis unserer<br />

Untersuchungen und im Hinblick auf die<br />

sozialen Hilfen erweist sich jedoch die Frage<br />

der Ressourcen insgesamt als von größerer<br />

Bedeutung.<br />

Für die Interpretation dieser Vergleichszahlen<br />

spielt aber zum Zweiten die interne Differenzierung<br />

der Kreisgebiete nach Gemeindetypen<br />

mit unterschiedlicher Sozial- und Wirtschaftsstruktur<br />

bzw. das jeweilige „Mischungsverhältnis“<br />

dieser Typen eine nicht unerhebliche,<br />

wenn nicht die ausschlaggebende Rolle.<br />

(Dieser Gesichtspunkt der internen Differenzierung<br />

nach Gemeindetypen gewinnt durch<br />

die Bildung von immer größeren ländlichen<br />

Flächenkreisen, die sich nicht mehr an historischen<br />

Grenzen orientieren, entscheidend an<br />

Bedeutung.) Unseres Erachtens lassen sich erst<br />

aus dem soziographischen „Gemeindeprofil“<br />

konkrete Hypothesen zum typischen sozialen<br />

Hilfebedarf extrapolieren.<br />

Den geringsten Bedarf dürften die in allen<br />

vier untersuchten Kreisgebieten – wenn auch<br />

mehr oder weniger rudimentär – vorhandenen<br />

bäuerlichen Gemeinden zeigen, da hier im Anschluss<br />

an die familienbetriebliche Autonomie<br />

nach wie vor die größten Selbsthilfepotentiale<br />

und eine selbständige Handlungsorientierung<br />

vorzufinden sein werden. Der relative Anteil<br />

bäuerlicher Gemeinden ist in Ostholstein<br />

etwas höher als auf Rügen. Betrachtet<br />

man die „süddeutschen“ Landkreise,<br />

Seite 94 dreht sich das Verhältnis um: Der<br />

Anteil bäuerlicher Gemeinden war<br />

in Saalfeld-Rudolstadt vor der Kollektivierung<br />

in den 1960er Jahren größer als<br />

in Heidenheim. Probleme für die Jugendhilfe<br />

resultieren in diesem Gemeindetyp in der Re-<br />

gel aus dem Zuzug und der Nicht-Integration<br />

bzw. Nicht-Integrierbarkeit der in den letzten<br />

Jahrzehnten Zugezogenen.<br />

Diesem autonomen Orientierungsmuster<br />

(ehemals) bäuerlicher Gemeinden werden<br />

generell die Arbeiterbauern- und Pendlerorte<br />

in Baden-Württemberg und Thüringen am<br />

nächsten kommen, da die typischen Akteure<br />

in dieser Lebensform geringere materielle Ressourcen<br />

wenigstens zum Teil durch größeren<br />

sozialen Behauptungswillen und eine moderne<br />

Handlungsorientierung (wie z. B. einem ausgesprochenen<br />

beruflichen Ehrgeiz) zu kompensieren<br />

suchen. Erziehungsprobleme sind wie in<br />

bäuerlichen Gebieten typischerweise Folgen<br />

psychodynamischer Beeinträchtigungen des<br />

Familienlebens, nicht jedoch von Vernachlässigung<br />

der Kinder und ihrer Aufzucht auf Grund<br />

mangelnder sozialer Kompetenzen.<br />

In den Bäder- und Ferienorten insbesondere<br />

der norddeutschen Kreisgebiete Ostholstein<br />

und Rügen – in Randgebieten auch im Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt, dagegen so gut wie<br />

keine im Kreis Heidenheim – ist wegen der<br />

relativen Überalterung der Einwohnerschaft<br />

in der Kinder- und Jugendhilfe relativ wenig<br />

Bedarf zu sehen; Probleme in diesem Bereich<br />

sind unter anderem negative Folgen der Saisonarbeit<br />

der Mütter auf die Erziehungssituation<br />

und – wie generell – die besondere Lage<br />

nicht integrierter Zugezogener mit Kindern.<br />

Entsprechend vielgestaltig können sich die<br />

Probleme und der Duktus der sozialen Hilfen<br />

zwischen mangelnder Versorgung und emotionaler<br />

Vernachlässigung zeigen.<br />

In den Städten und Gewerbeorten aller vier<br />

Kreise erhebt sich die Frage nach sozialen


Brennpunkten in Plattenbau- und sozialen<br />

Schlichtwohnungssiedlungen (vgl. Keller 2005)<br />

und dem dortigen typischen sozialen Hilfebedarf<br />

(Sichern der Kinderversorgung und Anregungen<br />

für den kognitiven Bildungsprozess).<br />

Die Probleme des suburbanen Raumes in den<br />

süd- und mitteldeutschen Landkreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt resultieren<br />

mehr als in den Badeorten an der Ostsee aus<br />

der mangelnden Integration zugezogener junger<br />

Familien mit Kindern – ein Problem, das<br />

sich verschärft bei Migrantenfamilien zeigen<br />

dürfte. Typisch ist für diesen Gemeindetyp,<br />

dass die soziale Infrastruktur dem Wachstum<br />

der Gemeinden bzw. der Neubaugebiete nur<br />

mit Verzögerung folgt.<br />

Als problematisch ist die Situation in alten<br />

peripheren Gewerbeorten zu sehen, die sich<br />

in der Transformationskrise befinden – die<br />

Orientierung an Tätigkeiten und Tätigkeitsformen<br />

im primären Sektor (wie Bergbau oder<br />

Land- und Forstwirtschaft) behindern mental<br />

die Anpassung an neue Lebensmuster in der<br />

aktuellen Phase des Modernisierungsprozesses.<br />

Dies gilt für bestimmte Teile des Saalfeld-Rudolstädter<br />

Kreisgebietes im Südosten und Südwesten<br />

mehr als für die früher „aufgelassenen“<br />

Bergbaugemeinden im Landkreis Heidenheim.<br />

Die Weltbildkonstruktion im Rahmen<br />

des Erziehungsprozesses ist auf Abgrenzung<br />

zur modernen Umwelt hin ausgerichtet, die<br />

Entfaltung der sozialen Identität entsprechend<br />

verengt, was sich auf die Bildungs- und Ausbildungssituation<br />

negativ auswirken wird. Die<br />

Problematik dürfte sich weniger in der Versorgung<br />

kleiner Kinder zeigen als eher in der<br />

Zeit der Pubertät und Adoleszenz vor allem<br />

männlicher Jugendlicher.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Generell problematischer dürfte die Situation<br />

der Arbeitermilieus der „alten Industrien“<br />

(insbesondere in den Kreisen Heidenheim<br />

und Saalfeld-Rudolstadt) und der ehemaligen<br />

Gutsbezirke und Landwirtschaftlichen<br />

Produktionsgenossenschaften (in Ostholstein<br />

und auf Rügen) sein, die in allen Kreisgebieten<br />

abgebaut wurden und werden. Hier bilden<br />

sich vereinzelt fast geschlossene Siedlungen<br />

von Modernisierungs- und Wendeverlierern.<br />

Bezüglich der (ehemaligen) Gutsdörfer liegt<br />

die zusätzliche Vermutung nahe, dass die<br />

Erziehungshilfen vor allem die Auswirkungen<br />

des anregungsarmen Milieus der ehemaligen<br />

Landarbeiter auf Kinder und Jugendliche<br />

zu kompensieren haben werden. Der Notwendigkeit<br />

dieser Form der Kompensation<br />

beginnt biographisch gesehen früher als die<br />

typische Problematik im vorher skizzierten<br />

Gemeindetyp.<br />

Sehr problematisch ist die Situation eines<br />

entwurzelten Milieus, das im Zuge der Industrialisierung<br />

bzw. dem schnellen Ausbau<br />

von Großbetrieben nach dem Krieg bis in<br />

die 1960er und 70er Jahre zugewandert ist.<br />

So gibt es in Ostdeutschland im Allgemeinen<br />

und im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt im<br />

Besonderen ein traditionsloses Arbeitermilieu,<br />

dessen Deutungsmuster für eine autonome<br />

Lebensführung zu wenige traditionellwertrationale<br />

Sinnelemente bereit hält (vgl.<br />

Hofmann 1995). Am problematischsten<br />

aber stellt sich die Lage<br />

der nicht oder schlecht integrierten Seite 95<br />

Arbeitsmigranten, Spätaussiedler und<br />

sog. Wirtschaftsflüchtlinge dar. Als<br />

mögliche Gründe dafür sind hervorzuheben:<br />

Wenig Humankapital hinsichtlich der Anforderungen<br />

des modernen Beschäftigungs-


Seite 96<br />

Soziographische Analyse<br />

systems, traditionale Orientierung und soziale<br />

Rückzugstendenzen (mit entsprechenden<br />

Auswirkungen auf die Kindererziehung) sowie<br />

aktuell wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Ihre relative Anzahl bzw. die Bedeutung dieses<br />

Schwerpunkts sozialer Hilfen dürfte von Südwest<br />

nach Nordost abnehmen, das heißt im<br />

Landkreis Heidenheim am größten und auf<br />

Rügen relativ am geringsten sein. Hier zeigt<br />

sich strukturell ein Hilfebedarf in allen Phasen<br />

des kindlichen und jugendlichen Lebenslaufes,<br />

und zwar sowohl auf alltäglicher Versorgungs-<br />

wie auf kognitiver Bildungsebene.<br />

70%<br />

60%<br />

50%<br />

40%<br />

30%<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

4. er g e B N I S S e D e r Be F r A g u N g V o N Pr o j e k t<br />

C 6 u N D I h r e IN t e r P r e tAt I o N IM rA h M e N<br />

D e S er k e N N t N I S I N t e r e S S e S V o N C 3<br />

Das Projekt C 6 „Individuelle und soziale<br />

Ressourcen zur Bewältigung des sozialen<br />

Wandels: Entwicklung und psychosoziale Effekte“<br />

unter der Leitung von R.K. Silbereisen<br />

hat im Rahmen seiner Untersuchungen eine<br />

querschnittliche repräsentative Befragung von<br />

16- bis 43-Jährigen durchgeführt. Im Rahmen<br />

dieser Befragung hat die Arbeitsgruppe<br />

dankenswerterweise auch zwei Fragen in<br />

der Erhebung aufgenommen, die sich darauf<br />

beziehen, ob die Befragten – und wenn ja,<br />

dann wie oft – mit Einrichtungen der sozialen<br />

Sicherung und Unterstützung in öffentlicher<br />

und freier Trägerschaft in Kontakt gekommen<br />

sind (vgl. Silbereisen et al. 2006, S. 125f.). Für<br />

die von uns untersuchten Regionen ergibt sich<br />

das folgende Bild:<br />

Schaubild 1: Kontakte mit Einrichtungen der sozialen Sicherung und Unterstützung<br />

Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />

Arbeitsagentur Sozialamt<br />

Jugendamt Familien-/Erziehungsberatung<br />

Suchtberatungsstelle Schuldnerberatung<br />

anderen Einrichtungen


Das vorstehende Schaubild 1 besagt: (1) In der<br />

ostwürttembergischen Region um Heidenheim<br />

8 hatten 19,1% der Stichprobe mindestens<br />

ein Mal Kontakt zur Arbeitsagentur, 7,8% zum<br />

Sozialamt, 2,3% zum Jugendamt, 7% zu den<br />

Familien- und Erziehungsberatungsstellen, 2%<br />

zur Suchtberatung und 1% zur Schuldnerberatung.<br />

(2) Im östlichen Holstein hatten 22% der<br />

Befragten Kontakte zur Arbeitsagentur, 15%<br />

zum Sozialamt, 4,1% zum Jugendamt, 2% zur<br />

Familien- und Erziehungsberatung, niemand<br />

zur Sucht- und Schuldnerberatung gehabt.<br />

(3) Auf der Insel Rügen und im nordöstlichen<br />

Vorpommern waren dies 62,1% mit Kontakten<br />

zur Arbeitsagentur, 26,1% zum Sozialamt,<br />

9% zum Jugendamt, 3% zur Familien- und<br />

Erziehungsberatung, 2% zur Sucht- und 1%<br />

zur Schuldnerberatung. Im östlichen Thüringen<br />

hatten 55,1% der Stichprobe Kontakte<br />

zur Arbeitsagentur, 18,2% zum Sozialamt,<br />

13% zum Jugendamt, 8% zur Familien- und<br />

Erziehungsberatung, 1% zur Sucht- und 4%<br />

zur Schuldnerberatung. Hierzu in einer ersten<br />

Hinsicht nur soviel: Dieses Bild kommt unseren<br />

Ergebnissen trotz der eingeschränkten<br />

Vergleichsmöglichkeiten in vielen Punkten<br />

sehr nahe.<br />

Wir wollen an dieser Stelle weder die Frage<br />

nach der Repräsentativität noch die nach der<br />

spezifischen lokalen Geltung dieser Befragungsergebnisse<br />

aufwerfen, sondern einen anderen<br />

Sachverhalt in den Vordergrund rücken.<br />

Und zwar einen Sachverhalt, hinsichtlich dessen<br />

die eben angeführten rein methodologischen<br />

Fragen nicht von entscheidender Relevanz sind.<br />

Betrachten wir nämlich die Kontakte zu den<br />

einzelnen Einrichtungen genauer – und mit genauer<br />

meinen wir hier den konkreten Bezug zu<br />

unserer regionalen Strukturanalyse –, so stoßen<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

wir auf folgende Besonderheit: Die Ergebnisse<br />

bei den Kontakten zu Arbeitsagentur (ALG I)<br />

und Sozialamt (ALG II) entsprechen unseren<br />

Erwartungen auf der Grundlage sowohl der eigenen,<br />

im vorigen Kapitel zusammengefassten<br />

Analysen als auch der Untersuchung von<br />

Ressourcen und Bewältigungsprozessen bei<br />

der Auseinandersetzung mit sozialem Wandel<br />

im Projekt C 6 (bestätigt durch mündliche<br />

Mitteilung von R.K. Silbereisen): Die geringsten<br />

Kontakte mit diesen Institutionen haben<br />

(analog zur Statistik über Arbeitslosigkeit und<br />

Sozialhilfe-/ALG II-Bezug) die Befragten in<br />

den Regionen Ostwürttemberg (Heidenheim),<br />

danach folgen Ostholstein, Ostthüringen<br />

(Saalfeld-Rudolstadt) und das nordöstliche<br />

Vorpommern (Rügen). Dies wird noch einmal<br />

an dem folgenden Schaubild 2 deutlich:<br />

Seite 97


70%<br />

60%<br />

50%<br />

40%<br />

30%<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

Soziographische Analyse<br />

Zum Teil fast willkürlich, zum Teil wenig<br />

aussagekräftig sieht dagegen oft das Bild<br />

bei den Kontakten mit dem Jugendamt und<br />

mit den verschiedenen Beratungsstellen aus.<br />

(Letztere werden in der Regel von Trägern<br />

der freien Wohlfahrt unterhalten und von uns<br />

im folgenden Schaubild zusammengefasst.) In<br />

diesem Bereich der sozialen Hilfen werden die<br />

Erwartungen ohne offensichtliche strukturelle<br />

Gründe je nachdem bestätigt oder enttäuscht.<br />

Relativ am meisten bestätigt werden sie bei<br />

einem Vergleich der Anzahl an Kontakten zum<br />

Jugendamt und zu den Beratungsstellen<br />

in den jeweiligen Regionen. Geht<br />

Seite 98 man von der Überlegung aus, dass<br />

Jugendämter es in der Mehrzahl mit<br />

ressourcenarmen, hilfebedürftigen<br />

Klienten zu tun haben, Beratungsstellen dagegen<br />

schon auf Grund ihrer Komm-Struktur<br />

(Sozialarbeiter eines Jugendamts machen dem<br />

Schaubild 2: Kontakte mit Arbeitsagenturen und Sozialämtern<br />

Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />

Arbeitsagentur Sozialamt<br />

gegenüber in den entsprechenden Hilfefällen<br />

Hausbesuche i.S. einer Geh-Struktur) mehrheitlich<br />

handlungsautonome, an der Lösung<br />

ihrer Probleme aktiv Beteiligte und Interessierte<br />

„ansprechen“, so ist zu erwarten, dass<br />

in den an den Bourdieuschen Kapitalsorten<br />

reichen Regionen Beratungsstellen häufiger,<br />

Jugendämter dagegen relativ weniger kontaktiert<br />

werden. Für die ressourcenarmen Gebiete<br />

ist das Gegenteil zu erwarten. Genau dieses<br />

Verhältnis ist aus dem folgenden Schaubild zu<br />

ersehen:


16%<br />

14%<br />

12%<br />

10%<br />

8%<br />

6%<br />

4%<br />

2%<br />

0%<br />

In den industriell-gewerblich entwickelten<br />

Gebieten um Heidenheim und Saalfeld-<br />

Rudolstadt gehen mehr – in Ostwürttemberg<br />

deutlicher als in Ostthüringen, was ebenfalls<br />

zu erwarten war – Klienten zu den Beratungsstellen<br />

als zu den Jugendämtern. In Ostholstein<br />

und im nordöstlichen Vorpommern haben<br />

mehr Klienten Kontakt zum Jugendamt als zu<br />

den Beratungsstellen. Hier allerdings ist der<br />

Abstand in Ostholstein deutlich größer als in<br />

Vorpommern – was so nicht zu erwarten war.<br />

Bei der Anzahl der Kontakte und bei der Reihenfolge<br />

der regionalen Verteilungen beginnt<br />

somit das Bild fast willkürlich zu werden. Das<br />

gilt insbesondere, wie bereits aus Schaubild 1<br />

hervorgeht, für die Kontakte zu den verschiedenen<br />

Beratungsstellen.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

Schaubild 3: Kontakte mit Jugendämtern und Beratungsstellen<br />

Heidenheim Ostholstein Rügen Saalfeld<br />

Jugendamt Beratungsstellen<br />

Ein weiteres Beispiel für das fast willkürliche<br />

Bild, das sich in den Befragungen im Feld<br />

der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder<br />

abzeichnet, ist ein Vergleich der von uns festgestellten<br />

Anzahl an Fällen der Erziehungshilfen<br />

in den vier Kreisjugendämtern und der<br />

(relativen) Anzahl an Kontakten der Befragten<br />

aus der jeweiligen Region, die im C 6-Projekt<br />

angeben, mit dem Jugendamt in Berührung<br />

gekommen zu sein.<br />

Seite 99


Soziographische Analyse<br />

Tabelle 1: Vergleich der relativen Häufigkeit von Erziehungshilfen (C3) und von<br />

Kontakten mit den Jugendämtern in der jeweiligen Region (C6)<br />

Fälle des Jugendamts im Bereich der<br />

Erziehungshilfen bezogen auf 100<br />

Kinder und Jugendliche im Kreis<br />

(C3-Projekt: 2001-2005)<br />

Deutlich ist in Tabelle 1 zu sehen, dass unsere<br />

Ergebnisse der Auszählung von Fällen der<br />

Erziehungshilfe in den vier Jugendämtern und<br />

die Ergebnisse der Befragungen von Projekt C<br />

6 sich bei Rügen/nordöstliches Vorpommern,<br />

Ostholstein und Heidenheim/Ostwürttemberg<br />

entsprechen. Die Reihenfolge in beiden<br />

Aufstellungen ist identisch und die relativen<br />

Abstände zeigen große Ähnlichkeit. Dann<br />

allerdings taucht Saalfeld-Rudolstadt/Ostthüringen<br />

auf. Bei unserer Auszählung weist<br />

dieses Kreisjugendamt die wenigsten Fälle auf.<br />

Bei der Befragung von C 6 dagegen hat diese<br />

Region die meisten Kontakte im Vergleich der<br />

vier angeführten Stichproben zu verzeichnen.<br />

Die (maximale) Differenz kann mannigfache<br />

Gründe haben, ebenso sind viele methodische<br />

Fehler möglich bzw. kann die Vergleichbarkeit<br />

problematisiert werden. Allerdings<br />

– um es noch einmal zu wiederho-<br />

Seite 100 len – ist die „Unübersichtlichkeit“<br />

(Habermas) oder „Willkür“ in der<br />

Statistik der Kinder- und Jugendhilfe<br />

notorisch. Was könnten die Gründe für die<br />

manifesten Unterschiede sein insbesondere<br />

zwischen dem Feld der Arbeitslosen- und So-<br />

Kontakte zum Jugendamt<br />

unter den Befragten des<br />

C6-Projekts<br />

(2005)<br />

Rügen 3,02 % 9,32%<br />

Ostholstein 1,90 % 4,14%<br />

Heidenheim 1,74% 2,33%<br />

Saalfeld-Rudolstadt 1,55% 12,73%<br />

zialhilfe (materielle soziale Sicherung) auf der<br />

einen Seite und der Kinder- und Jugendhilfe<br />

(institutionelle Formen der sozialen Unterstützung)<br />

auf der anderen Seite? Wir sehen an<br />

dieser Stelle hauptsächlich zwei Faktoren, die<br />

diese Unterschiede erklären können: Auf der<br />

strukturellen Ebene die Organisationsform<br />

der Hilfeinstitutionen und die Art der Unterstützung<br />

sowie auf der Fallebene der jeweilige<br />

Modus der Konstruktion der relevanten Fälle.<br />

Was meinen wir mit unterschiedlichen Organisations-<br />

und Unterstützungsformen?<br />

Soziale Hilfen können von öffentlichen und<br />

freien Trägern organisiert werden. Öffentliche<br />

Träger können Bund, Länder oder Gemeinden<br />

sein bzw. die gesetzlichen Grundlagen<br />

für Hilfen können differieren – offener oder<br />

generalisierender und zwingender sein. Schon<br />

ein schneller Blick in die beiden Felder der<br />

sozialen Sicherung und Unterstützung stößt<br />

auf grundsätzliche Differenzen: Die materielle<br />

soziale Sicherung ist bundesgesetzlich normiert<br />

(SGB), die Institutionalisierung als öffentliche<br />

Einrichtung (Amt) vor Ort ist formal zwingend<br />

vorgegeben, ebenso die Form und die Höhe der<br />

Hilfe. Ganz anders das Feld der Kinder- und


Jugendhilfe. Das Bundesgesetz (KJHG – formal:<br />

SGB VIII) setzt einen Rahmen, welcher<br />

der Institutionenbildung im einzelnen Stadt-<br />

und Landkreis großen Gestaltungsspielraum<br />

lässt. Die Verteilung der Aufgaben zwischen<br />

öffentlichen und freien Trägern, die interne<br />

Organisation des Jugendamts sind Entscheidungen<br />

der Kreispolitik und Kreisverwaltung.<br />

Die Offenheit für kommunalpolitische Gestaltung<br />

schlägt sich in den Befragungen des<br />

C 6-Projekts vor allem in den Kontakten zu<br />

Beratungsstellen nieder. Der mögliche, für uns<br />

nahe liegende Grund könnte sein: Sozial- und<br />

Jugendamt sind (im Kern) durch Bundesgesetz<br />

vorgeschrieben, Beratungsstellen – die in<br />

der gegebenen Situation ohne Unterstützung<br />

durch die Kommunen nicht existieren können<br />

– dagegen nicht. Welche Beratungsstellen<br />

jeweils eingerichtet und gefördert werden, ist<br />

eine Entscheidung der kommunalpolitisch<br />

Verantwortlichen.<br />

Die Differenz von Sozial- und Jugendamt, die<br />

auf der formalen Organisationsebene noch minimal<br />

ist, wirkt sich dagegen auf der Fallebene<br />

aus, und zwar im unterschiedlichen Modus der<br />

Fallbearbeitung vor dem Hintergrund einer<br />

kontrastierenden Konstruktion der für das<br />

jeweilige Amt relevanten Fälle. Im Feld des<br />

Sozialhilfebezugs werden Fälle nach formalen<br />

Kriterien standardisiert (gleiche Hilfe für jeden<br />

Anspruchsberechtigten auf Grund gleicher<br />

Kriterien), im Feld der Kinder- und Jugendhilfe<br />

werden sie als Hilfefall individualisiert<br />

(Einzelfallhilfe nach konkretem Bedarf ). 9<br />

Die Kriterien der Sozialen Arbeit mit Einzelfällen<br />

ergeben sich jedoch in einem Spannungsfeld,<br />

das sich insbesondere aus der „Politik“ des<br />

Jugendamts bzw. der Kreisverwaltung, den je<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

nach Schicht und Region typischen „Klientenbedürfnissen“<br />

(subjektiver bzw. subjektiv<br />

vermeinter Hilfebedarf ) und der Professionalität<br />

der Fachkräfte (Feststellen des fachlich<br />

angemessenen Hilfebedarfs) zusammensetzt.<br />

Die kommunale Sozialpolitik kann zum<br />

Beispiel ganze Dimensionen und Grade von<br />

Hilfebedürftigkeit negieren oder ihre Ämter<br />

zwingen, diese auf einem minimalen Niveau<br />

sozialer Unterstützung zu „verwalten“. Die<br />

Angehörigen der Mittelschicht haben, um eine<br />

zweite Seite anzusprechen, eine signifikant<br />

größere Bereitschaft zum Besuch von psychosozialen<br />

Beratungsstellen, und schließlich<br />

wird – einer allgemeinen Erwartung gemäß<br />

- der Mitarbeiter eines Sozialen Dienstes mit<br />

einem manifesten „Helfersyndrom“ die Fallzahlen<br />

oder die Intensität der Maßnahmen<br />

über das professionell „gegebene“ Maß ansteigen<br />

lassen. Angesichts solcher systematischer<br />

Unterschiede liegt ein weiterer Schluss nahe:<br />

Die objektive Ressourcenlage einer Region<br />

vermag sich über die „eng“ und „zwingend“<br />

normierte Strukturierung im Bereich der<br />

materiellen Hilfen gleichsinnig „abzubilden“,<br />

dies ist im „weit und offen“ strukturierten Feld<br />

der Kinder- und Jugendhilfe nicht möglich. 10<br />

Dieser Befund wird unmittelbar durch die fortlaufenden<br />

Ergebnisse unserer Untersuchung<br />

im Projekt C 3, jetzt aber auch mittelbar durch<br />

die Befragungen im Rahmen des C 6-Projekts<br />

bestätigt. Daraus ergibt sich ein wichtiger<br />

methodischer Schluss: Wegen<br />

ihrer strukturnotwendig gegebenen Seite 101<br />

statistischen „Unübersichtlichkeit“ ist<br />

der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe<br />

ein prädestiniertes Untersuchungsfeld<br />

für das fallrekonstruktive Verfahren – sowohl<br />

auf der institutionellen Ebene als auch auf der


Seite 102<br />

Soziographische Analyse<br />

Akteurs- und Interaktionsebene. Ein Beispiel<br />

für die materiale Aufschließungskraft und<br />

den Erkenntnisgewinn der fallrekonstruktiven<br />

Methode stellt die folgende Studie von<br />

Dorett Funcke dar, die als paradigmatische<br />

Fälle die Biographien von Sozialdezernenten<br />

und Amtsleitern in den vier Kreisgebieten<br />

untersucht. Auf der Grundlage der Geschichte<br />

von Familie und Lebenslauf vermag sie die<br />

Bedeutung der biographischen Ressourcen der<br />

Leiter für den Wandel und die Gestaltung des<br />

Wandels in den einzelnen Dezernaten und<br />

Ämtern aufzuzeigen.


Endnoten<br />

1 Vgl. zur sozialökologischen Perspektive auf soziale Entwicklungen<br />

und Erziehungsprozesse: Bronfenbrenner 1979.<br />

2 In diesem Untersuchungsbereich überschneiden sich unsere<br />

Analysen mit denen von Projekt B 2 (Chr. Köhler/O. Struck: Betrieb<br />

und Beschäftigung im Wandel: Beschäftigungsstabilität und<br />

betriebliche Beschäftigungssysteme im Vergleich). Eine konkrete<br />

und fruchtbare Kooperation findet von uns mit diesem Projekt<br />

in dem Maße statt, wie Fallstudien auf der Basis interpretativer<br />

und rekonstruktiver Verfahren in die Untersuchungen von B 2<br />

einbezogen werden (vgl. Köhler/Loudovici 2007, S. 62).<br />

3 Wir danken insbesondere Rainer K. Silbereisen, Matthias<br />

Reitzle und Martin J. Tomasik für ihre Kooperationsbereitschaft<br />

und ihre Hinweise bei der Bereitstellung und Auswertung der<br />

Daten aus dem C 6-Projekt.<br />

4 Wir danken an dieser Stelle nochmals Martin Tomasik vom<br />

Projekt C 6, der uns die hier wiedergegebenen Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />

und zur Wirtschaftskraft zur Verfügung<br />

stellte.<br />

5 Wir danken in diesem Abschnitt sehr Michael Corsten vom<br />

Projekt C 4 (Giegel/Rosa: Politische Kultur und bürgerschaftliches<br />

Engagement; vgl. auch Corsten, M. et al. 2002) sowohl für<br />

seine Bereitschaft zum „Korrekturlesen“ als auch und insbesondere<br />

für seine Hinweise zur Datenlage und zur Übermittlung sowie<br />

Michael <strong>Friedrich</strong> (stud. Hilfskraft) für die Zusammenstellung<br />

der für uns relevanten Vergleichszahlen im Bereich des bürgerschaftlichen<br />

Engagements.<br />

6 Es ist allerdings zu vermuten, dass die Werte für den Kreis<br />

Ostholstein deutlicher unterhalb des schleswig-holsteinischen<br />

Landesdurchschnitts liegen werden als die Vergleichszahlen von<br />

Rügen in Relation zum Durchschnitt des Landes Mecklenburg-<br />

Vorpommern. Denn Schleswig-Holstein umfasst im Süden ein<br />

suburbanisiertes Gebiet in der Nachbarschaft zu Hamburg und<br />

im Westen den größeren Landesteil eines ehemaligen bäuerlichen<br />

Anerbengebiets, in denen wir höhere Werte im Bereich des bürgerschaftlichen<br />

Engagements erwarten.<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler<br />

