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DT Magazin | Ausgabe 4 - Spielzeit 2009/10 - Deutsches Theater

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<strong>Ausgabe</strong> 4 - <strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Die Lange Nacht der Autoren<br />

Zum Abschluss der Autorentheatertage: Neue Stücke von Carsten Brandau, Julia Kandzora, Laura Naumann<br />

und Katharina Schmitt in Werkstattinszenierungen auf der Bühne des Deutschen <strong>Theater</strong>s<br />

Das letzte Feuer<br />

Dea Loher erzählt von Schuld, Erinnerung und der Sehnsucht nach einer Begegnung jenseits des Schmerzes.<br />

Maria Stuart<br />

Schillers Königinnendrama fragt nach dem Verhältnis von Angst, Macht und Moral.<br />

Wie ungerecht muss man sein?<br />

John von Düffel spricht mit Dea Loher, Nuran David Calis und Dirk Laucke über Autonomie am <strong>Theater</strong>,<br />

Gerechtigkeiten auf der Bühne und das Stück zur Finanzkrise<br />

dt<br />

<strong>Magazin</strong>


Anzeige<br />

Wichtige Hilfe<br />

LOTTO-Gelder für die Hauptstadt<br />

Königin Luise von Preußen: Wie keine andere<br />

wurde sie nach ihrem frühen Tod zum Mythos.<br />

Wegen des lieblichen Aussehens und in ihrer<br />

Rolle als aufopfernde Gattin und Mutter, wurde<br />

sie zur Muse für die prominentesten zeitgenössischen<br />

Künstler.<br />

Anlässlich ihres 200. Todestages lädt die Ausstellung<br />

„Luise. Leben und Mythos der Königin“<br />

mit mehr als 200 Gemälden, Skulpturen und<br />

historischen Dokumenten zu einer Annäherung<br />

an das Leben der Königin vom 06. März bis 30.<br />

Mai im Schloss Charlottenburg ein. Die LOTTO-<br />

Stiftung bezuschusste das Ausstellungsprojekt<br />

mit 200.000 Euro.<br />

Königin Luise von Preußen, unbekannter Künstler (vermutlich nach M. Vieweg), um 1897; Copyright: SPSG<br />

Nelly Sachs 1960, Fotograf: Anna Riwkin, Copyright: Anna Riwkin, Stockholm, 1961 © Anna Riwkin/Moderna Museet<br />

Hilfe, die ankommt<br />

Auf die Unterstützung der Stiftung Deutsche<br />

Klassenlotterie Berlin konnten jedoch noch weitere<br />

Berliner Institutionen bauen. 92.000 Euro<br />

wurden beispielsweise für die Ausstellung<br />

„Flucht und Verwandlung“ von Nelly Sachs gewährt,<br />

die vom 25. März bis 27. Juni im Jüdischen<br />

Museum zu finden ist. Die Ausstellung<br />

zeigt anhand unveröffentlichten Materials eindrucksvoll<br />

das Leben und die Werke der deutschen<br />

Schriftstellerin und Lyrikerin jüdischen<br />

Glaubens, Nelly Sachs.<br />

Für Berlin. Von den Berlinern<br />

Doch woher kam all dieses Geld? „Von unseren<br />

LOTTO-Kunden“, antwortet Hans-Georg<br />

Wieck, Vorstandsmitglied der Deutschen Klassenlotterie<br />

Berlin und der Stiftung Deutsche<br />

Klassenlotterie Berlin. „Wer in einem Berliner<br />

LOTTO-Laden ein Los oder ein anderes Produkt<br />

von LOTTO Berlin erstanden hat, leistet einen<br />

Beitrag für unsere lebendige und lebenswerte<br />

Hauptstadt.“<br />

Stiftungs-Vorstand sagt: Danke!<br />

Seit ihrer Gründung 1975 hat die Stiftung auf<br />

diese Weise über 2,2 Milliarden Euro für gute<br />

Zwecke eingenommen.<br />

Allein im vergangenen Jahr waren es über 67<br />

Millionen Euro. „Wir sind stolz darauf, dass wir<br />

bisher schon mehr als 4.300 Projekte unterstützen<br />

konnten, die sich sozial oder karitativ,<br />

kulturell, staatsbürgerlich, jugendfördernd, für<br />

die Umwelt oder den Sport engagieren“, sagt<br />

Wieck. „Dafür möchten wir uns bei den Berlinerinnen<br />

und Berlinern herzlich bedanken.“<br />

Inhalt<br />

4<br />

Wie ungerecht muss man sein?<br />

Ein Interview mit Dea Loher, Nuran David Calis und Dirk Laucke<br />

12<br />

Die Vier von der Langen Nacht<br />

14<br />

Das Programm der Autorentheatertage Berlin<br />

16<br />

Die verbotene Frage<br />

18<br />

Das letzte Feuer<br />

20<br />

Maria Stuart<br />

22<br />

Für alle reicht es nicht<br />

23<br />

Schattenkinder<br />

24<br />

Schwarzes Tier Traurigkeit<br />

25<br />

Der Schmerz<br />

26<br />

Von der Rolle mit Paul Schröder<br />

27<br />

Szenen im <strong>DT</strong><br />

28<br />

Specials<br />

31<br />

Abo&Service/Impressum<br />

Auf dem Titelfoto:<br />

Margit Bendokat in ,Krankenzimmer Nr. 6‘<br />

3<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


Wie ungerecht<br />

muss man sein?<br />

Drei Autoren, drei Premieren, drei Bühnen: Dea Lohers ‚Das letzte Feuer‘<br />

eröffnet am 8. April die Autorentheatertage im Deutschen <strong>Theater</strong>,<br />

‚Für alle reicht es nicht‘ von Dirk Laucke wird ab 24. April in der Box<br />

zu sehen sein, und die Uraufführung von Nuran David Calis’ ‚Schattenkinder‘<br />

ist am 6. Mai in den Kammerspielen zu sehen. Ein Gespräch über Autonomie<br />

am <strong>Theater</strong>, Gerechtigkeiten auf der Bühne und das Stück zur Finanzkrise.<br />

