DT Magazin | Ausgabe 4 - Spielzeit 2009/10 - Deutsches Theater
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Ich stehe dann auf der Probe wie ein kleiner Junge<br />
vor einem riesigen Luftballon und muss<br />
nur noch darauf achten, dass nichts passiert,<br />
was den Luftballon zum Platzen bringt.<br />
fördert und mich immer wieder als Journalist in den<br />
„Braaker Themen“, der Zeitung für einen Vorort von<br />
Bielefeld, eingesetzt. Ich bin eher durch Zufall zu dem<br />
Regiestudium gekommen, habe dann aber eigentlich<br />
nichts anderes gemacht, als Stücke, die ich nicht verstanden<br />
habe, umzuschreiben und umzudeuten, um<br />
einen Zugang zu finden. Das Regiestudium war für<br />
mich das Erlernen des Handwerks, der Grammatik des<br />
<strong>Theater</strong>s, um dann die Inhalte auf die Bühne bringen<br />
zu können.<br />
Gibt es, wenn du deine eigenen Stücke inszenierst,<br />
unterschiedliche Phasen oder einen Punkt, an dem du<br />
vom Schreiben in einem nächsten Schritt zu Bildern<br />
oder szenischen Phantasien kommst, die weitergehen<br />
als das, was du dir beim Schreiben gedacht hattest?<br />
Nuran David Calis<br />
Bei mir gibt es zwei Abschnitte während der Phase<br />
der Annäherung. Zuerst geht es darum, auf einen Stoff<br />
zu stoßen, jemand macht mich auf etwas aufmerksam,<br />
wie z. B. Ulrich Khuon auf das Stück ‚Die Kindermörderin‘<br />
von Heinrich Leopold Wagner. Ich lese das Stück,<br />
finde einen Zustand in der realen Welt und versuche,<br />
diesen Zustand in Beziehung zu dem alten Text zu setzen.<br />
Danach beginnt die Arbeitsphase mit den Schauspielern.<br />
Auf deren Zugänge bin ich immer sehr neugierig.<br />
Manchmal kann ich auch gar nicht erklären,<br />
was stimmt und was nicht, und versuche dann eher<br />
intuitiv zusammen mit den Schauspielern herauszufinden,<br />
was der Text auslöst. Wenn diese Begegnungen<br />
glücken, beginnt ein Prozess, den ich fast schon<br />
göttlich, schöpferisch finde. Ich stehe dann auf der<br />
Probe wie ein kleiner Junge vor einem riesigen Luftballon<br />
und muss nur noch darauf achten, dass nichts<br />
passiert, was den Luftballon zum Platzen bringt. Dieses<br />
Wechselspiel, wenn alles anfängt lebendig zu werden,<br />
hat im <strong>Theater</strong> großen Raum.<br />
Dea Loher<br />
Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es darum geht, warum<br />
man immer wieder zum <strong>Theater</strong> zurückkehrt. Mir<br />
geht es so, dass ich mir nach jedem Stück die Frage<br />
stelle, ob ich das weiter machen muss bzw. will und<br />
wenn ja, warum und wie. Beim Schreiben eines Drehbuchs<br />
gibt man irgendwann seine Autonomie auf, es<br />
6<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />
Nuran David Calis<br />
gibt noch hundert andere Leute, die mitmischen und<br />
dann dauert es auch noch ewig lange, bis der Film fertig<br />
ist. Das würde mich wahnsinnig machen. Bei der<br />
Prosa behält man diese Unabhängigkeit zunächst –<br />
und klar geht es um etwas anderes, man schließt sich<br />
ganz andere Innenräume auf. Aber um beim Prozess<br />
zu bleiben, man müht sich zwei Jahre ab, bis das Buch<br />
dann endlich fertig ist. Und dann ist fraglich, inwiefern<br />
man dazu Rückmeldungen bekommt, die nicht medial<br />
gefiltert sind. Natürlich kann man sich der Qual<br />