7 Wir lassen im Folgenden bei der idealtypischen Betrachtung<br />

der regionalen Milieuwelten wieder den bäuerlichen Lebenskreis<br />

außer Betracht, da dieses Milieu auch nach unserer Untersuchung<br />

selten mit der öffentlichen Jugendhilfe in Berührung<br />

kommt.<br />

8 Die Problematik bezüglich der Aussagekraft der Ergebnisse<br />

der Befragungen im Rahmen des C 6-Projekts besteht insbesondere<br />

darin, dass die Anzahl der Befragten in den einzelnen<br />

Kreisgebieten und Regionen sehr schwankt. Waren es im Lkr.<br />

Heidenheim nur sechs, so im Lkr. Saalfeld-Rudolstadt 45, auf<br />

der Insel Rügen 55 und im Kr. Ostholstein sogar 73. Um auf<br />

eine vergleichbare regionale Grundgesamtheit zu kommen, haben<br />

wir größere regionale Einheiten gebildet, für die mit guten<br />

Gründen ein gemeinsamer sozialstruktureller Hintergrund<br />

angenommen werden kann. Dies sind für den Lkr. Heidenheim<br />

alle ostwürttembergischen Nachbarkreise: Alb-Donau-Kreis,.<br />

Donau-Iller-Kreis, Lkr. Göppingen, Ostalbkreis, Rems-Murr-<br />

Kreis, Lkr. Schwäbisch Hall und Stadt Ulm (zusammen 129<br />

Fälle). Die Ergebnisse des Kr. Ostholstein werden für unsere<br />

Zwecke mit denen des Kr. Plön zusammengefasst (insgesamt<br />

145 Fälle). Die Datenbasis hinsichtlich des Lkr. Saalfeld-<br />

Rudolstadt wird durch die der benachbarten Ilm-Kreis, Lkr.<br />

Sonneberg und Saale-Orla-Kreis verbreitert (zusammen 165<br />

Fälle). Vergleichbares gilt für die Insel Rügen; hier werden die<br />

angrenzenden Festlandkreise Nordvorpommern und Ostvorpommern<br />

in unsere Auswertung mit einbezogen (insgesamt<br />

161 Fälle).<br />

9 Wir lassen bei dieser typologischen Betrachtung außer acht, dass<br />

die aktuelle Entwicklung durch eine gegenläufige Bewegung<br />

gekennzeichnet ist: Während in der Kinder- und Jugendhilfe die<br />

Anstrengungen zu mehr Standardisierung nicht zu übersehen<br />

sind, werden im Bereich von ALG I und II (Arbeitslosen- und<br />

Sozialhilfe) unter dem Leitbegriff des aktivierenden Sozialstaats<br />

Versuche zu mehr Einzelfallbearbeitung und weniger<br />

sozialbürokratischer Standardisierung unternommen (vgl. die<br />

ersten Ergebnisse des Projekts B9 von K. Dörre in unserem<br />

<strong>SFB</strong>). Es bleibt abzuwarten, in wie weit sich mehr oder weniger<br />

gut gemeinte Politik gegen die Sachgesetzlichkeit des jeweiligen<br />

Felds (i.S. Bourdieus) durchzusetzen vermag.<br />

10 Letzteres ist ein früher Befund unserer Forschung<br />

im <strong>SFB</strong>, vgl. Hildenbrand 2004a, Bohler 2006.<br />

Seite 103


Seite 104<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N 1<br />

Dorett Funcke<br />

Beitrag 3<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

1. üB e r B l I C k<br />

2. Ak t e u r S B e z o g e N e<br />

FA l l r e k o N S t r u k t I o N e N<br />

Au S S e N S e I t e r IM MI l I e u –<br />

A. D. (oS tA l B k r e I S/he I D e N h e I M)<br />

DIe r A D I k A l e Mo D e r N I S I e r e r I N –<br />

Dr. D. (SA A l F e l D-ru D o l S tA D t)<br />

De r Mo D e r At o r – Dr. M. (rü g e N)<br />

De r k o N S t r u k t I V e re B e l l –<br />

h. w. (oS t h o l S t e I N)<br />

3. eIN Ve r g l e I C h D e r FA M I l I e N B I o g r A-<br />

PhISCh V e r M I t t e lt e N hA N D l u N g S- u N D or Ie<br />

N t I e r u N g S M u S t e r D e r tr A N S F o r M At I o N S-<br />

A k t e u r e<br />

„JedeS JuGeNdAMT uNTeRScHeIdeT<br />

SIcH VoN deN ANdeReN ALS oB eS KeIN<br />

GeSeTZ GÄBe“ (L. SALGo) 2<br />

1. üB e r B l I C k<br />

In diesem Teil möchten wir die Forschungsergebnisse<br />

vorstellen, die aus der Analyse<br />

von vier zentralen Akteuren resultieren,<br />

die qua ihrer Position entscheidende Strukturgeber<br />

im Prozess der Neuetablierung institutioneller<br />

Arrangements sind. Von zentralem<br />

Interesse ist die Frage: Welche Möglichkeiten<br />

der Institutionenbildung gemäß dem Kinder-<br />

und Jugendhilfegesetz (KJHG) sind mit den<br />

bestehenden oder neuen Akteuren gegeben?<br />

Es geht also darum, die Dynamik des Transformationsgeschehens<br />

unter Berücksichtigung


der Handlungspotentiale und -logiken der<br />

Akteure zu erfassen, die in historischen Phasen<br />

des Strukturumbruchs die Chance haben,<br />

neue Entwicklungsoptionen – wenn auch in<br />

institutionellen Kontexten mit verschiedenen<br />

Ausgangsbedingungen – zu nutzen. Um die<br />

Gestaltpotentiale zu erschließen, die ein Akteur<br />

in den Zeiten des Strukturwandels mobilisieren<br />

kann, rekonstruieren wir das Herkunftsmilieu<br />

und den einzelbiographischen Entwicklungsverlauf<br />

mit den zentralen Entscheidungssequenzen<br />

der Berufs- und Partnerwahl. Das<br />

Genogramm erweist sich hier zuerst einmal<br />

als ein geeignetes graphisches Mittel (vgl. Mc<br />

Goldrick & Gerson 1990), mit dem lebens- und<br />

familiengeschichtliche Daten über mehrere<br />

Generationen übersichtlich zusammengestellt<br />

werden können. Darüber hinaus stellt die von<br />

uns vertretene soziologische Genogrammanalyse<br />

auf eine sequentielle Analyse ab, die dem<br />

Generationsgefüge des Familienaufbaus folgt.<br />

Wir gehen davon aus, dass Genogramme in ihrer<br />

Abfolge objektiver Daten wie Geburtsdatum,<br />

Todestag, Beruf(e), Wohnort(e), Heirat(en)<br />

das Ergebnis strukturierter Wahlen sind, die<br />

zum einen in Krisensituationen, zum zweiten<br />

im Kontext objektiver Wahlmöglichkeiten<br />

getroffen werden. Im Rahmen einer Sequenzanalyse<br />

(Oevermann 1991, Hildenbrand 2005)<br />

rekonstruieren wir diese Wahlentscheidungen<br />

Schritt für Schritt, indem wir zuerst die objektiv<br />

gegebenen, rekonstruierbaren Möglichkeiten<br />

auf der Grundlage von „ontologischem“<br />

und „nomologischem“ Wissen 3 bestimmen<br />

und dann erst mit den tatsächlich getroffenen<br />

Wahlen vergleichen. Führt man diesen Prozess<br />

lange genug fort, dann kann man die über das<br />

Familienmilieu erzeugten Handlungs- und<br />

Orientierungsmuster erfassen, mit denen ein<br />

Akteur in die Situation eines Systemumbruchs<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

gestellt wird, und die Gestaltungspotentiale,<br />

die er dabei nutzen kann.<br />

Doch bevor wir jetzt mit den einzelnen Falldarstellungen<br />

beginnen, müssen noch ein paar<br />

Ausführungen zu den Unterschieden der zu<br />

vergleichenden Akteuren der Transformation<br />

folgen. Es handelt sich bei den von uns untersuchten<br />

vier Fällen um Akteure, die in der<br />

Sozialposition des Sozialdezernenten oder<br />

in der des Jugendamtsleiters den Übergang<br />

in der Kinder- und Jugendhilfe mitgestalten.<br />

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass zum<br />

einen die Jugendämter in sozialstrukturell und<br />

mentalitätsgeschichtlich entgegengesetzten<br />

Landkreisen liegen. Zum anderen kommen<br />

die Akteure zu unterschiedlichen Zeiten ins<br />

Jugendamt. Während Dr. M. (Amtsleiter)<br />

und H. W. (Sozialdezernent) das Projekt der<br />

Professionalisierung der Sozialen Arbeit nach<br />

dem Geiste des KJHG auf Rügen bzw. Ostholstein<br />

von Anfang an mitgestalten konnten,<br />

kamen Dr. D. (zuerst Amtsleiterin, dann<br />

Sozialdezernentin) und A. D. (Sozialdezernent)<br />

als Korrekteure von Fehlentwicklungen<br />

erst später ins Jugendamt. Dr. D. kommt im<br />

Jahr 2000 als Amtsleiterin in den Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt, nachdem vorher mehrere<br />

Amtsleiter gescheitert waren und die Leitung<br />

eine Zeitlang vakant war. A. D. kommt nach<br />

Ausfall der Amtsspitze durch persönliches<br />

Fehlverhalten als erfahrener und wandlungsbereiter<br />

Akteur in das Jugendamt des<br />

Landkreises Heidenheim. Während<br />

auf Rügen und in Ostholstein durch Seite 105<br />

zwei interne Aufsteiger des Jugendamtes<br />

zentrale Weichen für eine<br />

Reform der Kinder- und Jugendhilfe gestellt<br />

werden, sind es in Saalfeld-Rudolstadt und<br />

in Heidenheim zwei Externe, die in einer


Situation der von der Jugendamtsverwaltung<br />

selbst induzierten Krise als eine Art Retter<br />

ins Jugendamt geholt werden. Im Vergleich<br />

zu Rügen und Ostholstein, wo der Amtsleiter<br />

bzw. der Sozialdezernent Entwicklungspfade<br />

von Anfang an neu bahnen kann, treffen<br />

die zentralen Strukturgeber in Saalfeld-<br />

Rudolstadt und in Heidenheim auf einen<br />

Transformationskontext, in dem Pfade, wenn<br />

auch nicht zum Vorteil des Amtes, bereits<br />

eingespurt sind.<br />

Ein Unterschied zwischen den Amtsleitern<br />

in Ost- und Westdeutschland besteht darin,<br />

dass der Institutionenbildungsprozess aufgrund<br />

der unterschiedlichen Geschichte der<br />

Kinder- und Jugendhilfe in den jeweiligen<br />

Landkreisen in Rahmen von unterschiedlich<br />

etablierten Strukturen und Praxisroutinen<br />

geschieht. In den beiden westdeutschen<br />

Jugendämtern (Ostholstein, Heidenheim)<br />

kann eine Transformation unter Rückgriff auf<br />

die Routinen des Jugendwohlfahrtsgesetzes<br />

erfolgen. Dieser Wechsel innerhalb derselben<br />

Logik von Fachlichkeit zieht nach sich, dass<br />

entsprechende rechtliche und politische Diskursformen<br />

und auch Rhetorikstile beherrscht<br />

werden. In den beiden ostdeutschen Jugendämtern<br />

(Saalfeld-Rudolstadt, Rügen) muss<br />

der Paradigmenwechsel ohne professionelle<br />

Vorleistungen gestaltet werden. Während in<br />

den „alten“ Bundesländern der Professionalisierungsprozess<br />

über den Rückgriff<br />

auf Routinen realisiert werden kann,<br />

Seite 106 was auch mehr Handlungs- und<br />

Orientierungssicherheit erzeugt,<br />

stehen die „neuen“ Bundesländer vor<br />

der Aufgabe, die Kinder- und Jugendhilfe neu,<br />

ohne über ein Orientierungsnetz zu verfügen,<br />

zu konstituieren.<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

2. Ak t e u r S B e z o g e N e FA l l r e k o N S t r u k t I-<br />

o N e N<br />

Außenseiter im Milieu – A. D. (Ostalbkreis/<br />

Heidenheim)<br />

a) Die institutionelle Ausgangslage<br />

Im Jahr 2005 besetzt das Landratsamt Heidenheim<br />

die Leitungsposition des Sozialdezernenten<br />

mit einem transformationsbereitem<br />

Akteur, der im Nachbarkreis erfolgreich ein Jugendamt<br />

aufgebaut hat, das im Benchmarking<br />

auf Platz eins steht. Auslöser dieser Neubesetzung<br />

ist ein vom Jugendamt selbstinduziertes<br />

Krisenereignis. Aufgrund von persönlichem<br />

Fehlverhalten im Jahr 1997 im Bereich der<br />

Jugendhilfe und im Bereich der Sozialhilfe<br />

(zwei Betrugsfälle) kommt es zum Ausfall der<br />

Führungsspitze, einem zweimaligen Amtsleiterwechsel<br />

und zu einer großen Umorganisation<br />

der Institution im Jahre 1999, die sich als<br />

wenig hilfreich herausstellt. 4 Eine Konsequenz<br />

der sich nicht wieder konsolidierenden Situation<br />

nach diesem Krisenereignis war eine hohe<br />

Mitarbeiterfluktuation – „die Mitarbeiter verließen<br />

fluchtartig den Landkreis Heidenheim“<br />

(A. D.).<br />

In was für ein Amt, das durch die Ereignissequenz<br />

der Krise am Scheideweg neuer Entwicklungen<br />

steht, kommt A. D.? Er kommt<br />

in ein Amt, das weder aus der Reformzeit der<br />

70er Jahre eine Chance gemacht hat, um neue<br />

Pfade in der Sozialarbeit zu begehen, noch<br />

1991 das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz<br />

als Herausforderung für Veränderungen wahrgenommen<br />

hat. Objektiv gegebene Chancen<br />

zur Erzeugung von neuen Rahmen, mit der<br />

Möglichkeit der Modernisierung der Jugendhilfe,<br />

wurden nicht genutzt.


Erst 15 Jahre später, nach einem weitgehend<br />

passiven Hinnehmen des KJHG, kommt es<br />

infolge eines Ereignisses (sachwidriges Verhalten<br />

– Betrug) zu einem Versuch, einer dem<br />

Geiste des neuen Gesetzes entsprechenden<br />

umfassenden transformationellen Strukturanpassung.<br />

Mit A. D. wird eine qualifizierte<br />

Leitung implementiert, durch die über die<br />

Korrektur von Fehlentwicklungen eine institutionelle<br />

Ordnung transformiert werden soll.<br />

So ist A. D. ähnlich wie Dr. D. im Jugendamt<br />

Saalfeld-Rudolstadt – wie wir in der folgenden<br />

Fallskizze ausführen – mit der Herausforderung<br />

konfrontiert, als eine Art Retter den Prozess<br />

der Strukturbildung zu gestalten. Wie gelingt<br />

es nun A. D., diese Aufgabe zu lösen? Welches<br />

Herkunftsmilieu und welche berufsbiographischen<br />

Entwicklungen bilden für ihn die<br />

biographischen Grundlagen, um als „freiwilliger<br />

Feuerwehrmann“ auf eine institutionelle<br />

Krisensituation mit Gestaltungsimperativen<br />

reagieren zu können, die Strukturrahmenbedingungen<br />

für die Möglichkeit einer professionellen<br />

Jugendhilfearbeit erzeugen?<br />

b) Das Herkunftsmilieu von A. D.<br />

Die Großeltern väterlicherseits von A. D.<br />

bewirtschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts<br />

einen ca. 10 ha großen Hof im katholischen<br />

Südwestdeutschland. Der Großvater von A.<br />

D. repräsentiert den Typus des weichenden<br />

Erben, der in seiner Herkunftsfamilie in den<br />

bäuerlichen Lebenszusammenhang einsozialisiert<br />

wurde und dem es gelang, in einen anderen<br />

bäuerlichen Familienbetrieb einzuheiraten.<br />

Uns ist allerdings bekannt, dass er sich mit<br />

der Einheirat in einen Hof des Nachbarortes<br />

im Vergleich zu seiner Herkunft statusmäßig<br />

verschlechterte. Dass die individuelle Leistungsenergie<br />

selbst um den Preis des sozialen<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Abstiegs, trotz besserer Verdienstmöglichkeiten<br />

z. B. als Lohnarbeiter in der Stadt 5 , in<br />

die bäuerliche Tradition investiert wird, macht<br />

deutlich, wo im Spannungsfeld von Tradition<br />

und Moderne sich der Großvater von A. D.<br />

seinen Platz wählt.<br />

Wie viel Kinder hat das Paar? Um die Hofkontinuität<br />

zu sichern und um auch ohne<br />

die teuren Tagelöhner die Bewirtschaftung<br />

des Hofes sicher stellen zu können, musste<br />

für eine entsprechende Kinderzahl gesorgt<br />

werden. Es durften nicht zu viele sein, damit<br />

durch die Auszahlung der weichenden<br />

Erben die Wirtschaftskraft des Hofes nicht<br />

gefährdet wurde. Zum anderen musste bei der<br />

Reproduktionsplanung die damals noch hohe<br />

Säuglingssterblichkeit berücksichtigt werden<br />

wie auch die Substitution des Erben durch<br />

einen „Ersatzmann“ (Hildenbrand et al. 1992,<br />

S. 143), falls der Hofnachfolger (z. B. bedingt<br />

durch den Krieg) ausfiel. Wir erwarten mindestens<br />

drei Kinder, aber nicht mehr als fünf.<br />

Es werden insgesamt vier Söhne geboren. Gehen<br />

wir von einem Geburtenabstand von zwei<br />

Jahren aus, so kann vermutet werden, dass<br />

Josef, der Erstgeborene, 1903 zur Welt kommt.<br />

1905 und 1907 folgten dann vermutlich Melchior<br />

und Xaver, und 1909 wird Anton als<br />

Jüngster der Familie geboren. Welche soziale<br />

Stellung wird den Kindern aus diesem Milieu<br />

zugänglich? Denkbar wäre Folgendes:<br />

Josef als dem Ältesten wird der Hof<br />

überlassen. Melchior heiratet wie sein Seite 107<br />

Vater in den Bauernstand ein. Xaver<br />

bleibt im ländlichen Milieu und<br />

weicht zum Beispiel als Schmied, Wagner,<br />

Tischler, Schuster, Sattler, Seiler, Weber oder<br />

Schneider ins dörfliche Gewerbe aus. Anton


könnte einen städtisch-industriellen Lebensentwurf<br />

wählen und als ungelernter Lohnarbeiter<br />

sich außerhalb des Herkunftsmilieus<br />

orientieren. Nicht ganz auszuschließen ist<br />

aber auch, dass man mit ihm als dem Jüngsten<br />

etwas ganz besonderes vorhat. 6 Vielleicht darf<br />

er als Schüler eine höhere Lehranstalt (z. B.<br />

ein Lehrerseminar oder eine örtliche Lateinschule)<br />

besuchen, so dass dadurch die Position<br />

als Privatgelehrter einer Bildungseinrichtung<br />

vorbereitet oder der Eintritt in das Büro<br />

eines Rathauses oder Notariats oder Kontors<br />

einer Fabrik geebnet werden konnte. Fassen<br />

wir zusammen: Entweder werden wir ein<br />

berufliches Orientierungsmuster erkennen,<br />

das darauf zielt, über eine Reproduktion des<br />

väterlichen Biographieverhaltens die Bindung<br />

an das Herkunftsmilieu zu wahren. Oder<br />

wir beobachten eine landwirtschaftsexterne<br />

Individuierung, wenn die Familienstruktur<br />

nicht auf Bindung angelegt ist, was für eine<br />

lebensweltliche Platzierung über die Nutzung<br />

von Transformationspotentialen spricht.<br />

Josef, der Älteste, wird gemäß der Tradition<br />

Landwirt, fällt im 2. Weltkrieg und ist trotz<br />

seines Alters von 36 Jahren ledig geblieben.<br />

Dass er nicht verheiratet war, was für einen<br />

Hofnachfolger mit Stammesverpflichtung sehr<br />

ungewöhnlich ist, zeigt, dass es ihm vermutlich<br />

aufgrund eines Mangels an ausgeprägten<br />

Heiratsabsichten und Heiratsbestrebungen<br />

nicht gelungen ist, eine Lösung für<br />

Aufgaben zu finden, die mit der Po-<br />

Seite 108 sition des Erbnachfolgers verbunden<br />

waren. An dieser Stelle kommen wir<br />

auf die Idee, da Hofsicherung hier<br />

nicht mit Ehe zusammenfällt, dass wir es mit<br />

einem Milieu zu tun haben, das Tendenzen<br />

zur Besonderung besitzt. Für die Familie<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

bedeutet der Personalausfall des Ältesten, vor<br />

der Herausforderung zu stehen, die entstandene<br />

Lücke durch einen „Ersatzmann“ neu<br />

zu füllen. Die Position des Hauptnachfolgers<br />

muss auf alternative Weise neu besetzt werden.<br />

Melchior, der ca. 1905 geborene, wird ebenfalls<br />

Landwirt, bleibt im Krieg vermisst und hat<br />

wie Josef den Schritt der Ablösung aus der<br />

Familie durch eine eigene Familiengründung<br />

nicht vollzogen. Die Vermutung, dass es sich<br />

um ein Familienmilieu mit starken Bindungsbestrebungen<br />

gehandelt haben muss, erkennen<br />

wir auch an der Positionsbesetzung Melchiors<br />

im Familienverbund. Zu Zeiten der „Leutenot“<br />

(Heidrich 1997, S. 30), dem Rückgang<br />

der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, wird<br />

der Personalbedarf aus den eigenen Reihen<br />

gedeckt. Melchior wird in einer gesindeähnlichen<br />

Position als „Ersatzmann“ auf dem Hof<br />

gehalten. Dass auch er Landwirt wird, hat<br />

etwas zu tun mit dem starken Hofsicherungsdenken<br />

der Familie. Xaver, der Drittälteste, ist<br />

derjenige, der nicht ganz in den traditionellen<br />

Bahnen der Familie weitergeht. Er wird Mechaniker,<br />

heiratet eine Frau aus dem Ort, die<br />

aus einer Arbeiterfamilie stammt, und – ganz<br />

untypisch für katholische Wähler (vgl. Falter<br />

1991, S. 180) – Parteimitglied der NSDAP ist.<br />

Anton, der Jüngste, weicht ins dörfliche Landhandwerk<br />

aus und wird Schuhmachermeister.<br />

Er überlebt ein Jahr Konzentrationslager und<br />

die Strafkompanie, die in den meisten Fällen<br />

das sichere Todesurteil bedeutete, und kehrt<br />

kriegsversehrt aus dem Krieg zurück. So wie<br />

seine beiden ältesten Brüder war auch er mit<br />

30 Jahren, bis zum Kriegsbeginn, noch nicht<br />

verheiratet. Die Hypothese vom bindungskräftigen<br />

Familienmilieu sehen wir auch hier nicht<br />

falsifiziert.


Die Mutter wird vermutlich bedingt durch den<br />

Tod ihres Mannes in den 40er Jahren und der<br />

kriegsbedingten Abwesenheit aller vier Söhne,<br />

von denen gerade die sozialisierten Hofnachfolger<br />

Josef und Melchior nicht zurückkehrten,<br />

den aus ihrer Familie mitgebrachten Betrieb<br />

allein – bis 1945 mit Hilfe von Kriegsgefangenen<br />

– bewirtschaftet haben. An Xaver, der<br />

mit einer Frau aus dem nicht-bäuerlichen<br />

Milieu verheiratet ist und dem Namen der<br />

Familie durch seine nationalsozialistische<br />

Vergangenheit keine Ehre macht, übergibt sie<br />

den Hof nicht, obwohl er vom Alter her an der<br />

Reihe wäre. Das Hoferbe überträgt sie an den<br />

Jüngsten, zu dem sie als Mutter wahrscheinlich<br />

eine engere Bindung als zu dem sich vom<br />

Milieu abwendenden Mittleren hatte. Aus<br />

strukturgesetzmäßiger Perspektive bedeutet<br />

die Delegation des Hofes an Anton für Xaver,<br />

vom jüngeren Bruder als potentieller Ersatznachfolger<br />

entthront zu werden.<br />

Für Anton hat diese ihm auferlegte Aufgabe<br />

der Weiterführung des Hofes die Konsequenz,<br />

die bereits begonnene alternative Biographieplanung<br />

als Schustermeister aufzugeben. Er ist<br />

aufgefordert, will er einen Loyalitätsbruch mit<br />

der Mutter vermeiden, das, wenn auch nicht<br />

sehr angesehene (Weber-Kellermann 1987, S.<br />

64, Bohler 1995, S.81), so doch mehr Freiheiten<br />

ermöglichende Schusterhandwerk gegen die<br />

Hofbindung einzutauschen. Es ist anzunehmen,<br />

dass er, dem ja die identifikatorische<br />

Hofsozialisation fehlt, nicht in ungebrochener<br />

affirmativer Haltung diese neue Aufgabe hat<br />

annehmen können. An der Partnerwahl und –<br />

das sei hier schon vorweggenommen – an der<br />

berufsbiographischen Entwicklung seines eigenen<br />

Sohnes, der uns hier in seiner Funktion<br />

als Amtsleiter und Sozialdezernent interessiert,<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

werden wir ablesen können, wie – um es mit<br />

Schütz zu sagen – sich dieses „Ereignis in die<br />

biographische Linie seines Lebens einfügt“<br />

(Schütz 1981, S. 104).<br />

Denkbar sind folgende zwei Fallstrukturverläufe:<br />

Entweder können wir ein Verhalten<br />

erkennen, das darauf zielt, als Jüngster eine eigenständige<br />

Lösung für die Hofübernahme zu<br />

finden. Oder es geht um die Realisierung einer<br />

Transformation hin zum klassischen Hoferben,<br />

der aus einer Haltung des „als ob“ heraus, sich<br />

wie selbstverständlich der Erfüllung der mit<br />

der Position verbundenen Aufgaben widmet?<br />

Trifft das erste Muster zu, so ist zu vermuten,<br />

dass er das Verhaltensmuster seiner Brüder<br />

reproduziert: Man bleibt im Milieu, aber ohne<br />

den potentiellen Aufgabenverpflichtungen<br />

eines Hoferben nachzukommen. Für die Zukunft<br />

der Familie hätte das die Konsequenz,<br />

dass der Hof zunehmend an Bedeutung für<br />

die Ausgestaltung von Lebensplänen verliert.<br />

Ganz anders verhält es sich, sollte sich die<br />

zweite Option durchsetzen. Wenn es um eine<br />

Transformation geht, dann ist von Anton die<br />

Aufgabe zu meistern, über Sonderleistungen<br />

den Mangel an der gegebenen Selbstverständlichkeit<br />

seiner Hoferbenrolle zu tilgen. Trifft<br />

diese Lesart zu, so ist zu erwarten, dass der<br />

Hof für die nachfolgenden Generationen an<br />

Bedeutung eher gewinnt als verliert.<br />

Folgende Beobachtung forciert aber<br />

die Vermutung, dass es nicht wahrscheinlich<br />

ist, dass sich das biogra- Seite 109<br />

phische Thema der Vollsozialisation<br />

zum Bauern durchsetzen wird: Anton<br />

heiratet erst 1953. Nach dem Tod seiner Mutter<br />

und der Hofübergabe lässt er noch sieben<br />

Jahre verstreichen, bis er im Alter von 43


Jahren heiratet. Diese Verzögerung, das lange<br />

Ledigbleiben, das eher ein „großbäuerliches<br />

Phänomen“ (Mitterauer 1986, S. 315) ist,<br />

zeigt, dass Anton nicht von einer ursprünglich<br />

gewachsenen Vorliebe für die Landwirtschaft<br />

angetrieben worden ist. Dass er mit der<br />

Hofübernahme seiner Verehelichungspflicht<br />

nicht sofort nachkam, macht deutlich, dass<br />

es ihm nicht hauptsächlich um den Erhalt<br />

bzw. Fortsetzung des Hofes gegangen sein<br />

kann. Denn ein Stammhalter war nicht in<br />

Sicht. Dass er sich 1953, zu einer Zeit, als es<br />

in der Landwirtschaft schon darum ging, dem<br />

Modernisierungsdruck mit „Wachsen oder<br />

Weichen“ (vgl. Albers 1999) zu begegnen, sich<br />

aber doch für eine Heirat entscheidet, regt zu<br />

folgender Hypothese an: Wenn auch nur mit<br />

halbem Herzen der bäuerlichen Lebensweise<br />

etwas abgewonnen werden kann, wird der<br />

Forderung der Mutter, sich den Hofnotwendigkeiten<br />

anzunehmen, doch Folge geleistet.<br />

Was wir hier an dem Verhalten der Heiratsverweigerung<br />

einerseits und an der gezeigten<br />

Verbindlichkeit gegenüber dem matrilinear<br />

übertragenen Erbe andererseits deutlich sehen<br />

können, ist die Ambivalenz, mit der dem Hof<br />

und der Hofverpflichtung begegnet wird.<br />

Doch jetzt zur Partnerwahl. Seine zwölf Jahre<br />

jüngere Frau Rosa ist die Tochter eines protestantischen<br />

Kleinbauern aus einem Ort aus<br />

dem Taubergrund. Von den sechs Schwestern<br />

ist sie die Zweitjüngste – einen männlichen<br />

Nachfolger hat die Familie<br />

Seite 110 nicht. Im Alter von vierzehn Jahren<br />

besucht sie die Hauswirtschaftsschule<br />

und erwirbt durch ihre Arbeit auf<br />

verschiedenen Gutshöfen am Bodensee die<br />

Kompetenz, den Haushalt eines größeren landwirtschaftlichen<br />

Unternehmens, bestehend<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

aus Ställen, Scheunen und Gesindehäusern, zu<br />

führen. Dass sie nicht die Möglichkeit nutzte,<br />

zum Beispiel auch als ungelernte Arbeiterin in<br />

den viel besser bezahlten industriellen Sektor<br />

auszuweichen (Rosenbaum 1992, S. 52), zeigt<br />

ihre Verbundenheit mit dem bäuerlichen<br />

Milieu. So ist sie gerade dazu prädisponiert,<br />

vom Vater nach dem Tode der Mutter auf<br />

den elterlichen Hof zurückgeholt zu werden,<br />

um als mithelfende Familienangehörige die<br />

arbeitswirtschaftliche Lücke zu schließen. Die<br />

Rückorientierung auf den Hof hat in Rosa<br />

vermutlich die Erwartung aufkeimen lassen,<br />

den Hof selbst einmal übernehmen zu können.<br />

Ihre Geschwister hatten sich bereits außerhalb<br />

der Landwirtschaft und der Familie orientiert,<br />

und ein männlicher Nachfolger stand nicht<br />

zur Wahl. Durch diese Abwesenheit des möglichen<br />

Personals rückte sie in die Position der<br />

Ältesten als potentielle Erbtochter. Wir wissen,<br />

dass nicht an sie, sondern an die jüngste Tochter<br />

der Hof geht.<br />

Die ihr sich bietende Option, auf dem Hof von<br />

Anton zu wirtschaften, hat sie – so ist anzunehmen<br />

– als eine äußerst günstige Gelegenheit<br />

erkannt, um zum einen den Freiheitseinschränkungen<br />

des väterlichen Hofes zu entkommen.<br />

Zum anderen bietet ihr der Platz auf Antons<br />

Hof, Anton konnte durch die Kriegsverletzung<br />

vermutlich nur eingeschränkt wirtschaften, einen<br />

Handlungsspielraum, in dem sie die in der<br />

Fremde gesammelten Selbständigkeitserfahrungen<br />

und das Organisationsvermögen, das<br />

sie schon auf ganz anderen Höfen mit weitaus<br />

größeren Dimensionen erprobt hatte, zur Geltung<br />

bringen konnte. Rosa weiß sich das, was<br />

ihre jüngere Schwester über Delegation erhält,<br />

aus eigenen Anstrengungen heraus, eben durch<br />

eine gute Heirat, zu erwerben.