Von euch Dreien werden Stücke am <strong>DT</strong> gespielt,<br />

aber es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit: Ihr<br />

habt auch für andere Medien geschrieben, Dirk und<br />

Nuran für den Film, Dea hat mit ‚Hundskopf’ einen Erzählband<br />

vorgelegt. Warum kommt ihr immer wieder<br />

zum <strong>Theater</strong> zurück?<br />

Dirk Laucke<br />

Beim Film sind die Wege, bis der Text zur Produktion<br />

kommt, viel länger, und es reden einem so viele Menschen<br />

rein, dass ich am Ende gar nicht mehr davon<br />

sprechen kann, dass das noch mein Produkt ist. Diesen<br />

Entfremdungsprozess spüre ich am <strong>Theater</strong> nicht<br />

so sehr. Hier interessiert man sich für meinen Stoff und<br />

für das, was ich sagen möchte.<br />

Dea, wenn du eine Erzählung schreibst, bestimmst<br />

du alles, vom ersten bis zum letzten Wort. Im <strong>Theater</strong><br />

kommt hingegen noch die Phantasie vieler anderer<br />

hinzu, dadurch finden im Vergleich zur Prosa zahlreiche<br />

Verwandlungen, Veränderungen statt. Sehnst du<br />

dich manchmal nach mehr Autonomie?<br />

Dea Loher<br />

Das Gute am <strong>Theater</strong> ist, dass der Text komplett meiner<br />

ist, da muss ich erstmal, wie bei der Prosa, auf niemanden<br />

Rücksicht nehmen. Der zweite Vorteil ist,<br />

dass es dann noch jemanden gibt, der mit dem Text<br />

arbeitet und im Idealfall noch etwas ganz anderes daraus<br />

macht, etwas, das gar nicht in meiner Intention<br />

lag, das ich mir nicht in der Form vorgestellt hatte. Das<br />

empfinde ich als große Bereicherung.<br />

Erstaunlicherweise beruht deine Arbeitsbeziehung<br />

mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg, der wie ‚Das<br />

letzte Feuer‘ und ‚Diebe‘ fast alle deine Uraufführungen<br />

inszeniert hat, nicht auf einer Ähnlichkeit, sondern<br />

vielmehr auf einer großen Verschiedenheit.<br />

Interview: John von Düffel<br />

Dea Loher<br />

Ich glaube, die Qualität unserer Zusammenarbeit entsteht<br />

genau aus dieser Gegensätzlichkeit heraus. Andreas<br />

Kriegenburg ist jemand, der auf der einen Seite<br />

wahnsinnig genau liest und sehr darauf achtet, was<br />

die Sprache für einen Rhythmus gewinnt. Der aber andererseits<br />

so eine starke eigene Phantasie entwickelt,<br />

dass wiederum Bilder entstehen, die ich mir beim<br />

Schreiben gar nicht vorgestellt habe. Wobei ich sowieso<br />

keine szenische Fantasie besitze. Bevor wir uns<br />

kennenlernten, habe ich auch die Erfahrung gemacht,<br />

dass jemand ein Stück von mir inszeniert und ich denke:<br />

„Joa, hm, das kann man so machen … .“ Und dann<br />

saß ich zum ersten Mal bei Andreas auf der Probe und<br />

dachte: „Spinnt der? Was ist denn jetzt los?“ Und das<br />

war toll.<br />

Da unterscheidest du dich aber von vielen Autoren,<br />

die möchten, dass es genau so aussieht, wie sie es sich<br />

beim Schreiben vorgestellt haben, und die dann oft<br />

enttäuscht sind, weil es ganz anders wird…<br />

Dea Loher<br />

Früher habe ich mich immer über Autorenkollegen<br />

aufgeregt, die genau wissen, wie es sein müsste,<br />

und dann automatisch unglücklich sind, weil der Regisseur<br />

diese Vorstellung praktisch nie erfüllen kann.<br />

Dann, finde ich, muss man es selbst machen. Da ich<br />

das aber sowieso nicht könnte und in der Beziehung<br />

keinerlei Ehrgeiz habe, bin ich ganz froh, wenn jemand<br />

anderer inszeniert.<br />

Nuran, du hast Regie studiert. Wer war eher da, der<br />

Autor oder der Regisseur Nuran David Calis?<br />

Nuran David Calis<br />

Ich habe sehr früh die Leidenschaft für das Schreiben<br />

in mir entdeckt. Mein Deutschlehrer hat mich ge-<br />

4<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

,Das letzte Feuer‘ von Dea Loher<br />

mit Natali Seelig und Hans Löw<br />

5<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


Ich stehe dann auf der Probe wie ein kleiner Junge<br />

vor einem riesigen Luftballon und muss<br />

nur noch darauf achten, dass nichts passiert,<br />

was den Luftballon zum Platzen bringt.<br />

fördert und mich immer wieder als Journalist in den<br />

„Braaker Themen“, der Zeitung für einen Vorort von<br />

Bielefeld, eingesetzt. Ich bin eher durch Zufall zu dem<br />

Regiestudium gekommen, habe dann aber eigentlich<br />

nichts anderes gemacht, als Stücke, die ich nicht verstanden<br />

habe, umzuschreiben und umzudeuten, um<br />

einen Zugang zu finden. Das Regiestudium war für<br />

mich das Erlernen des Handwerks, der Grammatik des<br />

<strong>Theater</strong>s, um dann die Inhalte auf die Bühne bringen<br />

zu können.<br />

Gibt es, wenn du deine eigenen Stücke inszenierst,<br />

unterschiedliche Phasen oder einen Punkt, an dem du<br />

vom Schreiben in einem nächsten Schritt zu Bildern<br />

oder szenischen Phantasien kommst, die weitergehen<br />

als das, was du dir beim Schreiben gedacht hattest?<br />

Nuran David Calis<br />

Bei mir gibt es zwei Abschnitte während der Phase<br />

der Annäherung. Zuerst geht es darum, auf einen Stoff<br />

zu stoßen, jemand macht mich auf etwas aufmerksam,<br />

wie z. B. Ulrich Khuon auf das Stück ‚Die Kindermörderin‘<br />

von Heinrich Leopold Wagner. Ich lese das Stück,<br />

finde einen Zustand in der realen Welt und versuche,<br />

diesen Zustand in Beziehung zu dem alten Text zu setzen.<br />

Danach beginnt die Arbeitsphase mit den Schauspielern.<br />

Auf deren Zugänge bin ich immer sehr neugierig.<br />

Manchmal kann ich auch gar nicht erklären,<br />

was stimmt und was nicht, und versuche dann eher<br />

intuitiv zusammen mit den Schauspielern herauszufinden,<br />

was der Text auslöst. Wenn diese Begegnungen<br />

glücken, beginnt ein Prozess, den ich fast schon<br />

göttlich, schöpferisch finde. Ich stehe dann auf der<br />

Probe wie ein kleiner Junge vor einem riesigen Luftballon<br />

und muss nur noch darauf achten, dass nichts<br />

passiert, was den Luftballon zum Platzen bringt. Dieses<br />

Wechselspiel, wenn alles anfängt lebendig zu werden,<br />

hat im <strong>Theater</strong> großen Raum.<br />

Dea Loher<br />

Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es darum geht, warum<br />

man immer wieder zum <strong>Theater</strong> zurückkehrt. Mir<br />

geht es so, dass ich mir nach jedem Stück die Frage<br />

stelle, ob ich das weiter machen muss bzw. will und<br />

wenn ja, warum und wie. Beim Schreiben eines Drehbuchs<br />

gibt man irgendwann seine Autonomie auf, es<br />

6<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Nuran David Calis<br />

gibt noch hundert andere Leute, die mitmischen und<br />

dann dauert es auch noch ewig lange, bis der Film fertig<br />

ist. Das würde mich wahnsinnig machen. Bei der<br />

Prosa behält man diese Unabhängigkeit zunächst –<br />

und klar geht es um etwas anderes, man schließt sich<br />

ganz andere Innenräume auf. Aber um beim Prozess<br />

zu bleiben, man müht sich zwei Jahre ab, bis das Buch<br />

dann endlich fertig ist. Und dann ist fraglich, inwiefern<br />

man dazu Rückmeldungen bekommt, die nicht medial<br />

gefiltert sind. Natürlich kann man sich der Qual<br />

der Lesereise aussetzen, aber trotzdem bleibt es eine<br />

ziemlich eindimensionale Sache. Beim <strong>Theater</strong> ist es<br />

für mich eine große Erleichterung, wenn ich nach dem<br />

langen Prozess des einsamen Schreibens irgendwann<br />

auf eine Probe gehe und über den Text kommunizieren<br />

kann. Und dann bekommt das Geschriebene auch<br />

ein Eigenleben, und dieses Eigenleben ist unglaublich<br />

wandelbar, wenn das Stück das Glück hat, nachgespielt<br />

zu werden oder auch nach zehn Jahren noch<br />

einmal ganz anders interpretiert wird. Hinzu kommt,<br />

dass das <strong>Theater</strong> für mich immer noch das poli tisch ste<br />

Medium unter allen Künsten ist. Es muss gar nicht<br />

unbedingt sein, dass der Text aktuell ist und das Zeitgeschehen<br />

problematisiert. Aber er muss sich im Hier<br />

und Jetzt des Spiels in seiner Gegenwärtigkeit behaupten.<br />

Ein <strong>Theater</strong>abend ist ja auch eine politische Situation,<br />

die leibhaftige Konfrontation der eigenen Arbeit mit<br />

den Zuschauern, die aus einer sozialen Wirklichkeit<br />

kommen und in Kommunikation mit dem Stück treten.<br />

Bei dir, Dirk, ist es ganz vehement so, dass du immer<br />

wieder versuchst, auf verschiedene Art und Weise<br />

den sozialen Raum <strong>Theater</strong> zu erproben.<br />

Dirk Laucke<br />

Mein letztes Projekt in Halle war ‚Ultras‘, bei dem ich<br />

mit Laien aus der Fußball-Szene gearbeitet habe, die<br />

sich selbst als unpolitisch darstellen. Mit denen habe<br />

ich ein Stück gemacht, in dem es sich nicht mehr verheimlichen<br />

ließ, dass sie eigentlich rechtsradikal sind.<br />

Für mich stellt sich beim <strong>Theater</strong> mit Laien die Frage,<br />

ob das immer nur positive Momente sein müssen,<br />

wenn die Experten des Alltags auf der Bühne stehen<br />

oder ob man da nicht mehr erzählen kann. Die Stadt<br />

wollte ‚Ultras‘ zensieren. Anstatt die Wirklichkeit an-<br />

zupacken, hat man versucht, das Kunstprodukt, das<br />

aus der Wirklichkeit stammt, zu verändern, damit die<br />

Wahrheit nicht ans Licht kommt. Aber ich sehe mich<br />

in erster Linie nicht als Projektemacher, sondern als<br />

Autor. Und beim Stückeschreiben geht es mir so wie<br />

dir, Dea, dass sich das immer wieder neu erprobt. Das<br />

ist ja auch das, was du machst, Nuran, wenn du adaptierst<br />

oder überschreibst. Du holst etwas in die Gegenwart<br />

und politisierst es.<br />

Oder du siehst es einfach durch deine eigenen Augen?<br />

Nuran David Calis<br />

Als Ulrich Khuon mich fragte, ob die ‚Kindermörderin‘<br />

etwas für mich wäre, war ich zuerst sehr unsicher. Ich<br />

habe das Stück gelesen und bin danach spazieren gegangen.<br />

In dem Park war ein Schild, mit dem die Polizei<br />

Zeugen suchte, weil an dem Ort ein toter Säugling<br />

gefunden worden war. Da stand ich also vor diesem<br />

Schild, an genau der Stelle, wo man das tote Baby entdeckt<br />

hatte, und auf einmal öffnete sich ein Raum zwischen<br />

dem Stück und mir. Ich habe mich gefragt, was<br />

das für eine Gesellschaft ist, in der privates Glück<br />

nicht möglich ist und was das für die Schuldfrage bedeutet.<br />

Daraufhin versuchte ich, den Kreis um die so<br />

genannte Kindermörderin zu erweitern und fragte<br />

mich, welche sozialen und psychischen Dispositionen<br />

in einer Gesellschaft herrschen müssen, damit am Ende<br />

einer Geschichte ein totes Kind steht. So hat mein<br />

Gespräch mit dem Stück begonnen.<br />

Du hast auch eigene Stücke geschrieben, wie ‚Dog Eat<br />

Dog‘. Kam das aus einem anderen Impuls? Und kommt<br />

der wieder?<br />

Nuran David Calis<br />

Vielleicht. Aber ich kann die Zukunft natürlich nicht<br />

vorhersehen. Meine Stücke müssen Teil meiner Erfahrungswelt<br />

sein. Aber wenn mir jemand etwas in die<br />

Hände drückt, suche ich nach dem Dialog zwischen<br />

Gegenwart und Vergangenheit. Dieser Austausch ist<br />

mir extrem wichtig.<br />

Neben der geistigen Beschäftigung ist das Stückeschreiben<br />

ja auch eine emotionale. Fast so wichtig wie<br />

ein konzeptioneller oder gedanklicher Zugang ist das<br />

Gefühl für den Stoff. Bei dir, Dirk, gibt es in einigen Stücken<br />

einen spürbaren Zorn und eine politische Bereitschaft<br />

um diese sozial benachteiligten oder gescheiterten<br />

Figuren zu kämpfen…<br />

Dirk Laucke<br />

Ja, ich bin von genug Dingen angepisst, die hier abgehen.<br />

Es ist aber nicht so, dass ich denke, der Klimawandel<br />

pisst mich so an, jetzt schreibe ich mal ein Stück<br />

darüber. Meistens ist das mit eigenen Erfahrungen<br />

verbunden. Bei ‚Für alle reicht es nicht‘ habe ich an der<br />

deutsch-polnischen Grenze zwei Kippen-Schmuggler<br />

kennengelernt und mich gefragt, wie die eigentlich leben.<br />

Die sind jeden Tag von Frankfurt/Oder nach Berlin<br />

und wieder zurückgefahren und haben ein paar<br />

Stangen Zigaretten unter ihrem Pullover geschmuggelt,<br />

um die in Kneipen zu verkaufen. Diese Leute sind<br />

mir im Gedächtnis geblieben. Dann ist da die Frage<br />

nach Grenzen, die Frage danach, in welchem Land wir<br />

leben. Die Außengrenzen sind jetzt klar definiert mit<br />

den Schengenstaaten und der EU, Abgrenzungen gegenüber<br />

Flüchtlingsströmen, die hier rein möchten. Es<br />

gab schon mal Flüchtlingsströme, die in ein reicheres<br />

Deutschland wollten, und das war zur Vorwendezeit.<br />

Welchen Umgang haben wir Deutschen damit, die wir<br />

eigentlich sensibel sein müssten für jegliche Art von<br />

Wiederholung der Geschichte? Was ich da feststelle,<br />

ist ein grassierender Rassismus, der sich hier ausbreitet<br />

und abgesegnet wird als Einstellung der kompletten<br />

EU, man müsse sich von den ganzen Wirtschaftsflüchtlingen<br />

abschotten. Das brennt mir unter den<br />

Nägeln, aber dann muss ich natürlich auch wieder<br />

zu der Geschichte und zu dem Einzelfall zurückkehren,<br />

zu den Kippenschmugglern, um nicht so dumm<br />

zu sein, monokausale Weltbilder in die Welt zu schleudern.<br />

Ich muss das Thema anhand eines Stückes, einer<br />

Situation abhandeln. In ‚Für alle reicht es nicht‘ ist es<br />

dann so, dass die beiden Schmuggler einen Laster voller<br />

Kippen finden, aber auch voller Flüchtlinge aus Asien.<br />

Was macht man jetzt mit denen? Das ist die Frage,<br />

vor der unsere Gesellschaft steht. Wie geht man mit<br />

diesen Leuten um? Letzten Endes ist das für mich ein<br />

Trick der Dramatik. Dramatische Momente funktionieren,<br />

wenn eine Situation geschaffen wird, in der es um<br />

alles geht, die aber zugleich für die Figuren nur eine<br />

aktuelle Situation ist, in der sie sich verhalten müssen.<br />

7<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


,Einer von uns‘ von Nuran David Calis<br />

mit Moritz Grove und Ensemble<br />

(Aufführung Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg)<br />

8<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Auf diese Weise habe ich beim Schreiben das Gefühl,<br />

dass da ein bisschen was passieren wird.<br />

Durch ihre Dialog-Geschwindigkeit, die Art und Weise,<br />

wie sich die Wörter jagen, haben deine Stücke<br />

manchmal etwas Getriebenes, auch ‚Für alle reicht<br />

es nicht‘. Die Figuren sind von sich und ihrem Überlebenskampf<br />

gehetzt. Da merkt man schon deinen Adrenalinpegel<br />

beim Schreiben …<br />

Dirk Laucke<br />

Dadurch, dass ich jetzt ein Kind habe, ist meine Arbeit<br />

schon in ordentlicheren Bahnen als früher. Es ist nicht<br />

mehr so, dass ich mal einen ganzen Tag schreibe oder<br />

über Nacht mit zig Flaschen Wein. Trotzdem kenne ich<br />

immer noch Zeiten, in denen ich prekär lebe.<br />

Das Prekäre ist eine sehr gute Beschreibung für das<br />

Grundgefühl deiner Figuren. Du hast auch gesagt,<br />

dass du beim Schreiben das Gefühl brauchst, dass etwas<br />

passiert. Dea, für mich bist du deshalb so besonders,<br />

weil du dem <strong>Theater</strong> zumutest, dass eben nicht<br />

genau das passiert, was des <strong>Theater</strong>s ist. Gerade ‚Das<br />

letzte Feuer‘ ist ein Stück an der Grenze zum Verstummen,<br />

zum Verschwinden des Dramatischen in einer<br />

enormen Stille oder Trauer, einer Ausweglosigkeit.<br />

Ist dieses Aushebeln von vermeintlichen <strong>Theater</strong>-<br />

Gesetzen etwas, für das du dir Mut machen musst,<br />

oder folgst du einfach nur deinen Figuren?<br />

Dea Loher<br />

Bei ‚Das Letzte Feuer‘ war es so, wie jetzt auch bei<br />

‚Diebe‘, dass ich eigentlich gar kein Stück zu einem gewissen<br />

Termin schreiben wollte und mich dann selbst<br />

in eine Situation gebracht habe, dass ich es abliefern<br />

musste. Das heißt, beide Stücke sind unter großem<br />

Druck entstanden. Und ich wollte mich nicht wiederholen,<br />

musste für mich jeweils eine neue Form finden.<br />

Und dann habe ich einfach keine andere Wahl als das<br />

zu schreiben, was ist.<br />

Nuran David Calis<br />

Ich werde immer mal wieder gefragt, ob es mir Spaß<br />

bringt, was ich so mache. Spaß habe ich im Club, nicht<br />

bei meiner Arbeit. Beim Schreiben muss man dahin<br />

gehen, wo es weh tut, und manchmal weiß ich gar<br />

nicht, ob ich aus dem Ganzen heil wieder raus komme.<br />

Wenn es was kostet und wehtut, ist es richtig. Ich<br />

weiß gar nicht, wie es wäre, wenn man sich beim Schreiben<br />

wohlfühlen würde.<br />

Dirk Laucke<br />

Ich würde gar nicht erst schreiben, wenn es mir super<br />

ginge.<br />

Immerhin hast du, Nuran, bei deinen Überschreibungen<br />

von ‚Frühlings Erwachen‘ oder der ‚Kindermörderin‘<br />

– unter dem neuen Titel ‚Schattenkinder‘ – Stoffe,<br />

die dem <strong>Theater</strong> Rechnung tragen und eine Wirkungsgeschichte<br />

auf der Bühne haben. Versuchst du bei der<br />

Arbeit zu vergessen, was du über <strong>Theater</strong> weißt, insbesondere<br />