der Lesereise aussetzen, aber trotzdem bleibt es eine<br />
ziemlich eindimensionale Sache. Beim <strong>Theater</strong> ist es<br />
für mich eine große Erleichterung, wenn ich nach dem<br />
langen Prozess des einsamen Schreibens irgendwann<br />
auf eine Probe gehe und über den Text kommunizieren<br />
kann. Und dann bekommt das Geschriebene auch<br />
ein Eigenleben, und dieses Eigenleben ist unglaublich<br />
wandelbar, wenn das Stück das Glück hat, nachgespielt<br />
zu werden oder auch nach zehn Jahren noch<br />
einmal ganz anders interpretiert wird. Hinzu kommt,<br />
dass das <strong>Theater</strong> für mich immer noch das poli tisch ste<br />
Medium unter allen Künsten ist. Es muss gar nicht<br />
unbedingt sein, dass der Text aktuell ist und das Zeitgeschehen<br />
problematisiert. Aber er muss sich im Hier<br />
und Jetzt des Spiels in seiner Gegenwärtigkeit behaupten.<br />
Ein <strong>Theater</strong>abend ist ja auch eine politische Situation,<br />
die leibhaftige Konfrontation der eigenen Arbeit mit<br />
den Zuschauern, die aus einer sozialen Wirklichkeit<br />
kommen und in Kommunikation mit dem Stück treten.<br />
Bei dir, Dirk, ist es ganz vehement so, dass du immer<br />
wieder versuchst, auf verschiedene Art und Weise<br />
den sozialen Raum <strong>Theater</strong> zu erproben.<br />
Dirk Laucke<br />
Mein letztes Projekt in Halle war ‚Ultras‘, bei dem ich<br />
mit Laien aus der Fußball-Szene gearbeitet habe, die<br />
sich selbst als unpolitisch darstellen. Mit denen habe<br />
ich ein Stück gemacht, in dem es sich nicht mehr verheimlichen<br />
ließ, dass sie eigentlich rechtsradikal sind.<br />
Für mich stellt sich beim <strong>Theater</strong> mit Laien die Frage,<br />
ob das immer nur positive Momente sein müssen,<br />
wenn die Experten des Alltags auf der Bühne stehen<br />
oder ob man da nicht mehr erzählen kann. Die Stadt<br />
wollte ‚Ultras‘ zensieren. Anstatt die Wirklichkeit an-<br />
zupacken, hat man versucht, das Kunstprodukt, das<br />
aus der Wirklichkeit stammt, zu verändern, damit die<br />
Wahrheit nicht ans Licht kommt. Aber ich sehe mich<br />
in erster Linie nicht als Projektemacher, sondern als<br />
Autor. Und beim Stückeschreiben geht es mir so wie<br />
dir, Dea, dass sich das immer wieder neu erprobt. Das<br />
ist ja auch das, was du machst, Nuran, wenn du adaptierst<br />
oder überschreibst. Du holst etwas in die Gegenwart<br />
und politisierst es.<br />
Oder du siehst es einfach durch deine eigenen Augen?<br />
Nuran David Calis<br />
Als Ulrich Khuon mich fragte, ob die ‚Kindermörderin‘<br />
etwas für mich wäre, war ich zuerst sehr unsicher. Ich<br />
habe das Stück gelesen und bin danach spazieren gegangen.<br />
In dem Park war ein Schild, mit dem die Polizei<br />
Zeugen suchte, weil an dem Ort ein toter Säugling<br />
gefunden worden war. Da stand ich also vor diesem<br />
Schild, an genau der Stelle, wo man das tote Baby entdeckt<br />
hatte, und auf einmal öffnete sich ein Raum zwischen<br />
dem Stück und mir. Ich habe mich gefragt, was<br />
das für eine Gesellschaft ist, in der privates Glück<br />
nicht möglich ist und was das für die Schuldfrage bedeutet.<br />
Daraufhin versuchte ich, den Kreis um die so<br />
genannte Kindermörderin zu erweitern und fragte<br />
mich, welche sozialen und psychischen Dispositionen<br />
in einer Gesellschaft herrschen müssen, damit am Ende<br />