Kommen wir an dieser Stelle auf die weiter<br />

oben formulierte Frage zurück: Mündet<br />

Antons Zurückplatzierung auf den Hof nach<br />

der außerlandwirtschaftlichen Orientierung<br />

(Schuhmachermeister) in ein Reorganisationsmodell,<br />

in dem es darum geht, die bäuerliche<br />

Lebenswelt aus der Hoferbenidentifikation<br />

heraus angehen zu können? Oder geht es darum,<br />

über die Sicherung der ihm aufgegebenen<br />

Milieuverwurzelung mental der weichende<br />

Erbe, der Jüngste, der Schuhmachermeister zu<br />

bleiben?<br />

An der Partnerwahl erkennen wir, dass Rosa<br />

durch ihre biographiegeschichtliche Prägung<br />

bestens dazu geeignet ist, zu einer Art Agentin<br />

der Hoferhaltung, zu einer energetischen<br />

Quelle für das Hofprojekt zu werden, dem<br />

Anton nur mit halbem Herzen verbunden<br />

geblieben sein wird. Mit der Partnerwahl wird<br />

so eine Ordnungsstruktur gestiftet, die Anton<br />

die Möglichkeit gibt, über das Bleiben im bäuerlichen<br />

Milieu (Wahrung der Loyalität zur<br />

Herkunftsfamilie) aus der Sozialposition des<br />

Außenseiters heraus (vgl. Becker 1963), Interessen<br />

zu verfolgen, die nicht immer den konventionellen<br />

Normen eines bauernweltlichen<br />

Daseins entsprochen haben, sondern eher auf<br />

die Zeit verweisen, als er Lebenspläne ohne die<br />

Bindung an das mütterliche Erbe schmieden<br />

und gestalten konnte.<br />

Doch wie fügt sich in diese Sinnstruktur der<br />

Altersunterschied von zwölf Jahren? Hätten<br />

wir nicht eher die Wahl einer gleichaltrigen<br />

oder älteren Frau erwartet? Blicken wir noch<br />

einmal kurz auf Rosas Entwicklungsgeschichte,<br />

so wird deutlich, dass sie qua Sozialisation<br />

(durch die extrafamiliale Orientierung ihrer<br />

älteren Schwestern und das Fehlen des männ-<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

lichen Nachfolgers) in die Sozialposition<br />

einer Hofältesten hineinwächst. Mit anderen<br />

Worten, trotz ihres jüngeren Alters kann sie<br />

Aufgaben und Verantwortung aus einer Sozialverfassung<br />

der Ältesten heraus angehen. In<br />

dieser Paarverbindung kann Anton – allein<br />

schon durch das Alter legitimiert – seine<br />

Entscheidungsautorität sichern, ohne allzu<br />

viel Energie in die Ausgestaltung des von ihm<br />

in die Ehe mitgebrachten Erbes investieren<br />

zu müssen. So wie er in den 50er Jahren, zu<br />

Beginn des agrarindustriellen Modernisierungsprozesses<br />

in der Landwirtschaft, der<br />

viele Landwirtschaftsbetriebe unter Druck<br />

setzte und nur die Alternativen ließ, über<br />

Modernisierungsanstrengungen innerberiebliche<br />

Veränderung vorzunehmen oder den<br />

Hof aufzugeben, sich für den Hof durch eine<br />

entsprechende Partnerwahl entscheidet, so<br />

drückt auch der gegebene Altersunterschied<br />

seine Bindung zum elterlichen Hof aus. Er<br />

entscheidet sich, das Erbe, die bäuerliche<br />

Ordnungsstruktur, zu sichern. Dafür rekrutiert<br />

er das geeignete Personal, das durch eine<br />

bäuerliche Verbundenheit, die ihm durch<br />

seine biographische Situation selbst nicht<br />

gegeben ist, in der Lage ist, den „Laden am<br />

Laufen“ zu halten und auch Reformen, eben<br />

anstehende Strukturveränderungen, innovativ<br />

zu meistern. Dass diese Hofbindung aber mit<br />

einer ambivalenten Haltung dem Erbe gegenüber<br />

gepaart ist, erkennen wir – wie schon<br />

kurz angedeutet – an zweierlei: Zum<br />

einen daran, dass Anton nach dem<br />

Tod der Mutter und der Hofübergabe Seite 111<br />

noch lange Zeit unverheiratet bleibt,<br />

was für ein fehlendes Stammhalterdenken<br />

steht, und zum anderen an dem<br />

Zeitpunkt der Heirat, der nicht zusammenfällt<br />

mit der Ankunft Rosas auf dem Hof. Es


ist zu vermuten, dass Rosa – was für einen<br />

kriegsversehrten Bauern nicht untypisch war –<br />

zuerst als Wirtschafterin aufgenommen wurde<br />

(vgl. Mitterauer 1986, S. 267, 277 und 283),<br />

um den Haushalt zu führen. Da die Heirat<br />

aber erst 1952 folgte, kann vermutet werden,<br />

dass die Arbeitsgrundlage der Beziehung<br />

aufgehoben war in einer Bindungsbeziehung<br />

zwischen einer Hauswirtschafterin und einem<br />

im Herzen Handwerksmeister gebliebenem<br />

Landwirt. Anders formuliert: Es liegt nahe,<br />

dass es zwar um den Erhalt des Hofes ging,<br />

nicht aber darum, für eine familienbetriebliche<br />

Kontinuität durch Erfüllung von Nachfolgeverpflichtungen<br />

durch die Zeugung eines<br />

Stammhalters zu sorgen.<br />

Die Frage ist dann, wie die nachfolgende<br />

Generation mit der Ambivalenz dem Hof<br />

gegenüber umgehen wird. Drei Varianten sind<br />

denkbar. Zum einen, die Ambivalenz wird beibehalten<br />

oder sie wird – zum anderen – in zwei<br />

mögliche Richtungen hin aufgelöst: Entweder<br />

der Hof wird abgestoßen, oder es gelingt in<br />

dieser Generation eine Transformation in die<br />

traditionelle Erbenrolle.<br />

Rekonstruktionsleitend sind im Weiteren<br />

folgende Fragen:<br />

Was macht A. D. (*1953), das einzige Kind<br />

von Anton und Rosa, aus der Ambivalenz, die<br />

von seinem Vater her kommt? Welche<br />

Lösung findet er für das Schicksal<br />

Seite 112 seines Vaters, der ungewollt und unverhofft<br />

Erbe eines Hofes wurde und<br />

dadurch auch auf einen bäuerlichen<br />

Lebensentwurf verpflichtet gewesen ist?<br />

Welche Weichenstellungen werden von seinen<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Eltern für seine Entwicklung gelegt? Haben es<br />

Anton und Rosa darauf abgesehen, das Denken<br />

vom Hof her über die Hoferbensozialisation zu<br />

tradieren?<br />

Beginnen wir mit der Frage, die das bereits Herausgearbeitete<br />

zusammenfasst: Mit welchem<br />

Elternpaar wächst A. D. (* 1953) auf?<br />

Die biographische Sozialisation seiner Eltern<br />

steht nicht für ein fragloses und kontinuierlich<br />

unmerkliches Hineinwachsen in die Arbeitswelt<br />

und Lebensweise des eigenen Hofes.<br />

Als Schuhmachermeister hatte Anton bereits<br />

landwirtschaftsexterne Pfade eingeschlagen,<br />

und auch Rosa, die auf großen landwirtschaftlichen<br />

Betrieben am Bodensee arbeitete, hatte<br />

als Tochter eines Kleinbauern längst über die<br />

Rolle als Hauswirtschafterin das Weichen<br />

vom Hof über diese Alternative geschafft. Von<br />

einem Hineinwachsen in eine Hoferbenrolle,<br />

die wie selbstverständlich habituell und ohne<br />

Alternativen an den Hof bindet, kann keine<br />

Rede sein. Ein Lebensentwurf, der auf die Sicherung<br />

des Hofes abzielte, war nicht gebahnt.<br />

Diese unzureichende, nicht diffuse Hofbindung<br />

der Eltern lässt vermuten, dass auch A.<br />

D. (*1953) keine auf eine Bestandsicherung<br />

des Hofes abzielende Sozialisation erfahren<br />

hatte. Ausstiegsgenerierend könnten aber auch<br />

folgende zwei Rahmenbedingungen gewirkt<br />

haben. Zum einen: sein Vater war ein Jüngster.<br />

Aus unseren zahlreichen Familienanalysen ist<br />

uns bekannt, dass Jüngste selten zum Strukturgeber<br />

werden. Mit anderen Worten: Sein Vater<br />

wird ihm aufgrund der Einsozialisierung in die<br />

Position eines Jüngsten im Geschwistersystem<br />

mehr Freiräume hat zugestehen können, als<br />

dies einem patriarchalisch das Gesetz vertretenden<br />

Ältesten möglich gewesen wäre.


Fassen wir diese Beobachtungen zusammen,<br />

so kommen wir zu folgender hypothesenbahnender<br />

Überlegung: Wir wären überrascht,<br />

wenn A. D. (*1953) durch eine milieuinterne<br />

Sozialisation die Nachfolge und damit auch die<br />

weitere Existenz des Familienbetriebes sichern<br />

würde. Die Frage ist, knüpft er an den Vater als<br />

Jüngsten an, der ein weichender Erbe im traditionalen<br />

Gewand eines Landwirtes geblieben<br />

ist? Oder löst er die von seinem Großvater her<br />

kommende Anspruchshaltung traditionaler<br />

bäuerlicher Verhältnisse – die sich dort in einer<br />

doppelten Erbnachfolgersozialisation zeigte<br />

( Josef und Melchior) – durch eine Transformationsanstrengung<br />

hin zum klassischen<br />

Hoferben?<br />

Wenn es um eine Hofsicherung geht, dann wird<br />

A. D. (*1953) z. B. die Landwirtschaftsschule<br />

des Kreises besuchen. Denkbar wäre aber auch<br />

ein Lebensentwurf als Hofnachfolger, den er<br />

später korrigiert. Wird A. D. aber eine Lebensplanung<br />

als weichender Erbe zugestanden,<br />

dann werden wir eine Entwicklung erkennen<br />

können, die nicht mehr auf Hofsicherung<br />

verpflichtet. Schauen wir uns den berufsbiographischen<br />

Verlauf an:<br />

A. D. besucht eine Verwaltungsfachhochschule<br />

und wählt durch den Fachbereich Polizei die<br />

Möglichkeit, in den gehobenen Polizeivollzugsdienst<br />

zu gehen. An dieser Entscheidung<br />

wird deutlich, dass der Vater sich ihm gegenüber<br />

als ein Jüngster aufgeführt haben wird, so<br />

dass die für einen Jüngsten typische mangelnde<br />

Strukturgebung jetzt über den Polizeidienst<br />

nachträglich sicher gestellt werden soll. Er<br />

macht dann im mittleren Dienst verschiedene<br />

Aufstiege. 1975 wird er in einer Zeit, als bei<br />

der Polizei in Baden-Württemberg große Um-<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

strukturierungen stattfanden, Leiter der Verwaltung<br />

einer Polizeidirektion. 1978 wechselt<br />

A. D. in den Bereich der wirtschaftlichen<br />

Jugendhilfe des Landratsamtes des Ostalbkreises.<br />

Ab 1984, im Alter von 31 Jahren, ist<br />

er stellvertretender Amtsleiter im Jugendamt<br />

Aalen und gleichzeitig Leiter der Dienststelle<br />

Schwäbisch Gmünd. Ab dem Jahr 1983<br />

engagiert er sich im Fortbildungsbereich – z.<br />

B. schult er nach der Wende in Sachsen Sozialarbeiter<br />

nach einem Gesetz, dem neuen<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetz, das in den „alten“<br />

Bundesländern noch gar nicht galt. 1995<br />

wird er Jugendamtsleiter im Ostalbkreis und<br />

2005 Sozialdezernent in Heidenheim. Fassen<br />

wir zusammen: A. D. kann sich für einen beruflichen<br />

Entwicklungsweg entscheiden, der<br />

ihm eine Orientierung an traditionalen Konzepten<br />

von Hofkontinuität, die ja schon bei<br />

seinem Vater nicht ausgeprägt waren, gänzlich<br />

verunmöglicht. Es bleibt die Frage, ob eine<br />

den Ausstieg aus dem Milieu ermöglichende<br />

Differenz auch über die Partnerwahl erzeugt<br />

wird. Wenn es ihm darum geht, den in der<br />

väterlichen Biographie angelegten Ausstieg zu<br />

radikalisieren, dann müsste er – im Vergleich<br />

zu seinem Vater – eine Frau wählen, die ihn<br />

noch weniger an das bäuerliche Milieu bindet<br />

als seine Mutter den Vater. Denkbar wäre, dass<br />

er eine Fremde ohne bäuerlichen Sozialisationskontext<br />

heiratet.<br />

Machen wir es kurz: Er heiratet eine<br />

protestantische Flüchtlingstochter,<br />

deren Eltern in Fünfkirchen Wein- Seite 113<br />

bauern waren und als vertriebene Ungarndeutsche<br />

nach dem Krieg in den<br />

Ostalbkreis kamen. Sie ist die Älteste von zwei<br />

Geschwistern und von Beruf Reisebürokauffrau.<br />

Kennengelernt haben sie sich in einem


Reisebüro in Stuttgart, wo A. D. seine Verwaltungslehre<br />

absolvierte. Als sie 1976 heiraten,<br />

ist A. 23 Jahre und E. 19 Jahre alt. Dass es A.<br />

D. nicht leicht gefallen sein muss, sich von<br />

seinem Elternhaus zu lösen – was als Indiz die<br />

Vermutung bestätigt, dass die elterliche Paarbeziehung<br />

als eine diffuse Sozialbeziehung<br />

gelebt werden konnte – zeigt die frühe, den<br />

Ablöseprozess unterstützende Heirat.<br />

Kommen wir zum Schluss: Wir sehen, dass<br />

A. D. nicht nur über die Berufswahl, sondern<br />

auch über die Partnerwahl Differenz erzeugt.<br />

Er wählt eine Frau, die ihn aufgrund ihrer<br />

Milieuherkunft und der Flüchtlingsgeschichte<br />

weder an die bäuerliche Lebensform bindet,<br />

noch durch mitgebrachte traditionsbindende<br />

Motive an seinen Herkunftsort. Während sie<br />

als ein Kind von protestantischen Flüchtlingseltern<br />

mit ihm eine lokale Verankerung erhält,<br />

eben eine gute Partie macht, gewinnt er mit<br />

ihr über die Ehe die Möglichkeit einer Wirklichkeitskonstruktion<br />

(vgl. Berger & Kellner<br />

1965), in der die vom Familienerbe ausgehende<br />

identifikatorische Bindungsmächtigkeit<br />

in dem Sinne aufgehoben ist, als dass das Alte<br />

ohne Bedeutungsverlust (Verwurzelungsmöglichkeit<br />

für seine Frau) im Neuen (keine<br />

Verpflichtungen gegenüber dem Hoferbe) bewahrt<br />

werden kann. A. D. und E. D. wohnen<br />

heute im Dorf, wahrscheinlich im Haus, in<br />

dem A. D. aufgewachsen ist. Ein letzter Rest<br />

des stark bindenden Familienmilieus<br />

zeichnet sich auch noch an dieser<br />

Seite 114 Entscheidung ab. Zum anderen wird<br />

Folgendes deutlich: A. D. reproduziert<br />

das in der väterlichen Biographie<br />

realisierte Lebensmuster vom Außenseiter im<br />

Milieu. Die Radikalisierung zeigt sich an den<br />

biographischen Entscheidungssequenzen der<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Berufs- und der Partnerwahl. Durch sie werden<br />

Identität stiftende Lebenskontexte gewählt,<br />

die eine Orientierung fern vom traditionellen<br />

Hofdenken ermöglichen. Das reproduktive<br />

Moment finden wir darin, dass er wie sein Vater<br />

lebensweltlichen Plänen verbunden bleibt,<br />

die nicht (mehr) auf den Hof verweisen, aber<br />

selbst im dörflichen Milieu bleibt. A. D. ist mit<br />

Blick auf seinen väterlichen Namensgeber der<br />

Radikalisierer des Außenseitertums im Milieu.<br />

Erst in der nächsten Generation ist der Ausstieg<br />

endgültig vollzogen. A. D. und E. D.<br />

haben zwei Töchter. In ihren biographischen<br />

Verläufen finden wir keine Bezugnahme auf<br />

väterliche Orientierungsangebote. Was in dieser<br />

Generation ganz zum Erliegen kommt, ist<br />

die in der zweiten und auch noch in der dritten<br />

Generation ihre Effekte im Lebensverlauf<br />

zeitigende Regelverletzung der Hofweitergabe.<br />

Es erlischt sozusagen die determinierende<br />

Gestaltungskraft des Krisenereignisses der<br />

nicht traditionell verlaufenden Hofweitergabe.<br />

Betrachten wir die Entwicklungsverläufe der<br />

vierten Generation, so erkennen wir, dass erst<br />

in den Biographien der Töchter die vollständige<br />

Transformation gelingt. Es fällt auf, dass in<br />

jeder Generation die Frauen auf irgendeine Art<br />

und Weise funktionsrelevant für den Hof sind:<br />

Durch die Großmutter väterlicherseits kommt<br />

der Hof in die Familie (l. Generation). Durch<br />

Rosa kann durch die Bewältigung des Transformationsprozesses<br />

in der Landwirtschaft der<br />

Hof gesichert werden (2. Generation). Durch<br />

E., der Ehefrau A. D., bekommt das Familienerbe<br />

in Zeiten seines Bedeutungsverlustes<br />

für biographische Lebensentwürfe wieder eine<br />

Funktion (Verwurzelung) (3. Generation).<br />

Die Frauen der vierten Generation bringen<br />

schließlich das traditionelle Konzept in seiner


Bedeutung für biographische Sinnstiftung zum<br />

Erlöschen. Da auch ein männlicher Nachfolger<br />

fehlt, da die Sicherung eines Erbes über einen<br />

Stammhalter nicht mehr gegeben ist, kann über<br />

die patrilineare Linie auch kein ökonomisches<br />

und kulturelles Familienkapital weitergegeben<br />

werden. Neu ist das nicht. Haben wir doch<br />

schon beobachten können, wie in der 2. Generation<br />

die Sicherung von Hofkontinuität durch<br />

Erfüllung von Stammhalterpflichten kein<br />

zentrales Thema war.<br />

c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />

Welchen über das Herkunftsmilieu und die<br />

berufsbiographische Entwicklung erworbenen<br />

Habitus bringt A. D. nun mit, um im Jahr 2005<br />

als eine Art Sanierer mit Reformbereitschaft<br />

die Sozialverwaltung im Kreis Heidenheim aus<br />

der Krise zu befreien? A. D. stammt aus einem<br />

Familienmilieu, in dem die Selbständigkeit des<br />

Wirtschaftens im Bereich von Landwirtschaft<br />

und Handwerk die prägende Lebensform ist.<br />

Da aber die Biographie seiner Eltern nicht<br />

durch eine naturgegebene Einsozialisierung<br />

in eine ungebrochene bäuerliche Traditionserfüllung<br />

bestimmt ist (der Vater ist Schuhmacher,<br />

die Mutter Wirtschafterin auf einem<br />

großen fremden Hof ), wird es A. D. über einen<br />

milieutranszendierenden Ausstieg möglich,<br />

fern der bäuerlichen Orientierung eine moderne<br />

eigenständige Lebensperspektive zu entwickeln<br />

– er kann auf eine Individualisierung<br />

des Lebenslaufs setzen. So erkennen wir an<br />

der beruflichen Entwicklung, dass er fachlich<br />

nicht den Anschluss an die Familientradition<br />

hält, aber Rahmenbedingungen wählt, die<br />

vergleichbar mit einem familienbetrieblichen<br />

Kleinunternehmen Spielräume für selbständiges<br />

Handeln eröffnen. Die im Familienmilieu<br />

angelegte unternehmerische Komponente<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

betriebswirtschaftlichen Handelns und Wirtschaftens<br />

kann A. D. aufgrund der Herauslösung<br />

aus traditionalen Hof-Verpflichtungen<br />

in einen außerlandwirtschaftlichen Bereich<br />

übertragen. Die Handlungsenergien werden<br />

umgelenkt, nachdem im Rahmen beruflicher<br />

Erstplatzierungen (Leiter der Verwaltungsbehörde<br />

bei der Polizei, Angestellter im<br />

Bereich der wirtschaftlichen Jugendhilfe im<br />

Landratsamt, stellvertretender Jugendamtsleiter)<br />

ein Wissenskapital im Verwaltungsmanagement<br />

erworben und Erfahrungen mit<br />

organisationalen Entscheidungsprozessen<br />

gemacht werden konnten, auf die selbstverantwortende<br />

Entwicklung einer sozialpädagogischen<br />

Fachbehörde. So ist er 1995 in der<br />

Funktion des Amtsleiters daran beteiligt, über<br />

die Reorganisation von Verwaltungseinheiten,<br />

durch personalwirtschaftliche Maßnahmen<br />

(Qualifizierung), durch Rationalisierungsmaßnahmen<br />

(Controlling, Butgetierung) und<br />

Investitionsplanungen aus einem Jugendamt<br />

eine professionelle Organisation sozialer Hilfen<br />

zu machen. Als er 2005 als Sozialdezernent<br />

in das Heidenheimer Landratsamt kommt,<br />

ist er durch die Bewegung in unterschiedlich<br />

konturierten Arenen (Polizeiverwaltung,<br />

wirtschaftliche Jugendhilfe und Jugendamtsleitung<br />

im Landratsamt in Aalen), in denen<br />

er neue Regeln durchsetzen und Qualifizierungs-<br />

und Reorganisationsprozesse begleiten<br />

konnte, gut vorbereitet, um es mit der Aufgabe<br />

der Neustrukturierung der Heidenheimer<br />

Sozialverwaltung aufnehmen<br />

zu können. An dieser Stelle aber nun Seite 115<br />

zu vermuten, wir hätten es hier mit<br />

einem bürokratischen Systemlenker<br />

zu tun, wäre irrig. A. D. ist durch seine Herkunft<br />

aus einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb<br />

nicht nur die Rationalität familien-


etrieblichen Wirtschaftens vertraut, sondern<br />

er verfügt auch gemäß den diffusen Anteilen<br />

familienbetrieblichen Handelns über Formen<br />

sozialer Reziprozität (vgl. Hildenbrand 2002,<br />

S. 122). Sein Aufwachsen in einem landwirtschaftlichen<br />

Familienunternehmen bildet so<br />

die biographische Grundlage, um Anforderungen<br />

gerecht werden zu können, die großes<br />

soziales Geschick verlangen (z. B. die Fortbildungskurse<br />

nach der Wende in Sachsen)<br />

und andererseits solchen, die Kenntnisse auf<br />

formalen sozial-technischen Wissengebieten<br />

erforderlich machen. Die ersten Schritte,<br />

die er in den beiden Jahren (2005-2007) als<br />

Sozialdezernent im Landkreis Heidenheim<br />

unternimmt, zielen darauf, über ein von ihm<br />

entwickeltes Organisationskonzept die acht<br />

Fachbereiche auf vier zu reduzieren (Sozialplanung<br />

und Prävention, Soziale Sicherung<br />

und Integration, Jugend und Familie, Soziale<br />

Beratung). Welche weiteren innerbetrieblichen<br />

Veränderungen A. D. einleiten wird,<br />

um die Wirtschaftlichkeit der Jugendhilfepraxis<br />

zu verbessern und alte institutionelle<br />

Regeln zu modernisieren, um das Projekt<br />

einer professionellen Sozialarbeit im Geiste<br />

des KJHG zu ermöglichen, bleibt abzuwarten.<br />

d) Aktuelle Situation des Amtes<br />

Wie steht das Amt heute da? Nach den Betrugsfällen<br />

und einer Phase der gescheiterten<br />

Krisenintervention (sechs größere Umstrukturierungen<br />

zwischen 1997 und 2004;<br />

1999 die „große Umorganisation“ –<br />

Seite 116 die Bildung von acht Fachbereichen)<br />

setzt man auf den „bewährten Praktiker“<br />

A. D. aus dem Nachbarkreis, der<br />

durch den Ausbau der ambulanten Angebote<br />

und die „Entwicklung“ des Personals über<br />

eine familientherapeutische Ausbildung den<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Ostalbkreis in der Jugendhilfestatistik auf den<br />

ersten Platz in Baden-Württemberg brachte.<br />

Erste Schritte der A. D.schen Restrukturierung<br />

bestehen darin, die Organisationsstruktur<br />

noch einmal zu verändern. Ihr Ziel ist es, die<br />

Fallbearbeitung wieder „in einer Hand“ zu<br />

konzentrieren. Als Folge der fehlenden Umstrukturierungen<br />

hatten sowohl die alten als<br />

auch die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter im<br />

Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) seit der<br />

„großen Umstrukturierung“ 1999 jeden „Glauben“<br />

in die Leitung verloren und sich daran<br />

gewöhnt, die Alltagsprobleme unabhängig<br />

oder sogar gegen die nicht praktikablen Vorgaben<br />

„von oben“ zu bewältigen. In der mit A.D.<br />

beginnenden Phase der Konsolidierung geht es<br />

darum, stabile Strukturen, fachliche Standards<br />

und eine neue Organisationskultur zu schaffen.<br />

Besonders Letzteres ist ein Problem, da der<br />

Wandel „von oben“ hier auf Mißtrauen und den<br />

Widerstand des Personals im Jugendamt trifft.<br />

Die „schlechte Stimmung“ im Amt kontrastiert<br />

mit den organisatorischen und arbeitsmäßigen<br />

Verbesserungen, die inzwischen stattgefunden<br />

haben und sich im Kennzahlenvergleich niederschlagen.<br />

Die radikale Modernisiererin – Dr. D. (Saalfeld-Rudolstadt)<br />

a) Die institutionelle Ausgangslage<br />

In Saalfeld-Rudolstadt kann von einer systematischen<br />

Neukonstituierung erst seit dem<br />

Jahre 2000, mit dem Amtsantritt von Dr. D.,<br />

die Rede sein. Sie wird zu einer Initiatorin<br />

eines Strukturbildungsprozesses, der in diesem<br />

Jugendamt nach dem Muster einer nachholenden<br />

und aufholenden Entwicklung verläuft.<br />

In der Zeit davor war die Leitung in der Verantwortung<br />

eines Leiters, der die fachlichen<br />

Fragen der Sozialarbeit mangels beruflicher


Sozialisation mehr als Verwaltungsbeamter<br />

löste. Der ehemalige Kreisjugendpfleger aus<br />

dem Westen, dessen gescheiterte Karriere in<br />

den Versuch mündete, in der ehemaligen DDR<br />

erfolgreicher zu sein, war an dem Bereich der<br />

Erziehungshilfen nicht interessiert. Kernprobleme<br />

wurden nicht angegangen. Seine<br />

Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Jugendarbeit<br />

und darauf, dass alle Sozialarbeiter<br />

in den Besitz eines Führerscheins kamen. Eine<br />

Weiterbildung der sozialpädagogischen Kräfte<br />

7 war „nicht erwünscht“ (Interview), wurde<br />

weder gefordert noch gefördert. Möglichkeiten<br />

für die Herausbildung professioneller Routinen<br />

gab es nicht. Das Ausbleiben der Etablierung<br />

von fachlichen Standards hatte zur Folge, dass<br />

die Sozialarbeiter stationäre Hilfemaßnahmen<br />

bevorzugten, was dem Amt hohe Kosten verursachte.<br />

Des Weiteren hinterließ der am Bereich<br />

der Hilfen zur Erziehung wenig interessierte<br />

Jugendamtsleiter ein Vakuum an politisch-bürokratischem<br />

Einfluss im Landratsamt, so dass<br />

der Jugendhilfeausschuss über die Behandlung<br />

der grundsätzlichen politischen Steuerungsfragen<br />

der Jugendhilfe im Kreisgebiet hinausging<br />

und in den Bereich der konkreten Organisation<br />

hinein „regierte“. In dieser Situation konnte die<br />

Jugendamtsleitung ihrer Rolle als Gesamtverantwortung<br />

tragende Instanz und damit als<br />

Garant professioneller sozialpädagogischer<br />

Arbeit in den Einrichtungen und Diensten der<br />

freien Träger nicht gerecht werden. An dieser<br />

Stelle – nach 10 Jahren verlorener Strukturbildung<br />

– setzt die neue Jugendamtsleitung<br />

an, die, unterstützt von der neuen Landrätin,<br />

über strukturbildende Maßnahmen das Amt<br />

reformieren soll. 8<br />

Mit welchen in einem familial-sozialen Strukturgefüge<br />

gewachsenen Habitus kann Dr. D.<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

der Herausforderung begegnen, Rahmenbedingungen<br />

für die Entfaltung einer professionellen<br />

Sozialarbeit zu schaffen, nachdem<br />

ausgebliebene Strukturreformen das Amt mit<br />

seinen hohen finanziellen Ausgaben in eine<br />

Krise führten?<br />

b) Das Herkunftsmilieu von Dr. D.<br />

Die Urgroßeltern von Dr. D. kommen aus<br />

einem Ort im Süden des Thüringer Landes.<br />

Das Dorf gehört zum heutigen Landkreis<br />

Saalfeld-Rudolstadt und liegt in einer mittelständisch<br />

orientierten ländlichen Gesellschaftsform.<br />

Der Urgroßvater väterlicherseits<br />

war in dieser Region, die nicht gerade ein<br />

Zentrum der Modernisierung war, aber über<br />

industrielle Strukturen verfügte, von Beruf<br />

selbständiger Tischler. Der Tischler zählte<br />

zum gehobenen Handwerk. Auch wird das<br />

Einzugsgebiet des Dorfes groß genug gewesen<br />

sein, um einen rentablen Betrieb zu<br />

ermöglichen. Es ist davon auszugehen, dass<br />

der Urgroßvater Teil des lokalen Patriziates<br />

gewesen ist.<br />

Zusammen mit seiner Frau hat er drei Söhne.<br />

Das spricht für eine gute Planung und<br />

ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Da<br />

Familienbetriebe auf Kontinuität angelegt<br />

sind, vermuten wir, dass zumindest ein Sohn<br />

einen adäquaten Beruf erlernen wird, der ihn<br />

befähigt, den Betrieb zu übernehmen. Für<br />

eine positive Identifizierung mit dem<br />

Lebensentwurf des Vaters spricht,<br />

dass tatsächlich der Älteste die Seite 117<br />

Tischlerei übernimmt und Meister<br />

im Handwerk seines Vaters wird und<br />

dass der mittlere Sohn in dem Unternehmen<br />

mitarbeitet. Der Großvater von Dr. D. väterlicherseits<br />

kann bis zu seinem Tod 1982 seine


Selbständigkeit aufrechterhalten. Dies ist unter<br />

den Umständen der DDR und im Kontext<br />

der restriktiven Wirtschaftspolitik, die gerade<br />

Selbständigen erschwerende Bedingungen<br />

auferlegte, eine beachtliche Leistung.<br />

Wie wird seine Partnerwahl ausfallen? Denkbar<br />

wäre eine Verbindung mit einer anderen<br />

Handwerkerfamilie am Ort, um den sozialen<br />

Einfluss zu steigern. Damit hätte seine Frau<br />

eine starke Position in der Partnerschaft.<br />

Umgekehrt würde er sich eine patriarchalische<br />

Position sichern, wenn er eine Tochter<br />

aus einer Heimarbeiterfamilie heiraten<br />

würde. Solche gibt es in dem Ort zahlreich.<br />

Andererseits würde dies ein Überschreiten<br />

der Schicht- oder Klassengrenzen bedeuten.<br />

Also erwarten wir eher eine Heirat im Selbständigenmilieu.<br />

Tatsächlich heiratet er die<br />

Tochter eines Kleinbauern. Da die Gegend in<br />

einem naturräumlich benachteiligtem Gebiet<br />

mit Bodenklimazahlen unter 35 (bei max. 100)<br />

liegt, ist eine profitable Landwirtschaft unter<br />

diesen Bedingungen nicht möglich. Es wird<br />

sich im wesentlichen um Subsistenzwirtschaft<br />

ohne größere wirtschaftliche Perspektive<br />

gehandelt haben. Sofern sich diese Familie<br />

offen auf Zukunft orientiert, wird sie es nicht<br />

mit aller Macht darauf anlegen, den landwirtschaftlichen<br />

Betrieb zu erhalten.<br />

1909 wird ein Sohn geboren, der 1913 stirbt.<br />

1914 kommt eine Tochter zur Welt,<br />

1920 eine weitere. Entgegen unseren<br />

Seite 118 Erwartungen ist das Reproduktionsmuster<br />

doch auf die Betriebsnachfolge,<br />

also auf das traditionelle familienbetriebliche<br />

Muster angelegt. Erst als der<br />

Sohn im Alter von vier Jahren stirbt, kommt es<br />

zu einer weiteren Geburt – diese ist aber eine<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Tochter. Weitere sechs Jahre später kommt es<br />