über das Handwerkliche?<br />

Nuran David Calis<br />

Man muss schon viel vergessen. Von Außenstehenden<br />

wird zwar immer wieder gesagt, dass ich die Stücke<br />

modernisiere. Eigentlich versuche ich, in dem<br />

Alten das Heutige zu finden und in dem Heutigen wiederum<br />

das Zeitlose. Es geht um einen Kern, den ich<br />

freilegen möchte.<br />

Also ist das Wort Aktualisierung eigentlich völlig<br />

falsch?<br />

Nuran David Calis<br />

Genau. Mir geht es um Verbindungen zwischen den<br />

Zeiten, um Linien, die sich durch unser Denken und<br />

Fühlen hindurchziehen. Entsprechend ertappe ich<br />

mich dabei, dass ich mich von der Politik abwende.<br />

Das tut mir sehr gut, weil ich jemand bin, der sich<br />

wahnsinnig über alles aufregen kann und sehr schnell<br />

überhitzt. Ich enthalte mich dessen und tue das ganz<br />

bewusst, um nicht an Sensibilität zu verlieren.<br />

Noch einmal zum Thema Meinung. Habe ich dich richtig<br />

verstanden, Dirk, dass die Meinung, die man zu einem<br />

Thema oder zu dem Gegenstand des Stückes hat,<br />

nicht das Entscheidende ist? Entscheidend ist, dass<br />

man konkret bei der Figur und deren Eigenleben landet<br />

und dass die Meinung dahinter verschwindet?<br />

Dirk Laucke<br />

Das klingt einleuchtend. Wobei ich nicht leugnen<br />

kann, dass da eine Stimme in den Figuren herrscht, die<br />

eindeutig auch ich bin. Deswegen das Getriebene der<br />

Figuren. Die sind natürlich rotzig, weil ich das gerade<br />

so schreiben möchte. Ich kann aber auch einen gewissen<br />

Anarchismus in den Köpfen der Figuren nicht<br />

verleugnen, weil mir das einfach Spaß macht. Es würde<br />

mir schwerer fallen, eine Figur zu entwickeln, die<br />

in einem Büro-Job gefangen ist. Ich lande immer wieder<br />

bei dem Muster, dass meine Figuren etwas anderes<br />

wollen, ausbrechen wollen, in irgendeiner Form.<br />

Die Haltung ist häufig: „Das kann’s doch nicht gewesen<br />

sein“. Meine Figuren versuchen, die Dinge zu verändern,<br />

und fallen dabei auf die Nase. Das ist im Prinzip<br />

der Zustand, in dem ich lebe und arbeite: Das kann<br />

es doch nicht gewesen sein!<br />

9<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


Wir kreisen immer wieder um die Frage, inwieweit<br />

<strong>Theater</strong> eine politische Situation ist und was politisches<br />

Schreiben sein kann. Du, Nuran, hast gesagt,<br />

dass man sich von der politischen Erregung manchmal<br />

fernhalten muss, um aufmerksamer bei der Figur zu<br />

landen…<br />

Nuran David Calis<br />

Mich behindert die Erregung in der Analyse. Ich ertappe<br />

mich dann dabei, dass ich durch die Wut so ungerecht<br />

werde, dass ich das Erzählen aus den Augen<br />

verliere. Wenn ich mich von dieser Erregung fernhalte,<br />

kann ich den Dingen, die drum herum passieren, ein<br />

Stück weit Gerechtigkeit zukommen lassen. Auch einem,<br />

der ein Arschloch ist, auch wenn man natürlich<br />

unfair sein darf.<br />

Dea Loher<br />

Arschlöcher sind Arschlöcher.<br />

Eine der großen Glaubensfragen des <strong>Theater</strong>s: Wie gerecht<br />

oder ungerecht kann, darf und muss man sein?<br />

Dea Loher<br />

Für mich wird es mit der Zeit immer schwieriger, mich<br />

über bestimmte Dinge aufzuregen, und das finde ich<br />

furchtbar. Ich merke bei mir eine gewisse Erschöpfung,<br />

dass ich auf bestimmte Auseinandersetzungen<br />

keine Lust mehr habe. Ob das jetzt mit den Schauspielern,<br />

dem Publikum oder den Kritikern ist. Bei bestimmten<br />

Dingen denke ich, dass ich diesen Kampf<br />

schon oft genug gekämpft habe und nicht mehr will.<br />

Ist es so, dass es eine gewisse Form von Absolutheit,<br />

Unbedingtheit braucht? Und je mehr man sich mit<br />

<strong>Theater</strong> beschäftigt, je mehr Erfahrungen man macht,<br />

je älter man wird, desto mehr fängt man an zu relativieren,<br />

und das Absolute kommt einem abhanden …<br />

Dea Loher<br />

Vielleicht gibt es zwei natürliche Neigungen. Die einen<br />

sind mehr die Woyzeck-Fans, die anderen die<br />

Tschechow-Fans. Diejenigen, die eher in das kriegerische<br />

<strong>Theater</strong> gehen, und die, die das Seelenvolle mögen.<br />

Vielleicht ist die Klippe für unsereins, dass man<br />

mit den Jahren irgendwann von einem Lager ins andere<br />

wechseln muss, weil man sich sonst total zum Deppen<br />

macht. Andererseits gehört das auch dazu.<br />

Dirk Laucke<br />

Wenn man an Schiller oder Büchner denkt, darf man<br />

nicht vergessen, dass diese Autoren, die absolute Figuren<br />

mit ihren aufklärerischen Ansprüchen gezeichnet<br />

haben, im Absolutismus gelebt haben. Sie waren<br />

Revolutionäre gegen eine Obrigkeit, die das <strong>Theater</strong><br />

finanziert hat. Außerdem wissen wir mittlerweile,<br />

dass absolute Antworten nicht funktionieren, und ich<br />

fände es dreist, Figuren auf die Bühne zu stellen, wie<br />

Brecht, die sagen, dass es so und nicht anders ist. Ich<br />

halte das für gefährlich, auch wenn ich mich nach politischer<br />

Veränderung sehne. Der einzig mögliche Weg<br />

ist die Kritik: Den Finger in die Wunden zu legen. Das<br />

ist das einzige, was mir bleibt.<br />

Der einzig mögliche<br />

<strong>10</strong><br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Weg ist Kritik:<br />

den Finger<br />

in die Wunden<br />

zu legen.<br />

Das ist das einzige,<br />

was mir bleibt.<br />

Dirk Laucke<br />

,alter ford escort dunkelblau‘ von Dirk Laucke<br />

mit Jörg Koslowski, Norman Hacker und Claudius Franz<br />

(Aufführung Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg)<br />

Dea Loher<br />

Ich finde nicht, dass sich die Setzung von absoluten<br />

Ansprüchen erledigt hat. Es gibt ja gerade Maximal-<br />

Forderungen, die sich das Subjekt selber stellt, z. B.<br />

die unbedingte Forderung, ein total unkorrumpierbares<br />

Leben zu führen oder einfach auch der Anspruch,<br />

sich nicht von den äußeren Umständen eingrenzen zu<br />

lassen. Also eigentlich das, was die Figuren in deinen<br />

Stücken auch machen.<br />

Auch heutzutage wird das <strong>Theater</strong> von Politikern gelegentlich<br />

als Ort der Kritik oder der kritischen Aus-<br />

einandersetzung angesprochen. In Sonntagsreden<br />

und Leitartikeln wird immer wieder nach „dem“ Stück<br />

zur Finanzmarktkrise gerufen. Warum habt ihr das<br />

nicht geschrieben?<br />

Nuran David Calis<br />

Ich bin kein Journalist, sondern ein Autor. So etwas<br />

ist nicht Sinn und Zweck des <strong>Theater</strong>s, wie ich es ver-<br />

stehe.<br />

11<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Dirk Laucke<br />

Es ist Quatsch zu sagen, dass sich Banker unmoralisch<br />

benehmen. Das ist Teil ihres Jobs. Deswegen finde<br />

ich es auch Quatsch, sich über eine Krise zu beklagen,<br />

weil die Teil des Systems ist und man – wenn schon,<br />

denn schon – über das Ganze reden müsste und nicht<br />

nur über diese geplatzte Blase.<br />

Dea Loher<br />

Wenn solche lauten Forderungen aufkommen, das<br />

<strong>Theater</strong> sollte sich jetzt mal des Problems annehmen,<br />

habe ich immer den Verdacht, dass das der Wunsch<br />

ist, die eigene Läuterung an jemand anderen zu delegieren.<br />

„Das Problem soll doch jetzt bitte mal die<br />

Kunst für uns lösen.“ Nein.


die vier von der langen nacht<br />

‚Interest me!‘, so lautete der Aufruf von Michael Althen, dem Juror der ersten Autorentheatertage Berlin. Aus den rund 160 Stücken, die ihm zugesandt wurden, hat er nun die vier interessantesten ausgewählt<br />

– subjektiv und persönlich. Am 17. April wird das Quartett bei der ,Langen Nacht der Autoren‘ in Form von Werkstatt-Inszenierungen gezeigt. Hier stellt Michael Althen seine Auswahl vor.<br />

Julia Kandzora<br />

Geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut<br />

in Leipzig, schreibt Prosa und Lyrik. Sie lebt und arbeitet in Berlin. ,In<br />

Neon‘ ist ihr erstes <strong>Theater</strong>stück.<br />

In Neon<br />

Es geht um einen Mann, und der Umstand, dass er nur Mann<br />

heißt, bedeutet ja schon, dass es sich um eine eher abstrakte<br />

Versuchsanordnung handelt. Aber in der Beschreibung dieser<br />

Figur steht der Satz, dass er die ganze Zeit Nüsse knackt, bis am<br />

Ende der ganze Boden voll ist von Schalen. Ob das dann auch<br />

so inszeniert wird, ist letztlich egal, weil es irgendwie die Mechanik<br />

von Julia Kandzoras Stück schön beschreibt. Das Leben<br />

als Reihe von Fragen, die es wie Nüsse zu knacken gilt. Aber<br />

die Fragen hören nie auf, und nur der Berg von Schalen wächst.<br />

Zu dem Mann gibt es eine Frau, einen Freund und eine Stimme<br />

aus dem Off, die Fragen stellt. Natürlich wollen alle nur das Beste,<br />

aber ein Entkommen gibt es trotzdem nicht. Auch nicht für<br />

die Zuschauer. Ihre fünf größten Schwächen? Ihre Stärken? Ihre<br />

Zugehörigkeit? Es herrscht eine ständige Erklärungsnot, und<br />

der Mann träumt von einem Mittel, das die Ungeborgenheit abschafft,<br />

von einer Geborgenheitstechnik. Aber wer glaubt, das<br />

könnte die Liebe sein, wird schnell enttäuscht. Denn wenn die<br />

Frau den Mann fragt, ob er sich wohl fühle, und er antwortet<br />

„Ja, hier bei dir, ja“, da fügt die Autorin nur trocken hinzu: „Und<br />

Staub wächst nach.“ Wer weiß, ob man den Staub auf der Bühne<br />

wachsen sieht …<br />

Regie und Bühne: Simon Solberg,<br />

Kostüme: Katja Strohschneider,<br />

Musik und Video: Philipp Ludwig Stangl<br />

Mit: Andreas Döhler, Ole Lagerpusch, Susanne Wolff<br />

12<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Laura Naumann Carsten Brandau<br />

Geboren 1989 in Leipzig, studiert seit 2008 Kreatives Schreiben in Hildesheim.<br />

