DT Magazin | Ausgabe 4 - Spielzeit 2009/10 - Deutsches Theater
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Für alle reicht es nicht<br />
„mit einem mal bin ich in einer noch viel anderen welt“ sagt Jo in<br />
Dirk Lauckes aktuellem Stück ‚Für alle reicht es nicht‘, das von Grenzen<br />
handelt, von überwundenen Ländergrenzen und scheinbar unüberwindbaren<br />
Gesellschaftsgrenzen, von Deutschland 20 Jahre<br />
nach dem Fall der innerdeutschen Grenze und der Festung Europa.<br />
Die Welt, die für uns Westeuropäer immer enger zusammenwächst<br />
und alle Türen offenhält, ist eben nicht die eine Welt, die eine Wirklichkeit,<br />
die existiert: Für die Ostasiaten, die Jo und Anna in einem<br />
randvoll mit Schmuggelzigaretten befüllten LKW auf einer Landstraße<br />
im Grenzgebiet finden, existiert eine andere Wirklichkeit.<br />
Sie landeten auf ihrer Flucht in eine bessere Welt ausgerechnet im<br />
deutsch-tschechischen Niemandsland, wo die großen Erdbeerplantagen<br />
längst ausrangiert sind und Kleinkriminelle wie Anna und Jo<br />
versuchen, das „ganz große Geschäft“ zu machen. Dabei ist den<br />
beiden der LKW mit der dubiosen Ladung jedoch eine Nummer zu<br />
groß: „das ist nich unser geschäft“. Die Türen bleiben geschlossen,<br />
die Schmuggel-Asiaten mitsamt den Schmuggel-Zigaretten eingeschlossen.<br />
In einem Interview sagt Dirk Laucke: „In meinem Stück geht<br />
es auch um die Mauer zwischen oben und unten. Es geht um die<br />
Versuche, in die Gesellschaft hineinzukommen. Es geht um Flüchtlinge,<br />
die in diese sogenannte Freiheit des Wohlstandes wollen, es<br />
geht aber auch um die Flüchtlinge, die diese Freiheit noch vor dem<br />
Fall der Mauer erlangen wollten.“ Beim Versuch, Mauern zu überwinden,<br />
stoßen alle Figuren in ‚Für alle reicht es nicht’ an eine ganz<br />
besonders hohe Mauer: die Mauer des Kapitals. Sie wollen sie erklimmen,<br />
wollen aufsteigen und werden doch immer wieder an ihr<br />
scheitern. Geschäfte machen, möglichst das „ganz große Ding“,<br />
ist das ersehnte Ziel aller Figuren. So wollen Jo und Anna durch Zigarettenschmuggel<br />
Geld verdienen, Heiner, ein ehemaliger NVA-<br />
Offizier, will durch Panzertourismus seinen finanziellen Traum mit<br />
dem Traum der weiterrollenden NVA-Panzer verbinden, und die<br />
Ostasiaten, so lässt sich vermuten, wollen bzw. müssen als illegale<br />
Schwarzarbeiter in der Landwirtschaft an ihrem großen Glück arbeiten.<br />
Sie träumen, treten doch alle auf der Stelle und man ahnt, dass<br />
Für alle reicht es nicht - von Dirk Laucke<br />
22<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />
sie ihre Träume nie verwirklichen werden können. Auch wenn Ländergrenzen<br />
für uns Westeuropäer keine Hürde mehr darstellen, gibt<br />
es doch gesellschaftliche Grenzen zwischen oben und unten, zwischen<br />
arm und reich oder zwischen erfolglos und erfolgreich. „der<br />
sinn heißt überschreiten“ sagt Jo auf die Frage nach dem Sinn der<br />
Grenzen, nach dem er immer gesucht habe. Doch auch das Überwinden<br />
der Grenzen, die Suche nach dem Neuen, das scheinbar Unerreichbare<br />
führt letztendlich zur bitteren Erkenntnis: Für alle reicht<br />