zu einem erneuten Versuch, einen Nachfolger<br />

zu zeugen, aber auch dies misslingt. Gegen diese<br />

Lesart könnte eine konkurrierende Deutung<br />

ins Feld geführt werden: Wegen der unsicheren<br />

Zeiten zwischen 1914 und 1920 verzichtet das<br />

Paar zunächst auf weitere Kinder, und erst<br />

1920, als die politischen Verhältnisse sich stabilisieren,<br />

kann ein weiteres Kind gezeugt werden.<br />

Oder einfacher: der Vater war zwischen<br />

1914 und 1918 im Krieg. Damit ist aber nicht<br />

erklärt, warum zwischen 1910 und 1913 keine<br />

Geburt erfolgt, jedoch zeitnah zum Tod des<br />

einzigen Sohnes eine Tochter geboren wird.<br />

Zunächst beobachten wir, so die Hypothese,<br />

ein traditionales Muster männlicher Erbnachfolge,<br />

das sich aber nicht realisieren lässt.<br />

Die Frage ist dann, ob die Töchter in diesen<br />

Erwartungsrahmen eingespannt werden, was<br />

unter dieser Maßgabe nur heißen kann: sie<br />

bringen einen Nachfolger für den Betrieb als<br />

Mann. Diese Erwartung wäre einer „traditional<br />

sklerotisierten Familie“ (Lanfranchi 1993)<br />

gemäß. Stimmt aber unsere These von der<br />

Zukunftsorientierung dieser Familie, müssten<br />

wir erwarten, dass die Eltern ihre Erwartungen<br />

an die Zukunft des Betriebes aufgeben und den<br />

beiden Töchtern bei Berufs- und Partnerwahl<br />

freie Hand lassen. Dazu erfahren wir: Beide<br />

Töchter lernen einen kaufmännischen Beruf<br />

und orientieren sich damit außerhalb der<br />

Landwirtschaft. Die erwartete Offenheit tritt<br />

also (doch noch) ein.<br />

Der Großvater von Dr. D., der selbständige<br />

Tischlermeister, heiratet also eine Älteste, die<br />

aus der Landwirtschaft kommt und sich selbst<br />

zu orientieren weiß. Als Ehefrau ist sie für das<br />

Geschäft durch ihre kaufmännische Ausbil-


dung eine Unterstützung. Hinzu kommt, dass<br />

sie aus dem gleichen Ort kommt, so dass er als<br />

Nachfolger seiner Familie auch die lokale Verankerung<br />

des Geschäftes weiter vorantreiben<br />

kann. Insofern ist die Verflechtung mit dem<br />

Familienzweig seiner Frau günstig, um sich<br />

weiterhin im Milieu zu verwurzeln.<br />

Das Paar hat drei Kinder: einen Sohn und<br />

zwei Töchter. Der Sohn ist der Älteste und<br />

wird 1940 geboren. Das heißt, seine berufliche<br />

Weichenstellung erfolgt Mitte der 50er Jahre.<br />

Damals hat es sich bereits abgezeichnet, dass<br />

das selbständige Handwerk in der DDR keine<br />

Zukunft haben wird. Andererseits könnte man<br />

sich auch vorstellen, dass in ländlicher Abgeschiedenheit<br />

bei Dominanz gemeinschaftsförmiger<br />

Sozialbeziehungen sich hätten Wege<br />

finden lassen, von der Fiktion der Aufrechterhaltung<br />

des Selbständigenstatus auszugehen<br />

und am Alten festzuhalten. 9 Die Frage ist,<br />

wird er seinen Sohn in einem Lebensentwurf<br />

unterstützen, in dem es darum geht, das Erbe<br />

des Familienbetriebes fortzusetzen, oder wird<br />

er seinen Sohn dazu anhalten, über eine andere<br />

Berufswahl ein Transformationspotential zu<br />

erwerben, das eine flexible Anpassung an die<br />

gegebenen Bedingungen des DDR-Staates<br />

ermöglicht?<br />

Der älteste Sohn, der Vater von Dr. D., wird<br />

Ingenieur und bleibt im Ort. Er findet mit<br />

dieser Wahl eine pragmatische Lösung für die<br />

Aufgabe, sich in die Berufswelt zu integrieren.<br />

Riskante Selbstbehauptungsversuche durch einen<br />

eigenständigen bzw. individuierten beruflichen<br />

Werdegang werden mit dieser Entscheidung<br />

vermieden. Indem er keine Tischlerlehre<br />

mehr macht, wird auch das unwiederbringliche<br />

Ende des handwerklichen Familienbetriebes<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

respektiert. Vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen<br />

Entwicklung des DDR-<br />

Staates betrachtet ist der Zeitpunkt für diese<br />

Neuorientierung genau der richtige (vgl. Becker<br />

& Strauss 1972, S. 366). Denn 1971 erfolgte<br />

wieder ein Kurswechsel der politischen<br />

Führung. In einer zweiten Enteignungswelle<br />

werden alle privaten Unternehmen verstaatlicht.<br />

Mit der Wahl des Ingenieurberufes, der<br />

rationales und effektives Denken erfordert,<br />

bleibt er gemäß der Familientradition bodenständig,<br />

begeht aber gleichzeitig einen<br />

Transformationsschritt, der für eine kluge<br />

Zukunftsplanung spricht. Die älteste Tochter<br />

wird technische Zeichnerin, die jüngste Biologin.<br />

Hier sind gewisse Linien der Vorfahren erhalten<br />

geblieben. Für technische Zeichnungen<br />

stehen Anregungen von der väterlichen Seite<br />

zur Verfügung, und der Beruf der Biologin<br />

kann als Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen<br />

Interessen gesehen werden. In<br />

dieser Generation findet also, aufruhend auf<br />

dem handwerklichem Selbständigenmilieu,<br />

eine Transformation in technische Berufe mit<br />

hoher Eigenverantwortung, aber abhängig beschäftigt,<br />

statt. Insgesamt stehen die Zeichen<br />

klar auf Aufstieg.<br />

Wieder stellt sich die Frage der Heiratsstrategie,<br />

und zwar beschränken wir uns (für die<br />

Analyse hier) auf den Ältesten, den Ingenieur.<br />

Die Großeltern seiner Frau mütterlicherseits<br />

waren selbständige Schneider mit<br />

sieben Kindern. Eine Tochter aus<br />

dem mittleren Bereich der Geschwi- Seite 119<br />

sterreihe heiratet einen Traktoristen,<br />

der früher vermutlich Landwirt war,<br />

sie selbst ist gelernte Porzellanmalerin. Dieser<br />

Ehe entstammen zwei Töchter. Die ältere, die<br />

den auf der vorangegangenen Generation ver


loren gegangenen Status der Selbständigkeit<br />

durch eine Orientierung an den Großeltern<br />

rettet, wählt wie diese das selbständige Schneiderhandwerk.<br />

Die zweite Tochter ist leitende<br />

Verkäuferin und heiratet einen Landwirt und<br />

Bürgermeister. Die Älteste heiratet den Vater<br />

von Dr. D.<br />

Heiraten finden hier also durchweg im<br />

Selbständigenmilieu der Kleingewerbler<br />

und Landwirte in ländlicher, naturräumlich<br />

benachteiligter Gegend statt, deren Sozialstruktur<br />

mehrheitlich durch Nebenerwerbslandwirtschaft,<br />

Heimarbeiterschaft und<br />

industriell-gewerbliche Strukturen (Bergbau,<br />

Textilindustrie, Glasindustrie) gekennzeichnet<br />

ist.<br />

Es heiraten zwei Älteste – damit ist die Disposition<br />

zu einer Paarbeziehung gegeben, die<br />

eher durch symmetrische als durch komplementäre<br />

Interaktion im Sinne von G. Bateson<br />

gekennzeichnet ist. Ein mögliches Resultat<br />

könnte ein hohes Niveau an Leistungsanforderungen<br />

in dieser Familie sein, die Kehrseite<br />

dessen wäre ein affektiv wenig ausgeprägtes<br />

Klima. Andererseits hat das Paar drei Kinder,<br />

was in diesem Milieu nicht für affektive Kühle<br />

spricht – eher im Gegenteil.<br />

Uns interessiert das mittlere der drei Geschwister,<br />

Dr. D. Sie hat einen jüngeren und<br />

einen älteren Bruder und wird also<br />

nicht umhin kommen, mit ihnen<br />

Seite 120 in Konkurrenz zu treten (verschärft<br />

durch das – vermutete – hohe Niveau<br />

an Leistungsanforderungen seitens<br />

der Eltern). Ihr Vorteil gegenüber den Brüdern<br />

ist, dass sie privilegierten Zugang zum<br />

Vater hat, wie wir nicht nur von Parsons mit<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Bezug auf die Strukturen der ödipalen Triade<br />

wissen. Denn die Identifikation im Zuge der<br />

Persönlichkeitsbildung läuft primär über das<br />

gegengeschlechtliche Elternteil.<br />

Diese Hypothesen lassen sich anhand der<br />

Berufe, die die drei Kinder aus dieser Familie<br />

ergreifen, leicht überprüfen. Der Älteste, 1961<br />

geboren, erwirbt zunächst den Abschluss eines<br />

Baufacharbeiters mit Abitur und wird dann<br />

Bauingenieur. Der Jüngste, 1968 geboren, studiert<br />

Zahnmedizin. Ego, 1964 geboren, wird<br />

Lehrerin in den Fächern Mathematik und<br />

Physik.<br />

Der Rest der Familiengeschichte ist schnell<br />

erzählt. Dr. D. heiratet einen Maschinenbauingenieur<br />

aus einer größeren Stadt im Süden<br />

Thüringens, der zunächst als Geschäftsführer,<br />

seit 2000 als selbständiger Unternehmer tätig<br />

ist. Dessen Vater ist Sohn eines Postbeamten<br />

im höheren Dienst, die Mutter Tochter eines<br />

Landwirts am Schwarzen Meer. Ihre Familie<br />

wurde während des Krieges vertrieben und<br />

fand in Sachsen-Anhalt ein Unterkommen.<br />

Das Paar führt demnach eine für die technische<br />

Intelligenz typische Ehe mit Doppelkarriereorientierung<br />

(Burkart & Kohli 1992). Dr. D.<br />

heiratet milieukonform. Das Paar hat zusammen<br />

eine Tochter, die 1988 geboren wird.<br />

Nun zur beruflichen Entwicklung von Dr. D.<br />

Indem sie Lehrerin in den Fächern Mathematik<br />

und Physik wird, verbindet sie den väterlichen<br />

Einfluss mit den weiblichen Aspekten<br />

von Pädagogik. Letztere gewinnt zunächst das<br />

Übergewicht, und zwar im Bereich der Reflexion,<br />

nicht aber im Bereich der beruflichen<br />

Praxis. Ihre Diplomarbeit, später zur Dissertation<br />

ausgebaut, behandelt Zukunftsaspekte von


Abiturienten. Sie wird angefertigt während<br />

einer vierjährigen Forschungsassistenz an der<br />

Pädagogischen Hochschule in Erfurt. Nach<br />

der Wende, als die Pädagogik gesellschaftlich<br />

und institutionell „ins Hintertreffen zu geraten<br />

droht“ – die Erziehung zur sozialistischen<br />

Persönlichkeit als pädagogische Aufgabe hat<br />

sich erledigt –, besinnt sie sich wieder auf ihre<br />

mathematischen Kompetenzen und lehrt freiberuflich<br />

Wirtschaftsmathematik und EDV<br />

– Hemmungen hinsichtlich der Berührung mit<br />

marktwirtschaftlichen Orientierungen wird sie<br />

bei ihrem Familienhintergrund nicht gehabt<br />

haben. Nachdem dieser Markt zunehmend<br />

erodiert, geht Dr. D. ans Landesjugendamt<br />

und dort zunächst in die Fachberatung für<br />

ambulante erzieherische Hilfen, danach in die<br />

Planungsabteilung. Damit greift Dr. D. auf ein<br />

anderes Segment ihrer pädagogischen Kompetenzen<br />

zurück.<br />

Die Schwerpunkte beruflichen Handelns bei<br />

Dr. D. liegen – sieht man von der zwischenzeitlichen<br />

Tätigkeit in der beruflichen Aus-<br />

und Fortbildung ab – im Bereich fachlich-distanzierter,<br />

reflexiver Zugangsweisen, nicht in<br />

der unmittelbaren pädagogischen Begegnung<br />

im Sinne Martin Bubers. Dazu passt, dass sie<br />

parallel zu ihrer Tätigkeit im Jugendamt eine<br />

Weiterbildung in „lösungsorientierter Kurzzeittherapie“<br />

macht. Dabei handelt es sich<br />

um einen Zweig der systemischen Therapie<br />

und Beratung (die als solche sich besonders in<br />

der Kinder- und Jugendhilfe bewährt), der ein<br />

hohes Maß an technikorientiertem, um nicht<br />

zu sagen technokratischem Zugang aufweist.<br />

Die Brücke von der Planung der Jugendhilfe<br />

zur Jugendhilfepraxis bewältigt sie demnach<br />

mit Mitteln, die ihrer Disposition am nächsten<br />

kommen.<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Schauen wir auf diesen Karriereverlauf als<br />

eine „Bewegung innerhalb von Strukturen“,<br />

wie es Becker und Strauss formulieren (1972,<br />

S. 355), so können wir zusammenfassend<br />

Folgendes festhalten: Sie bewegt sich zwischen<br />

klassisch männlichen und klassisch<br />

weiblichen Berufsvollzügen, die gepaart sind<br />

mit einem kontinuierlichem Aufstieg. Sie<br />

nutzt dafür alle ihr zu Verfügung stehenden<br />

Ressourcen als Mittel zum Zweck. Das Ziel<br />

ist eine planerische Tätigkeit, die die Balance<br />

zwischen beiden Bereichen herstellt.<br />

So kann sie jeweils variabel nach gegebener<br />

Opportunitätsstruktur eines als Standbein<br />

und das andere als Spielbein im Sinne ihres<br />

Hauptaugenmerks für sich nutzbar machen.<br />

Betrachten wir ihren sozialen Lebensverlauf<br />

aus der „familialen Blickrichtung“ (Bertaux &<br />

Bertaux-Wiame 1991, S. 13), so können wir<br />

erkennen, dass sich dieses lebenspraktische<br />

Muster, mit dem sie in die Welt hinein agiert,<br />

über verschiedene Transmissionen ausprägen<br />

konnte. Im Blick auf die väterlich-männliche<br />

Linie sehen wir jenseits der Unterschiede<br />

zwischen den aufeinanderfolgenden Berufen<br />

Ähnlichkeiten. Während der Urgroßvater und<br />

der Großvater väterlicherseits ihre jeweiligen<br />

Handlungsenergien in die Aufrechterhaltung<br />

und Sicherung des Selbständigen-Status<br />

investieren, steht ihr Vater vor der Aufgabe,<br />

über einen Transformationsschritt, der einen<br />

beruflichen Milieuwechsel erzwingt, den sozialen<br />

Status, wenn auch mit einem<br />

Verzicht beruflicher Selbständigkeit,<br />

zu wahren. Die Ressource, die die Seite 121<br />

Wahl einer neuen beruflichen Identität<br />

ermöglicht, stammt aus dem<br />

Handwerksbereich. Elementares Wissen<br />

über Konstruktionstechniken, das Entwerfen,<br />

Anfertigen und Ausführen von Werkteilen,


Fertigkeiten im technischen Zeichnen und<br />

planerische und logische Denkfähigkeiten<br />

können in dieser Linie tradiert werden. Was<br />

ist für Dr. D. von dieser Familienlinie her<br />

gesehen noch im Angebot? Sie kann lernen,<br />

wie durch ein umsichtiges und vorausschauendes<br />

Handeln das Kapital der Selbständigkeit<br />

innerhalb von Bedingungsrahmen bewahrt<br />

werden kann, die einem autonomen Gestaltungswillen<br />

Begrenzungen auferlegen. Sie hat<br />

Männer zum Vorbild, die durch ein flexibles<br />

Sich-Bewegen innerhalb der gegebenen<br />

Strukturen den Aufstieg machen (Tischlermeister/Bauingenieur).<br />

Sie kann von ihnen<br />

lernen, es mit der Herausforderung prekärer<br />

Umstände aufzunehmen. Des Weiteren ist ihr<br />

das rational effektive Denken aus dem väterlichen<br />

Spezialgebiet der technischen Arbeit<br />

bekannt. Ist sie mit dem Vater identifiziert,<br />

dann wird sie auch die Aufgabe nicht scheuen,<br />

durch „handanlegendes Umgestalten“ (Husserl<br />

1954, S. 61) des Vorgegebenen neue Ordnungsrahmen<br />

zu erzeugen bzw. aufzusuchen,<br />

um neue Handlungstypiken, Erfahrungen,<br />

„Sichtweisen, Lebensformen, Techniken und<br />

Sensibilitäten aufkommen“ (Waldenfels 1985,<br />

S. 49) bzw. möglich zu machen. In der mütterlichen<br />

Generationenlinie ist die Sicherung<br />

des Lebensunterhaltes im Rahmen von Umstrukturierungsprozessen<br />

ebenfalls ein Thema.<br />

Tradiert werden kann das Wertemuster, dass<br />

Selbständigkeit ein hohes Gut ist.<br />

c) Beruflicher und biographischer<br />

Seite 122 Habitus<br />

Welchen biographischen und im Verlauf<br />

ihrer beruflichen Entwicklung<br />

erworbenen Habitus bringt Dr. D. nun mit,<br />

um in der Amtsleiterposition im Jugendamt<br />

Saalfeld-Rudolstadt das „Projekt einer Pro-<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

fessionalisierung der Sozialen Arbeit“ (Bohler<br />

2006, S. 6) umsetzen zu können? Wir haben<br />

im Prozess der Fallrekonstruktion gesehen,<br />

dass milieuspezifische Entwicklungsrahmen<br />

zur „ermöglichenden Größe“ (Giddens 1984,<br />

S. 222) für die Herausbildung von sozialen<br />

Handlungskompetenzen werden, die Dr. D.<br />

befähigen, die Herausforderung der transformationellen<br />

Strukturanpassung unter der<br />

verschärften Problematik des Jugendamtes<br />

Saalfeld-Rudolstadt – wie wir gleich noch<br />

ausführen werden – anzunehmen. Durch ihr<br />

Hochschulstudium, die berufspraktischen Erfahrungen<br />

im Planungsbereich sozialer Hilfen<br />

und durch die Weiterqualifizierung im sozialpädagogischen<br />

Bereich des therapeutischen<br />

Betreuungshandelns verfügt sie über ein berufliches<br />

Wissen, das den Transformationsprozess<br />

durch fachliches Leitungshandeln steuern<br />

kann. Als Fachvertreterin einer professionellen<br />

Sozialarbeit beginnt sie erst einmal „strukturelle<br />

Entscheidungen“ (Interview) zu treffen.<br />

Sie schickt die Sozialarbeiter zu Weiterbildungen,<br />

organisiert eine Fortbildungsreihe<br />

„Lösungsorientierte Beratung“ (Interview)<br />

und ist interessiert an der „Fortentwicklung<br />

der Organisationsstruktur des Jugendamtes<br />

insgesamt“ (Interview). Des Weiteren initiiert<br />

sie über die Fachaufsicht eine konzeptionelle<br />

Weiterentwicklung der Angebote der Träger<br />

der freien Jugendhilfe und versucht, über die<br />

institutionelle Steuerung der Hilfeplanung (§<br />

36 KJHG) die professionellen Fähigkeiten und<br />

Erkenntnisse der sozialpädagogischen Fachkräfte<br />

aus den Einrichtungen für eine fachlich<br />

qualifizierte Fallarbeit produktiv werden zu<br />

lassen. Allerdings muss sie den Prozess der<br />

Strukturbildung, der ein fallangemessenes verantwortliches<br />

Handeln sicher stellen soll, unter<br />

erschwerten Umstrukturierungsbedingungen


leisten. Zum einen bremst die mangelhafte und<br />

auch verhinderte Qualifikation der Mitarbeiter<br />

die Realisierung der Jugendhilfe nach dem<br />

Fachlichkeitsgebot. Zum anderen erschwert<br />

eine Personalpolitik, die die rechtliche Seite<br />

vernachlässigt, die Akquisition von qualifiziertem<br />

Personal – der Personalrat verhindert<br />

externe Stellenausschreibungen (vgl. den Beitrag<br />

von Bruno Hildenbrand in diesem Band).<br />

Dazu kommt, dass Dr. D. die Strategie, Transformationsprozesse<br />

an erfahrene Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter zu delegieren, zunächst<br />

verwehrt ist. Sie baut eine nach der Wende<br />

sozialpädagogisch diplomierte Mitarbeiterin,<br />

die sich als fachlich geeignet erwiesen hat, als<br />

Leiterin des Sozialen Dienstes auf, die diese<br />

Aufgabe allerdings zunächst nur inoffiziell<br />

übernehmen kann. Denn die offizielle Leiterin,<br />

die eher den beharrenden Kräften angehört, ist<br />

nicht willens, auf diese Position zu verzichten,<br />

andererseits aber durch Krankheit immer<br />

wieder daran gehindert, ihre Verantwortung<br />

wahrzunehmen. Da die offizielle Leiterin des<br />

Sozialen Dienstes ihrerseits mit der Inhaberin<br />

einer starken Position, nämlich der Leiterin der<br />

wirtschaftlichen Jugendhilfe, eng befreundet<br />

ist, führt das in Saalfeld-Rudolstadt eine Zeit<br />

lang zu einem Transformations-Patt.<br />

Wir haben aber gesehen, dass Dr. D. durch die<br />

Einsozialisierung in eine Milieuwelt, in der ein<br />

hohes Maß an Selbständigkeit strukturbildend<br />

ist und in der das Thema, sich im Rahmen von<br />

krisenprovozierenden Veränderungen neu zu<br />

organisieren, nicht unbekannt ist, über Resistenzpotentiale<br />

verfügt, so dass den erschwerten<br />

Einbettungsbedingungen des Umstrukturierungsprozesses<br />

mit Widerstand begegnet werden<br />

kann. Damit nicht im Widerspruch steht<br />

ihre Entscheidung – gemäß der Fallstruktur,<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Handlungsspielräume zu erweitern –, im<br />

Jahre 2007 das Jugendamt zu verlassen und in<br />

den Bereich der Angewandten Wissenschaft<br />

zu wechseln, weil nicht sicher ist, dass bei der<br />

nächsten Wahl eines Landrats die Transformationspolitik<br />

weiter unterstützt wird. 10<br />

d) Aktuelle Situation des Amtes<br />

Zehn Jahre nach der Einführung des KJHGs<br />

konnten aufgrund eines an Fachlichkeit wenig<br />

interessierten Verwaltungsbeamten an der<br />

Spitze des Jugendamtes keine neuen Strukturen<br />

geschaffen werden. Entscheidungen<br />

für eine professionelle Weiterqualifizierung<br />

der Mitarbeiter wurden nach Einführung der<br />

neuen Gesetzeslage nicht getroffen, lediglich<br />

Veränderungen der bürokratischen Erfordernisse<br />

im Sinne des KJHG vorgenommen. Den<br />

Ausgangspunkt des Wandels bildet dann die<br />

Installation einer Amtsleitung, die die Neuorganisation<br />

der regionalen Jugendhilfe über<br />

einen Kurs der fachlichen Qualifizierung und<br />

ganz nach dem Motto: Modernisierung um<br />

jeden Preis betreibt. Seit dem befindet sich<br />

das Amt auf dem Wege einer nachholenden<br />

Entwicklung, allerdings vorerst auf niedrigem<br />

Niveau, da durch ein Beharren auf einem<br />

internen Arbeitsmarkt eine Fachlichkeit im<br />

Amt erst allmählich erzeugt werden kann.<br />

Eine systematische Schulung sozialpädagogischer<br />

Kompetenzen wird vom Personalrat<br />

der Kreisverwaltung (wie Bruno Hildenbrand<br />

im Beitrag dieses Bandes ausgeführt<br />

hat) als nicht notwendig erachtet.<br />

Das hat zur Folge, dass ein fachlich Seite 123<br />

anspruchsvoller Wissenserwerb in<br />

den Bereichen Diagnose, Beratung<br />

und Hilfeplanung noch schwach ausgeprägt<br />

ist und dass ein professionelles Handeln im<br />

Sinne einer beruflichen Praxis, die es ermög


licht, die Klienten fallspezifisch unter der<br />

Perspektive einer beschädigten Autonomie<br />

wahrzunehmen, erst allmählich ausgebildet<br />

werden konnte.<br />

Der Moderator – Dr. M. (Rügen)<br />

a) Institutionelle Ausgangslage<br />

Im Unterschied zu Saalfeld-Rudolstadt gibt<br />

es auf Rügen zwei Akteure, die von Anfang<br />

an zentrale Weichen für das Projekt der Professionalisierung<br />

der Sozialen Arbeit gestellt<br />

haben. Der Jugendamtsleiter Dr. M., der als<br />

promovierter Pädagoge schon vor der Wende<br />

in der DDR-Jugendhilfe tätig war, und Dr. S.,<br />

der als ehemaliger Sohn eines Gutsbesitzers in<br />

der Funktion des Sozialdezernenten KJHGkonforme<br />

Entscheidungen traf, sorgen für<br />

einen fulminanten Transformationsbeginn.<br />

Betrachten wir jetzt das spezifische Familienmilieu,<br />

aus dem heraus die Gestaltungsentscheidungen<br />

von Dr. M. erklärbar werden. Auf<br />

der Grundlage welcher biographischer Handlungsdispositionen<br />

kann er auf die Herausforderung,<br />

den Institutionsbildungsprozess zu<br />

gestalten, reagieren?<br />

b) Das Herkunftsmilieu von Dr. M.<br />

Objektive Daten zur Herkunftsfamilie des<br />

leiblichen Vaters sind aus dem Interview nicht<br />

bekannt. So beginnt das Genogramm mit dem<br />

Großelternpaar mütterlicherseits. Der Großvater<br />

ist selbständiger Schneidermeister<br />

und seine Ehefrau Hausfrau. Das<br />

Seite 124 Paar lebt in Gotha, jener Residenzstadt,<br />

die u. a. durch den Pietismus<br />

beeinflusst war. Dieses Paar hat ein<br />

Kind, eine Tochter, und man fragt sich, warum<br />

keine Anstrengungen unternommen werden,<br />

einen männlichen Nachfolger für das Geschäft<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

zu zeugen. War das Paar weit seiner Zeit voraus<br />

und plante, das Geschäft an die Tochter weiterzugeben?<br />

Oder wirtschaftete der kleine Familienbetrieb<br />

an der Rentabilitätsgrenze, so dass<br />

nicht nur Überlebensschwierigkeiten zu einer<br />

Kontrolle der Kinderzahl ‚zwangen’, sondern<br />

auch der Optimismus, sich in eine Zukunft zu<br />

reproduzieren, nicht vorhanden war? Oder gab<br />

die Paarbeziehung nicht mehr als die Geburt<br />

eines einzigen Kindes her? Verlassen wir an<br />

dieser Stelle den Materialtypus und gehen wir<br />

ins Interview, was methodisch zulässig ist, dann<br />

erfahren wir: diese Tochter war gehörlos. Dass<br />

keine weiteren Kinder geboren werden, wird<br />

mit der Angst des Ehepaares zu begründen<br />

sein, weitere gehörlose Kinder zu bekommen.<br />

Wir wissen nichts über eine genetische Belastung.<br />

In jedem Fall wird als Ergebnis einer<br />

Risikoabwägung das Ehepaar zu dem Schluss<br />

gekommen sein, lieber auf einen Nachfolger zu<br />

verzichten als ein weiteres behindertes Kind in<br />

Kauf zu nehmen.<br />

Wie aber geht ein Selbständigenhaushalt mit<br />

der Existenz eines behinderten Kindes um?<br />

Eine Option wäre, das Kind zu Hause zu<br />

behalten und es so weit mit lebenspraktischen<br />

Fertigkeiten auszustatten, dass es in der Lage<br />

sein wird, seine Eltern im Alter zu versorgen.<br />

Die Konsequenz wäre die Unterbestimmung<br />

der lebenspraktischen Autonomie der Tochter.<br />

Eine weitere Option wäre eine angemessene<br />

Berufsausbildung im Rahmen des bei Gehörlosen<br />

Möglichen. Diese Option wäre autonomiesteigernd.<br />

Was wird nun aus der Tochter, die habituell<br />

in die Lebenswelt eines Selbständigenmilieus<br />

hineinwächst, in dem sich ein Autonomiewillen<br />

mit einem Aufstiegsdenken, wie wir an der


Sozialposition des Meisters erkennen können,<br />

paart? Was für eine Lösung kann für die<br />

Entwicklungsaufgabe gefunden werden, sich<br />

unter den Bedingungen einer eingeschränkten<br />

Berufswahl in die Welt der Erwachsenen zu integrieren?<br />

Das Material zeigt, dass die Tochter<br />

den Beruf der Stepperin – ein Beruf, der nahe<br />

an dem ihres Vaters liegt – lernt und ihn sowohl<br />

privat als auch in der Fabrik ausübt. Das<br />

Autonomiemuster hat sich damit durchgesetzt.<br />

Aber nicht nur das handwerkliche Muster ist<br />

richtungsweisend bei der Bewältigung der<br />

im Erwachsenenleben anstehenden Bewährungsaufgaben.<br />

Sondern – wie wir gleich an<br />

der Partnerwahl sehen können – ist auch der<br />

im Familienmilieu erzeugte Habitus der Selbständigkeit<br />

ein zentraler Bestimmungsfaktor<br />

der Handlungsorientierung. Sie heiratet 1944<br />

einen ebenfalls gehörlosen selbständigen Malermeister<br />

aus Halberstadt. Mit dieser Heirat<br />

entscheidet sie sich für einen Mann, der ähnlich<br />

wie ihr Vater einer Berufsgruppe zugehörig ist,<br />

in der zwar die Kultur der Selbständigkeit gesichert<br />

werden kann, aber durch die die Sicherung<br />

des Statusniveaus der Herkunftsfamilie<br />

nicht gelingt. Denn das Bauhandwerk genießt<br />

im Vergleich zu der Handwerkstradition der<br />

Schneider ein geringeres Ansehen.<br />

An den Entscheidungswahlen Berufs- und<br />

Partnerwahl wird also Folgendes deutlich:<br />

Zum einen war diese Generation, die Elterngeneration<br />

von Dr. M., noch nicht gezwungen,<br />

neue, eigene Orientierungen zu entwickeln, da<br />

die Traditionen und Lebensgewohnheiten ihrer<br />

angestammten Milieus noch ihre Gültigkeit<br />

behaupten konnten. Zum anderen lassen die<br />

gewählten Optionen, die auf das Herkunftsmilieu<br />

zurückverweisen, vermuten, dass es sich bei<br />

der Familie, in der die gehörlose Tochter, also<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

die Mutter von Dr. M., aufwächst, um einen<br />

Beziehungszusammenhang gehandelt hat, in<br />

dem affektiv-diffuse Bindungen gelebt werden<br />

konnten. Denn alle Indizien weisen darauf hin,<br />

dass sie gut in die Familie integriert war und<br />

dass die Eltern autonomiesteigernde Schritte<br />

ermöglichten bzw. diese unterstützt haben, so<br />

dass der Weg in die Eigenständigkeit gefunden<br />

werden konnte.<br />

Die Ehe wird 1947, da ist Dr. M. drei Jahre<br />

alt, geschieden. Wie wird sich die Mutter mit<br />

ihrem Sohn orientieren? Es ist bekannt, dass<br />

Alleinerziehende nach der Auflösung der<br />

Familie nicht selten in ihre Herkunftsfamilie<br />

zurückkehren (vgl. Lüscher & Pajung-Bilger<br />

1998). Die Ablösung wird damit partiell<br />

rückgängig gemacht, zumindest so lange, bis<br />

ein neuer Partner gefunden ist. Die Mutter<br />

zieht, zumal behindert, – wie vermutet – mit<br />

ihrem Kind zu den eigenen Eltern zurück.<br />

Sie knüpft aber eine neue Beziehung an. Wen<br />

heiratet sie? Wieder im Selbständigenmilieu,<br />

oder anderweitig? Innerhalb des Heiratskreises<br />

Gehörloser oder außerhalb?<br />

Machen wir’s kurz: Sie heiratet einen Gehörlosen,<br />

einen fünf Jahre älteren Mann, der von<br />

Beruf selbständiger Tischlermeister ist. Die<br />

spezifische Mischung von Autonomie und<br />

Heteronomie findet sich auch hier wieder: Im<br />

beruflichen Bereich werden klassische Selbständigkeitsmuster<br />

gelebt, im privaten<br />

Bereich bietet die Herkunftsfamilie<br />

den Rückhalt. Denn das Paar zieht Seite 125<br />

zu den Eltern der Frau, und eigene<br />

Kinder – als Voraussetzung für die<br />

Realisierung des vollen Entwurfs einer Paarbeziehung<br />

– hat es nicht.