2006 und 2008 war sie Preisträgerin beim „Treffen Junger<br />

Autoren“ der Berliner Festspiele. <strong>2009</strong> erhielt sie den Münchner Förderpreis<br />

für neue deutschsprachige Dramatik.<br />

süßer vogel undsoweiter<br />

Sechs Jugendliche, die nichts tun außer rumhängen. Dass sie<br />

sonst nichts tun, zeigt schon, dass Laura Naumann weiß, wovon<br />

sie spricht. Gelegentlich weht ein Traum heran oder das, was<br />

das Leben von ihm übrig gelassen hat, weil er ohnehin nicht<br />

realistischer ist als die Zeilen aus irgendeinem Song. Es gibt einen<br />

Hügel, von dem aus offenbar kein Horizont sichtbar ist, der<br />

eine Zukunft verheißen würde, und eine Citytoilette, die nur<br />

so heißt, aber ganz gut ohne City auskommt. Aber das ist auch<br />

schon wieder so eine Beobachtung von Laura Naumann, dass<br />

eher die Bezeichnung ein Problem ist als der Umstand, dass die<br />

Jugendlichen keinen besseren Treffpunkt finden. Auf wundersame<br />

Weise hat sie eine Sprache gefunden, die kunstvoll und<br />

lebensnah zugleich ist. Und das stimmt schon deswegen, weil<br />

diese seltsame Zeit zwischen Kindheit und dem, was sich früher<br />

einstellt, als alle wahrhaben wollen, dadurch auszeichnet,<br />

dass sie eine quälende Ewigkeit zu dauern scheint: „Guten<br />

Tag, sage ich dem Spiegelbild. Wir haben uns doch gestern erst<br />

getroffen – kann das sein? – und den Tag davor.“ Jugend ist etwas,<br />

das bei Laura Naumann schon im Titel weitergewunken<br />

wird. Was Jugend sein soll, will und kann, das haben sie alle<br />

schon tausendfach gehört, aber trotzdem suchen sie vergeblich<br />

nach einem Wir-Gefühl. Und wissen doch, dass sie weiter als<br />

jede Generation vor ihnen von einer Antwort auf die entscheidende<br />

Frage entfernt sind: „Wenn es das Paradies gibt, warum<br />

leben wir dann nicht darin?“<br />

Regie: Alexander Riemenschneider, Bühne: Julia Kurzweg,<br />

Kostüme: Wiebke Warskulat<br />

Mit: Elias Arens, Pia Luise Händler, Barbara Heynen,<br />

Isabell Giebeler, Recardo Koppe, Tino Mewes<br />

Geboren 1970 in Hamburg. Studium der Geschichte, Germanistik und<br />

Philosophie. Regieassistenzen u.a. am <strong>Theater</strong> Heidelberg und Dortmund.<br />

Seither arbeitet er als freier Autor und Regisseur in Hamburg.<br />

Fabelhafte Familie Baader<br />

Die Familie Baader könnte ja vielleicht eine beliebige Familie<br />

sein. Ist sie aber nicht. Der Mann heißt Andreas, die Frau Gudrun,<br />

er liebt schnelle Autos, sie ist Pfarrerstochter, da sind Missverständnisse<br />

ausgeschlossen. Aber sonst stimmt wirklich<br />

nichts. Er macht Karriere, sie wünscht sich ein Kind, und es ist,<br />

als habe die Weltgeschichte versehentlich die RAF übersprungen<br />

und ihren Helden den Zahn des Terrorismus gezogen. Das<br />

ist entweder blühender Unsinn – oder eine sehr smarte Art, der<br />

Sache doch noch mal etwas Neues abzugewinnen. Weil Carsten<br />

Brandau den überspitzten Irrsinn von Karriere- und Kinderträumen<br />

gleich auf mehrere Arten durchlöchert. Zum einen, weil er<br />

sich selbst in sein Stück hineinschreibt als Sekretär von Baader,<br />

den dieser penetrant Frau Brandau nennt. Und zum anderen,<br />

weil die Geister der verleugneten Vergangenheit dann doch<br />

ein höchst explosives Eigenleben entfalten, weil Gudrun nicht<br />

nur gerne Bomben bastelt, sondern ihren Körper durch immer<br />

neue Prothesen zerstückelt. Brandau entwirft eine Art „Deconstructing<br />

RAF“, in dem Fassbinders ,Dritte Generation‘ auf David<br />

Cronenberg trifft. Das Ganze ist natürlich die reinste Farce,<br />

die zum Brüllen komisch ist und in der am Ende aber doch keiner<br />

verschont bleibt. Ein kühner Wurf, der schon deswegen überzeugt,<br />

weil er anders als zuletzt das Kino darauf vertraut, dass<br />

man das, was man weiß, nicht nochmal zeigen muss, sondern<br />

als Sprungbrett nehmen darf für die irrsten Phantasien.<br />

Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Nikolaus Frinke,<br />

Kostüme: Camilla Daemen<br />

Mit: Elisabeth Brückner, Judith Hofmann,<br />

Alexander Khuon, Jörg Pose<br />

13<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Katharina Schmitt<br />

Geboren 1979, studierte Regie an der Akademie der musischen Künste<br />

Prag. Für ihr Stück ,Knock-out‘ erhielt sie den Lenz-Preis der Stadt<br />

Jena. Zwei weitere Stücke, ,Platz der Republik‘ und zuletzt ,Im Pelz‘,<br />

wurden in Oldenburg und Leipzig uraufgeführt.<br />

Sam<br />

Ein Stück, das sich nicht der Welt als Stoff bedient, sondern<br />

der Kunst. Warum nicht? Manchmal stellt die Kunst die drängenderen<br />

Fragen – und warum sollte man diese Fragen nicht<br />

in Form eines <strong>Theater</strong>stücks stellen? Der taiwanesische Performancekünstler<br />

Teching „Sam“ Hsieh hat sich 1978 für sein<br />

,Cage Piece‘ in der Ecke seines Studios in Tribeca einen hölzernen<br />

Käfig gebaut, in dem er unter notarieller Aufsicht ein ganzes<br />

Jahr zubrachte. Einmal am Tag kam jemand, brachte Nahrung<br />

und machte ein Foto, einmal im Monat konnten Besucher<br />

das „work in progress“ wie in einer Galerie betrachten. Aber<br />

das muss man vielleicht gar nicht wissen, denn die Situation, ihre<br />

Bedingungen und ihre Beschränkungen sind schon Teil des<br />

Abenteuers, das Katharina Schmitts Stück bedeutet. Sie durchbricht<br />

die soziale Isolation der Vorlage, indem sie den Gefangenen<br />

seiner selbst in einen Dialog mit einem stummen Publikum<br />

treten lässt. Er ermuntert zu Fragen, deren Antworten wir uns<br />

selbst geben müssen, und er stellt uns Fragen – und stellt uns<br />

in Frage. Die entscheidende lautet: „Was tun Sie mit Ihrer Lebenszeit?“<br />

Das ist natürlich gerade im <strong>Theater</strong> eine interessante<br />

Frage. Und das Verzwickte an Katharina Schmitts Gesprächsanordnung<br />

ist, dass sie dem blutigen Ernst der Performance mit<br />

der fast schon frivolen Frevelhaftigkeit des Spiels beizukommen<br />

versucht. Alles eine Frage der Performance.<br />

Regie: Sebastian Hartmann, Bühne und Licht:<br />

Lothar Baumgarten, Kostüme: Sabine Eckert,<br />

Musik: Alexander Nemitz<br />

Mit: Samuel Finzi


programm autorentheatertage<br />

box<br />

deutsches theater kammerspiele<br />

19.30 – 21.30 Uhr - 19€<br />

Volkstheater Rostock<br />

Alles offen<br />

Rostocker Geschichten<br />

aus der Zeitenwende<br />

von Tobias Rausch<br />

Regie: Tobias Rausch<br />

21.45 Uhr Nachgespräch, Saal<br />

17.30 – 18.30 Uhr / 19.30 – 20.00 Uhr<br />

<strong>DT</strong>-Vorplatz, bei Regen im Saal<br />

Fun Horns – Natural Music<br />

18.30 Uhr - Saal<br />

Eröffnung mit Michael Althen,<br />

Ulrich Khuon und André Schmitz<br />

20.00 – 22.00 Uhr - Berlin-Premiere - A<br />

Das letzte Feuer<br />

von Dea Loher<br />

Regie: Andreas Kriegenburg<br />

Donnerstag<br />

19.00 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

19.30 – 21.30 Uhr - 19€<br />

Volkstheater Rostock<br />

Alles offen<br />

von Tobias Rausch<br />

18.00 – 19.00 Uhr - C - Staatsschauspiel Dresden<br />

Zukunft für immer<br />

von Martin Heckmanns<br />

Regie: Simone Blattner<br />

19.30 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

20.00 – 22.30 Uhr - C - <strong>Theater</strong>haus Jena<br />

Villa Dolorosa<br />

von Rebekka Kricheldorf<br />

Regie: Markus Heinzelmann<br />

Freitag<br />

19.15/20.00/20.45/22.00 Uhr, Box Auschnitte aus:<br />

Glaube Liebe Hoffnung<br />

4x Liebe<br />

gespielt und gelesen<br />

von N. Seelig und A. Khuon<br />

lange nacht der opern und theater<br />

19.00 – 19.45 Uhr und 21.30 – 22.15 Uhr<br />

Ganze Wahrheiten<br />

von Sathyan Ramesh, Regie: Stephan Kimmig<br />

15.30 Uhr - Einführung - Saal<br />

16.00 – 18.00 Uhr - A - Münchner Kammerspiele<br />

Rechnitz (Der Würgeengel)<br />

von Elfriede Jelinek<br />

Regie: Jossi Wieler<br />

22.30 Uhr - Bar: Super Disco Française<br />

Je danse donc je suis<br />

20.30 – 21.00 Uhr und 23.00 – 23.30 Uhr<br />

Der Weg zum Glück<br />

von Ingrid Lausund<br />

mit Bernd Moss<br />

18.30 Uhr - Saal - Eintritt frei<br />

Open Mike<br />

Samstag<br />

20.00 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

20.30 – 22.00 Uhr - 19€<br />

Schauspielhaus Zürich<br />

Im Wald ist man nicht verabredet<br />

von Anne Nather<br />

Regie: Daniela Löffner<br />

18.00 – 19.30 Uhr - A - <strong>Theater</strong> Neumarkt Zürich<br />

Das Interview<br />

nach Theo van Gogh und<br />

dem Drehbuch von Theodor Holman<br />

Regie: Martin Kušej<br />

11.00 – 16.00 Uhr - Saal - 12€; erm. 6€<br />

Elfriede Jelinek – Dea Loher<br />

Symposium in Kooperation mit der FU Berlin<br />

20.30 – 22.00 Uhr - A - <strong>Theater</strong> Neumarkt Zürich<br />

Das Interview<br />

nach Theo van Gogh<br />

20.00 – 21.45 Uhr - A - Burgtheater Wien<br />

Adam Geist<br />

von Dea Loher<br />

Regie: David Bösch<br />

22.00 Uhr - Nachgespräch - Saal<br />

Sonntag<br />

19.30 – 22.00 Uhr - Treffpunkt Kassenhalle - 25€<br />

Schauspielhaus Zürich<br />

Rechnitz (Der Würgeengel)<br />

von Elfriede Jelinek<br />

Regie: Leonhard Koppelmann<br />

Montag<br />

19.30 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

20.00 – 21.30 Uhr - 19€<br />

Schauspiel Frankfurt<br />

Das blaue blaue Meer<br />

von Nis-Momme Stockmann<br />

Regie: Marc Lunghuß<br />

20.00 – 22.00 Uhr - B - Schauspiel Hannover<br />

Die Schöpfer der Einkaufswelten<br />

Quasi-maoistisches Lehrstück nach dem<br />

Dokumentarfilm von Harun Farocki<br />

Regie: Tom Kühnel<br />

19.00 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

19.30 Uhr - B - Staatstheater Stuttgart<br />

Hauptsache Arbeit!<br />

von Sibylle Berg<br />

Regie: Hasko Weber<br />

20.30 – 23.00 Uhr - Treffpunkt Kassenhalle - 25€<br />

Schauspielhaus Zürich<br />

Rechnitz (Der Würgeengel)<br />

von Elfriede Jelinek<br />

Regie: Leonhard Koppelmann<br />

Dienstag<br />

20.00 – 21.30 Uhr - 19€<br />

Schauspiel Frankfurt<br />

Das blaue blaue Meer<br />

von Nis-Momme Stockmann<br />

19.30 – 21.30 Uhr - B - Schauspiel Hannover<br />

Die Schöpfer der Einkaufswelten<br />

Quasi-maoistisches Lehrstück nach dem<br />

Dokumentarfilm von Harun Farocki<br />

21.45 Uhr - Nachgespräch - Saal<br />

19.30 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

20.00 Uhr - B - Schauspielhaus Hamburg<br />

Mädchen in Uniform –<br />

Wege aus der Selbstverwirklichung<br />

von René Pollesch nach Christa Winsloe<br />

Regie: René Pollesch<br />

Mittwoch<br />

20 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

20.30 – 22.00 Uhr - 19€<br />

Stadttheater Bern<br />

Der goldene Drache<br />

von Roland Schimmelpfennig<br />

Regie: Matthias Kaschig<br />

18.00 – 21.30 Uhr - A - <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong> Berlin<br />