einer Geschichte ein totes Kind steht. So hat mein<br />
Gespräch mit dem Stück begonnen.<br />
Du hast auch eigene Stücke geschrieben, wie ‚Dog Eat<br />
Dog‘. Kam das aus einem anderen Impuls? Und kommt<br />
der wieder?<br />
Nuran David Calis<br />
Vielleicht. Aber ich kann die Zukunft natürlich nicht<br />
vorhersehen. Meine Stücke müssen Teil meiner Erfahrungswelt<br />
sein. Aber wenn mir jemand etwas in die<br />
Hände drückt, suche ich nach dem Dialog zwischen<br />
Gegenwart und Vergangenheit. Dieser Austausch ist<br />
mir extrem wichtig.<br />
Neben der geistigen Beschäftigung ist das Stückeschreiben<br />
ja auch eine emotionale. Fast so wichtig wie<br />
ein konzeptioneller oder gedanklicher Zugang ist das<br />
Gefühl für den Stoff. Bei dir, Dirk, gibt es in einigen Stücken<br />
einen spürbaren Zorn und eine politische Bereitschaft<br />
um diese sozial benachteiligten oder gescheiterten<br />
Figuren zu kämpfen…<br />
Dirk Laucke<br />
Ja, ich bin von genug Dingen angepisst, die hier abgehen.<br />
Es ist aber nicht so, dass ich denke, der Klimawandel<br />
pisst mich so an, jetzt schreibe ich mal ein Stück<br />
darüber. Meistens ist das mit eigenen Erfahrungen<br />
verbunden. Bei ‚Für alle reicht es nicht‘ habe ich an der<br />
deutsch-polnischen Grenze zwei Kippen-Schmuggler<br />
kennengelernt und mich gefragt, wie die eigentlich leben.<br />
Die sind jeden Tag von Frankfurt/Oder nach Berlin<br />
und wieder zurückgefahren und haben ein paar<br />
Stangen Zigaretten unter ihrem Pullover geschmuggelt,<br />
um die in Kneipen zu verkaufen. Diese Leute sind<br />
mir im Gedächtnis geblieben. Dann ist da die Frage<br />
nach Grenzen, die Frage danach, in welchem Land wir<br />
leben. Die Außengrenzen sind jetzt klar definiert mit<br />
den Schengenstaaten und der EU, Abgrenzungen gegenüber<br />
Flüchtlingsströmen, die hier rein möchten. Es<br />
gab schon mal Flüchtlingsströme, die in ein reicheres<br />
Deutschland wollten, und das war zur Vorwendezeit.<br />
Welchen Umgang haben wir Deutschen damit, die wir<br />
eigentlich sensibel sein müssten für jegliche Art von<br />
Wiederholung der Geschichte? Was ich da feststelle,<br />
ist ein grassierender Rassismus, der sich hier ausbreitet<br />
und abgesegnet wird als Einstellung der kompletten<br />
EU, man müsse sich von den ganzen Wirtschaftsflüchtlingen<br />
abschotten. Das brennt mir unter den<br />
Nägeln, aber dann muss ich natürlich auch wieder<br />
zu der Geschichte und zu dem Einzelfall zurückkehren,<br />
zu den Kippenschmugglern, um nicht so dumm<br />
zu sein, monokausale Weltbilder in die Welt zu schleudern.<br />
Ich muss das Thema anhand eines Stückes, einer<br />
Situation abhandeln. In ‚Für alle reicht es nicht‘ ist es<br />
dann so, dass die beiden Schmuggler einen Laster voller<br />
Kippen finden, aber auch voller Flüchtlinge aus Asien.<br />
Was macht man jetzt mit denen? Das ist die Frage,<br />
vor der unsere Gesellschaft steht. Wie geht man mit<br />
diesen Leuten um? Letzten Endes ist das für mich ein<br />
Trick der Dramatik. Dramatische Momente funktionieren,<br />
wenn eine Situation geschaffen wird, in der es um<br />
alles geht, die aber zugleich für die Figuren nur eine<br />
aktuelle Situation ist, in der sie sich verhalten müssen.<br />
7<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>