Ziehen wir an dieser Stelle eine kurze<br />

Zwischenbilanz: In einer Zeit, in der eine<br />

Behinderung wie die der Gehörlosigkeit als<br />

so einschneidend betrachtet wird, dass es<br />

unwahrscheinlich ist, dass die Betroffenen in<br />

nennenswertem Umfang Autonomiespielräume<br />

ausschöpfen können, stoßen wir auf<br />

Biographieverläufe, bei denen gerade dies ein<br />

zentrales Merkmal ist: berufliche Selbständigkeit<br />

und Familiengründung. Der regionale<br />

Kontext wird dazu seinen Teil beigetragen<br />

haben, denn Gotha hat nicht nur eine große<br />

Tradition im Bereich der Bildung, sondern es<br />

wird auch (via Pietismus) in dieser Region als<br />

gesellschaftliche Aufgabe angesehen worden<br />

sein, Behinderten die angemessene Förderung<br />

zukommen zu lassen.<br />

In welchen sozialisatorischen Entwicklungsrahmen<br />

wächst Dr. M. auf? Er wird<br />

hineingeboren in eine Familie, in der die<br />

Sozialpositionen „Vater“ und „Mutter“ besetzt<br />

sind. So bestehen, aus der Perspektive der sozialisatorischen<br />

Entwicklungsgegebenheiten<br />

betrachtet, günstige Bedingungen für die<br />

Ausprägung triadischer Beziehungsstrukturen.<br />

Wir können vermuten, dass Dr. M. in<br />

der frühkindlichen Entwicklungsphase bis<br />

zum Alter von drei Jahren nicht nur lernen<br />

konnte, mit unterschiedlichen Beziehungsmustern<br />

kreativ umzugehen und triadische<br />

Kompetenzen (vgl. Fivaz-Depeursinge 2001)<br />

auszubilden, sondern auch in dieser<br />

triadischen Konstellation Ambigui-<br />

Seite 126 tätstoleranz zu entwickeln. 1947, zwei<br />

Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges,<br />

da ist Dr. M. drei Jahre alt, trennen<br />

sich seine Eltern. Von der Mutter wird die<br />

denkbare Alternative der Nicht-Wiederheirat<br />

nicht genutzt. Nachdem wahrscheinlich ein<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Minimum an Zeit vergangen ist – genaue<br />

Angaben sind uns nicht bekannt – knüpft sie,<br />

wie bereits erwähnt, eine neue Beziehung, die<br />

durch Heirat besiegelt wird. Es kommt zur<br />

Bildung einer Familie mit einem Stiefelternteil.<br />

Ein sozialer Elternteil tritt an die Stelle<br />

des leiblichen. Mit dieser Wiederverheiratung<br />

beginnt für das Familienleben eine neue<br />

Periode. Dr. M. ist konfrontiert mit einem<br />

Vater/Mann, der nicht der biologische Vater<br />

ist und der seinen Platz in der neuen Familie<br />

erst finden muss, zu der auch die Eltern seiner<br />

neuen Frau gehören, mit denen man in einem<br />

Mehrgenerationenhaushalt zusammenlebt.<br />

Durch die Entscheidung, matrilokal zu leben,<br />

wird für den Sohn aus erster Ehe, Dr. M., der<br />

nicht gehörlos ist, ein Entwicklungsumfeld<br />

erzeugt, in dem das Erziehungsmonopol von<br />

den Großeltern übernommen wird. Denn aus<br />

psychosozialer Perspektive bedeutet die Rückkehr<br />

der Mutter in ihre Herkunftsfamilie, auf<br />

die abhängige Kind-Position verwiesen zu sein<br />

mit der Konsequenz, für den Sohn als Mutter<br />

nicht voll zur Verfügung zu stehen.<br />

Betrachten wir die Situation aus der Perspektive<br />

des damals drei Jahre alten Dr. M., so<br />

bedeutet die mit der neuen Heirat der Mutter<br />

einhergehende Lebensveränderung, nicht nur<br />

mit einem abwesenden leiblichen Vater groß zu<br />

werden, sondern auch ohne eine Mutter aufzuwachsen,<br />

die den eigenen Entwicklungsprozess<br />

vollständig abgeschlossenen hat und in Eigenverantwortung<br />

Mutteraufgaben erfüllen kann.<br />

Die durch den fehlenden Vater geschwächte<br />

Struktur der sozialisatorischen Interaktion wird<br />

durch die Einbettung der neuen Familie in das<br />

mütterliche familiale Herkunftsmilieu transformiert<br />

in einen Entwicklungsrahmen, der durch<br />

folgende Merkmale bestimmt ist: Durch einen


Stiefvater, der vermutlich aufgrund der Matrilokalität<br />

als stark zu besetzender Vater keine<br />

attraktive Entwicklungs- und Orientierungsmöglichkeit<br />

bot, einer symbolisch abwesenden<br />

Mutter, der es vermutlich schwer gefallen sein<br />

wird, aus ihrer Sozialposition heraus Autorität<br />

vollgültig durchsetzen zu können, und einem<br />

Großelternpaar, das – vermutlich bis in die<br />

Zeiten der restriktiven Wirtschaftspolitik<br />

der 50er Jahre hinein (vgl. Vogel 1997) – im<br />

Rahmen des Schneiderhandwerks selbständig<br />

wirtschaftete. Für Dr. M. wird aus dieser Situation<br />

eine Entwicklungsrahmenbedingung, die<br />

ihm auferlegt, ohne über ein strukturgebendes<br />

Vorbild verfügen zu können, das ihn in die Welt<br />

der Erwachsenen einführt, seinen eigenen Weg<br />

ins Leben zu finden. Welche Erfahrung kann<br />

Dr. M. machen, der – vermutlich bis zum Alter<br />

von 16 Jahren – in einem Mehrgenerationenhaushalt<br />

lebt? Da die unvollständige Triade<br />

nach der Scheidung der Eltern komplettiert<br />

wird durch einen biogenetisch mit ihm nicht<br />

verwandten väterlichen Stellvertreter, ist ein<br />

Entwicklungsrahmen für sein Aufwachsen gegeben,<br />

in dem er lernen kann, wie mit komplexen,<br />

nicht auf Blutsverwandtschaft basierenden<br />

Sozialbeziehungen umgegangen werden kann.<br />

Des Weiteren kann er die Erfahrung machen,<br />

dass, wenn ein Elternteil auch nicht hinsichtlich<br />

seiner Einzigartigkeit ersetzbar ist, es<br />

dennoch „substituiert werden kann“ (Théry<br />

1998, S. 174). Dr. M. wird vermutlich aufgrund<br />

der eigenen Entwicklungsgeschichte über das<br />

Wissen verfügt haben, dass Eltern Kinder<br />

auch groß ziehen können, wenn Eltern nicht<br />

biogenetisch verwandt mit dem Kind bzw. den<br />

Kindern sind. So gesagt, mit Familienzusammensetzungen,<br />

für die der Auseinanderfall von<br />

biologisch-sozialer Elternschaft konstitutiv ist,<br />

kennt er sich aus. Der Umgang mit komplexen<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

und konfliktreichen Strukturen ist ihm durch<br />

seine eigene Herkunft kein unbekanntes<br />

Thema. An dieser Stelle muss aber noch mit<br />

Blick auf die neue Partnerwahl der Mutter ein<br />

Parameter genauer betrachtet werden.<br />

Der zweite Partner, der Stiefvater von Dr. M.,<br />

stammt aus Kairo. Sein Vater, ein Deutscher,<br />

ist zusammen mit seiner österreichischen<br />

Frau im Handel selbständig tätig. Er hat noch<br />

eine ältere Schwester und wird mit 12 Jahren<br />

nach Deutschland in eine Gehörlosenschule<br />

geschickt. Durch die Konfrontation mit<br />

einem Stiefvater, der die ersten 12 Lebensjahre<br />

mit seiner Familie in einem fremden<br />

Land lebt, wo Dazugehörigkeit nur über die<br />

rationale Aneignung fremder Kultur- und<br />

Zivilisationsmuster möglich ist, ist auch für<br />

Dr. M. der Umgang mit multiplen Lebensentwürfen<br />

kein unbekanntes Thema und<br />

er kann, orientiert am Herkunftsmilieu des<br />

Stiefvaters, sich den Habitus des Aufgeschlossenseins<br />

gegenüber dem Fremden zu eigen<br />

machen. Diese biographische Erfahrungsbedingung<br />

bietet eine gute Grundlage, um<br />

im Jugendamt der Problematik komplexer<br />

Familienstrukturen mit Offenheit begegnen<br />

zu können.<br />

Doch bevor wir die Biographie von Dr. M.<br />

mit Blick auf die weichenstellenden Entscheidungen<br />

der Berufs- und Partnerwahl<br />

rekonstruieren, muss noch das Thema<br />

der Gehörlosigkeit näher bestimmt<br />

werden.<br />

Er wächst – selbst nicht gehörlos –<br />

mit gehörlosen Eltern auf. Hier gibt es nun<br />

zwei Optionen: Erlernt er die Gebärdensprache,<br />

oder verzichtet er darauf? Wenn er die<br />

Seite 127


Gebärdensprache nicht lernt, fehlt ihm der<br />

sprachliche Verständigungsprozess mit Mutter,<br />

Vater und Stiefvater, und das ungeteilte<br />

Erziehungsmonopol fällt den Großeltern<br />

zu. In diesem Fall würde er auf eine Ebene<br />

mit den Eltern geraten, für die er im außerhäuslichen<br />

Alltag Orientierungsleistungen<br />

zu erbringen hätte (ähnliche problematische<br />

Konstellationen kennen wir von türkischen<br />

Migrantenkindern, die, im Unterschied zu<br />

ihrem Vater, des Deutschen mächtig sind und<br />

daher für ihn dolmetschen müssen, wodurch<br />

objektiv die dort herrschende Autoritätsorientierung<br />

untergraben wird).<br />

Lernt er die Gebärdensprache, dann ändert<br />

sich die Lage. Er kann mit seinen Eltern in<br />

ein Gespräch eintreten, in welchem komplexe<br />

Wirklichkeit vermittelt werden kann. Die<br />

Hierarchie in der Eltern-Kind-Beziehung<br />

bliebe erhalten. Wenn er die Gebärdensprache<br />

beherrscht, dann wird er aber zu einem<br />

Vermittler zwischen der Welt der Gehörlosen<br />

und der Welt seiner Eltern, der in zwei Kommunikationswelten<br />

zu Hause ist. Dies bringt<br />

ihn – situativ, außerhalb der Familie – in eine<br />

Position der Überlegenheit gegenüber den<br />

Eltern. Die Zumutung an das Kind, Verständigungsmechanismen<br />

in beiden Sprachwelten,<br />

der der Gehörlosen und der der Hörenden, zu<br />

erwerben, stellt hohe Anforderungen an das<br />

Kind – es wird früh herausgefordert. Gelingt<br />

die Balance zwischen Kind sein im<br />

Binnenbereich der Familie und Ori-<br />

Seite 128 entierer der Eltern sein in außerfamilialen<br />

Zusammenhängen, zwischen<br />

hierarchisch untergeordneter und<br />

hierarchisch übergeordneter Position, dann ist<br />

die Entwicklung komplexer Fähigkeiten zur<br />

sozialen Interaktion zu erwarten. Ausweichen<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

kann er diesen Herausforderungen ohnehin<br />

nicht – er ist Einzelkind.<br />

Welche beruflichen Entwicklungswege sind<br />

vor dem Hintergrund der Herkunftsfamilie zu<br />

erwarten? Zum einen verfügt Dr. M. über die<br />

Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen,<br />

denn er lernt tasächlich die Gebärdensprache<br />

und wird als Dolmetscher eingesetzt (bzw.<br />

umgekehrt: diese Tätigkeit vermittelt ihm<br />

Kompetenzen im Bereich „taking the role of<br />

the other“). Im weitesten Sinne also disponiert<br />

dies zu einer pädagogischen Tätigkeit. Des<br />

Weiteren lernt er früh, vorurteilslos mit Behinderung<br />

umzugehen. Dieser Umstand könnte<br />

das Interesse an Randbereichen der Normalität<br />

stimulieren. Es könnte zu einer biographischen<br />

Disposition führen, die ihn zum Wanderer<br />

zwischen den Welten macht.<br />

Diese offen formulierten Wahlmöglichkeiten<br />

sind beschränkt durch die Generationenlage<br />

und die regionalen Gegebenheiten. Dr. M.<br />

kommt um 1960 in die Situation, sich über<br />

seinen Beruf Gedanken zu machen. 1961 wird<br />

die Mauer errichtet, er ist zu diesem Zeitpunkt<br />

17 Jahre alt, vermutlich noch an die Familie<br />

gebunden und damit auf das verwiesen, was die<br />

DDR einem jungen Mann mit diesen in der<br />

Familie erworbenen Qualitäten zu bieten hat.<br />

Selbständigkeit ist der zentrale Wert des Milieus<br />

der Herkunftsfamilie, außerhalb der Familie<br />

ist anderes gefragt. Blicken wir genauer auf den<br />

milieuspezifischen Familienzusammenhang:<br />

Am Beispiel des Stiefvaters und an dem der<br />

Großeltern konnte er beobachten, wie berufliche<br />

Selbständigkeit, ohne in der DDR einer<br />

Zwangsverstaatlichung zum Opfer zu fallen,<br />

im Kontext einer restriktiven Wirtschaftspo-


litik gelebt werden konnte, die Bedingungen<br />

setzte (wie teure Sozialversicherungsleistungen<br />

und hohe Steuern), die allerdings ein privates<br />

Wirtschaften zunehmend erschwerte (vgl.<br />

Vogel 1997). Für die nachfolgende Generation,<br />

für die Generation der um 1940 Geborenen, zu<br />

der auch Dr. M. gehört, war ein problemloser<br />

Rückgriff auf die Tradition der Selbständigkeit<br />

nicht mehr möglich.<br />

Wie reagiert Dr. M. auf die relative Aussichtslosigkeit,<br />

im Rahmen der gegebenen sozioökonomischen<br />

und politischen Gesellschaftslage<br />

die elterliche und großelterliche Tradition<br />

fortzusetzen? Unter den günstigen historischen<br />

Bedingungen der Bildungsoffensive in der<br />

DDR der 50er und 60er Jahre gelingt es ihm,<br />

den bereits mit dem Besuch der Oberschule<br />

anvisierten Weg eines <strong>Universität</strong>sstudiums<br />

zu verfolgen. Er entscheidet sich nach dem<br />

Abitur für das Studium der Pädagogik und erwirbt<br />

1970 die Lehrbefähigung für die Fächer<br />

Biologie und Chemie. Diese Entscheidung für<br />

ein naturwissenschaftliches Ausbildungsprofil<br />

betont das nicht Idealistische bei der Berufswahl<br />

und steht für einen pragmatisch verstandesgeleiteten<br />

(nicht emotionalen) Zugang<br />

zur Welt. Nach Abschluss des Studiums wird<br />

Dr. M. – vermutlich durch die damals übliche<br />

Absolventenvermittlung – zunächst für ein<br />

Jahr nach Erfurt-Möbiusberg in eine einzügige<br />

Landschule versetzt. Dort bewährt er sich so<br />

gut, dass er bald als Kandidat für eine Schulleiterposition<br />

gilt. Daraufhin besucht er von<br />

1971-1974 die Akademie für Pädagogik, wo er<br />

promoviert wird. Von 1974-1978 ist er dort als<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.<br />

Fassen wir zusammen: Dr. M. gehört zu den<br />

Bildungsaufsteigern, die durch die Bildungs-<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

expansion in der DDR sich für den Lehrerberuf<br />

entscheiden. Er wird Pädagoge auf der<br />

Grundlage früherer Erfahrungen als Kind und<br />

Jugendlicher, als er selbst gesund seine behinderten<br />

Eltern bei den alltagsweltlichen Orientierungen<br />

unterstützte bzw. diese Aufgaben<br />

ihm von der sozialen Umgebung zugeschrieben<br />

wurden. Kommen wir jetzt zum nächsten<br />

objektiven Datum, der Partnerwahl.<br />

Dr. M. hat, wie wir bereits weiter vorne ausgeführt<br />

haben, zwei Väter, einen leiblichen, abwesenden<br />

und einen sozialen, anwesenden, der<br />

jedoch – so ist zu vermuten – seine Position<br />

nicht zur Geltung wird haben bringen können,<br />

denn das Paar lebt bei den Eltern mütterlicherseits.<br />

Neolokalität findet nicht statt. Als Einzelkind<br />

wird er besonders von der Großmutter<br />

verwöhnt worden sein. Zweifelhaft ist, welche<br />

männlichen Identifikationsfiguren ihm zur<br />

Verfügung gestanden haben. Hier können wir<br />

punktuell Blindstellen vermuten – in gewisser<br />

Hinsicht ist dieser Fall auch unter dem Aspekt<br />

des abwesenden Vaters (vgl. Hildenbrand 2002,<br />

Funcke 2007) zu verhandeln. Denn nicht nur<br />

die Abwesenheit des leiblichen Vaters und das<br />

Aufwachsen in einem Lebenszusammenhang,<br />

der von der mütterlichen Herkunftsfamilie<br />

getragen wird, legen die Vermutung nahe,<br />

dass trotz einer vollständigen Familie das<br />

innerfamiliale Milieu von einem Mangel an<br />

männlichen Bezugspersonen bestimmt ist,<br />

die in die Welt der Erwachsenen als<br />

auch in die Welt der Männer einführen<br />

können. Die Einsozialisierung Seite 129<br />

in diesen Familienzusammenhang<br />

könnte zur Wahl einer älteren Ehefrau<br />

bzw. einer Ehefrau, die älteste Schwester<br />

jüngerer Brüder ist, disponieren. Setzt sich<br />

diese Option durch, wäre das ein Indiz für eine


Heiratsstrategie, die von folgendem Prinzip<br />

geleitet ist: Personen zu wählen, die aufgrund<br />

ihrer Sozialisation geeignete Anschlusspartner<br />

sind für die Aufgabe, ihn bei der erfolgreichen<br />

Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zu<br />

unterstützen. Im Widerspruch damit würde<br />

auch nicht die Wahl einer Partnerin stehen,<br />

die ihm mit ihrem Herkunftsmilieu ein männliches<br />

Vorbild liefert, durch das er lernen kann,<br />

wie gesellschaftliche Normen in den eigenen<br />

Lebensentwurf integriert werden können.<br />

Die nächste Frage richtet sich auf die soziale<br />

Positionierung der Partnerwahl. Frauen lernt<br />

man vorwiegend im Umfeld beruflicher Tätigkeiten<br />

kennen, und zu jener Zeit, als Dr.<br />

M. beruflich sozialisiert wird, sind Aufsteiger<br />

via Bildung in diesem Milieu dominant. 11 Er<br />

kommt aus dem Selbständigenmilieu. Wir<br />

erwarten nicht, dass er eine Frau aus dem<br />

Arbeitermilieu heiratet, obwohl gerade dieser<br />

Typus in seinem beruflichen Umfeld häufig<br />

anzutreffen war. Also kommt eine Berufskollegin<br />

eher nicht in Frage.<br />

Dr. M. heiratet eine Frau, die drei Jahre älter<br />

ist als er, eine mittlere Tochter ist und noch<br />

eine ältere Schwester ( Jg. 34), einen älteren<br />

Bruder ( Jg. 36) und noch eine jüngere<br />

Schwester ( Jg. 45) hat. Sie ist nicht Lehrerin,<br />

sondern biologisch-technische Assistentin an<br />

einer <strong>Universität</strong> – jener, an der Dr. M. nach<br />

dem Studium der Biologie und Chemie<br />

sich pädagogisch qualifizierte.<br />

Seite 130 Ihr Vater kommt ursprünglich aus<br />

Holstein, er ist ein weichender Erbe<br />

eines großen Bauernhofes. Im Zuge<br />

der nationalsozialistischen Siedlungspolitik<br />

zieht er mit seiner Frau 1934 auf die Insel<br />

Rügen, wo er bis zur Kollektivierung der<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Landwirtschaft 12 als selbständiger Landwirt<br />

einen 16 ha großen Hof bearbeitet. Dass er es<br />

auch verstand, Handlungsspielräume innerhalb<br />

der vorgegebenen Struktur der LPG zu nutzen,<br />

zeigt sich darin, dass er sich als Innovator im<br />

pflanzenzüchterischen Bereich hervorgetan<br />

hat, der den anderen, wie Dr. M. im Interview<br />

sagt, immer eine Nasenlänge voraus war. In ihm<br />

findet Dr. M. ein Vorbild, eine mögliche Identifikationsfigur,<br />

von der er lernen kann, wie ein<br />

Arrangement mit dem politischen und ökonomischen<br />

System der DDR bei gleichzeitiger<br />

Erhaltung einer – wenn auch eingeschränkten<br />

– Selbständigkeit möglich ist.<br />

Dr. M. heiratet also im Selbständigenmilieu,<br />

in einer Familie, in der eigenständiges Agieren<br />

am bäuerlichen Lebensmuster orientiert ist. Er<br />

wählt sich eine Frau zur Lebenspartnerin, die<br />

aus einem Kontext regionaler Ungebundenheit<br />

und familial gesättigter Innovation stammt. Als<br />

sie heiraten, ist Dr. M. 23 Jahre, seine Frau 26<br />

Jahre alt. Zum Zeitpunkt der Heirat studiert<br />

Dr. M. noch, ist daher finanziell noch nicht<br />

unabhängig. Seine Frau ist bereits berufstätig.<br />

Aus Sicht traditioneller Paarbeziehung ist<br />

damit eine Rollenumkehr gegeben – vor dem<br />

Hintergrund der Sozialisationserfahrungen von<br />

Dr. M. ist dies nicht weiter erklärungsbedürftig.<br />

Andererseits zieht das Paar in die Heimat<br />

von Dr. M., was ihm wiederum Vorteile bei der<br />

Ausbildung ehespezifischer Handlungs- und<br />

Orientierungsmuster außerhalb der Familie<br />

verschafft.<br />

Wie viele Kinder werden Dr. M. und seine Frau<br />

haben? Wir möchten hier nicht die Spannweite<br />

der Möglichkeiten zwischen null und 10<br />

Kindern erörtern, sondern nur die Kurzfassung<br />

wählen: Das Ehepaar hat zwei Kinder und


entspricht damit dem damals üblichen Normalmodell.<br />

In den 80er Jahren zieht das Paar in den Norden<br />

um, dabei Gesundheitsprobleme der Tochter<br />

geltend machend. Gegenden mit gesunder<br />

Luft gibt es im Norden der DDR reichlich, das<br />

Ehepaar M. zieht es jedoch nach Rügen. Sie<br />

wohnen – dieses Konzept kennen wir schon<br />

von den Eltern von Dr. M. – nicht neolokal,<br />

sondern sie ziehen bei den Eltern von Frau M.<br />

ein. Dies stellt einerseits hohe Anforderungen<br />

an die Autonomisierung des Paares als Paar,<br />

andererseits wird damit das Konzept familialer<br />

Autonomie gestützt. Noch heute lebt die Familie<br />

M. in einem Drei-Generationen-Kontext.<br />

Die Tochter von Dr. M. ist, nachdem sie in der<br />

DDR Agrarwirtschaft und nach der Wende<br />

Abwasserwirtschaft studiert hat, auf den großelterlichen<br />

Hof zurückgekehrt und baut dort<br />

seit einigen Jahren eine Pferdezucht auf – Fokus<br />

ihrer Orientierung ist das mütterliche Familienmilieu.<br />

13 Der Sohn lässt sich nach einem<br />

abgebrochenen Jurastudium zum Steuerberater<br />

ausbilden und studiert danach Ökonomie: Der<br />

Anschluss an die großelterlichen Vorgaben von<br />

beiden Seiten setzt sich durch, zumal der Sohn<br />

jetzt in der Heimat seiner Großeltern mütterlicherseits,<br />

nahe Hamburg, lebt.<br />

Mit dem Wohnortwechsel der Familie M. verbunden<br />

ist ein Berufswechsel. Dr. M. schließt<br />

nicht an seine ursprüngliche berufliche Orientierung<br />

als Pädagoge an, sondern er wechselt<br />

in das Referat Jugendhilfe (angegliedert an die<br />

Volksbildung) und qualifiziert sich als Jugendfürsorger<br />

(1 Jahr Falkensee). Wir haben darüber<br />

keine Information, jedoch liegt die Annahme<br />

nahe, dass es Rügen bzw. die Familie der Ehefrau<br />

gewesen ist, die der Orientierungsfokus<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

war, und dass die berufliche Entwicklung sich<br />

dem unterordnen musste.<br />

Interessant ist, dass es Dr. M. mit dem Wechsel<br />

ins Jugendamt möglich wird, Konstellationen<br />

herzustellen, die er aus seiner Kindheit kennt.<br />

Er findet ein Handlungsfeld, wo er helfend<br />

– ähnlich wie im Lehrerberuf – und mit<br />

Klientenbezug tätig werden kann. In der Jugendfürsorge<br />

hat er es vorwiegend mit Frauen<br />

zu tun. Stoßen aber Männer in Bereiche vor,<br />

die traditionell von Frauen beherrscht werden,<br />

machen sie in der Regel einen raschen<br />

beruflichen Aufstieg und gelangen in Leiterpositionen,<br />

oder aber sie verlassen zügig dieses<br />

Feld wieder. Ersteres ist bei Dr. M. der Fall: Er<br />

verbindet ein fürsorglich-mütterliches Milieu<br />

beruflichen Handelns mit einer Position, an<br />

der er seine Autonomieorientierung zur Geltung<br />

bringen kann.<br />

Fassen wir zusammen: Dr. M. stammt aus einer<br />

Familie, in der über Generationen hinweg<br />

sowohl im Bereich der Familienkontinuität<br />

(Weitergabe von ökonomischen und sozialen<br />

Kapital von Generation zu Generation) als<br />

auch im Bereich der Heiratsstrategien Dispositionen<br />

zur Selbständigkeit weitergegeben<br />

werden. Des Weiteren hat die Analyse gezeigt,<br />

dass Dr. M. in einem Haushalt aufwächst, in<br />

dem Familiensolidarität im Rahmen eines<br />

Mehrgenerationenzusammenhanges gelebt<br />

wird und in dem die Betreuung<br />

und Erziehung von einem um das<br />

Großelternpaar erweiterten Ver- Seite 131<br />

wandtschaftszusammenhang erfolgt.<br />

Wir haben erkennen können, dass<br />

Dr. M. in einer Familienkonstellation groß<br />

wird, in der nicht nur gelernt werden kann,<br />

mit Abweichung, mit Randbereichen der


Normalität umzugehen (Behinderung der<br />

Eltern – Gehörlosigkeit), sondern in der auch<br />

erfahrbar wird, in regelungsbedürftigen Situationen,<br />

für die es keine Lösungen in Gestalt<br />

von Standardmodellen gibt (Stiefvaterfamilie),<br />

zu handeln. Aufgrund seines Aufwachsens in<br />

einer Familie, in der die Welt der Gehörlosen<br />

und die Welt der Hörenden aufeinandertreffen<br />

und familiengemäß eine Einheit bilden,<br />

ist er zum einen gut auf den Umgang mit<br />

einem Klientel vorbereitet, das Hilfebedarf bei<br />

Bewältigung komplexer Beziehungsanforderungen<br />

hat. Zum anderen, eng mit dem erst<br />

genannten verbunden, ist er vermutlich durch<br />

die ihm im Bereich der eigenen Herkunftsfamilie<br />

zugedachte Aufgabe, den Eltern bei der<br />

Kontaktaufnahme zur Welt der Hörenden als<br />

Vermittler hilfreich zur Seite zu sein, in einer<br />

günstigen Lage, die Semantik hilfebedürftiger<br />

Milieus entschlüsseln zu können. Da ihm selbst<br />

durch das Aufwachsen in einer Stieffamilie sozial<br />

konstruierte Verwandtschaftsverhältnisse<br />

nicht fremd sind, kann er sich in die Situation<br />

des Klientels der Kinder- und Jugendhilfe<br />

einfühlen. Aus eigener Erfahrung weiß er,<br />

welche Bewältigungsleistungen familiale Reorganisations-<br />

und Reorientierungsprozesse<br />

den Familienmitgliedern abverlangen.<br />

c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />

Mit welchem Habitus, der durch die Sinnlogik<br />

seiner Deutungs- und Wertemuster ein<br />

zentraler Bestimmungsfaktor der<br />

Seite 132<br />

Handlungsorientierung ist, kann Dr.<br />

M. der Herausforderung begegnen,<br />

die Strukturtransformation im Sozialwesen<br />

zu leisten? Entsprechend<br />

seiner Orientierung an diffusen Anteilen<br />

familienbetrieblichen Handelns ist Dr. M. auf<br />

Ausgleich bedacht. Er gestaltet den Übergang<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

von der DDR-Jugendfürsorge zunächst als einen<br />

„weichen“, in dem er die obsolet gewordene<br />

Jugendhilfekommission 14 aus DDR-Zeiten in<br />

eine Organisation überführt oder zumindest<br />

an dieser Überführung einen Anteil hat, die als<br />

gemeinnütziger Verein Maßnahmen der Kinder-<br />

und Jugendhilfe nach dem neuen KJHG<br />

anbietet. Dieser freie Träger für ambulante und<br />

teilstationäre Maßnahmen der Erziehungshilfe<br />

soll die strukturelle Möglichkeit von Jugendhilfe<br />

außerhalb der öffentlichen Sozialverwaltung<br />

schaffen. Er selbst ist, obwohl inzwischen<br />

Leiter des neu geschaffenen Jugendamtes,<br />

zunächst Mitglied in diesem Verein, in dem<br />

er als „Vereinsvater“ (Interview) gilt. Diese<br />

Interessenkollision bringt ihm rasch Kritik<br />

ein, so dass er den Verein verlässt. Wer aus<br />

dieser Strategie der Gestaltung des Übergangs<br />

schließen wollte, Dr. M. sei ein Bewahrer untauglicher<br />

Strukturen, irrt. Die juristische und<br />

organisatorische Exekution neuer Anforderungen<br />

und Gestaltungsnotwendigkeiten der<br />

Kinder- und Jugendhilfe delegiert er an eine<br />

jüngere Mitarbeiterin, die rasch Leiterin des<br />

Sozialen Dienstes im Jugendamt wird. Parallel<br />

dazu hat Dr. Müller die fachliche Weiterqualifikation<br />

aller Mitarbeiterinnen im Jugendamt<br />

unterstützt, die ohne pädagogischen Abschluss<br />

waren. „Fortbildung, die ist hier auf breiter<br />

Front erfolgt“ (Interview). Damit ist das Bestreben<br />

verknüpft, die notwendige Fachlichkeit<br />

der sozialen Arbeit des Jugendamtes zu sichern.<br />

Schließlich hat er – unterstützt von einer älteren,<br />

erfahrenen und engagierten, inzwischen<br />

in Ruhestand befindlichen Mitarbeiterin – die<br />

Innovation der Jugendarbeit ermöglicht und<br />

diese gewissermaßen an einen aus Bremen<br />

zugereisten, charismatisch agierenden Sozialarbeiter<br />

delegiert. Dessen unkonventionelle<br />

Strategien können aber auf Dauer von Dr.