Diebe<br />

von Dea Loher<br />

Regie: Andreas Kriegenburg<br />

Donnerstag<br />

20.00 – 21.30 Uhr - 19€<br />

Stadttheater Bern<br />

Der goldene Drache<br />

von Roland Schimmelpfennig<br />

21.45 Uhr - Nachgespräch - Saal<br />

18.00 – 19.30 Uhr - C - Staatstheater Stuttgart<br />

Fundament<br />

von Jan Neumann<br />

Regie: Jan Neumann<br />

21.00 Uhr - Autorenporträt - Saal<br />

Freitag<br />

21.30 – 23.00 Uhr - C<br />

Fundament<br />

Stiftung<br />

M a r a & H o l g e r C a s s e n s<br />

18.00 – 19.00 Uhr<br />

<strong>DT</strong>-Vorplatz - bei Regen im Saal<br />

Fun Horns – Natural Music<br />

Stiftung<br />

M a r a & H o l g e r C a s s e n s<br />

19.00 Uhr - 20€<br />

Autorentheatertage 20<strong>10</strong><br />

Die lange Nacht der Autoren<br />

Vier Werkstattinszenierungen<br />

der ausgewählten Stücke<br />

Samstag<br />

Medienpartner:<br />

Mit freundlicher finanzieller Unterstützung:<br />

M a r a & H o l g e r C a s s e n s<br />

Stiftung


Michael Gerber<br />

Proben/Anproben<br />

Text lernen<br />

Wenn keine Probe – ausschlafen<br />

Korrespondenz<br />

Fitneß<br />

Lesen<br />

dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 4 dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 4<br />

Susanne Wolff<br />

das wäre bestimmt mal überprüfenswert – auf 8<br />

wochen vormittägliche probenzeit zu verzichten<br />

und sich dann am premierenabend zu treffen. ich<br />

bin dabei… zumindest einmal! ne ne, so ist es ja<br />

nicht. also entweder probe ich… oder nicht. und<br />

wenn nicht, stehe ich auf, natürlich ganz früh…<br />

entschuldigung, ich falle doch immer wieder in eine<br />

gewisse ironie ab, vielleicht weil ich spüre, dass<br />

in dem kleinen vorwurf, den ich meine in der frage<br />

versteckt zu wissen, eine ebenso große wahrheit<br />

liegen könnte… denn ein großteil der arbeit eines<br />

schauspielers liegt wohl im unmessbaren bereich.<br />

und so sitze ich, trinke erst heißes wasser… und<br />

dann welches mit kaffee drin und lerne text oder…<br />

denke… nach… über das stück… meine rolle…<br />

versuche die 120 seiten umfassende materialmappe<br />

der dramaturgie zu lesen… und dann esse ich<br />

müsli!<br />

16<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Die<br />

verbotene<br />

Frage<br />

Diesmal:<br />

Was machen<br />

Sie<br />

eigentlich<br />

vormittags?<br />

Haben Sie auch eine Frage an die Mitarbeiter<br />

des Deutschen <strong>Theater</strong>s?<br />

Dann stellen Sie diese bitte unter:<br />

presse@deutschestheater.de<br />

Judith Hofmann<br />

ich mache das wie die hollywoodstars.<br />

ich habe 2 personaltrainer, die mich früh morgens<br />

wecken und mir auf der geistigen und körperlichen<br />

ebene kleine aufgaben stellen: wie trete ich aus<br />

dem tiefschlaf sofort in eine hellwache kommunikation;<br />

mit welchen mitteln überzeuge ich einen<br />

anderen menschen davon, dinge zu tun, zu denen<br />

er keine lust hat; wie verstecke ich vitamine in einer<br />

pausenbrot-box; wie bringe ich 13 kilo, die sich mit<br />

aller kraft sträuben auf den wickeltisch; in welchem<br />

maß bestimme ich eine situation oder ab wann ist<br />

es sinnvoll, dem chaos seinen freien lauf zu lassen<br />

und sich später darüber gedanken zu machen. dazwischen<br />

muss ich darauf achten, selbst in eine gesellschaftsfähige<br />

form zu kommen und dann geht<br />

es ab an die frische luft.<br />

falls ich keine proben habe, mache ich das, was<br />

alle menschen tun, die einen haushalt haben. ich<br />

überlege mir ausreden, warum ich ihn heute führungslos<br />

lassen kann und wenn ich proben habe,<br />

verschwinde ich nach einer halben stunde tageslicht<br />

in der dunkelheit einer probebühne und komme<br />

da erst wieder raus, wenn mein chef es zulässt.<br />

dann geht es zurück zu meinen trainern, die sich<br />

neue nette sachen ausgedacht haben und entweder<br />

habe ich das glück einen schönen abend mit ihnen<br />

zu hause zu verleben oder ich habe das andere<br />

glück eine vorstellung spielen zu dürfen oder nochmals<br />

zu einer probe gehen zu können.<br />

Jörg Pose<br />

Also, am Vormittag mache ich das: wach werden,<br />

mit meinem Sohn spielen, Text lernen, lesen, den<br />

Briefkasten leeren, wenn ich mich aufraffen kann:<br />

schwimmen, Anrufe tätigen, Kaffee trinken, Probenodernichtproben.<br />

17<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Gabriele Heinz<br />

Am Liebsten:<br />

probieren (vor der Leichtigkeit liegt die Mühe, denn<br />

bevor ein Stück zur Aufführung kommt, wird es in<br />

der Regel 6 – 8 Wochen lang täglich in 1 – 2 Proben<br />

erarbeitet – außer sonntags) – das ist für mich die<br />

spannendste, kreativste Seite des Berufs, wenn gemeinsam<br />

mit den Kollegen und dem Regisseur ein<br />

Text untersucht, interpretiert und spielerisch zum<br />

Leben erweckt wird, dass er uns etwas „angeht“,<br />

berührt, erschüttert, erfreut – was auch immer...<br />

In „probenlosen“ Zeiten, wenn man nicht in einer<br />

neuen Produktion besetzt ist:<br />

Sehr gerne: ausschlafen, lesen, Musik hören, mit<br />

mir lieben Menschen reden, mit dem Kater spielen.<br />

Nicht ganz so gerne: all die alltäglichen Dinge tun,<br />

die alle Leute tun (müssen) – einkaufen, kochen,<br />

waschen, putzen, zu Ämtern gehen usw.


Aus der Fülle des Lebens<br />

Ulrich Khuon über Dea Loher anlässlich der Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2008<br />

Am 8. April hat Dea Lohers ,Das letzte Feuer‘ Berlin-Premiere<br />

im Deutschen <strong>Theater</strong>, Regie führt Andreas Kriegenburg. Für<br />

das Stück wurde Dea Loher 2008 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis<br />

ausgezeichnet. Die Laudatio, hier in Auszügen abgedruckt,<br />

hielt Ulrich Khuon.<br />

„Dea Lohers Stücke erzählen von Schuld und Verantwortung,<br />

von Verrat, persönlichem Versagen und überpersönlichem Unglück,<br />

von Verantwortung und dass man ihr nicht gerecht werden<br />

kann. Und doch ist sie das Gegenteil von schwer. Brecht<br />

sprach davon, dass das weiche Wasser in Bewegung mit der<br />

Zeit den mächtigen Stein besiegt. Aber Dea Loher will nicht siegen,<br />

vielleicht will sie aufmerksam machen, sicher will sie etwas<br />

zum Ausdruck bringen, um die empfundene Last zu verlagern<br />

vom Leben ins Schreiben, von der einen auf die andere<br />

Schulter. Ihr <strong>Theater</strong> hat mit meist schmerzhaft empfundener<br />

Körperlichkeit zu tun. In einem Interview erzählt sie von einer<br />

prägenden Kindheitserinnerung im väterlichen Forsthaus in<br />

Traunstein. „Bei uns zu Hause gab’s keinen Bücherschrank im<br />

Wohnzimmer, sondern einen Gewehrschrank. Und es war ganz<br />

normal, dass morgens, wenn ich aufstand und ins Badezimmer<br />

ging, ein Kadaver mit abgehacktem Kopf in der Wanne lag, aus<br />

dem so langsam das Blut raus floss“.<br />

Der physische Eindruck davon, was Tod und Kreatürlichkeit<br />

sind, verbunden mit der bigotten Religiosität ihrer Heimat, also<br />

der urkatholischen Leugnung von Körperlichkeit, diese paradoxe<br />

Parallelerfahrung könnte ein früher Schreibanlass gewesen<br />

sein. Ich kenne keine Literatur, in der Schmerzen für den Leser<br />

so physisch spürbar werden, die Körper so im Zentrum des Erlebens<br />

stehen wie bei Dea Loher. Schon ‚Olgas Raum‘ erzählt von<br />

Verfolgung und Folter, in ‚Tätowierung‘ ist es der Missbrauch<br />

durch den Vater, der das Kind zerstört, in der ‚Berliner Geschichte’<br />

ist es der körperlich empfundene Lärm der Stadt und des<br />

Wohnhauses bei gleichzeitiger Isolation, bei ‚Adam Geist‘ eine<br />

ganze Kette von Gewalttaten, die die Titelfigur vom Gequälten<br />

zum Täter machen. Frau Zucker in ‚Unschuld‘ löst sich in<br />

ihrer gleichnamigen Krankheit quasi auf. Und in ,<strong>Magazin</strong> des<br />

Glücks‘, einer Serie kleiner, szenischer Meisterwerke, die die<br />

<strong>Theater</strong> bisher unterschätzt haben, geht es in ‚Hände’ um fremde,<br />

transplantierte Gliedmaßen und darum, wie sehr Körper und<br />

Ich-Empfinden zusammen hängen.<br />

Dea Loher schärft die Wahrnehmung dafür, was <strong>Theater</strong><br />

vermag, wenn es von der Malträtiertheit der Leiber erzählt. Als<br />

Zuschauer zerreißt es einen fast vor Schmerz, wenn Andreas<br />

Kriegenburg in seiner Inszenierung von ‚Das Leben auf der Praça<br />

Roosevelt‘ am Ende das ganze Ensemble den Darsteller des Mirador<br />

weiß schminken lässt, während gleichzeitig die Geschichte<br />

seiner nicht enden wollenden Tortur und tödlichen Folter erzählt<br />

wird. Dea Lohers <strong>Theater</strong> ist ein <strong>Theater</strong> des Mitleidens<br />

und der Mitleidenschaft. Sie ist nicht die Mater Dolorosa der<br />

Literatur, wie es irgendwo ironisch hieß, sondern von einer Klarheit,<br />

die wir aus Gottfried Benns kühlen Körperbeobachtungen<br />

kennen. Und gleichzeitig provoziert ihre Erfahrung von<br />

Leid eine Art negative Theologie, einen Schrei an den abwesenden<br />

Gott. Die Körper erzählen ihre eigene Wahrheit, die einer<br />

schmerzenden Verlassenheit.<br />

Das letzte Feuer - von Dea Loher<br />

18<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Es gibt aber noch einen anderen Impuls, der Dea Lohers<br />

Schreiben bestimmt. Sie ist viel unterwegs in Brasilien, Afghanistan,<br />

Mexiko, Israel. Fremdsein empfinde sie als Erleichterung,<br />

hat sie gesagt. Schon der Weg zum Bahnhof hin sei eine<br />

Befreiung: „Erstmal nichts empfinden müssen und sich dann<br />

ins Unbekannte hineinforschen zu dürfen, das ist wie Sauerstoff-Zufuhr.“<br />

Diese Erfahrung des Fremdseins, der Luxus<br />

des „Kunstschaffens“ und des Fragenstellen-Dürfens, dieser<br />

„Quälfragenmist“ muss wieder in die Kunst zurückgeführt werden.<br />

Eine Kunst, deren Schönheit nichts mit ästhetischen Normen<br />

oder gar Erhabenheit zu tun hat, sondern mit der Fülle des<br />

Lebens. Die Schönheit dieser Kunst ist ohne Spuren von Leid<br />

nicht vorstellbar. Der Reichtum der darauf reagierenden Künstlerin<br />

haust in der Sprache und Mitleidenschaft. Hölle, sagt Dea<br />

Loher, wäre demnach der Ort, wo Kunst aktiv und passiv verboten<br />

sei. Sie spricht davon, dass der Künstler auch Rückzugsräume<br />

braucht, die voll Glück und Ruhe sein dürfen oder zumindest<br />

der Ahnung davon. Seligkeit würde Katherine Mansfield dieses<br />

Gefühl nennen. Und ich weiß jetzt, warum mir Dea so leicht<br />

und glücksempfänglich vorkommt, obwohl ich um ihre Schmerzempfindlichkeit<br />

weiß. Ja, es gibt in ihren Stücken Schuld, die<br />

Angst, sich zu verlieren, Figuren, die nicht zur Ruhe kommen<br />

und sich wundern, was sie alles aushalten. Dann wieder sagt eine<br />

von ihnen: „Ich mach es wie die Vögel im Herbst, warte auf<br />

den richtigen Wind und schwing mich und flieg davon“. Das ist<br />

der letzte Satz im ‚Letzten Feuer‘. Und der in ,Unschuld‘ – Elisio<br />

sagt ihn – lautet: „Ich wäre gern ein Rettungsschwimmer“.<br />

Ich freue mich unbändig, dass die Rettungsschwimmerin Dea<br />

Loher den wichtigen Mülheimer Dramatikerpreis, nachdem sie<br />

zum sechsten Mal eingeladen war, nach zehn Jahren nun zum<br />

zweiten Mal erhält.“<br />

Das letzte Feuer<br />

von Dea Loher<br />

Ein abgelegenes Viertel am Rande der Stadt. Bei einem Autounfall kommt<br />

ein achtjähriger Junge ums Leben. Rabe, der Fremde, ist der einzige<br />

Zeuge. Den ehemaligen Soldaten hat es in dieses urbane Brachland verschlagen.<br />

Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Bald verändern sich<br />

die Beziehungen der Bewohner des Viertels, ihre Verhältnisse werden<br />

brüchiger, ihre Existenzen gefährdeter. Ist es das Unglück, der Tod des<br />

Kindes, der ihre Lebenswelten durchwebt? Oder entfalten Rabes Anwesenheit<br />

und sein Einfluss eine langsame, zerstörerische Wirkung? Mehr<br />

und mehr verwehen alle Hoffnungen auf ein besseres Leben. – In ,Das letzte<br />

Feuer‘ erzählt Dea Loher von Menschen an der Grenze zum Vergessen,<br />

von Schuld, Erinnerung und der Sehnsucht nach einer Begegnung jenseits<br />

des Schmerzes. Andreas Kriegenburg erhielt für seine Inszenierung des<br />

Stücks 2008 am Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg den Deutschen <strong>Theater</strong>preis<br />

‚Der Faust‘ in der Kategorie ‚Beste Regie Schauspiel‘.<br />

Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Andrea<br />

Schraad, Musik: Laurent Simonetti, Dramaturgie: Claus Caesar<br />

Es spielen: Sandra Flubacher, Lisa Hagmeister, Hans Löw,<br />

Katharina Matz, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose, Natali Seelig,<br />

Matthieu Svetchine, Angelika Thomas, Susanne Wolff<br />

Berlin-Premiere am 8. April, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />

Übernahme vom Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg Jörg Pose in ,Das letzte Feuer‘ von Dea Loher<br />

19<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


Maria Stuart will ihre Großcousine, die englische Königin Elisabeth,<br />

nach 18 Jahren Haft um Gnade bitten. Sie hofft auf ihre<br />

Freiheit, erniedrigt sich vor Elisabeth und bietet an, auf ihr<br />

Thron-Anrecht zu verzichten. Doch die Machthaberin lehnt den<br />

Gnadenakt ab. Sie gibt vor, den protestantischen Staat vor dem<br />

Einfluss der Katholikin schützen zu müssen: „Gewalt nur ist<br />

die einzge Sicherheit / Kein Bündnis ist mit dem Gezücht der<br />

Schlangen“. Als Elisabeth dann noch, das politische Thema<br />

verlassend, beginnt, Maria als Hure zu diffamieren, bricht aus<br />

Maria der bis dahin unterdrückte Hass hervor. Sie holt sich ihre<br />

Würde zurück, widerruft ihren Thronverzicht und beschimpft<br />

Englands Königin als Bastard. „Regierte Recht, so läget Ihr jetzt<br />

vor mir / Im Staube jetzt, denn ich bin Euer König.“<br />

Schiller hat die Begegnung der beiden Rivalinnen erfunden –<br />

tatsächlich sind sich die Königinnen nie begegnet – und so einen<br />

dramatischen Höhepunkt in dem Stück geschaffen, der wie<br />

alle Hoffnungsmomente in dem dramaturgisch exzellent gebauten<br />

Trauerspiel in der Katastrophe endet.<br />

Bereits nach der Beendigung von ‚Kabale und Liebe‘ plante<br />

Schiller 1783 ein Drama über die schottische Königin. Für ihn<br />

bestand die Herausforderung bei der Bearbeitung des Stoffes<br />

darin, „dass man die Katastrophe gleich in den ersten Szenen<br />

sieht, und, indem die Handlung des Stückes sich davon wegzubewegen<br />

scheint, ihr immer näher und näher geführt wird,“ wie<br />

er 1799 in einem Brief an Goethe schrieb. Sein Trauerspiel beginnt<br />

drei Tage vor Maria Stuarts Hinrichtung. Es erzählt von<br />

der Eingekerkerten und ihrem Versuch, das bereits verkündete<br />

Todesurteil abzuwenden. Währenddessen ringen verschiedene<br />

politische Kräfte, je nach Interessenlage, entweder um die<br />

Befreiung oder die baldige Hinrichtung der Gefangenen. Elisabeth,<br />

von diesen Kräften umgeben, schwankt. Mehrfach wird<br />

im Stück auf ihre Qualitäten als Regentin hingewiesen, dennoch<br />

wirkt sie unsympathisch. Schiller zeigt, dass man nicht Politik<br />

machen kann, ohne Schaden an der eigenen Persönlichkeit zu<br />

nehmen. Ein Befreiungsversuch und ein Mordkomplott schlagen<br />

fehl. Letztlich unterschreibt Elisabeth die Hinrichtungsurkunde<br />

und Maria Stuarts Kopf fällt. Die historische Maria Stuart<br />

wurde im September 1586 des Hochverrats für schuldig befunden.<br />

Erst Monate später, am 1. Februar 1587, unterzeichnete<br />

Elisabeth die Hinrichtungsurkunde, und Maria Stuart starb am<br />

8. Februar 1587 auf dem Schafott.<br />

Maria Stuart - von Friedrich Schiller<br />

Gewalt nur ist die einzge Sicherheit<br />

Schillers ‚Maria Stuart‘ fragt nach dem Verhältnis von Macht, Angst und Moral<br />

Schillers Königinnendrama stellt die Frage nach dem Verhältnis<br />

von Macht und Moral, nach moralischer Integrität, auch<br />

die Frage, welche Opfer für moralische Integrität erforderlich<br />

sind. Das Stück beschreibt den Einfluss von ganz privaten Gefühlen<br />

und Interessen auf Politik: die Eifersucht auf einen Mann,<br />

auf die gelebte Liebe, Jugend und Schönheit. Gleichzeitig schüren<br />

Vertreter der verschiedenen Parteien Angst und Panik,<br />

um die politischen Prozesse den eigenen Interessen gemäß zu<br />

manipulieren.<br />

Erst im Angesicht des Todes findet Maria Stuart ihren Frieden<br />

und vergibt Elisabeth. Sie akzeptiert ihre Hinrichtung, zwar<br />

nicht aufgrund des Hochverratvorwurfs, aber doch als Sühne<br />

für die Schuld am Tod ihres früheren Ehemannes. Dieses Einverständnis<br />

ist ein Moment innerer Freiheit, von Schiller positiv gezeichnet,<br />

in dem alle Angst von Maria abfällt, und es ist zugleich<br />

ein Verzicht auf alle Welt zugunsten der Moral. Darin drückt sich<br />

eine tiefe Skepsis Schillers gegenüber der Möglichkeit moralischen<br />

politischen Handelns aus, zu der nicht zuletzt die Pervertierung<br />

der Französischen Revolution beigetragen hat.<br />

Es sind dies Zweifel, die uns heute, in anderer Form, wieder<br />

begegnen: In der Abwendung von Politik, in Demokratiebeschimpfung,<br />

in der Konsens-Verachtung, die sich breit macht.<br />

Vielleicht kommt es darauf an, ‚Maria Stuart’ darauf hin zu befragen,<br />

ob dieser Zweifel, der auch alle anderen Figuren begleitet,<br />

an ihrer Spitze Elisabeth und den potentiellen Extremisten<br />

Mortimer, ob dieser Zweifel also tatsächlich Schillers letztes<br />

Wort ist. Auch um der immer stärker um sich greifenden Angst<br />

etwas entgegenzusetzen. Juliane Koepp<br />

Maria Stuart<br />

von Friedrich Schiller<br />

Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes,<br />

Musik: Michael Verhovec, Video: Helena Ratka,<br />

Dramaturgie: Juliane Koepp<br />

Es spielen: Daniel Hoevels, Peter Jordan, Helmut Mooshammer,<br />

Bernd Moss, Katharina Marie Schubert, Asad Schwarz-Msesilamba,<br />

Werner Wölbern, Susanne Wolff<br />

Berlin-Premiere am 23. April, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />

Übernahme vom Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg<br />

Susanne Wolff in ,Maria Stuart‘ von Friedrich Schiller


Für alle reicht es nicht<br />

„mit einem mal bin ich in einer noch viel anderen welt“ sagt Jo in<br />

Dirk Lauckes aktuellem Stück ‚Für alle reicht es nicht‘, das von Grenzen<br />

handelt, von überwundenen Ländergrenzen und scheinbar unüberwindbaren<br />

Gesellschaftsgrenzen, von Deutschland 20 Jahre<br />

nach dem Fall der innerdeutschen Grenze und der Festung Europa.<br />

Die Welt, die für uns Westeuropäer immer enger zusammenwächst<br />

und alle Türen offenhält, ist eben nicht die eine Welt, die eine Wirklichkeit,<br />

die existiert: Für die Ostasiaten, die Jo und Anna in einem<br />

randvoll mit Schmuggelzigaretten befüllten LKW auf einer Landstraße<br />

im Grenzgebiet finden, existiert eine andere Wirklichkeit.<br />

Sie landeten auf ihrer Flucht in eine bessere Welt ausgerechnet im<br />

deutsch-tschechischen Niemandsland, wo die großen Erdbeerplantagen<br />

längst ausrangiert sind und Kleinkriminelle wie Anna und Jo<br />

versuchen, das „ganz große Geschäft“ zu machen. Dabei ist den<br />

beiden der LKW mit der dubiosen Ladung jedoch eine Nummer zu<br />

groß: „das ist nich unser geschäft“. Die Türen bleiben geschlossen,<br />

die Schmuggel-Asiaten mitsamt den Schmuggel-Zigaretten eingeschlossen.<br />

In einem Interview sagt Dirk Laucke: „In meinem Stück geht<br />

es auch um die Mauer zwischen oben und unten. Es geht um die<br />

Versuche, in die Gesellschaft hineinzukommen. Es geht um Flüchtlinge,<br />

die in diese sogenannte Freiheit des Wohlstandes wollen, es<br />

geht aber auch um die Flüchtlinge, die diese Freiheit noch vor dem<br />

Fall der Mauer erlangen wollten.“ Beim Versuch, Mauern zu überwinden,<br />

stoßen alle Figuren in ‚Für alle reicht es nicht’ an eine ganz<br />

besonders hohe Mauer: die Mauer des Kapitals. Sie wollen sie erklimmen,<br />

wollen aufsteigen und werden doch immer wieder an ihr<br />

scheitern. Geschäfte machen, möglichst das „ganz große Ding“,<br />

ist das ersehnte Ziel aller Figuren. So wollen Jo und Anna durch Zigarettenschmuggel<br />

Geld verdienen, Heiner, ein ehemaliger NVA-<br />

Offizier, will durch Panzertourismus seinen finanziellen Traum mit<br />

dem Traum der weiterrollenden NVA-Panzer verbinden, und die<br />

Ostasiaten, so lässt sich vermuten, wollen bzw. müssen als illegale<br />

Schwarzarbeiter in der Landwirtschaft an ihrem großen Glück arbeiten.<br />

Sie träumen, treten doch alle auf der Stelle und man ahnt, dass<br />

Für alle reicht es nicht - von Dirk Laucke<br />

22<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

sie ihre Träume nie verwirklichen werden können. Auch wenn Ländergrenzen<br />

für uns Westeuropäer keine Hürde mehr darstellen, gibt<br />

es doch gesellschaftliche Grenzen zwischen oben und unten, zwischen<br />

arm und reich oder zwischen erfolglos und erfolgreich. „der<br />

sinn heißt überschreiten“ sagt Jo auf die Frage nach dem Sinn der<br />

Grenzen, nach dem er immer gesucht habe. Doch auch das Überwinden<br />

der Grenzen, die Suche nach dem Neuen, das scheinbar Unerreichbare<br />

führt letztendlich zur bitteren Erkenntnis: Für alle reicht<br />

es nicht.<br />

Dirk Lauckes Figuren stehen zwischen naiver Träumerei von einem<br />

besseren Leben und der bodenständigen Resignation in einem<br />

Niemandsland, etwas verloren, heimatlos und doch mit einer nicht<br />

unterzukriegenden Hoffnung. Beschäftigt mit sich und ihren eigenen<br />

Problemen, ihrer Erinnerung an die Vergangenheit und ihren Erwartungen<br />

an die Zukunft, vergessen sie, dass die „Fidschis“ – wie<br />

sie die Ostasiaten nennen – im LKW hinter ihnen fast ersticken. Zynische<br />

Pointe und doch grausame Realität unserer Gegenwart: Die,<br />

die nach Europa kommen wollen, bleiben in der Realität genauso<br />

wie im Text bei Laucke gesichtslos, eine abstrakte Zahl, was für den<br />

Autor unserem Umgang mit dem „Massengrab Mittelmeer“ entspricht.<br />

Die Menschen, die aus dem Handel mit anderen Menschen<br />

Profit schöpfen, bleiben bei Laucke ebenso anonym wie ungreifbar;<br />

einen LKW-Fahrer gibt es nicht. Ulrich Beck<br />

Für alle reicht es nicht<br />

von Dirk Laucke<br />

Regie: Sabine Auf der Heyde, Bühne und Kostüme: Ann Heine,<br />

Musik: Jacob Suske, Dramaturgie: Ulrich Beck<br />

Es spielen: Isabel Schosnig, Paul Schröder,<br />

Bernd Stempel, Katrin Wichmann<br />

Premiere am 24. April 20<strong>10</strong>, Box<br />

Isabel Schosnig, Bernd Stempel, Katrin Wichmann, Paul Schröder<br />

Christoph Franken, Mike Adler, Johannes Schäfer, Olivia Gräser, Ulrich Matthes, Matthias Neukirch, Claudia Eisinger<br />