es nicht.<br />
Dirk Lauckes Figuren stehen zwischen naiver Träumerei von einem<br />
besseren Leben und der bodenständigen Resignation in einem<br />
Niemandsland, etwas verloren, heimatlos und doch mit einer nicht<br />
unterzukriegenden Hoffnung. Beschäftigt mit sich und ihren eigenen<br />
Problemen, ihrer Erinnerung an die Vergangenheit und ihren Erwartungen<br />
an die Zukunft, vergessen sie, dass die „Fidschis“ – wie<br />
sie die Ostasiaten nennen – im LKW hinter ihnen fast ersticken. Zynische<br />
Pointe und doch grausame Realität unserer Gegenwart: Die,<br />
die nach Europa kommen wollen, bleiben in der Realität genauso<br />
wie im Text bei Laucke gesichtslos, eine abstrakte Zahl, was für den<br />
Autor unserem Umgang mit dem „Massengrab Mittelmeer“ entspricht.<br />
Die Menschen, die aus dem Handel mit anderen Menschen<br />
Profit schöpfen, bleiben bei Laucke ebenso anonym wie ungreifbar;<br />
einen LKW-Fahrer gibt es nicht. Ulrich Beck<br />
Für alle reicht es nicht<br />
von Dirk Laucke<br />
Regie: Sabine Auf der Heyde, Bühne und Kostüme: Ann Heine,<br />
Musik: Jacob Suske, Dramaturgie: Ulrich Beck<br />
Es spielen: Isabel Schosnig, Paul Schröder,<br />
Bernd Stempel, Katrin Wichmann<br />
Premiere am 24. April 20<strong>10</strong>, Box<br />
Isabel Schosnig, Bernd Stempel, Katrin Wichmann, Paul Schröder<br />
Christoph Franken, Mike Adler, Johannes Schäfer, Olivia Gräser, Ulrich Matthes, Matthias Neukirch, Claudia Eisinger<br />
Ein One-Night-Stand, ein schwangeres Mä d -<br />
chen und ihr adliger Liebhaber. Eine versprochene<br />
Ehe, ein auf die Ehre seiner Tochter<br />
bedachter Vater und eine Intrige. Und<br />
am Ende: ein totes Kind. Kraftvoll-überbordend<br />
und mit einer Sprache, die soziale Unterschiede<br />
präzise ausdifferenziert, erzählt<br />
Heinrich Leopold Wagner in seinem bürgerlichen<br />
Trauerspiel ‚Die Kindermörderin‘<br />
(1776) von der Geschichte einer Liebe, die<br />
an Standesgrenzen und unterschiedlichen<br />
Wertvorstellungen scheitert. Für das Deutsche<br />
<strong>Theater</strong> Berlin überschreibt der Regisseur<br />
und Autor Nuran David Calis das Sturm<br />
und Drang-Drama Wagners und holt es in<br />
die Gegenwart der Städte.<br />
Eva, Tochter aus bestem Hause, trifft Grönsbeck,<br />
den Türsteher vom Club, und verliebt<br />
sich in ihn. Doch da ist auch noch der Magista,<br />
ein Geschäftspartner ihres Vaters, dem<br />
sie ebenfalls zugeneigt ist. Eva weiß, wie<br />
sehr ihr Vater Humbrecht diese Verbindung<br />
schätzt, und sie ahnt auch, warum. Nach<br />
dem frühen Tod seiner Frau möchte Humbrecht<br />
nicht auch noch seine Tochter einbüßen,<br />
verlieren an ein anderes Leben. Für<br />
ihn böte der Magista die Garantie, dass alles<br />
bleibt, wie es ist. Dann erklärt Grönsbeck,<br />
er wolle für das Ungeborene einstehen. Und<br />
verschwindet in den Süden, um Geld zu verdienen.<br />
Eva wird warten. Sich dem Vater offenbaren<br />
und der Freundin. Und doch am<br />
Ende zerbrechen.<br />
Schattenkinder - von Nuran David Calis<br />
Immer noch besser<br />
funktionieren<br />
In zentralen Aspekten folgt Nuran David<br />
Calis’ Überschreibung des Stücks dem<br />