M., der kein Rebell ist, sondern eher in den<br />

Modi des Harmonisierens, Ausgleichens und<br />

Konfliktvermeidens handelt, nicht geduldet<br />

werden. Er behindert die Arbeit des Bremers<br />

und unterlässt in einer Krisensituation eine<br />

Unterstützungsleistung, die diesen freien Träger<br />

vor der Insolvenz hätte retten können.<br />

In der Rolle des Moderators organisiert und<br />

unterstützt er Strukturbildungen, die ein Handeln<br />

gemäß den Vorgaben der neuen Rechtsbestimmung<br />

des KJHGs ermöglichen. Dr. M.<br />

ist kein Planer, sondern mehr der Pädagoge,<br />

der im Sinne diffuser Sozialbeziehungen eines<br />

Familienbetriebes handelt und auftretende<br />

Widersprüche versucht in Klarheit und Eindeutigkeit<br />

aufzulösen. Im Jugendamt findet<br />

Dr. M. ein Handlungsfeld, wo er einerseits<br />

über die Leitungsposition die ihm aus der<br />

mütterlichen Linie vertraute Selbständigkeit<br />

sichern kann. Zum anderen gewinnt er mit<br />

dem Wechsel vom schulischen Berufsumfeld<br />

in den Arbeitskontext der Jugendhilfe einen<br />

Erfahrungszusammenhang, der ihm aufgrund<br />

seiner eigenen kindlichen Sozialisation bekannt<br />

ist. Er kennt sich durch die Behinderung<br />

seiner Eltern (Gehörlosigkeit) mit verschobenen<br />

Familienstrukturen und komplexen<br />

Beziehungsstrukturen (Stieffamilie) aus, und<br />

er weiß um die Bedeutsamkeit eines helfenden<br />

Fürsorgerahmens.<br />

d) Aktuelle Situation des Amtes<br />

Der Amtsleiter an der Spitze des Jugendamtes<br />

auf Rügen konnte den Übergang zum<br />

KJHG von Anfang an gestalten. Schaut man<br />

sich die Strukturbildung der Jugendhilfe in<br />

Reaktion auf die neue Gesetzeslage an, dann<br />

beobachten wir einen Prozess, der tendenziell<br />

nach der Formel verläuft: schneller Beginn der<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Transformation und zunehmende Stagnation.<br />

Zügig wird die Institutionenbildung seit 1990<br />

gestaltet (der Kinder- und Jugendhilfe-Verein<br />

wird gegründet, freie Träger gebildet, berufsbegleitende<br />

Fort- und Weiterbildung der<br />

Mitarbeiter unterstützt) bis der Transformationsaufschwung<br />

in eine Phase des Einfrierens<br />

gerät. Eine behutsame Korrektur des Verlaufs<br />

wird über eine Personalrekrutierung versucht.<br />

Neues, junges Personal wird eingestellt und<br />

Leitungsstellen auf der mittleren Ebene werden<br />

mit kompetentem Fachpersonal besetzt.<br />

Entwicklungsblockierend ist allerdings die<br />

Rahmenbedingung, dass aufgrund eines eher<br />

konfliktmeidenden Amtsleiters das Jugendamt<br />

in der Kreisverwaltung nur eine politisch<br />

schwache Position hat.<br />

Der konstruktive Rebell – H. W. (Ostholstein)<br />

a) Institutionelle Ausgangslage<br />

H.W. ist als ein Pionier der Gründerphase<br />

mit dabei, als im Zuge der Kreisreform um<br />

1970 die Chance besteht – die vom Landkreis<br />

Heidenheim nicht genutzt wurde – über<br />

den Aufbau der Jugendämter eine ganz neue<br />

Jugendhilfe und eine Neuorganisation der<br />

Sozialarbeit zu entwickeln. So beteiligt sich<br />

das Jugendamt Ostholstein in einer „Zeit<br />

der ‚Freiheit‘ für fachliche Fortschritte an<br />

vielen sozialpädagogischen Innovationsprojekten<br />

des Landes. Bereits 1975 beginnt der<br />

Sonderdienst ‚Erziehungsbeistandschaft‘<br />

mit einem Mitarbeiter, 1980<br />

richtet das Jugendamt Ostholstein Seite 133<br />

das Sachgebiet ‚Offene Hilfen zur<br />

Vermeidung von Fremdplatzierung‘<br />

ein“ (Bohler & Bieback-Diel 2001). Neben<br />

der Konzeption neuer Angebote, um die<br />

Heimunterbringungen zu reduzieren, ermög-


lichte der Kreis Ostholstein den Mitarbeitern<br />

die Teilnahme an einer zweieinhalbjährigen<br />

familientherapeutischen Ausbildung. H. W.,<br />

der zu den ersten Sozialarbeitern mit einem<br />

Fachhochschulabschluss zählte und der von<br />

Beginn an durch einen Neuaufbau der kommunalen<br />

Jugendhilfe einen Professionalisierungsschub<br />

mit verantwortet, kann 1984 in<br />

der Funktion des Amtsleiters die im Gefolge<br />

der sozialen Bewegung von 1968 begonnenen<br />

Jugendamtsgestaltung kontinuierlich weiter<br />

mitbestimmen.<br />

Die Amtsgeschichte, die eng mit der Zeit<br />

der sozialen Reformbürokratie der 70er<br />

Jahre verknüpft ist und von der Mehrzahl<br />

der Beteiligten und insbesondere von den<br />

Führungskräften als ‚Aufbruch‘ begriffen<br />

wurde, hat bei den Mitarbeitern, deren Jugendhilfearbeit<br />

seit 1984 durch den fachlich,<br />

professionell-berufscharismatischen Leiter<br />

H. W. organisiert wird, ein Selbstverständnis<br />

des Anders- bzw. Besondersseins manifestiert,<br />

das sie widerständig macht gegen externe, sich<br />

verändernden Imperativen wie z. B. denen des<br />

neuen Gesetzestextes der Kinder- und Jugendhilfe.<br />

Als es 1991 eingeführt wird, akzeptiert<br />

man die neue Gesetzesordnung als eine gegebene,<br />

aber eine Chance für Veränderung stellte<br />

es nicht da, da das Jugendwohlfahrtsgesetz – so<br />

einhellig die Auffassung der Verantwortlichen<br />

in Ostholstein und Heidenheim – bereits<br />

etliche fachliche Möglichkeiten eröffnet<br />

habe, die zu verankern im neuen<br />

Seite 134 Gesetz versäumt worden seien. Dass<br />

eine radikale Neuorientierung durch<br />

die Bindung an die neue Gesetzesvorgabe<br />

ausbleibt, steht aber auch zum einen<br />

im Zusammenhang mit der für das Amt entscheidenden<br />

Reformphase um 1970, in der das<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetz punktuell vorweggenommen<br />

wurde, und zum anderen mit<br />

dem Akteur H.W., der als Träger der sozialen<br />

Reformbürokratie nach 1968 von Anfang an<br />

die Entwicklung hin zu einer professionellen<br />

Organisation mitbestimmen konnte.<br />

b) Das Herkunftsmilieu von H. W.<br />

Welche familienbiographischen Grundlagen<br />

sind es, die H. W.‘s Handlungsorientierung<br />

prägen und aus ihm einen Innovator der Umbruchzeit<br />

der 70er Jahre machen?<br />

Der Vater von H. W. gehört der Generation der<br />

um 1910 Geborenen an. Er stammt aus einer<br />

katholischen Arbeiterfamilie vom Niederrhein.<br />

Als ältester Sohn wächst er mit einer älteren<br />

Schwester und noch drei weiteren Geschwistern<br />

auf, über die wir keine weiteren objektiven<br />

Daten haben. Welche soziale Position wird<br />

H. W. ‘s Vater im Alter von ca. 20 Jahren, nach<br />

Beendigung der Adoleszenzkrise, zugänglich?<br />

Eine mögliche Entwicklungsoption wäre, das<br />

er als Ältester das lebensweltliche Muster einer<br />

Arbeiterfamilie in einer katholisch geprägten<br />

Region reproduziert: Eine frühe Heirat (Rosenbaum<br />

1982, S. 429) und die Sicherung des<br />

Lebensunterhaltes einer kinderreichen Familie<br />

durch ein Beschäftigungsverhältnis im industriellen<br />

Arbeitssektor sind lebenspraktisch<br />

erwartbare Entscheidungen. Aber die sozialhistorischen<br />

Umstände waren zu der Zeit für<br />

eine Entwicklung, die ausgerichtet ist an der<br />

Tradition der Familie, nicht günstig. Hohe<br />

Arbeitslosigkeit in der Zeit der Weltwirtschaftskrise<br />

(1929-1933) hat den Spielraum<br />

beruflicher Optionen begrenzt. Die Textilindustrie<br />

in der Region des Niederrheins hatte<br />

schon lange ihren Niedergang erlebt. Auch<br />

das montanindustrielle Ruhrgebiet oder die


Chemieindustrie und der Maschinenbau, zwei<br />

moderne Industriezweige, die sich am Ende<br />

des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts am<br />

Rhein niederließen, boten zur wirtschaftlichen<br />

Krisenzeit keine Alternative. Wie begegnet<br />

der Vater von H. W. nun der Herausforderung,<br />

in einer alternativenbeschränkenden<br />

Ausgangslage beruflich seinen Platz zu finden?<br />

Er trifft eine lebenspraktisch kluge Entscheidung<br />

und weicht aus in den primären Sektor<br />

der Agrarwirtschaft, für den in dieser Region<br />

durch die Geltung der nordwesteuropäischen<br />

Agrarverfassung eine großbäuerliche Agrarstruktur<br />

bestimmend war (vgl. Bohler 1997,<br />

S. 18, 28). Diese vermutlich durch Alternativlosigkeit<br />

forcierte Entscheidung für einen<br />

Milieuwechsel macht es nicht nur möglich,<br />

den kargen Zeiten der Weltwirtschaftskrise<br />

relativ unbeschadet zu entkommen, sondern<br />

sie wird sich auch bewährt haben, als der 2.<br />

Weltkrieg durch fehlende Nahrungsmittel<br />

und mangelnden Wohnraum das Überleben<br />

zur hauptsächlichen Lebensaufgabe machte.<br />

Es kann vermutet werden, dass das Milieu der<br />

Landwirtschaft für den Vater von H. W. eine<br />

Art Entwicklungsnische gewesen ist, die ihn<br />

vor die Aufgabe stellte, ohne bäuerliche Sozialisation<br />

„aus dem Unabänderlichen das Beste<br />

zu machen“ (Erikson 1975, S. 73). Ein Indiz<br />

dafür, dass es dem Vater von H. W. gelungen<br />

ist, wahrscheinlich durch ein hohes Maß an<br />

Anpassungsflexibilität und Orientierungswendigkeit,<br />

bestmögliche Entwicklungschancen<br />

auch unter prekären Ausgangslagen zu erobern,<br />

ist die von ihm belegte Sozialposition in<br />

der Hierarchie bäuerlicher Dienstverhältnisse.<br />

Ihm gelingt es, auf einem ca. 250 ha großen<br />

Pachthof Großknecht zu werden. In einem<br />

durch patriarchalische Herrschaftsprinzipien<br />

strukturiertem Verband kann er sich so weit in<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

die familienbetriebliche Arbeitsorganisation<br />

einfügen, dass er das Vertrauen des Betriebsleiters<br />

erwirbt, der ihn zu seinem Stellvertreter<br />

ernennt und ihm sogar Baurechte auf dem Hof<br />

gewährt, was eine Ausnahme gewesen sein<br />

dürfte und einer Sondersituation gleich kam.<br />

An der Partnerwahl werden wir jetzt erkennen<br />

können, welchem Platz in der Welt er<br />

sich zugehörig fühlte bzw. welche Milieuzugehörigkeit<br />

über den identitätsstiftenden<br />

Ordnungsrahmen der Ehe (Berger & Kellner<br />

1965) erworben oder gefestigt werden sollte.<br />

Wenn es um ein Verwurzelungsprojekt im<br />

bäuerlichen Lebenskosmos geht, so wird er<br />

sich für eine Beziehungswahl entscheiden,<br />

durch die er einen „Versicherungsagenten“<br />

(Berger & Luckmann 1969) erhält, um den<br />

Milieuwechsel auf Dauer stellen zu können<br />

– wir erwarten die Wahl einer Frau mit<br />

einem bauernweltlichem Lebenshintergrund.<br />

Denkbar wäre aber auch eine Partnerwahl,<br />

durch die der Anschluss an das städtischindustrielle<br />

Arbeitermilieu gehalten wird.<br />

Wenn der Vater von H. W. sich für eine Frau<br />

aus seinem Herkunftsmilieu entscheidet, dann<br />

geht es um eine Transformationsorientierung<br />

im Rahmen traditioneller Wertemuster. Diese<br />

rückwärtsgewandte, am Herkunftsmilieu<br />

ausgerichtete Beziehungswahl würde dann<br />

der lebensweltlichen Orientierung am bäuerlichen<br />

Milieu die Bedeutung einer Passage<br />

mit Notlösungscharakter verleihen.<br />

Es kann dann geschlussfolgert werden,<br />

dass das hinter der Partnerwahl Seite 135<br />

stehende interessenstrategische Ziel<br />

ist, die Transformation zu korrigieren.<br />

Nicht ganz auszuschließen ist auch die Wahl<br />

einer Frau, die aus einem produzierenden oder<br />

dienstleistenden Familienbetrieb stammt.


Diese Entscheidung wäre ein Ausdruck für<br />

die Erzeugung eines ehelichen Milieuzusammenhangs,<br />

mit dem eine Transformationsmöglichkeit<br />

in Richtung mittelständischer<br />

Unternehmerschaft offen gehalten wird. Wählt<br />

der Vater von H. W. also eine Frau aus einem<br />

Familienmilieu mit Autonomiepotential, dann<br />

geht es um eine Transformationsorientierung<br />

in Richtung Selbständigkeit. Wiederholt würde<br />

sich darin die Bereitschaft für die Einsozialisierung<br />

in eine neue Milieuwelt ausdrücken.<br />

Transformation nicht im Sinne von Korrektur<br />

wäre das Thema, sondern eine Transformation,<br />

die den Wechsel zum Programm macht.<br />

Was für eine Frau heiratet nun der Vater<br />

von H. W.? Sein Vater entscheidet sich für<br />

eine Frau, deren Vater wiederum aus einer<br />

Kleinstadt am unteren Niederrhein stammt.<br />

Dieser zieht dann „nach einem Streit mit den<br />

Eltern“ (Interview) in eine ca. 10 km entfernte<br />

Kleinstadt auf die linke Rheinseite und kauft<br />

sich einen ca. 10 ha großen Bauernhof, zu<br />

dem er 20-30 ha zupachtet. Diese Bauernwirtschaft<br />

wird mit einem Fuhrunternehmen<br />

verbunden. Der Großvater mütterlicherseits<br />

von H. W. war – so wird erinnert – mit Pferd<br />

und Wagen unterwegs und sehr häufig auf der<br />

Fahrt nach Holland. Die Basis für eine Selbstversorgung<br />

war also eine agrarwirtschafliche<br />

Tätigkeit, die sich mit dem Nebengewerbe<br />

des Fuhrwesens vermischte (vgl. Helmedich<br />

2002). An der Partnerwahl und an<br />

der Kinderzahl werden wir erkennen<br />

Seite 136 können, ob dieses individualistische<br />

Orientierungsmuster, so wie es sich<br />

in der Entscheidung, die Rheinseite<br />

zu wechseln zeigt, sich auch in anderen Lebensbereichen<br />

durchsetzt. Eine Orientierung<br />

am Hof, eine Traditionsorientierung, die am<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Traditionalismus festhält, lässt in der katholisch<br />

geprägten Region eine hohe Kinderzahl,<br />

also vier bis fünf Kinder, erwarten. Ist Transformation<br />

in Richtung eines selbständigen<br />

Dienstleistungsbetriebes angesagt, erwarten<br />

wir zwei Kinder.<br />

Von der Ehefrau sind uns keine Daten bekannt,<br />

was ein Indikator dafür ist, dass über<br />

die Heirat kein Transformationsaufschwung<br />

vorgesehen war. Auch die Anzahl der Kinder<br />

lässt darauf schließen, dass die Bodenhaftung<br />

im Bäuerlichen stark gewesen ist und dass<br />

eine Transformation, die eine Platzierung in<br />

der Welt der Unternehmer ermöglicht hätte,<br />

von diesem Fall nicht realisiert wird. 15 Das<br />

Paar hat sechs Kinder. Uns interessiert hier<br />

die 1913 als Älteste geborene Tochter. Welche<br />

Entwicklungswege sind denkbar, wenn man<br />

mit einem Vater aufwächst, der zur mobilen<br />

ländlichen Schicht gehört, über ein Selbständigkeitspotential<br />

verfügt und an der bäuerlichen<br />

Traditionsorientierung festhält? Werden<br />

die Weichen für eine bäuerliche oder nichtbäuerliche<br />

Entwicklung gestellt? Knüpft sie<br />

an vorhandene Transformationspotentiale des<br />

Vaters an und heiratet in einen anderen Stand<br />

ein, z. B. in den des Fuhrmanns oder in den des<br />

Kaufmanns? Oder verbleibt sie im Bauernstand,<br />

z. B. durch die Heirat eines Mittelbauern, dem<br />

es durch die Mitgift seiner Frau möglich wird,<br />

seine Bewirtschaftungsfläche durch Zupacht<br />

zu vergrößern? Nicht ganz auszuschließen, aber<br />

aufgrund der Wirtschaftskrise kaum erwartbar,<br />

ist auch eine Abwanderung in die Stadt, um z.<br />

B. als ungelernte Lohnarbeiterin in der Fabrik<br />

zu arbeiten.<br />

Die älteste Tochter verlässt – ganz in der<br />

Tradition der bäuerlichen Mittelschicht – das


Elternhaus, um sich als Hauswirtschafterin<br />

bei einem Bauern mit einem großen Pachthof<br />

zu verdingen (Mitterauer 1990, S. 264). Nicht<br />

ganz unwahrscheinlich ist, dass sie in die Wirtschaftsfamilie<br />

des Großbauernhofes, zu der der<br />

Vater möglicherweise durch seine unternehmerische<br />

Tätigkeit als Fuhrmann Kontakt hatte,<br />

auf Wunsch der Eltern hin gelangt ist. Hier, wo<br />

sie als Dienstbote die eigene Familiensituation<br />

auf einem fremden Hof fortsetzt, lernt sie den<br />

Großknecht kennen, den sie 1939 im Alter von<br />

26 Jahren heiratet.<br />

Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz: Der<br />

Vater von H. W. entscheidet sich für eine Partnerwahl,<br />

die ihm einerseits eine Stabilisierung<br />

im bäuerlichen Milieu ermöglicht und die<br />

ihm andererseits die Chance für eine (erneute)<br />

Transformation eröffnet. Mit der Partnerwahl<br />

schließt er sich einer Frau an, durch die eine<br />

erneute Transformation quasi in Reserve gehalten<br />

wird. Das lebensweltliche Dasein als Bauer<br />

kann gesichert werden, und es kann ein Entwicklungsrahmen<br />

gewonnen werden, der die<br />

Transformation in Richtung Selbständigkeit<br />

unterstützt.<br />

Wie viele Kinder hat das Paar? Reproduziert<br />

es das Generativitätsmuster katholischer Familien,<br />

so erwarten wir eine hohe Kinderzahl. Ca.<br />

ein Jahr nach der Heirat kommt der erste Sohn<br />

zur Welt, drei Jahre später, 1943, der zweite und<br />

letzte. Im Vergleich zu den Herkunftsfamilien<br />

wird hier radikal transformiert. Konstruiert<br />

wird ein eigener Lebensentwurf durch Abwahl<br />

der vorgegebenen Orientierungsvorgaben aus<br />

den angestammten Milieus. Orientiert ist das<br />

Paar eher am standesgemäßen Generativitätsmuster<br />

16 als am elterlichen Reproduktionsverhalten.<br />

Mit der Heirat 1939, zu Beginn des 2.<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Weltkrieges, ordnet sich das Ehepaar einem<br />

nach patriarchalischen Herrschaftsformen<br />

strukturiertem Arbeitsverband unter. Diese<br />

Entscheidung bedeutet nicht nur die Anerkennung<br />

eines starken Abhängigkeitsverhältnisses,<br />

das über Arbeitsverträge definiert ist, sondern<br />

auch die Beschränkung von Autonomiespielräumen.<br />

Dass eine Unternehmerstochter, die<br />

aus einem Milieu mit Selbständigkeitsdispositionen<br />

stammt, sich in diesen Ordnungsrahmen<br />

einzufügen weiß, spricht dafür, dass sie<br />

über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz<br />

verfügt haben muss und mit Widersprüchen<br />

umzugehen bzw. diese auszuhalten wusste. Es<br />

ist aber zu vermuten, dass ihre Bindungsbeziehung<br />

zum bäuerlichen Lebenskosmos lockerer<br />

war als die ihres Mannes, der hier im Rahmen<br />

eines von Fürsorge und Kontrolle geprägten<br />

Abhängigkeitssystems als Großknecht eine<br />

zentrale Sozialposition mit Bestimmungsverfügung<br />

über Mägde und Knechte besetzen<br />

konnte. Die Frage ist, wo brechen sich solche<br />

relativ still gestellten Selbständigkeitspotentiale,<br />

die im Herkunftsmilieu der Mutter von H.<br />

W. angelegt sind, ihre Bahn? An dieser Stelle<br />

liegt es nahe, sich die Entwicklungsverläufe<br />

der beiden Söhne näher anzuschauen.<br />

Von den beiden Söhnen interessiert uns hier<br />

der Jüngere, der 1943 Geborene. Welchen<br />

biographischen Entwicklungsverlauf können<br />

wir vor dem Hintergrund der generationenspezifischen<br />

Lagerung und aufgrund<br />

der innerfamilialen Milieusozialisation<br />

erwarten. Vergegenwärtigen wir Seite 137<br />

uns zuerst die sozial-historischen<br />

Bedingungsumstände, die dieser<br />

Jahrgang vorfindet. H. W. gehört aufgrund<br />

seines Geburtsjahrganges zur 68er Generation.<br />

Lebensprägend für diese Generation war


eine flächendeckende Väter-Abwesenheit<br />

während der frühen Kindheit. Diese Erfahrung<br />

war insofern ‚normal‘, da dieses Trauma<br />

für alle gleichermaßen galt. Weiterhin ist diese<br />

Generation konfrontiert mit einer Erwachsenengeneration,<br />

die sich über das Vergangene<br />

ausschweigt und ihre Arbeitskraft in eine Zukunft<br />

investiert, in der ein Nationalsozialismus<br />

nie wieder passieren darf und in der es ihren<br />

Kinder einmal besser gehen soll als ihnen.<br />

Die Adoleszenzzeit von H. W., eine Entwicklungszeit,<br />

in der ein Bewährungsauftrag gefunden<br />

werden muss, den es im Erwachsenenleben<br />

zu verteidigen gilt, fällt zusammen mit<br />

der entscheidenden bundesrepublikanischen<br />

Reformphase Ende der 60er und Anfang der<br />

70er Jahre. Es gab eine gesellschaftliche Reformbewegung,<br />

„die den Ausbau des Sozialstaats<br />

und unmittelbar die Modernisierung der<br />

Sozialbürokratie zu einem ihrer wesentlichen<br />

politischen Ziele machte“ (Bohler & Bieback-<br />

Diel 2001, S. 142). 1966 war die große Koalition<br />

von Sozialpolitikern gewählt, die im Sinne<br />

eines wohlfahrtsstaatlichen Verständnisses<br />

eine politische Ausweitung des Sozialen<br />

vornahmen. 1969 vollzieht Willy Brandt den<br />

Regierungswechsel mit dem Slogan „mehr<br />

Demokratie wagen“, gestützt auf sozialmoralische<br />

Ideen aus der Tradition der Arbeiterbewegung.<br />

In dieser Zeit des gesellschaftlichen<br />

Aufbruchs wird die junge Generation, die<br />

Jahrgänge 1938-1948, zur Avantgarde<br />

im gesellschaftlichen Modernisie-<br />

Seite 138 rungsprozess. H. W. gehört zu einer<br />

Generation von jungen Leuten, die<br />

diesen gesellschaftlichen Aufbruch<br />

als „Bewegungsunternehmer“ (Bude 1995, S.<br />

83) mitgestalteten, die als „Katalysatoren eines<br />

gesellschaftlichen Umbruchs“ (Bude 1995, S.<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

18) für die Revision des vorherrschenden Lebenszuschnitts<br />

eintraten und neue Modelle der<br />

Lebensführung hervorbrachten. Es ist bekannt,<br />

dass die um 1940 geborenen Kriegskinder<br />

nicht selten die Führung in den öffentlichen<br />

Arenen übernahmen und meistens nur das<br />

Neue in der Auseinandersetzung über mentalpolitisierende<br />

Generationenbrüche hinweg<br />

einführen konnten.<br />

Wie kann H. W. nun dieser von Strukturumbrüchen<br />

geprägten gesellschaftlichen<br />

Reformzeit begegnen? Schauen wir uns dazu<br />

die Familiensituation an, in die er hineingeboren<br />

wird: Kurz nach der Heirat seiner Eltern,<br />

genauer gesagt sechs Wochen nach den Flitterwochen,<br />

wird sein Vater in den Krieg eingezogen.<br />

1940 kommt sein Bruder zur Welt, und<br />

nach einem Kriegsurlaub des Vaters wird er als<br />

Jüngster 1943 geboren. Der Vater kommt aus<br />

dem Krieg nicht zurück. Er bleibt vermisst. In<br />

der Familie führt dieser prekäre Ausfall zu „einer<br />

problematischen Situation, da die Mutter<br />

dachte, er würde nach Hause zurückkehren“<br />

(Interview). Wir haben es hier mit einer Familie<br />

zu tun, die mit einem „uneindeutigen<br />

Verlust“ (Boss 2005, S. 46) konfrontiert ist, da<br />

der Beweis für die Unwiederbringlichkeit des<br />

Vaters fehlte. Für die beiden Kinder wird diese<br />

physische Abwesenheit des Vaters von der<br />

Mutter aber durch Erzählungen und Erinnerungen<br />

symbolisch gefüllt, so dass über Phantasien<br />

eine Identifikation mit dem fehlenden<br />

Dritten möglich wurde. Anders gesagt: Auch<br />

wenn das unvollständige Entwicklungsdreieck<br />

die Etablierung einer Generationenschranke<br />

gefährdete, wird durch Appräsentationsleistungen<br />

der Mutter, die nicht wieder heiratet<br />

und weiterhin auf die Rückkehr des Mannes<br />

hofft, nicht nur ein Angebot für die entwick


lungsnotwendig zu klärende Frage nach der<br />

eigenen Herkunft geschaffen. Sondern auch<br />

eine symbiotische Verschmelzung mit einer<br />

„übermächtigen“ (Preisker 1991, S. 17), „alles<br />

verschlingenden Mutter“ (Preisker 1991, S.<br />

19) wird über die Repräsentation des Dritten<br />

soweit gebannt, dass die Entdeckung einer<br />

neuen Welt über die Identifikation mit einem<br />

zur Mutter Distanz erzeugenden Dritten als<br />

eine Entwicklungsoption im Angebot ist.<br />

Einmal so gesagt: Trotz der Abwesenheit des<br />

Vaters sind durch die den fehlenden Dritten<br />

verlebendigenden Erzählungen der Mutter<br />

günstige Bedingungen dafür gegeben, dass<br />

„Kräfte für die Auseinandersetzung mit dem<br />

Vater“ (Preisker 1991, S. 194) mobilisiert<br />

werden können, der für gegenwärtig gehalten<br />

wird. Die Hypothese ist Folgende: Ist das fehlende<br />

väterliche Strukturierungsmoment durch<br />

eine „kompensatorische Vater-Repräsentanz“<br />

(Preisker 1991, S. 24) ersetzt, dann ist nicht<br />

unwahrscheinlich, dass H. W. über den „Weg<br />

der Progression, und damit in Auseinandersetzung<br />

mit der harten Realität“, (Preisker 1991,<br />

S. 125) die Konfrontation mit dem Rivalen<br />

sucht. Trifft diese Vermutung zu, dann ist ein<br />

biographischer Entwicklungsverlauf zu erwarten,<br />

der ‚determiniert‘ ist durch das energetische<br />

Motiv, „die Welt in der ödipalen Überwindung<br />

zu konstruieren“ (Preisker 1991, S. 193).<br />

Doch schauen wir zuerst, mit welcher sozialen<br />

Rahmung seine Mutter auf den Ausfall des<br />

Partners reagiert. Eine Option ist, als verheiratete<br />

Magd mit den zwei Kindern auf dem<br />

Hof zu bleiben. Durch die weitere Mitarbeit<br />

könnte sie das Wohnrecht und die Kost verdienen.<br />

Diese Entscheidung hätte die Folge,<br />

als Mutter-Kind-Gruppe keine selbständige,<br />

in sich abgeschlossene Einheit bilden zu<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

können. Denn als unvollständige Familie<br />

bleibt man der Fürsorge und Kontrolle des<br />

Bauernpaares unterworfen und auch voll integriert<br />

in die bäuerliche Hausgemeinschaft.<br />

Es ist aber zu vermuten, dass die Mutter, die<br />

aus einem Familienmilieu mit Selbständigkeitsdispositionen<br />

stammt, eine Gelegenheit<br />

nutzen wird, um das Abhängigkeitsverhältnis<br />

aufzukündigen. Machen wir es kurz: Sie<br />

verlässt nach dem Krieg den Hof und geht in<br />

eine Kleinstadt am Niederrhein. Sie trifft hier<br />

die folgenschwere Entscheidung, in das Haus<br />

der Polizei zu ziehen, dort als Putzfrau zu<br />

arbeiten und in einer Kantine, die sich in der<br />

eigenen Wohnung unter dem Dach befindet,<br />

die Polizisten zu bedienen. Deutlich wird an<br />

diesem biographischen Schritt, dass sie das<br />

individualistische Entscheidungsmuster ihres<br />

Vaters reproduziert, dessen regionale Mobilität<br />

(Wechsel der Rheinseite) auch verbunden<br />

war mit einem Zugewinn an Selbständigkeit.<br />

Fassen wir nun noch einmal zusammen mit<br />

Hilfe der Frage: Welche sozial-historischen<br />

und familiensozialisatorischen Entwicklungsrahmen<br />

findet H. W., geboren 1943, vor?<br />

H. W. wird in eine Familiensituation einsozialisiert,<br />

die geprägt ist durch die uneindeutige<br />

väterliche Abwesenheit, da der Vater im<br />

Krieg vermisst bleibt. Das Fehlen der realen<br />

väterlichen Identifikationsfigur, die aber<br />

durch die mütterlichen Repräsentationsanstrengungen<br />

nicht tabuisiert wird,<br />

erzeugt eine Sozialsituation, die zur<br />

Entwicklungsaufgabe provoziert, die Seite 139<br />

postödipale Welt im Lebensentwurf<br />

zu konstituieren. Nimmt H. W. sich<br />

dieser möglichen Lebensherausforderung an<br />

oder besteht keine Entwicklungsnotwendigkeit,<br />

sich über die gesuchte Auseinanderset


zung mit dieser familiensozialisatorischen<br />

Ausgangslage zu individuieren? Des Weiteren<br />

können wir festhalten: H. W. wird durch seine<br />

Generationenlagerung hineingeboren in eine<br />

Zeit, in der wohlfahrtsstaatliche Reformen an<br />

der Tagesordnung waren. Die Frage ist, wird<br />

er an die gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten<br />

der Umgestaltung anknüpfen? Oder<br />

wird er, Entwicklungsrisiken vermeidend<br />

und damit Anschluss an die väterliche Linie<br />

haltend, Entwicklungsrahmenbedingungen<br />

suchen, die Abseits vom gesellschaftlichen<br />

Modernisierungsprozess eine soziale Berufsposition<br />

gestalten lassen?<br />

Blicken wir jetzt auf den Lebensverlauf von H.<br />

W.: Nach dem Besuch der 8jährigen Volksschule<br />

macht er auf Wunsch der Mutter eine<br />

Elektrikerlehre. Die Arbeit als Geselle bricht<br />

er 1962 im Alter von 19 Jahren ab. Angebahnt<br />

wird daraufhin mit folgender Entscheidung<br />

– ganz den Bildungsaspirationen der Mittelschicht<br />

entsprechend – eine Ingenieurausbildung:<br />

In einer 40 km vom Herkunftsort<br />

entfernten Berufsaufbauschule holt H. W.<br />

die mittlere Reife nach und beginnt nach<br />

einem halbjährigen Fachpraktikum in einer<br />

Gießerei, ca. 1964, sein Ingenieurstudium in<br />

Siegen. Nach vier Semestern stellt er aber fest,<br />

dass „das nicht mein Ding ist“ (Interview). Er<br />

schmeißt, zum großen Bedauern der Mutter,<br />

die alle eigenen biographischen Pläne den<br />

Berufskarrieren der Söhne opfert, den<br />

Bettel des Studiums hin und kehrt in<br />

Seite 140 den Heimatort am Niederrhein zurück.<br />

Wie löst er nun diese krisenhafte<br />

Phase der Orientierungsunsicherheit,<br />

in der eine klare berufliche Zielperspektive<br />

noch nicht in Sicht ist? Er verschafft sich<br />

eine Auszeit und geht für ein halbes Jahr nach<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