Ein One-Night-Stand, ein schwangeres Mä d -<br />

chen und ihr adliger Liebhaber. Eine versprochene<br />

Ehe, ein auf die Ehre seiner Tochter<br />

bedachter Vater und eine Intrige. Und<br />

am Ende: ein totes Kind. Kraftvoll-überbordend<br />

und mit einer Sprache, die soziale Unterschiede<br />

präzise ausdifferenziert, erzählt<br />

Heinrich Leopold Wagner in seinem bürgerlichen<br />

Trauerspiel ‚Die Kindermörderin‘<br />

(1776) von der Geschichte einer Liebe, die<br />

an Standesgrenzen und unterschiedlichen<br />

Wertvorstellungen scheitert. Für das Deutsche<br />

<strong>Theater</strong> Berlin überschreibt der Regisseur<br />

und Autor Nuran David Calis das Sturm<br />

und Drang-Drama Wagners und holt es in<br />

die Gegenwart der Städte.<br />

Eva, Tochter aus bestem Hause, trifft Grönsbeck,<br />

den Türsteher vom Club, und verliebt<br />

sich in ihn. Doch da ist auch noch der Magista,<br />

ein Geschäftspartner ihres Vaters, dem<br />

sie ebenfalls zugeneigt ist. Eva weiß, wie<br />

sehr ihr Vater Humbrecht diese Verbindung<br />

schätzt, und sie ahnt auch, warum. Nach<br />

dem frühen Tod seiner Frau möchte Humbrecht<br />

nicht auch noch seine Tochter einbüßen,<br />

verlieren an ein anderes Leben. Für<br />

ihn böte der Magista die Garantie, dass alles<br />

bleibt, wie es ist. Dann erklärt Grönsbeck,<br />

er wolle für das Ungeborene einstehen. Und<br />

verschwindet in den Süden, um Geld zu verdienen.<br />

Eva wird warten. Sich dem Vater offenbaren<br />

und der Freundin. Und doch am<br />

Ende zerbrechen.<br />

Schattenkinder - von Nuran David Calis<br />

Immer noch besser<br />

funktionieren<br />

In zentralen Aspekten folgt Nuran David<br />

Calis’ Überschreibung des Stücks dem<br />

Plot Wagners, und es folgt auch den zen-<br />

tralen Figurenkonstellationen, wenngleich<br />

es sie reformuliert. So wird etwa die weibliche<br />

Hauptfigur Eva bei Calis von der Kleinbürgertochter<br />

zur sozial Höhergestellten,<br />

Grönsbeck hingegen vom adligen Leutnant<br />

zum Underdog von der Straße und der Magista<br />

zu dessen ernsthaftem Rivalen, begabt<br />

mit einem langen Atem. Calis übersetzt die<br />

unüberwindbar erscheinenden Standesunterschiede<br />

des bürgerlichen Trauerspiels in<br />

soziale Differenzen, die zwar eine Rolle spielen<br />

bei der Frage, wie man mit jemandem<br />

umgeht, die jedoch weitaus durchlässiger<br />

anmuten als in Wagners Stück.<br />

Ähnlich auch die Umschrift, die Calis<br />

mit den rigiden Moralvorstellungen Humbrechts<br />

unternimmt. Dienten sie im bürgerlichen<br />

Trauerspiel dazu, das (klein)<br />

bürgerliche Individuum vom als obszön<br />

wahrgenommenen Adel abzuheben – und<br />

brachten sie umgekehrt in Wagners Stück<br />

die Angst Evchens hervor, die sie dann zum<br />

Kindsmord treibt –, so treten bei Calis die<br />

(wirtschaftlichen) Interessen, die Moral seit<br />

jeher begleiten, unverstellter zutage. Humbrecht<br />

kann – in Calis’ Version – einen falschen<br />

Schwiegersohn auch deshalb nicht<br />

akzeptieren, weil er befürchtet, dadurch<br />

ökonomische Nachteile zu erleiden.<br />

,Die Kindermörderin‘ erregte seinerzeit nicht<br />

nur Aufsehen, weil Wagner auf der Bühne<br />

für Figuren der Unterschicht etwas ande-<br />

23<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

res vorsah als ein Dienstbotendasein. Er erhob<br />

mit seinem Stück auch Einspruch gegen<br />

ein Wertesystem, das für „gefallene“ Frauen<br />

lediglich gesellschaftliche Ächtung kannte.<br />

Demgegenüber stehen uns Heutigen, so<br />

scheint es zumindest, in Zwangssituationen<br />

größere Handlungsspielräume zur Verfügung.<br />

Dass Eva ihr Kind umbringt, würde<br />

mittlerweile wohl eher als individuelles Versagen<br />

verbucht, nicht mehr als Symp-tom<br />

eines gesellschaftlichen Zustands. Doch<br />

der Druck auf den Einzelnen, so Calis’ These,<br />

ist nicht gewichen, er hat sich nur verändert.<br />

Wurden zu Wagners Zeiten die Erwartungen<br />

und Forderungen, wie man zu leben<br />

hat, von außen an die Individuen herangetragen,<br />

so haben wir entsprechende Erwartungen<br />

mittlerweile internalisiert: sie zu unseren<br />

eigenen gemacht. Man kann immer<br />

ein noch perfekterer Körper, ein noch flexiblerer<br />

Mensch, eine noch bessere Tochter<br />

sein, immer noch besser funktionieren. Und<br />

an dieser beständigen, niemals endenden<br />

Selbstaufforderung dann kaputt gehen.<br />

Claus Caesar<br />

Schattenkinder<br />

von Nuran David Calis<br />

Frei nach Motiven von Heinrich Leopold Wagners<br />

‚Die Kindermörderin‘<br />

Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz,<br />

Musik: Vivan Bhatti, Dramaturgie: Claus Caesar,<br />

Es spielen: Mike Adler, Claudia Eisinger, Christoph<br />

Franken, Olivia Gräser, Ulrich Matthes, Matthias<br />

Neukirch, Johannes Schäfer<br />

Premiere am 6. Mai 20<strong>10</strong>, Kammerspiele


Schwarzes Tier Traurigkeit - von Anja Hilling<br />

„Nicht das, was ist,<br />

gibt dem Handeln<br />

Orientierung, sondern das,<br />

was werden soll.“<br />

Jorinde Dröse über Sehnsucht nach Gegenwart und die<br />

Poesie der Grausamkeit in Anja Hillings ,Schwarzes Tier Traurigkeit‘<br />

Die in Berlin lebende Anja Hilling gehört zu den erfolgreichsten<br />

Autorinnen ihrer Generation. Ihr Stück ,Schwarzes Tier Traurigkeit‘<br />

erzählt von einer Katastrophe, die das Leben von sechs<br />

Freunden unwiderruflich verändert.<br />

Anja Hillings Stück beschreibt eine Grillparty von sechs<br />

Freunden, nach der nachts ein Brand ausbricht. Ist das für<br />

dich ein Waldbrand oder ein Zeichen für etwas anderes?<br />

Jorinde Dröse: Die sechs Freunde kommen aus der Stadt und<br />

wollen seit langem mal wieder einen Abend im Freien verbringen<br />

– den Alltag hinter sich lassen, in die Sterne sehen, träumen.<br />

Sie sind sorglos. Sie sind alle liiert, lieben mehr oder weniger,<br />

haben einen Job oder eine Aufgabe im Leben. Ihre Leben<br />

scheinen erfüllt und unbedroht. Dann lösen sie diesen Waldbrand<br />

aus und plötzlich verwandelt sich die Idylle in ein Labyrinth,<br />

aus dem sie nur schwer verletzt wieder herausfinden. Der<br />

Brand versengt nicht nur ihre Körper, er verbrennt auch ihre<br />

Sorglosigkeit, und die Endlichkeit ihrer Existenz wird fühlbar.<br />

Ihr Bedürfnis nach Freiheit verursacht den Tod vieler Lebewesen<br />

und die Zerstörung eines Lebensraumes. Diese Sehnsucht<br />

nach Gegenwart, nach dem Sich-Fühlen im Augenblick einerseits<br />

und die destruktiven Folgen, die andererseits daraus entstehen,<br />

das ist eine sehr treffende Zustandsbeschreibung für<br />

unsere heutige Existenz.<br />

Ist das Stück nicht eine Erzählung über eine äußerst unwahrscheinliche<br />

Katastrophe?<br />

Wie unwahrscheinlich sind gerade heute Katastrophen? Im<br />

Sommer brennen die Wälder in Spanien, Frankreich und in den<br />

USA, sie verschlingen riesige Landstriche. Erdbeben, Tsunamis,<br />

Wirbelstürme sind immer häufiger auftretende Naturkatastrophen.<br />

Unsereins sitzt vor dem Fernseher und fühlt sich sicher.<br />

Wer will denn schon auf Fleisch, ein Auto, Plastiktüten verzichten,<br />

nur weil irgendwelche nicht vorstellbaren Prognosen voraussagen,<br />

dass die Erderwärmung katastrophale Folgen haben<br />

24<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

wird. Wenn ich mit Freunden darüber rede, höre ich: „Ist doch<br />

super, dann haben wir in Hamburg ein Klima wie in der Toskana,<br />

und die Skandinavier können Wein anbauen!“<br />

Wie würdest du Anja Hillings Sprachstil beschreiben?<br />

Das Stück gliedert sich in drei Teile – das Picknick, der Brand<br />

und das Leben danach. Sie wählt für jeden Teil eine andere dramatische<br />

Form. Das Picknick ist ein leichter, komödiantischer<br />

Dialog zwischen den sechs Figuren. Sehr amüsant, fast schon<br />

wie eine Komödie von Albee. Der zweite Teil ist geprägt von Gedankenstrichen.<br />

Eine detailgenaue Beschreibung dessen, wie<br />

die Figuren den Brand wahrnehmen und zu fliehen versuchen.<br />

Das Spannende daran ist, dass es keine Zuteilung des Textes<br />

an die Figuren gibt, und dass Anja Hilling so dem Zustand des<br />

„Aussersichseins“, des „Nichtfassenkönnens“ eine dramatische<br />

Entsprechung gibt. Das Leben danach ist ein Potpourri –<br />

Szenen, Anrufbeantwortertexte, ein Lied und die Beschreibung<br />

einer Ausstellung. Anja Hillings Sprache hat eine große Poesie,<br />

sie ist sehr humorvoll und kann der Grausamkeit eine Schönheit<br />

verleihen.<br />

Und der Trauer.<br />

Es ist tatsächlich ein sehr trauriges Stück. Aber es ist nicht einfach<br />

nur ein Stück über eine Katastrophe, sondern es erzählt viel<br />

über das Leben und das Überleben. Formal ist das Stück eine<br />

Herausforderung. „Nicht das, was ist, gibt dem Handeln Orientierung,<br />

sondern das, was werden soll.“ Fragen: Juliane Koepp<br />

Schwarzes Tier Traurigkeit<br />

von Anja Hilling<br />

Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Johanna Pfau,<br />

Video: Niklas Ritter, Dramaturgie: Juliane Koepp<br />

Es spielen: Harald Baumgartner, Moritz Grove, Judith Hofmann,<br />

Helmut Mooshammer, Bernd Moss, Natali Seelig<br />

Premiere am 6. Juni 20<strong>10</strong>, Kammerspiele<br />

Julia Oschatz, Hermann Heisig, Andrea Schmid, Ina Voigt, Annette C. Daubner, Corinna Harfouch, Anna-Luise Recke, Johannes Gwisdek, M.D.<br />