Plot Wagners, und es folgt auch den zen-<br />
tralen Figurenkonstellationen, wenngleich<br />
es sie reformuliert. So wird etwa die weibliche<br />
Hauptfigur Eva bei Calis von der Kleinbürgertochter<br />
zur sozial Höhergestellten,<br />
Grönsbeck hingegen vom adligen Leutnant<br />
zum Underdog von der Straße und der Magista<br />
zu dessen ernsthaftem Rivalen, begabt<br />
mit einem langen Atem. Calis übersetzt die<br />
unüberwindbar erscheinenden Standesunterschiede<br />
des bürgerlichen Trauerspiels in<br />
soziale Differenzen, die zwar eine Rolle spielen<br />
bei der Frage, wie man mit jemandem<br />
umgeht, die jedoch weitaus durchlässiger<br />
anmuten als in Wagners Stück.<br />
Ähnlich auch die Umschrift, die Calis<br />
mit den rigiden Moralvorstellungen Humbrechts<br />
unternimmt. Dienten sie im bürgerlichen<br />
Trauerspiel dazu, das (klein)<br />
bürgerliche Individuum vom als obszön<br />
wahrgenommenen Adel abzuheben – und<br />
brachten sie umgekehrt in Wagners Stück<br />
die Angst Evchens hervor, die sie dann zum<br />
Kindsmord treibt –, so treten bei Calis die<br />
(wirtschaftlichen) Interessen, die Moral seit<br />
jeher begleiten, unverstellter zutage. Humbrecht<br />
kann – in Calis’ Version – einen falschen<br />
Schwiegersohn auch deshalb nicht<br />
akzeptieren, weil er befürchtet, dadurch<br />
ökonomische Nachteile zu erleiden.<br />
,Die Kindermörderin‘ erregte seinerzeit nicht<br />
nur Aufsehen, weil Wagner auf der Bühne<br />
für Figuren der Unterschicht etwas ande-<br />
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<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />
res vorsah als ein Dienstbotendasein. Er erhob<br />
mit seinem Stück auch Einspruch gegen<br />
ein Wertesystem, das für „gefallene“ Frauen<br />
lediglich gesellschaftliche Ächtung kannte.<br />
Demgegenüber stehen uns Heutigen, so<br />
scheint es zumindest, in Zwangssituationen<br />
größere Handlungsspielräume zur Verfügung.<br />
Dass Eva ihr Kind umbringt, würde<br />
mittlerweile wohl eher als individuelles Versagen<br />
verbucht, nicht mehr als Symp-tom<br />
eines gesellschaftlichen Zustands. Doch<br />
der Druck auf den Einzelnen, so Calis’ These,<br />
ist nicht gewichen, er hat sich nur verändert.<br />
Wurden zu Wagners Zeiten die Erwartungen<br />
und Forderungen, wie man zu leben<br />
hat, von außen an die Individuen herangetragen,<br />
so haben wir entsprechende Erwartungen<br />
mittlerweile internalisiert: sie zu unseren<br />
eigenen gemacht. Man kann immer<br />
ein noch perfekterer Körper, ein noch flexiblerer<br />
Mensch, eine noch bessere Tochter<br />
sein, immer noch besser funktionieren. Und<br />
an dieser beständigen, niemals endenden<br />
Selbstaufforderung dann kaputt gehen.<br />
Claus Caesar<br />
Schattenkinder<br />
von Nuran David Calis<br />
Frei nach Motiven von Heinrich Leopold Wagners<br />
‚Die Kindermörderin‘<br />
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz,<br />
Musik: Vivan Bhatti, Dramaturgie: Claus Caesar,<br />
Es spielen: Mike Adler, Claudia Eisinger, Christoph<br />
Franken, Olivia Gräser, Ulrich Matthes, Matthias<br />
Neukirch, Johannes Schäfer<br />
Premiere am 6. Mai 20<strong>10</strong>, Kammerspiele