England. Überblicken wir den Biographieverlauf<br />

im Ganzen, so kann vermutet werden, dass<br />

das Motiv für die Selbstexponierung in einen<br />

neuen Lebenszusammenhang in Folgendem<br />

besteht. Es geht darum, mit der Bewährungsproblematik<br />

fertig zu werden und über diese<br />

Zeit des time-off die Frage zu beantworten,<br />

wie die Welt der Kindheit, der Zustand der<br />

Verantwortungslosigkeit und damit auch die<br />

versorgungssichere Gemeinschaft mit der<br />

Mutter beendet werden kann, um sich der unvermeidbaren<br />

Notwendigkeit von Arbeit und<br />

Leistung zu stellen. Dass es H. W. in dieser<br />

Moratoriumszeit gelingt, die Lebenspläne neu<br />

zu ordnen und zentrale Weichen für die Zukunftsentwicklung<br />

zu stellen, können wir – mit<br />

dem Blick auf den weiteren Entwicklungsverlauf<br />

– daran erkennen, dass er sich in verschiedenen<br />

Bereichen der Lebenspraxis (Beruf,<br />

Familie, bürgerschaftliches Engagement)<br />

bewähren kann. Doch über welche einzelnen<br />

Entwicklungsetappen gelingt es ihm, ohne<br />

über die Orientierungsfigur eines männlichen<br />

Vorbildes in der Gestalt des Vaters verfügen zu<br />

können, ein Ich-Ideal zu errichten, das ihn relativ<br />

unabhängig von seiner Herkunftsfamilie,<br />

insbesondere von seiner Mutter macht, mit der<br />

ja eine konflikthafte Auseinandersetzung schon<br />

deshalb nicht möglich gewesen sein wird, da sie<br />

alles in die Söhne investierte?<br />

In England arbeitet er an einer Privatschule für<br />

Behinderte und gestaltet in dieser Einrichtung<br />

die Freizeitaktivitäten mit. Von diesem Auslandsaufenthalt<br />

bringt er nicht nur die Idee<br />

mit, „etwas mit Menschen machen zu wollen“<br />

(Interview), sondern auch seine Frau, die Engländerin<br />

ist und die er 1968, mit 25 Jahren,<br />

heiratet. Nach diesem halben Jahr in England<br />

tritt er 1967 in die SPD ein. Im katholisch


geprägten Niederrhein war diese Entscheidung<br />

ein revolutionärer Schritt. Betrachten<br />

wir aber diese Wahl vor dem Hintergrund der<br />

Struktur sozialisatorischer Interaktion, in die<br />

H. W. einsozialisiert wurde, dann überrascht<br />

uns diese Entscheidung weniger. Geht es doch<br />

darum, so unsere Vermutung, anstelle des<br />

ödipalen Dreiecks einen Resonanzboden als<br />

Basis für eine Rebellion zu suchen, um über<br />

Konflikterfahrungen eine personale Identität<br />

ausbilden zu können. Wenn schon im ödipalen<br />

Dreieck die Konfrontation aufgrund des<br />

fehlenden Vaters nicht gefunden werden kann,<br />

so wird das gesellschaftliche System, gegen<br />

das Widerstand geleistet wird, zum Rahmen<br />

für eine Auseinandersetzung, um die eigenen<br />

Grenzen des Kräftehaushaltes entdecken zu<br />

können. 1967 beginnt er an der höheren Fachschule<br />

in Düsseldorf Sozialarbeit zu studieren<br />

und macht zwischenzeitlich ein Praktikum<br />

bei der AWO. Als Student der Sozialarbeit/<br />

Sozialpädagogik ist er an der Organisation der<br />

langen Streikphasen der Studierenden an der<br />

Fachschule beteiligt, in denen es um die Aufwertung<br />

der Fachschule zur Fachhochschule<br />

ging. Dieses Ringen um eine Akademisierung<br />

der Sozialarbeit, an dem H. W. als eine Art<br />

„akademischer Rebell“ (Bude 1995, S. 61) mit<br />

beteiligt war, verfolgte das Ziel, die Ausbildung<br />

von Wohlfahrtspflegern durch die Ausbildung<br />

von Sozialarbeitern abzulösen. Es ging um<br />

einen Wechsel weg vom obrigkeitsstaatlichen<br />

Fürsorger und hin zu einem ‚professional worker‘.<br />

Nach Abschluss des Studiums bekam H.<br />

W. vom Bundesverband der AWO das Angebot,<br />

in Bonn in der Bundesgeschäftsstelle sein<br />

Berufspraktikum abzuleisten. Im Anschluss<br />

daran trifft er die Entscheidung, sich auf eine<br />

ausgeschriebene Stelle in Eutin zu bewerben,<br />

um dort sein Verwaltungspraktikum zu absol-<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

vieren. Noch während seiner Praktikumszeit<br />

wird er, der – wie weiter oben bereits erwähnt<br />

– zu den ersten Absolventen gehörte, die ihre<br />

Ausbildung mit einem Fachhochschuldiplom<br />

abschlossen, Sprecher der Sozialarbeiter im<br />

Eutiner Jugendamt und ist im Auftrag der<br />

AWO auf einer Planungsreise nach Indien<br />

für zwei Monate unterwegs. Wir können<br />

an dieser Stelle festhalten, dass H. W. schon<br />

während dieser Zeit bundesverbandliche Tätigkeiten<br />

ausführt und schon früh zu einflussreichen<br />

Positionen im Jugendamt aufsteigt.<br />

Das Angebot, beim Bundesverband der AWO<br />

in Bonn Karriere zu machen, lehnt er ab. Er<br />

bleibt in Eutin und ist in den folgenden Jahren<br />

an zentralen Strukturveränderungen des<br />

Jugendamtes beteiligt. Diese Veränderungen<br />

in der Jugendhilfe wurden erforderlich – wie<br />

wir bereits ausgeführt haben – „als Folge der<br />

Gebiets- und Verwaltungsreformen ab 1970“<br />

(Bohler & Bieback-Diel 2001, S. 30) und<br />

durch den Entwurf eines neuen Jugendhilferechtes,<br />

das einen „Paradigmenwechsel in der<br />

Jugendhilfe: Von stationären zu präventiven<br />

Hilfen und von einer Zentralisierung zu einer<br />

Regionalisierung von Angeboten“ (Bohler &<br />

Bieback-Diel 2001, S. 39) bedeutete. Diese<br />

Neuorganisation der Jugendhilfe und der<br />

Ausbau der ambulanten Hilfen führt zu einer<br />

erheblichen Personalerweiterung. 1974 hat<br />

das Jugendamt statt zuvor 20 jetzt 44 Mitarbeiter.<br />

„Die erhebliche Erweiterung war vor<br />

allem der Eingliederung der Familienfürsorge<br />

geschuldet“ (Bohler &<br />

Bieback-Diel 2001, S. 40), die zuvor Seite 141<br />

zum Gesundheits- oder Sozialamt<br />

gehörte. In Eutin wurde H. W. Leiter<br />

dieser größten Abteilung des Jugendamtes.<br />

Diese umfasste außer ihm als Leiter 22 sozialarbeiterische<br />

Fachkräfte (vgl. Bohler &


Bieback-Diel 2001).<br />

Überblicken wir das Panorama der sozialen<br />

Positionen, die H. W. 1974 mit 31 Jahren<br />

ausfüllt, so sind folgende beruflichen und<br />

gesellschaftspolitischen „Handlungsarenen“ 17<br />

aufzuführen: Er leitet zwei Jahre nach seiner<br />

Ankunft in Eutin die Abteilung Familienfürsorge,<br />

er ist Bezirkssozialarbeiter und legt<br />

Wert darauf, auch als Abteilungsleiter praktische<br />

Sozialarbeit zu machen, seit 1974 (bis<br />

1992) ist er Kreisvorsitzender der AWO, seit<br />

1974 ist er im Landesvorstand der AWO in<br />

Schleswig-Holstein (1995 dann Landesvorsitzender<br />

der AWO Schleswig-Holstein), seit<br />

1974 ist er in der Stadtvertretung stellvertretender<br />

Bürgermeister, bis zum heutigen Tag<br />

Mitglied der SPD und der Gewerkschaft. Zu<br />

seiner Familie gehören, ganz im Sinne des<br />

von ihm im Jugendamt vertretenen Motto der<br />

Allzuständigkeit des Allgemeinen Sozialen<br />

Dienstes (ASD) im Bereich der Jugendhilfe,<br />

sieben Pflegekinder.<br />

10 Jahre später, 1984, übernimmt H. W. die<br />

Leitung des Jugendamtes. In Eutin steht<br />

seitdem ein fachlich qualifizierter Leiter mit<br />

Erfahrungen in der professionellen Sozialarbeit<br />

an der Spitze. H. W. ist kein Spezialist im<br />

Verwaltungshandeln, sondern ein Amtsleiter,<br />

der an der Umsetzung zentraler Reformideen<br />

mitgewirkt hat, der beteiligt gewesen ist an der<br />

Konzeption von Hilfemöglichkeiten,<br />

als das neue Jugendamt sich zu einer<br />

Seite 142 Institution der sozialen Reformbürokratie<br />

nach 1968 entwickelte, die<br />

– wie er sagt – das KJHG vorweg<br />

nahm, und der Wert darauf gelegt hat, selbst<br />

den Bezug zur praktischen Sozialarbeit nicht<br />

zu verlieren.<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Für welche Partnerwahl entscheidet sich H.<br />

W., der folgende Persönlichkeitsmerkmale mit<br />

in die Ehe bringt? Er ist vaterlos aufgewachsen<br />

und kommt aus einer Familie, in der beide<br />

Eltern über Brüche Neuanfänge wagen. Die<br />

Mutter bricht mit dem dörflich-ländlichen<br />

Milieu und orientiert sich am städtischen<br />

Dienstleistungssektor. Der Vater tauscht das<br />

Arbeitermilieu gegen das der bäuerlichen<br />

Unterschicht und organisiert dort über Anpassungsleistungen<br />

im gutsherrschaftlichen Familienverband<br />

seinen Aufstieg zum Großknecht.<br />

Am biographischen Verlauf von H. W. sehen<br />

wir, dass er dieses elterliche Fallstrukturmuster<br />

reproduziert. Auch er organisiert seinen<br />

Aufstieg aus einem Traditionsbruch heraus. Er<br />

entscheidet sich aber nicht für das Transformationsmuster<br />

seines Vaters, der im Rahmen eines<br />

Herr-Knecht-Verhältnisses über die Bereitschaft<br />

zu Gehorsam und Unterordnung seine<br />

Position als Dienstbote sichert. Sondern er orientiert<br />

sich am Herkunftsmilieu der Mutter, in<br />

dem der Richtungswechsel immer verbunden<br />

ist mit der Loslösung aus bevormundenden,<br />

autonomiebeschränkenden Handlungskontexten<br />

(sein Großvater mütterlicherseits, der über<br />

einen Ortswechsel den Ablösungsprozess aus<br />

seiner Familie vollzieht und Mittelbauer mit<br />

einem Fuhrunternehmen wird; die Mutter, die<br />

sich aus der großbäuerlichen Familie, in die<br />

sie durch die Delegation des Vaters gekommen<br />

ist, durch eine Orientierung am urbanen<br />

Lebensmuster ablöst). Des Weiteren können<br />

wir am beruflichen Karrieremuster erkennen,<br />

dass H. W. dem Thema Vaterabwesenheit mit<br />

Copingstrategien begegnet, welche von der<br />

Mutter angebahnt sind. Des Strukturproblems<br />

der unvollständigen Entwicklungstriade nimmt<br />

er sich in progressiver Selbstgestaltung an. Er<br />

sorgt selbst für die Strukturbedingungen, die


in der frühen Kindheit zur Herausbildung<br />

eines Ich-Ideals nicht vorhanden waren. So<br />

wird das primordiale Sozialgefüge mit der<br />

Mutter und dem abwesenden, aber symbolisch<br />

repräsentierten Vater zum „Ursprung für eine<br />

rebellische Disposition“ (Bude 1995, S. 52).<br />

Diese zielt darauf, Bedingungsrahmen für<br />

eine Selbstsozialisation zu wählen, so dass in<br />

der Überwindung bzw. in der Gestaltung der<br />

prekären sozialisatorischen Ausgangslage über<br />

Suchbewegungsprozesse und Abbrüche eine<br />

Autonomieentwicklung gelingt. Über welche<br />

Handlungsstrategie gelingt das? Die AWO als<br />

wohlfahrtsbürokratisch-patriarchaler Apparat<br />

wird für H. W. zum „väterlichen Prinzip“<br />

(Preisker 1991, S. 125). Sie bietet ihm nicht<br />

nur ein soziales Orientierungsmodell, sondern<br />

sie führt ihn auch in die soziale Wirklichkeit<br />

der bundesrepublikanischen Reformzeit ein<br />

und hält genügend Konfliktpotential bereit,<br />

um über Debatten und über eine ausgeprägte<br />

Streitkultur eine Ich-Stärke ausbilden zu<br />

können (er wird zum Vorreiter in der Akademisierung<br />

der pädagogischen Ausbildung, er<br />

gestaltet die Umstrukturierung der Jugendhilfe<br />

mit). Das über die AWO konstituierte Über-<br />

Ich ermöglicht H. W. aber nicht nur einen<br />

„Lebensentwurf für die Zukunft, ein Streben<br />

nach Selbstverwirklichung und Vollendung“<br />

(Preisker 1991, S. 156), sondern auch die Loslösung<br />

von der Mutter.<br />

Was für eine Frau wählt er nun zur Partnerin?<br />

Ich möchte an dieser Stelle, um abzukürzen,<br />

nur kurz die Ergebnisse der Analyse skizzieren.<br />

Er heiratet eine Frau, die wie er gelernt hat,<br />

biographische Übergänge zu bewältigen, was<br />

– so kann vermutet werden – zur Herausbildung<br />

der identitätsstiftenden Fähigkeiten (vgl.<br />

Krappmann 1971), mit Disharmonien und<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Ambivalenzen umgehen zu können, geführt<br />

haben wird. Sie wächst mit einer Mutter auf,<br />

deren Vater bei einem Grafen in England als<br />

Gärtner gearbeitet hat und die in einem Akt<br />

der Rebellion die Pläne ihrer eigenen Eltern<br />

durchkreuzt hat, in dem sie einen Partner<br />

aus dem schottischen Bergarbeiterproletariat<br />

wählt. Dass H. W. mit der Mutter seiner Partnerin<br />

sympathisiert haben wird, ist folgendermaßen<br />

begründet: Die Disposition seiner<br />

Schwiegermutter zu einem abweichenden<br />

rebellischen Entscheidungsverhalten ist ihm<br />

aufgrund der eigenen Biographie und der<br />

seiner Mutter vertraut. Des Weiteren ist das<br />

Arbeitermilieu in seiner Familie nicht ohne<br />

Tradition. Und überblicken wir H. W.‘s Entwicklungsgeschichte,<br />

in der die AWO ein Ort<br />

der Selbstsozialisation ist, so liegt es nahe zu<br />

vermuten, dass es ihm nicht schwer gefallen<br />

sein wird, in der Familie seiner Frau, in der<br />

bedingt durch die Bergarbeiterkultur Formen<br />

des radikaldemokratischen Engagements und<br />

eine Protestbereitschaft, die mit einem starken<br />

Durchsetzungswillen gepaart war, nicht unbekannt<br />

waren, einen Platz zu finden. Das<br />

Herkunftsmilieu der väterlichen Linie seiner<br />

Frau wird soweit prägend gewesen sein, dass er<br />

in ihr eine Partnerin findet, die seiner eigenen<br />

Lebensaufgabe, sich im selbst gesuchten Milieu<br />

der Sozialdemokratie für Reformen auf<br />

der Basis von demokratischen Grundsätzen<br />

Seite 143<br />

18<br />

einzusetzen, Halt gegeben hat. Sie ist eine<br />

Wahlverwandte, die sein Projekt, in<br />

einem sozialkritischen Impetus die<br />

Welt zu gestalten, zu unterstützen<br />

vermag. Ein deutlicher Beweis dafür,<br />

dass die eheliche Sozialwelt nicht<br />

nur Neues, für das es herkunftsgemäß keine<br />

Vorbilder gab, avantgardeartig zu gestalten<br />

vermochte, sondern dass sie auch in der Lage


war, dem damit verbundenen Konflikt- und<br />

Krisenpotential Stand zu halten, können wir<br />

an Folgendem erkennen: Als H. W. 1974 eine<br />

Kindesherausnahme organisieren musste,<br />

lässt er es nicht zu, „die Geschwister in einer<br />

Einrichtung unterzubringen“ (Interview). So<br />

wird die eigene Familie, zu der zwei Töchter,<br />

die 1971 und 1972 geboren werden, gehören,<br />

um sieben Pflegekinder erweitert. Er kauft mit<br />

seiner Frau ein Haus und übernimmt mit ihr<br />

die Erziehung und Fürsorge für die schließlich<br />

insgesamt neun Kinder. Nicht zuletzt an<br />

dieser Entscheidung können wir erkennen,<br />

dass die Orientierung am Sozialen den gesamten<br />

Lebenszusammenhang dieser Familie<br />

strukturiert. Die Sozialarbeit, die AWO, die<br />

SPD reichen bis in sein Privatleben hinein. Er<br />

gehört, wie Heinz Bude es einmal formuliert<br />

hat, zu einer Generation, die das Format des<br />

„Politischsein des Privaten“ (Bude 1995, S. 74)<br />

besitzt.<br />

c) Beruflicher und biographischer Habitus<br />

Mit welchem durch familienbiographische und<br />

berufliche Erfahrungsstrukturen geprägtem<br />

Habitus kann H. W. die Professionalisierung<br />

der Kinder- und Jugendhilfe nach dem KJHG<br />

gestalten? Überblicken wir seinen Lebenslauf,<br />

so können wir an der durch Suchprozesse<br />

und Abbrüche (bricht Elektrikerlehre und<br />

Ingenieurstudium ab, geht nach England)<br />

gekennzeichneten progressiv-expansiven<br />

Entwicklung erkennen, dass sowohl<br />

das väterliche als auch das mütter-<br />

Seite 144 liche Erbe bestimmend ist. Obwohl<br />

der Vater als klärende und unterstützende<br />

Orientierung unsichtbar<br />

bleibt (er kehrt aus dem Krieg nicht zurück)<br />

und der kulturelle Umgang mit den Dingen<br />

infolge des Fehlens konkreter Väterlichkeit<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

nicht vorgemacht werden kann, sehen wir ein<br />

Entscheidungsmuster am Wirken, das auf die<br />

väterliche Abstammungslinie verweist. Wie<br />

sein Vater, der, als eine tragfähige ökonomische<br />

Perspektive zur Sicherung des Lebensunterhaltes<br />

fehlt, eine Transformation in das<br />

gutsbäuerliche Lebenskontinuum wählt, so<br />

begibt sich auch H. W. in einer entwicklungsblockierenden<br />

(sozialisatorischen) Ausgangslage<br />

aus der Deckung eines durch die Mutter<br />

vorgegebenen Anforderungsrahmens heraus.<br />

H. W. entscheidet sich, ähnlich wie sein Vater,<br />

in einem Akt der Eigeninitiative Ordnungsprinzipien<br />

zu suchen, die es ihm ermöglichen,<br />

über eine Transformation, trotz des Ausfalls<br />

des „väterlichen Prinzips“ (Preisker 1991, S.<br />

126), zu einer eigenen Identität zu finden. Das<br />

ist ihm deshalb möglich, weil er durch die das<br />

Bild des Vaters verlebendigenden Erzählungen<br />

seiner Mutter ein positiv besetztes Vater-Imago<br />

aufbauen kann. Des Weiteren sind selbst gewählte,<br />

einen Persönlichkeitszuwachs ermöglichende<br />

desintegrative Schritte aus der Familie<br />

heraus realisierbar (er geht ein halbes Jahr<br />

nach England), da er als Jüngster, wenn auch<br />

affektiv in die Mutterbeziehung integriert, von<br />

der Mutter nicht zum mütterlichen Partner<br />

aufgewertet wird, was zur Folge gehabt hätte,<br />

das symbiotische Verschmelzungsprozesse eine<br />

Ablösung verhindern. Zum anderen bietet die<br />

Reformzeit der 60er und 70er Jahre eine geeignete<br />

Plattform für ein Kraft-Potential, das<br />

nach autonomer Individuation drängt. So kann<br />

er, orientiert an der Selbständigkeitstradition<br />

aus der mütterlichen Linie (Fuhrunternehmen)<br />

und nicht am Vorbild des Vaters, der Unterordnungs-<br />

und Abhängigkeitsverhältnisse im<br />

Rahmen bäuerlicher Lebensstrukturen wählt,<br />

durch die Investierung der Handlungsenergien<br />

in die Neugestaltung der kommunalen


Organisation der regionalen Fürsorge über<br />

konstruktive Konfliktlösungsprozesse ein Ich<br />

entwickeln, das ihn auch ohne den Vater und<br />

losgelöst von der Mutter seinen Platz finden<br />

lässt, und das ihn auch widerstandsfähig macht<br />

gegen alte Ordnungen gefährdende neue<br />

Handlungsimperative (z. B. KJHG).<br />

So trifft 1991, nachdem H. W. zuerst als<br />

ASD-Leiter, dann als Amtsleiter zentrale<br />

Weichen für die Professionalisierung der<br />

Sozialen Arbeit gestellt hat, und nachdem ab<br />

1984 unter seiner Leitung das Jugendamt immer<br />

größer, mächtiger und besonderer wurde,<br />

das neue Gesetz auf ein Amt, dem ein Leiter<br />

vorsteht, der durch seine Beteiligung an der<br />

Bildung und Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher<br />

Reformen die neue Gesetzesvorlage nicht als<br />

einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und<br />

Jugendhilfearbeit wahrnehmen kann. Zur neuen<br />

Gesetzesvorlage äußert sich H. W. wie folgt:<br />

Als Amtsleiter hat er das neue Jugendhilfegesetz<br />

einmal gelesen und 5-6 Mal in der Hand<br />

gehabt. Eine Hilfeplangestaltung hätten er und<br />

seine Kollegen im Amt immer schon betrieben,<br />

da die Miteinbeziehung der Betroffenen etwas<br />

mit der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen<br />

zu tun habe und nicht per Gesetz,<br />

obrigkeitsstaatlich verordnet zu werden brauche.<br />

Auch arbeiten sie im Amt nach der Devise,<br />

zuerst die eigenen Instrumentarien für die<br />

Hilfeleistung anzuwenden, bevor Hilfeformen<br />

wie Pflegefamilie und Heimunterbringung<br />

als Alternativen Berücksichtigung finden. Vor<br />

dem Hintergrund der individuellen Bildungsgeschichte<br />

H. W. und vor dem Hintergrund<br />

der von ihm mit bestimmten spezifischen<br />

Organisationsentwicklung sind wir nicht<br />

überrascht, dass trotz einer vigilanten Haltung<br />

gegenüber dem neuen Gesetz dieses von<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

geringer Auswirkung auf den professionellen<br />

Handlungskontext bleibt. Denn H. W., der<br />

schon einmal als Reformwilliger im Bewusstsein<br />

eines gesellschaftlichen Auftrags neue<br />

Strukturen mit aufgebaut hat, verfügt über<br />

einen Erfahrungshorizont, der ihn habituell<br />

gegen von außen kommende Imperative widerständig<br />

macht. Durch das KJHG – so sagt<br />

er im Interview – „hat sich überhaupt nichts<br />

geändert, außer dass eine bereits bestehende<br />

Praxis in ein Gesetz formuliert worden ist“.<br />

Was wir an dieser durch sozialisatorische und<br />

historische Entwicklungsrahmenbedingungen<br />

geprägten Mentalitätsdisposition erkennen<br />

können, ist, dass H. W. als Träger von entscheidenden<br />

Reformideen in der Nachfolge der<br />

68er Bewegung über einen „selbsterworbenen<br />

präformierenden Erfahrungszusammenhang“<br />

(Mannheim 1964) verfügt, der das Neue im<br />

Alten bereits immer aufgehen lässt.<br />

d) Aktuelle Situation des Amtes<br />

Im Vergleich zu den Jugendämtern in Saalfeld-<br />

Rudolstadt, Rügen und Heidenheim zeichnet<br />

sich das Ostholsteiner Jugendamt durch eine<br />

Sonderentwicklung aus, da H. W. 35 Jahre lang<br />

die Entwicklung maßgeblich und entscheidend<br />

mit bestimmt hat. Mit seiner Amtsübernahme<br />

1984 differenziert sich das Jugendamt nach<br />

der Aufbauphase, die für Viele der jungen<br />

Generation eine „charismatische Qualität“ im<br />

Gefolge der sozialen Bewegung von 1968 hatte,<br />

parallel zu seinem zahlenmäßigen<br />

Wachstum weiter aus (vgl. Bohler &<br />

Bieback-Diehl 2001, S. 40). Ende Seite 145<br />

der 80er Jahre beginnt sich die „Aufbruchstimmung“<br />

der „Gründerzeit“<br />

zu verflüchtigen. Der Arbeitsstil beginnt sich<br />

zu „veralltäglichen“. Gleichzeitig engagiert<br />

sich H. W. vermehrt im lokalpolitischem und


Seite 146<br />

verbandspolitischem Raum (Stadtparlament,<br />

AWO). Seit Ende der 90er Jahre beginnt in<br />

der Kreisverwaltung Ostholstein das New<br />

Public Management an Einfluss zu gewinnen.<br />

In diesem Zusammenhang gelingt es H. W.,<br />

die „Zumutungen“ der neuen Budgetierung<br />

in Grenzen zu halten. Da es in den letzten<br />

Jahren zur Auflösung von Einrichtungen des<br />

Kreises kam, musste das Jugendamt einen<br />

Teil der freigesetzten Sozialarbeiter weiter<br />

beschäftigen. Aus diesem Grund steigt das<br />

Durchschnittsalter der Mitarbeiterschaft<br />

an, was an sich auf der anderen Seite als ein<br />

Hinweis auf die guten Arbeitsbedingungen<br />

gesehen werden könnte.<br />

Es ist eine offene Frage, wie sich nach dem<br />

Wechsel des Sozialdezernenten die Imperative<br />

des KJHG und des New Public Management<br />

jeweils entfalten können.<br />

Bevor wir jetzt in einem nächsten Schritt die<br />

Akteure der sozialen Strukturbildung hinsichtlich<br />

ihrer familienbiographisch vermittelten<br />

Handlungs- und Orientierunsmuster<br />

vergleichen, werden wir unter Beibehaltung<br />

der „familialistischen Blickrichtung“ (Bertaux<br />

& Bertaux-Wiame 1991) für jeden Akteur<br />

die Transformationslinie nachzeichnen, um<br />

erkennen zu können, welcher biographische<br />

Hintergrund Agenten von Systemumbrüchen<br />

im weiblich konnotierten Tätigkeitsfeld der<br />

Kinder- und Jugendhilfe erzeugt.<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

3. eIN Ve r g l e I C h D e r FA M I l I e N B I o g r A-<br />

PhISCh V e r M I t t e lt e N hA N D l u N g S- u N D or Ie<br />

N t I e r u N g S M u S t e r D e r tr A N S F o r M At I o N S-<br />

A k t e u r e<br />

Wir haben es in A. D. mit einem Transformationstypus<br />

zu tun, der vor der herausfordernden<br />

Aufgabe steht, im außerlandwirtschaftlichen<br />

Bereich, ohne das ökonomische Kapital des<br />

Hofes, das über die väterliche Familienlinie auf<br />

ihn gekommene Erbe der Selbständigkeit fortzusetzen.<br />

A. D. findet für die Anforderungsstruktur,<br />

die soziale Stellung des Vaters – der<br />

als Jüngster Besitzer eines landwirtschaftlichen<br />

Kleinbetriebes wird – ohne die Ressource des<br />

Hofes zu perpetuieren, folgende Lösung: Er<br />

sucht sich dafür einen zum familienbetrieblichen<br />

landwirtschaftlichen Kleinunternehmen<br />

äquivalenten Ordnungsrahmen. In diesem kann<br />

er zum einen gemäß den diffusen Anteilen<br />

eines Familienbetriebes agieren. Zum anderen<br />

bietet dieser ihm auch die Möglichkeit, durch<br />

die Orientierung am Handlungsmuster aus der<br />

mütterlichen Linie zum zentralen Agenten für<br />

die Durchsetzung von Umstrukturierungsmaßnahmen<br />

zu werden, durch die er – ähnlich<br />

wie die Mutter den Hof 19 – das Jugendamt<br />

in Heidenheim auf einen Kurs zu bringen<br />

versucht, der einen erfolgreichen Fortbestand<br />

sichern soll. Welche Determinante vermittelt<br />

aber die Entscheidung, eine sozialpädagogische<br />

Fachbehörde zum Handlungsort zu wählen, an<br />

dem sowohl väterliche als auch mütterliche<br />

Dispositionen tradiert werden können? Er<br />

findet im Jugendamt eine Berufsarena, die ihm<br />

die Chance bietet, Handlungsenergien in eine<br />

Organisationsentwicklung zu investieren, die<br />

darauf zielt, für Außenseiter – wie sein Vater<br />

auch einer war – Strukturen zu entwickeln und<br />

durchzusetzen, die über eine an den Ressourcen


des hilfebedürftigen Klientels orientierte Hilfeplanung<br />

Wege in die autonome Lebenspraxis<br />

helfen soll zu bahnen. Dass er nach den Vorgaben<br />

der Mutter ein von Reformbereitschaft<br />

getragenes Engagement für eine Behörde<br />

zeigt, die es mit sozial Randständigen, schwach<br />

Integrierten zu tun hat, verweist so auch auf<br />

seine loyale Verbundenheit gegenüber dem<br />

Vater, dem es mit entsprechender Unterstützung<br />

(seiner Ehefrau) trotz einer schwierigen<br />

Ausgangslage (keine Hoferbenidentifikation)<br />

gelingt, Handlunsgautonomie zu sichern. So<br />

bereiten diese biographiegeschichtlich vorgegebenen<br />

Erfahrungsstrukturen den geeigneten<br />

Boden für A. D. s Entscheidung, die eigene<br />

Identitätsentwicklung in den beruflichen Kontext<br />

der Jugendhilfe zu stellen.<br />

Auch in dem Fall Dr. D. stellt die Berufswahl<br />

eine Strategie dar, die aus der spezifischen Familienkonstellation<br />

heraus verstanden werden<br />

kann. Dr. D. greift das aus der väterlichen Linie<br />

stammende technisch-instrumentelle Handlungsmuster<br />

(der Großvater war selbständiger<br />

Tischlermeister, der Vater Bauingenieur) auf<br />

und reproduziert es durch Übertragung in eine<br />

Handlungsarena, in der es ihr gelingt, durch<br />

selbständig planerisches Gestalten, orientiert<br />

an den gesellschaftlichen Vorgaben des neuen<br />

Gesetzestextes, eine sozialpädagogische<br />

Fachbehörde auf den Kurs der Modernisierung<br />

zu bringen. Das über die verschiedenen<br />

Berufslinien der Familie hinweg Identische ist<br />

der vom Großvater stammende ökonomische<br />

Habitus, der als Ressource zu einer Handlungsvoraussetzung<br />

wird, um angepasst an gesellschaftshistorische<br />

Anforderungsstrukturen<br />

(der DDR-mäßige Handlungsrahmen, den der<br />

Vater vorfindet; die Nachwendezeit mit ihren<br />

Herausforderungen für Veränderungen, die<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

Dr. D. vorfindet) gemäß der Tradition eines<br />

selbständigen Handwerksmilieus autonom<br />

und verantwortungsbewusst entscheiden zu<br />

können. Dieses großväterliche Erbe macht es<br />

den Generationen über Transformationsbrüche<br />

(Tischler, Ingenieur, Jugendamtsleiterin)<br />

hinweg möglich, relativ unabhängig, eben<br />

nicht fixiert auf vorgegebene Rahmen, Handlungsbereiche<br />

zu wählen, die Spielräume für<br />

eigengestalterische Aktivitäten vergrößern. So<br />

wundert uns nicht, dass Dr. D. im Jahre 2007<br />

das Jugendamt verlässt und in den Bereich<br />

der Angewandten Wissenschaft wechselt.<br />

Denn das eigentliche Objekt der Transmission<br />

innerhalb der väterlichen Familienlinie<br />

ist ein Gut, das man als „Streben nach Selbständigkeit“<br />

bezeichnen kann und das seine<br />

Erben soweit ‚determiniert‘, dass sie, um gegebene<br />

Autonomiechancen zu nutzen, zur<br />

Transformation bereit, einmal eingeschlagene<br />

Entwicklungspfade verlassen. Dass das Selbständigkeitskapital<br />

eine entscheidende Größe<br />

ist, die Handlungsentscheidungen strukturiert,<br />

erkennen wir auch daran, dass Dr. D. die<br />

väterliche Heiratsstrategie reproduziert und<br />

einen Ehepartner wählt, der das Wertemuster<br />

der Selbständigkeit im beruflichen Handeln<br />

verteidigt (Dr. D.s Mutter ist selbständige<br />

Schneiderin; der Ehemann von Dr. D. ist<br />

selbständiger Unternehmer in der Baubranche).<br />

Interessant, aber vor dem Hintergrund<br />

der für diese Familie typischen Transformationsstrategie<br />

nicht überraschend, ist,<br />

dass Dr. D. sich genau dann aus der<br />

Handlungsarena der Sozialen Arbeit Seite 147<br />

herausbewegt, nachdem unter ihrer<br />

Leitung im Rahmen des Möglichen<br />

Innovationsschübe in der Neugestaltung der<br />

Kinder- und Jugendhilfe erfolgten und bevor<br />

durch eine Neubesetzung des Landratspos


ten Freiheiten – wie Dr. D. vorausschauend<br />

antizipiert – in der Reformgestaltung einer<br />

Organisation professioneller Hilfen bedroht<br />

werden (könnten). Ob das Amt in der von Dr.<br />

D. begonnenen Neustrukturierung stecken<br />

bleibt, innovativ weitergeführt wird oder<br />

erneut von einem Verwaltungsbürokaten<br />

gelenkt werden wird, wird die Neubesetzung<br />

an der Spitze des Landkreises zeigen.<br />

Blicken wir auf die mütterliche Familienlinie<br />

– über die Familie des leiblichen Vaters sind<br />

keine Daten bekannt – und auf das familiale<br />

Mikroklima, in dem Dr. M. aufwächst, dann<br />

lässt sich auch seine Berufswahl als eine durch<br />

die Biographie geprägte erklären. Wir haben<br />

gesehen, dass Dr. M. durch den Ausfall des<br />

Vaters (Scheidung), durch die Behinderung der<br />

Eltern (Stiefvater und Mutter sind gehörlos)<br />

und durch die Matrilokalität, die den Stiefvater<br />

seiner möglichen Bedeutung als Retter<br />

der Familie entkleidet und die Mutter auf die<br />

Sozialposition des Kindes verweist, in einem<br />

vom Großelternpaar getragenen Fürsorgerahmen<br />

aufwächst, dem die kritische und klärende<br />

Instanz konkreter Vaterhaftigkeit als Hilfe für<br />

eine Ich-Entwicklung fehlt. Dieses Werk der<br />

Sozialisation, oder um es mit Sartre zu sagen,<br />

das, was diese Sozialisationsbedingungen aus<br />

ihm gemacht haben, macht er sich zu eigen,<br />

um über eine berufliche Transformation in<br />

den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe<br />

unter Nutzung dieser Sozialisationserfahrungen<br />

autonom zu werden. Dr.<br />

Seite 148 M. repräsentiert einen Transformationstyp,<br />

der die immaterielle<br />

Ressource der Vertrautheit mit vom<br />

Normalmodell der Kernfamilie abweichenden<br />

Strukturen als Kapital für die Herausbildung<br />

einer beruflichen Identität (an)erkennt. Dass<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

er aber nicht über die unmittelbare Sozialarbeit<br />

den direkten Kontakt zu dem hilfebedürftigen<br />

Klientel sucht, sondern in die leitende Position<br />

des Jugendamtsleiters aufsteigt, erklärt sich<br />

durch das Selbständigkeitspotential der mütterlichen<br />

Linie. Denn durch die Heiratsstrategie<br />

der Mutter gelingt es dieser, das elterliche<br />

Erbe der Selbständigkeit (Wirtschaften im<br />

Bereich des Schneiderhandwerkes) an die<br />

nächste Generation weiterzugeben. Diese im<br />

Milieu angelegte Disposition zur Autonomie<br />

„zwingt“ Dr. M. – dabei die Loyalität zu seiner<br />

Herkunftsfamilie bewahrend – auf mütterlichfürsorglichem<br />

Terrain in der Leitungsposition<br />

das auf ihn gekommene Erbe zu sichern. Das<br />

hat zur Folge, dass Dr. M. offen den durch das<br />

KJHG gegebenen Chancen für Veränderungen<br />

begegnen kann und zu einem Agenten der<br />

Transformation der Kinder- und Jugendhilfe<br />

wird. Innovationen vertritt er allerdings nicht<br />

aus dem gesuchten Konflikt heraus, sondern<br />

er gestaltet den Institutionenbildungsprozess<br />

– ganz orientiert an den Ordnungsprinzipien<br />

eines weiblich-fürsorgenden Milieus – auf der<br />

Grundlage von Strategien, die auf Harmonie<br />

und Risikovermeidung zielen.<br />

Welche Transformationslinie zeichnet sich bei<br />

dem Fall H. W. ab? Blicken wir auf die Familienlinie<br />

mütterlicherseits, so erkennen wir, dass<br />

jede Generation ihren eigenen Berufsplan hat<br />

(der Großvater mütterlicherseits ist Bauer mit<br />

dem Nebengewerbe eines Fuhrunternehmens;<br />

die Mutter arbeitet nach der Hauswirtschaftstätigkeit<br />

auf einem Hof als Angestellte im<br />

städtischen Dienstleistungssektor – Reinigungskraft<br />

und Kantinenbetrieb bei der<br />

Polizei). So wird zwar das berufliche Handeln<br />

transformiert – jede Generation unterscheidet<br />

sich von der vorhergehenden –, aber das je


dem Berufsfeld Gemeinsame ist, dass sie das<br />

Resultat des intergenerationellen Musters ist:<br />

Befreiung aus handlungsbeschränkenden Entwicklungsbedingungen<br />

durch Selbstplatzierung<br />

in eine Handlungsarena, die das Spektrum an<br />

autonomen Gestaltungsmöglichkeiten erweitert.<br />

Von generationenübergreifender Wirkungsmächtigkeit<br />

ist ein Streben nach Selbständigkeit,<br />

das allerdings immer verknüpft ist<br />

mit Brüchen (der Großvater mütterlicherseits<br />

wechselt die Rheinseite; die Mutter löst sich aus<br />

dem autonomiebeschränkenden bäuerlichen<br />

Arbeitzusammenhang heraus und geht in die<br />

Stadt). So wird über zwei Generationen hinweg<br />

das Handlungsmuster reproduziert, aus dem<br />

Widerspruch heraus Autonomie zu entwickeln.<br />

Warum wird für H. W. aber das Jugendamt zu<br />

einem zentralen Ort für die Identitätsbildung?<br />

In der väterlichen Biographie findet er eine<br />

Lösung für die von ihm aufgrund des abwesenden<br />

Vaters zu bewältigende Aufgabe, wie man<br />

mit ungünstigen Entwicklungsausgangslagen<br />

fertig werden kann. Er kann sich die in der<br />

väterlichen Biographie angelegte Strategie zu<br />

eigen machen, stabile Ordnungsrahmen aufzusuchen,<br />

die neue, unter den alten Bedingungen<br />

nicht mögliche Entwicklungspfade ermöglichen.<br />

So gelingt es H. W., motiviert durch das<br />

mangelnde „väterliche Prinzip“ (Preisker), über<br />

eine Reproduktion der väterlichen Handlungsorientierung<br />

im Jugendamt ein Äquivalent<br />

zum Hof zu finden, das in der Reformzeit<br />

der 60er Jahre genügend Konfliktpotential für<br />

Auseinandersetzungen bereit hält, um über<br />

die Revision des Gegebenen eine Ich-Stärke<br />

ausbilden zu können. Das Jugendamt bietet<br />

ihm ein Möglichkeitsfeld, in dem er die aus der<br />

mütterlichen Linie kommende Disposition,<br />

aus dem Bruch heraus die Selbständigkeit zu<br />

verteidigen, und die Strategie des Vaters, Ord-<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

nung und Sicherheit gewährende Kontexte zu<br />

wählen, tradieren kann.<br />

Fassen wir zusammen: Selbständigkeitspotentiale<br />

der klassischen Art kommen in<br />

der Familiengeschichte der leitenden Akteure<br />

systematisch und konstant vor. Der stärkste<br />

Befund ist aber, dass interessanterweise in einer<br />

auf Patriarchat angelegten Gesellschaft die<br />

Selbständigkeit mütterlich konnotiert ist. Es<br />

sind die Frauen aus der Herkunftsgeschichte<br />

der Transformationsakteure, bei denen wir<br />

durchgängig eine Selbständigkeitsorientierung<br />

beobachten.<br />

Seite 149<br />

20 So liegt der Schluss nahe,<br />

dass in einem weiblich dominierten Feld wie<br />

dem der Kinder- und Jugendhilfe sich eine<br />

Kombination von instrumenteller und expressiver<br />

Orientierung auf der mütterlichen<br />

Seite als weichenstellend erweist. Blicken<br />

wir auf die Vaterseite der leitenden Akteure,<br />

entdecken wir im Vergleich zur Mutterseite<br />

erhebliche Variationen. Die väterliche Linie<br />

ist im Falle von H. W. – wie man sie erwartet<br />

– strukturgebend, im Falle von Dr. M.<br />

mit dem Thema der Fürsorge, der Offenheit<br />

gegenüber dem Fremden und im Falle von A.<br />

D. mit dem des Außenseiters verbunden. Dr.<br />

D. weicht von diesen drei Fällen ab, da für das<br />

Streben nach Selbständigkeit hier auch die<br />

Orientierungsvorgaben der väterlichen Seite<br />

entwicklungsbedeutsam sind. Das ist deshalb<br />

nicht unplausibel, da sie erstens eine Frau ist<br />

und zweitens es nicht ungewöhnlich<br />

ist, dass aufstiegswillige und aufstiegsbereite<br />

Frauen als Vatertöchter<br />

hoch identifiziert mit dem gegengeschlechtlichen<br />

Elternteil sind (vgl.<br />

Parsons 1999). So erstaunt es auch nicht, dass<br />

sie im Vergleich zu A. D., zu Dr. M. und zu H.<br />

W. nicht so sehr auf das weiblich-fürsorgliche


Seite 150<br />

Berufsfeld festgelegt ist und in die Angewandte<br />

Wissenschaft „abwandert“. Obwohl<br />

Dr. D. im Vergleich ein wenig herausfällt, kann<br />

Folgendes festgehalten werden: Auf der Ebene<br />

der Biographie finden wir relativ einheitliche<br />

Akteursbedingungen für die von allen gleichermaßen<br />

zu bewältigende Herausforderung, auf<br />

Biographischer<br />

Habitus<br />

mütterlicherseits:<br />

väterlicherseits:<br />

Professioneller<br />

Habitus<br />

Situation des<br />

Amtes bei<br />

Amtsantritt<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Ostalbkreis<br />

(Heidenheim)<br />

A. D.<br />

Selbständigkeitsorientierung<br />

Außenseiter im<br />

dörflichen Milieu<br />

Durch Fachlichkeit<br />

das Amt wieder<br />

auf Kurs bringen<br />

Kein Aufbruch<br />

nach Einführung<br />

des KJHG, passive<br />

Hinnahme, die neue<br />

Ordnung wird als<br />

gegebene akzeptiert/<br />

Absturz durch<br />

Amtsleitervergehen<br />

(1997), Folge:<br />

Vakuum an der<br />

Spitze, Amtsleiterfluktuation,<br />

Flucht<br />

des fallbetreuenden<br />

Personals<br />

Saalfeld-Rudolstadt<br />

Dr. D.<br />

Selbständigkeitsorientierung<br />

einer neuen konzeptionellen und rechtlichen<br />

Gesetzesbasis Rahmenbedingungen für die<br />

Entfaltung einer professionellen Sozialarbeit<br />

zu schaffen. Diese Beobachtung steht aber in<br />

einem Missverhältnis zu der Unterschiedlichkeit<br />

der Institutionenbildung (siehe Tabelle –<br />

Aktuelle Situation des Amtes).<br />

Streben nach<br />

Selbständigkeit<br />

durch Nutzung<br />

gesellschaftlich-historisch<br />

vorgegebener<br />

Rahmen, Aufstieg<br />

über berufliche<br />

Transformation<br />

Professionalisierung<br />

um jeden Preis auf<br />

allen Ebenen<br />

Kurs einer fachlichen<br />

Qualifizierung<br />

Nach 1990 lediglich<br />

bürokratische<br />

Umsetzung des<br />

KJHG (Verwaltungsbürokrat<br />

an<br />

der Amtsspitze)<br />

Rügen<br />

Dr. M.<br />

Selbständigkeitsorientierung<br />

Offenheit gegenüber<br />

dem Fremden,<br />

Fürsorge<br />

Handelt im Sinne<br />

diffuser Sozialbeziehungen<br />

eines<br />

Familienbetriebes;<br />

mehr Pädagoge<br />

als Planer<br />

primär am Recht<br />

orientiert<br />

fördert Fachlichkeit<br />

bei den Mitarbeitern<br />

Am Anfang zügige<br />

Institutionenbildung<br />

(KJH-Verein,<br />

freie Trägerstrukturen)<br />

und forcierte<br />

Qualifizierung<br />

des vorhandenen<br />

Personals<br />

Wandel wird<br />

organisiert über<br />

Recht und Verfahren<br />

Stagnation,<br />

subjektive Dauerkrise<br />

Ostholstein<br />

H. W.<br />

Selbständigkeitsorientierung<br />

Suche nach stabilen<br />

Ordnungsrahmen,<br />

die prekäre<br />

Ausgangslagen<br />

überwinden helfen<br />

Konflikthafte<br />

Durchsetzung von<br />

Innovationen;<br />

Steckenbleiben in<br />

der Neuorientierung<br />

Seit den 70er<br />

Jahren gibt es einen<br />

kontinuierlichen<br />

Entwicklungspfad<br />

(punktuelle Vorwegnahme<br />

des KJHG)<br />

Das KJHG wird<br />

nicht als Paradigmenwechsel<br />

in der<br />

JH wahrgenommen<br />

Das KJHG hat im<br />

Institutionenbildungsbereich


Typus der<br />

Institutionenbildung<br />

2005: Rekrutierung<br />

eines wandlungsbereiten<br />

und wandlungsfähigen<br />

Akteurs<br />

(A. D.), Versuch der<br />

Implementierung<br />

des Wandels „von<br />

oben“ bei weitgehend<br />

resistentem Personal<br />

Kultur des<br />

Misstrauens auf der<br />

Mitarbeiterebene<br />

konzeptionelle Überlegungen<br />

im Bereich<br />

der Organisationsentwicklung,<br />

aber<br />

nicht in dem der<br />

Personalentwicklung<br />

(Oualifizierung,<br />

Fortbildung)<br />

aktueller Versuch<br />

einer angemessenen<br />

Institutionenbildung<br />

bei widerständigem<br />

Personal<br />

2001:<br />

Beginn einer nachholenden<br />

Entwicklung,<br />

Installation einer<br />

Amtsleitung, die<br />

gegenüber Wandel<br />

offen ist und dazu<br />

bereit, Wandel zu implementieren<br />

(Dr. D.)<br />

Personalrat erschwert<br />

die Akquisition<br />

von qualifiziertem<br />

Personal, Mitarbeiter<br />

im Vakuum „alter“<br />

Routinen (meist<br />

Fürsorgerinnen =<br />

keine Qualifikation)<br />

junge, fachlich<br />

ausgebildete Mitarbeiter<br />

werden (seit<br />

ca. 2006) eingestellt<br />

Einstellung eines<br />

innovationsbereiten<br />

Nachfolgers<br />

für Dr. D.<br />

Aufwärtsbewegung<br />

auf niedrigem Niveau<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

aufgrund<br />

eines schwach<br />

ausgeprägten<br />

professionellen<br />

Habitus (mangelndes<br />

professionelles Autonomieverständnis)<br />

beuhutsame<br />

Korrektur durch<br />

Personalrekrutierung<br />

( Jungpersonal<br />

und kompetente<br />

Besetzung der<br />

Leitungsstellen auf<br />

der mittleren Ebene<br />

– z. B. Frau H.)<br />

Subjektive Dauerkrise<br />

nach forcierter<br />

Institutionenbildung<br />

einen wachsamen<br />

Prozess in Gang<br />

gesetzt. Das<br />

vigilante Konzept<br />

hat keinen Reflex auf<br />

den professionellen<br />

Handlungskontext<br />

Konstanz der frühen<br />

68er Neuorientierung<br />

(Vorwegnahme<br />

des KJHG)<br />

Abwehr von New<br />

Public Management<br />

Seite 151


Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N<br />

Mit anderen Worten: Es besteht ein nur mit<br />

einer Hypothese aufzulösender Widerspruch<br />

zwischen der Ähnlichkeit biographischer Ausgangslagen,<br />

um im Sozialwesen den sozialen<br />

Wandel zu gestalten, und dem gegenwärtigen<br />

Stand der Organisationsentwicklung. Während<br />

wir bei den ostdeutschen Jugendämtern Aufstiegskurven<br />

beobachten, stagniert die Entwicklung<br />

einer Kultur professioneller Hilfe nach der<br />

neuen Gesetzesvorlage in den westdeutschen<br />

Jugendämtern. Bei Letzteren ist die Stagnation<br />

teils durch Frühvollendung der Innovation<br />

(Ostholstein), teils durch ungünstige Rahmenbedingungen<br />

und externe Krisen (Unterschlagung,<br />

danach keine Konstanz in der Leitung<br />

– vgl. Heidenheim) verursacht. Die Neuorientierung<br />

stößt auf erhebliche Probleme seitens<br />

der Leitung (Ostholstein – H. W.) wie auch der<br />

Mitarbeiter (Ostholstein, Heidenheim). Einmal<br />

so gesagt: In den „alten“ Bundesländern hat es<br />

den großen Wandel oder den Paradigmenwechsel<br />

in der Kinder- und Jugendhilfe durch die<br />

Einführung des KJHGs nicht gegeben. In den<br />

„neuen“ Bundesländern hat ein konzeptioneller<br />

Professionalisierungsprozess der Sozialarbeit in<br />

der Kinder- und Jugendhilfe über die schnellere<br />

(in Saalfeld-Rügen zwar mit einer Verspätung<br />

von 10 Jahren) und – jedenfalls formal – konsequentere<br />

Rezeption der fachlichen Vorgaben<br />

des KJHGs stattgefunden.<br />

Nun zur These, die die Diskrepanz zwischen<br />

ähnlichen biographischen Handlungsbedingungen<br />

und der unterschiedlichen<br />

Seite 152 Organisationsentwicklung erklärt: Dass<br />

wir relativ einheitliche Akteursbedingungen<br />

und verschiedene Institutionenbildungsverläufe<br />

beobachten, verweist zum einen<br />

auf den begrenzten Einfluss der Akteure. Zum<br />

anderen verweist dieses Missverhältnis auf die<br />

Einbettungsverhältnisse, auf die – wie Strauss<br />

es formuliert – „langsamer sich bewegenden,<br />

stabilen Elemente der sozialen Umgebung,<br />

die von vielen Generationen geschaffen und<br />

manchmal erhalten wurden“ (Strauss 1993:<br />

261), die das Handeln der Akteure, wenn<br />

auch nicht determinieren, so doch rahmen.<br />

So macht die Entdeckung der Variationen auf<br />

der Ebene der Institutionenbildung deutlich,<br />

dass eine analytische Perspektive nicht ausreicht,<br />

die auf das Individuum, auf den einzelnen<br />

Akteur beschränkt bleibt. Es bedarf neben<br />

eines akteurtheoretischen Zuganges für die<br />

Erklärung von Prozessen sozialen Wandels<br />

eines Ansatzes, der neben dem biographiekonstitutiven<br />

Handeln auch die das Handeln<br />

rahmenden Strukturbedingungen mit erfasst.<br />

Das Konzept, das dafür einen angemessenen<br />

methodologischen Rahmen stellt, das sowohl<br />

der strukturellen als auch der Akteursseite<br />

von Wandel Rechnung trägt, ist das der „conditional<br />

matrix“ (vgl. dazu die Ausführungen<br />

von Bruno Hildenbrand in diesem Band).


Endnoten<br />

1 Die hier vorgenommenen Fallrekonstruktionen wurden im<br />

Rahmen des Gesamtprojektes durchgeführt und hätten nicht<br />

ohne die gemeinsame Arbeit im Gesamtteam und nicht ohne die<br />

konstruktive Kritik aller (Bruno Hildenbrand, Karl-<strong>Friedrich</strong><br />

Bohler, Anna Engelstädter, Tobias Franzheld, Anja Schierbaum<br />

und Marcel Schmidt) realisiert werden können.<br />

2 Mündliche Mitteilung von Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler.<br />

3 „Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur ‘historischen<br />

Situation’ gehörigen ‘Tatsachen’ (‘ontologisches’ Wissen,<br />

andererseits (...) Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln,<br />

wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren<br />

pflegen (‘nomologisches Wissen’)“, vgl. Weber 1988, S. 276f.).<br />

4 Die Struktur des klassischen Jugendamtes und des klassischen<br />

Sozialdezernates werden aufgelöst. An Stelle von Ämtern werden<br />

sogenannte Fachbereiche eingerichtet. Während die klassische<br />

Struktur in anderen Landkreisen aus den drei Ämtern Jugendamt,<br />

Sozialamt und Ausgleichsamt besteht, ist sie in Heidenheim<br />

nach acht Fachbereichen organisiert worden, die – wie A. D.<br />

berichtet – „sich in vielen Dingen überschnitten, aber als eine Art<br />

selbständige Ämter zählten“ (Interview).<br />

5 Hier einmal eine Vergleichszahl für das Jahr 1951. Zu diesem<br />

Zeitpunkt betrug der Jahreslohn eines bundesrepublikanischen<br />

Landarbeiters nur 63% des Lohnes eines Industriearbeiters (vgl.<br />

Heidrich 1997, S. 34f ).<br />

6 Vgl. hier die nicht ganz unähnliche sozialstrukturelle Ausgangslage<br />

des Falles Johannes Freumbichler, dem Großvater von<br />

Thomas Bernhard (Funcke 2007).<br />

7 Vgl. hier die Expertise zu den „Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung<br />

auf die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe<br />

bis zum Jahr 2012 in Thüringen“ (Fendrich & Schilling<br />

2003). Dort ist zu erfahren, dass im Jahre 1998 lediglich 39,1 %<br />

der Mitarbeiterinnen über eine sozialpädagogische Qualifikation<br />

im allgemeinen Sinne verfügen, 12,5 % haben eine Hochschulqualifikation<br />

(vgl. auch Hildenbrand 2004a, S. 9).<br />

Do r e t t Fu N C k e<br />

8 Daran, dass der alte Landrat zwei Jahre lang, von Anfang<br />

1999 bis Ende 2000, den Amtsleiterposten unbesetzt ließ,<br />

erkennt man, welche Bedeutung dem Amtsleiterposten zugemessen<br />

wurde (vgl. auch hier die Ausführungen von Bruno<br />

Hildenbrand in diesem Band).<br />

9 Vgl. dazu die Dorfstudie von Barbara Schier (2001). Auch<br />

im Nordwesten von Rügen konnten bis 1972 Bauern eine LPG<br />

simulieren.<br />

10 Vgl. die Endnote 6 im Beitrag von Bruno Hildenbrand in<br />

diesem Band.<br />

11 Die Bildungspolitik der 50er und 60er Jahre öffnete vielen<br />

Arbeiter- und Bauernkindern den Weg in weiterführende<br />

Bildungseinrichtungen (vgl. Meuschel 1992, Solga 1995). Der<br />

Bildungsaufstieg war für die Lehrer, die nicht dem alten Bürgertum<br />

entstammten, ein „‘massenhaft individueller’ Aufstieg, was<br />

die Risiken eines Bildungsaufstiegs ‘im Alleingang’, wie z. B.<br />

Schwierigkeiten bei der Orientierung im neuen sozialen Milieu<br />

und Akzeptanzprobleme in der neuen Umgebung, minimierte“<br />

(Köhler 2000, S. 81).<br />

12 Die in der Folge der Bodenreform 1947 neu entstandenen<br />

Kleinbetriebe wurden kurze Zeit später wieder zur Kollektivierung<br />

gezwungen. In der Zeit ab 1952 wurden in der DDR<br />

zum einen auf dem Land die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften<br />

(LPG) als „genossenschaftlich-sozialistische<br />

Betriebe“ und zum anderen die Maschinen-Traktoren-Stationen<br />

(MTS) als „staatlich-sozialistische Betriebe“ geschaffen.<br />

13 Nicht ganz auszuschließen ist, dass sie zu den Wiedereinrichtern<br />

auf Rügen zählt. Engelstädter (2005) hat gezeigt, dass es<br />

u. a. vor allem die Bauern bzw. Bäuerinnen, die aus vollbäuerlichen<br />

Gebieten außerhalb Rügens, aus Schleswig-Holstein,<br />

Westfalen und Westpreußen, zugewandert sind, waren, die den<br />

Schritt zum Wiedereinrichten eines bäuerlichen Familienbetriebes<br />

nach der Wende gewagt haben.<br />

14 Vgl. dazu die Ausführungen von Bruno Hildenbrand<br />

in diesem Band, Endnote 20.<br />

15 Dass man sich in dieser Zeit mit einem Fuhrunternehmen<br />

auch anders entwickeln kann, zeigt der Fall Kornbeck in: Hildenbrand<br />

2004b.<br />

Seite 153


Seite 154<br />

16 Die Kinderzahl verheirateter Mägde war gering (vgl. Mit-<br />

terauer 1990, S. 244).<br />

17 Vgl. Strauss 1993, S. 255f., 1995, S. 18ff.<br />

18 Als H. W. 1970 ins Jugendamt kommt, hat das Verwaltungshandeln<br />

Dominanz gegenüber dem sozialpädagogischen Handeln.<br />

Überlegungen zur Einrichtung eines Amtes für Soziale<br />

Dienste, die H. W. als Sprecher der Sozialarbeiter unterstützte,<br />

konnten trotz „heftigster Auseinandersetzungen“ mit dem<br />

damaligen Amtsleiter, der die Reformvorschläge ablehnte, nicht<br />

umgesetzt werden (vgl. Bohler & Bieback-Diel 2001, S. 37ff.).<br />

H. W., der Sozialdemokrat, der das Feld der Auseinandersetzung<br />

im Ringen um das bessere Argument nicht scheute, erinnert diese<br />

Diskussionsphase im Amt als „schöne Zeit“ (Interview).<br />

19 Wir haben gesehen, dass gerade durch die forcierten Selbständigkeitsbestrebungen<br />

der Mutter die Modernisierung des Hofes<br />

in den 50er Jahren gelingt mit der Folge, dass ein autonomes<br />

Wirtschaften im landwirtschaftlichen Bereich fortgesetzt werden<br />

kann.<br />

20 A. D. : Die Mutter forciert die Umstrukturierung des Hofes<br />

gemäß den Modernisierungsanforderungen der 50er Jahre; Dr.<br />

D.: Die Mutter rettet den durch die berufliche Transformation<br />

ihrer eigenen Mutter (Porzellanmalerin) verloren gegangenen<br />

Status der Selbständigkeit durch Orientierung am großväterlichen<br />

Schneiderhandwerk.; Dr. M.: Die Mutter sichert das<br />

Gut der Selbständigkeit ihrer Herkunftsfamilie (selbständige<br />

Schneidermeister) über die Heiratsstrategie; H. W.: Die Mutter<br />

löst sich aus bevormundenden großbäuerlichen Sozialzusammenhängen<br />

und vergrößert über eine berufliche Transformation<br />

(städtischer Dienstleistungssektor) – gemäß der Tradition eines<br />

Selbständigenmilieus – ihre Autonomiespielräume.<br />

Ak t e u r e D e r tr A N S F o r M At I o N


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Carl-Auer-Systeme Verlag.<br />

Wiesenthal, Helmut (1999) Die Transformation der DDR: Verfahren<br />

und Resultate. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.


Autoren<br />

Bruno Hildenbrand, Jg. 1948, ist seit 1994 Professor<br />

für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut<br />

für Soziologie der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Schiller</strong>-<strong>Universität</strong><br />

<strong>Jena</strong>. Studium der Soziologie, Politikwissenschaften<br />

und Psychologie an der <strong>Universität</strong> Konstanz und<br />

Promotion im Fach Soziologie (1970-1979), Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik<br />

der Philipps-<strong>Universität</strong> Marburg von 1979 bis 1984,<br />

Hochschulassistent an der Johann-Wolfgang-Goethe-<br />

<strong>Universität</strong> Frankfurt am Main von 1984 bis 1989, dort<br />

Habilitation 1991, Fachleiter für Arbeit mit psychisch<br />

Kranken und Suchtkranken an der Berufsakademie<br />

Villingen-Schwenningen von 1989 bis 1994.<br />

Laufende Arbeitsschwerpunkte: Transformationsprozesse<br />

der Kinder- und Jugendhilfe in ländlichen<br />

Regionen Ost- und Westdeutschlands; Sozialisationsprozesse<br />

in der Pflegefamilie.<br />

Seite 161


Seite 162<br />

Autoren<br />

Karl <strong>Friedrich</strong> Bohler, geb. 1953, Studium der Soziologie<br />

in Heidelberg und Frankfurt a.M., 1988<br />

Promotion, 1994 Habilitation am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften<br />

der <strong>Universität</strong> Frankfurt<br />

a.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich<br />

Gesellschaftswissenschaften der <strong>Universität</strong> Frankfurt<br />

a.M., im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik,<br />

an der <strong>Universität</strong>sklinik Marburg. 1995 und seit 2003<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter an der <strong>Friedrich</strong> <strong>Schiller</strong><br />

<strong>Universität</strong> <strong>Jena</strong> und im Sonderforschungsbereich <strong>580</strong>.<br />

Publikationen aus dem<br />

Themenbereich unserer Forschung im <strong>SFB</strong>:<br />

Regionale Gesellschaftsentwicklung und Schichtungsmuster<br />

in Deutschland, Frankfurt a.M. 1995. - Region<br />

und Mentalität. In: Sozialer Sinn 1/2004, S. 3-29.<br />

– Ländliche Jugendhilfepraxis in kontrastierenden Erwerbs-<br />

und Lebenswelten. In: Land-Berichte 1/2005, S.<br />

54-62. - Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit<br />

als Projekt. Untersucht am Beispiel ostdeutscher Jugendämter.<br />

In: Sozialer Sinn 1/2006, S. 3-33. - Familie<br />

und Jugendhilfe in krisenhaften Erziehungsprozessen.<br />

In: ZBBS 1/2006, S. 47-68. - Jugendhilfe im ländlichen<br />

Sozialraum. Münster 2001 (gem. mit L. Bieback-Diel).<br />

– Nord-Süd. In: S. Lessenich/F. Nullmeier (Hrsg.):<br />

Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/<br />

New York 2006, S. 234-255 (gem. mit B. Hildenbrand).


Autoren<br />

Dorett Funcke, Studium der Soziologie und Germanistischen<br />

Literaturwissenschaft in <strong>Jena</strong>, Dr. phil., Dissertation<br />

über Thomas Bernhard („Der abwesende Vater<br />

– Wege aus der Vaterlosigkeit. Der Fall Thomas Bernhard“,<br />

LIT-Verlag 2007), seit 2002 wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin am Institut für Soziologie in <strong>Jena</strong> (Arbeitsbereich:<br />

Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie),<br />

seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im <strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />

„Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch.<br />

Diskontinuität. Tradition. Strukturbildung“.<br />

Seite 163

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