„Es ist warm in ganz Europa. Auf der Landstraße, neben ihm,<br />

kommen die alliierten Armeen vorbei, die vorrücken. Er ist seit<br />

drei Wochen tot. So ist es, genau das ist passiert. Ich habe eine<br />

Gewissheit. Ich gehe schneller. Sein Mund ist halb geöffnet. Es<br />

ist Abend. Er hat an mich gedacht, bevor er starb. Der Schmerz<br />

ist so groß, er erstickt, er hat keine Luft mehr.“<br />

Im Frühling 1945, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges,<br />

wartet in Paris eine Frau auf die Rückkehr ihres Mannes<br />

aus einem deutschen Konzentrationslager. Die Frau ist eine<br />

junge Schriftstellerin, die unter dem Namen Marguerite Duras<br />

weltberühmt wird. Ihr Mann ist wie sie Mitglied einer französischen<br />

Widerstandsgruppe, die unter der Leitung von François<br />

Mitterrand arbeitet. Nach der Verhaftung von Robert, ihrem<br />

Mann, und der anschließenden Deportation nach Deutschland,<br />

beginnt das Warten. Robert ist nicht im Graben gestorben, wie<br />

es sich Marguerite immer wieder vorstellt. Aber er ist kaum<br />

noch am Leben, als er zu ihr zurückkehrt. Er ist ausgehungert,<br />

krank, nicht wiederzuerkennen. Nach dem Warten beginnt für<br />

Marguerite der Kampf um das Überleben ihres Mannes, der ihr<br />

nah und fremd zugleich ist.<br />

Mit faszinierender Klarheit beschreibt Marguerite Duras<br />

das ganz persönliche Martyrium jener Wochen des Wartens und<br />

Hoffens am Ende des Krieges. Sie berichtet von ihrer Wirklichkeit,<br />

der in ihrem Innern und der äußeren. Sie lebt den Schmerz,<br />

der nicht nur von der Intensität der Ungewissheit abhängt, sondern<br />

ebenso von der Situation, in der er erfahren wird, komplex<br />

Der Schmerz - nach Marguerite Duras<br />

Die Unmöglichkeit<br />

eindeutiger Wahrnehmung<br />

Corinna Harfouch inszeniert<br />

‚Der Schmerz‘ nach Marguerite Duras<br />

25<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

und differenziert. Die Schwierigkeit, Schmerz mitzuteilen, und<br />

die Leichtigkeit, den Schmerz des Anderen zu übersehen, bergen<br />

gleichermaßen die Gefahr, seine Existenz zu leugnen. Duras<br />

begegnet dieser Gefahr durch einen Wechsel der Beobachtung,<br />

durch das Verschieben der Perspektiven auf das Unvorstellbare<br />

und dennoch Mögliche. Sie macht die Unmöglichkeit der<br />

eindeutigen Wahrnehmung sichtbar und befremdet zuerst mit<br />

ihrer Auswahl an Erinnerung, Vergessen, Gedankenspiel, Verhaltensstörung<br />

und Widerspruch. Das Echo einer sich allmählich<br />

verflüchtigenden Wirklichkeit findet in ,Der Schmerz‘ zu seinem<br />

Ursprung zurück und macht ihn kenntlich. Darin liegt die<br />

besondere und andauernde Brisanz des Textes. ‚Der Schmerz‘,<br />

1985 veröffentlicht, ist ein Text, „der in den Zustand des Sichverlierens<br />

versetzt, der Unbehagen erregt, die historischen, kulturellen,<br />

psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit<br />

seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen<br />

erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt.“<br />

(Roland Barthes).<br />

Der Schmerz<br />

nach Marguerite Duras<br />

Regie: Corinna Harfouch, Bühnenbild und Kostüme: Julia Oschatz,<br />

Musik: Johannes Gwisdek, Dramaturgie: Ina Voigt,<br />

Es spielen: Annette C. Daubner, Johannes Gwisdek, Corinna Harfouch,<br />

Hermann Heisig, Julia Oschatz, Anna-Luise Recke<br />

Premiere am 29. Mai 20<strong>10</strong>, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />

Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart


Sie sind ein frisch pensionierter Erdkundelehrer aus Osnabrück,<br />

der gerade mit seiner Ehefrau in ein Hotel einchecken will,<br />

das offensichtlich Ihre Reservierung verschlampt hat.<br />

Sie sind ein Vater, dessen Sohn gerade mit den blauen Flecken<br />

und Schrammen seiner ersten Prügelei nach Hause kommt.<br />

Von der Rolle<br />

<strong>DT</strong>-Schauspieler in Extremsituationen<br />

Diesmal mit: Paul Schröder<br />

Sie sind ein neunjähriger Junge, der einen Tag nach<br />

Weihnachten feststellen muss, dass ausgerechnet sein größter<br />

Rivale aus der Nachbarschaft das Geschenk bekommen hat,<br />

das Ihren eigenen Eltern zu teuer war.<br />

Sie sind Hausmeister an einer Gesamtschule und haben<br />

gerade den Stinkbombenwerfer, den Sie seit Wochen suchen,<br />

auf frischer Tat ertappt.<br />

dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 4<br />

Szenen im <strong>DT</strong><br />

Die Requisiteure befüllen Wannen mit <strong>Theater</strong>blut, in dem die Burgunder<br />

vor ihrem Tode baden werden. Arno Declair hat diesen Moment kurz vor Einlass<br />

des Publikums zur ,Nibelungen‘-Premiere eingefangen.<br />

Mehr Szenen im <strong>DT</strong> unter www.deutschestheater.de/ueber_uns/<br />

27<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>


Heinz Hilpert:<br />

Tagebuch<br />

für Nuschka<br />

Aus Anlass von Heinz Hilperts 120. Geburtstag<br />

stellt der Hilpert-Biograph Michael<br />

Dillmann ein unbekanntes Tagebuch des<br />

<strong>Theater</strong>manns vor, der von 1934 bis 1944 Intendant<br />

des <strong>DT</strong> war. Heinz Hilpert schrieb<br />

es in den Jahren 1944/45 für seine jüdische<br />

Geliebte und spätere Ehefrau Annelies Heuser,<br />

genannt Nuschka. Ihr war es 1943 mit<br />

seiner Hilfe gelungen, in die sichere Schweiz<br />

zu fliehen. Das Tagebuch gibt Zeugnis von<br />

einer ergreifenden, tiefen Liebe vor dem<br />

Hintergrund des vom totalen Krieg und der<br />

nationalsozialistischen Herrschaft geprägten<br />

Berlin. Es lesen Barbara Schnitzler und<br />

Helmut Mooshammer. Zudem präsentieren<br />

das Archiv der Akademie der Künste und<br />

das Archiv des <strong>DT</strong> das Tagebuch und sein<br />

Umfeld vom 29. März bis 2. Mai in einer kleinen<br />

Sonderausstellung im Saal.<br />

Sonntag, 2. Mai, 11.00 Uhr, Saal<br />

Kooperation mit der Akademie der Künste<br />

Bühnen der Macht<br />

Eine theatrale Schnitzeljagd in 5 Akten durchs Regierungsviertel;<br />

in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung<br />

Wir laden Sie ein zu einem Spaziergung durchs Regierungsviertel mit Fakten<br />

und Fiktionen vom Grundgesetzt bis zur Legendenbildung ums Kanzleramt.<br />

Wie setzen sich Reichstag und Kanzleramt als Schauplätze der<br />

Macht in Szene? Welche Geschichten spiel(t)en sich hier ab? Die Performancekünstlerin<br />

Mieke Matzke (She She Pop) hat gemeinsam mit Studierenden<br />

einen Rucksack zusammengestellt mit visuellen, akustischen und<br />

interaktiven Hinweisen, Anweisungen und Hilfsmitteln, den Sie zu einer<br />

einzigartigen Tour über das Junge <strong>DT</strong> ausleihen können. Wir versprechen<br />

Ihnen ganz neuen Perspektiven auf die (Hinter)Bühnen der Macht!<br />

Künstlerische Leitung & Konzept: Mieke Matzke, Birgit Lengers<br />

Buchung (ab 2 Personen): jungesdt@deutschestheater.de<br />

dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 4<br />

Specials<br />

Für ihre herausragenden Verdienste um das<br />

deutschsprachige <strong>Theater</strong> zeichnet die Stiftung Preußische<br />

Seehandlung die Schauspielerin Margit Bendokat mit<br />

dem diesjährigen <strong>Theater</strong>preis Berlin aus. Wir gratulieren!<br />

Preisverleihung am 9. Mai, 11.00 Uhr<br />

im Deutschen <strong>Theater</strong><br />

28<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Buchpräsentation Katrin Brack<br />

„Meine Räume denken nicht darüber nach, ob sie Kunst sind.“ Und<br />

doch drängt sich beim Betrachten ihrer Bühnenräume stets dieser Eindruck<br />

auf. Da sind sachte sich über die Bühne bewegende Nebelwände,<br />

<strong>Theater</strong>stücke im Dauerregen, im Konfettiregen. Dann ein einzelner<br />

Baum, ein Himmel voller Schaukeln, voller Glühbirnen. Ihre Räume<br />

wirken wie Installationen, Ding gewordene Ideen, in eine radikale Zeichenhaftigkeit<br />

überführt. – Katrin Brack gehört zu den bedeutendsten<br />

Bühnenbildnerinnen der Gegenwart. Sie prägte die Bühnen von Regisseuren<br />

wie Dimiter Gotscheff oder Luk Perceval. Dreimal wurde sie<br />

zur Bühnenbildnerin des Jahres gewählt. Im Verlag <strong>Theater</strong> der Zeit<br />

ist jetzt die erste umfassende Werk-Monografie erschienen.<br />

mit Katrin Brack, Samuel Finzi, Dimiter Gotscheff, Harald Müller, u.a.<br />

Sonntag, 18. April, 11.00 Uhr, Saal, Eintritt frei<br />

<strong>Theater</strong>preis Berlin 20<strong>10</strong><br />

für Margit Bendokat<br />

Verminte Zone<br />

‚Verminte Zone‘ von Pamela Dürr, in Kooperation des Jungen <strong>DT</strong> mit dem<br />

Théâtre de l‘Est parisien in einer deutschen und einer französischen Version<br />

entstanden, ist seit seiner Premiere im Oktober schon über 70 mal in<br />

Berliner und Pariser Klassenzimmern, im Deutschen <strong>Theater</strong> und im Théâtre<br />

de l‘Est parisien gezeigt worden. Am Beispiel von zwei jungen Frauen<br />

in Bosnien, Muslimin die eine, die andere Serbin, zeigt das Stück auf eindrückliche<br />

Weise, wie ein Krieg sich auf eine Freundschaft auswirkt. Das<br />

Stück und sein brisantes Thema ist nicht nur in Berlin und Paris auf große<br />

Resonanz gestoßen. Im Herbst plant das THOC, das Nationaltheater in Zypern,<br />

eine Übertragung und Inszenierung des Stücks in griechischer Sprache.<br />

Darüber hinaus ist die Inszenierung des <strong>DT</strong> im Herbst zu den ‚Deutschen<br />

Tagen‘ in Rostov am Don und Taganrog (Südrussland) eingeladen. In<br />

Berlin zeigen wir die Produktion in Schulen und als öffentliche Vorstellung<br />

noch einmal am 29. April um 20.00 Uhr im Lichtburgforum (www.lichtburgforum.de)<br />

95,8<br />

NUR FÜR ERWACHSENE<br />

radioeins.<br />

Wie ein Blick unter<br />

die Oberfläche.


Die <strong>DT</strong> Cards<br />

· Sie erhalten 40% Ermäßigung in den Preisgruppen I bis IV.<br />

· Die <strong>DT</strong> Card ist personengebunden und gilt zwölf Monate.<br />

Den Spielplan erhalten Sie monatlich per Post. Der Karten -<br />

ver kauf für Inhaber der <strong>DT</strong> Card ist bereits drei Tage vor Vor -<br />

verkaufsbeginn möglich.<br />

Sie haben die Wahl:<br />

· Die <strong>DT</strong> Card für 50 Euro: eine ermäßigte Karte pro<br />

Vorstellung<br />

· Die <strong>DT</strong> Partner Card für 80 Euro: zwei ermäßigte Eintrittskarten<br />

pro Vorstellung<br />

· Die <strong>DT</strong> Familien Card für 90 Euro: zwei ermäßigte Eintrittskarten<br />

für zwei Er wachsene und bis zu drei Eintrittskarten<br />

für jeweils drei Euro für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre<br />

Abo&Service<br />

Kartentelefon: 030.28441-225<br />

Tickets online unter:<br />

www.deutschestheater.de<br />

31<br />

<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong><br />

Die Abonnements<br />

Das Premieren-Förderer-Abonnement<br />

· Zehn Premieren im <strong>DT</strong> – inklusive Programmheft und<br />

Garderobengebühr<br />

· Freies Premierenbuffet auf unseren Premierenfeiern<br />

· Zweimal pro <strong>Spielzeit</strong> Einladung zu einer exklusiven<br />

Veranstaltung im <strong>DT</strong> (z. B. Gespräch mit der <strong>Theater</strong>leitung<br />

über künftige Projekte)<br />

· Vorkaufsrecht für Gastspiele und Premieren in den<br />

anderen Spielstätten<br />

· Fester Platz in der gewählten Kategorie; übertragbar;<br />

jederzeit Tauschmöglichkeit auf andere Wunschtermine<br />

(dann nur Besuch der Vorstellung)<br />

· Regelmäßige Zusendung aller <strong>DT</strong> Informa tionsmaterialien<br />

PG I: 760 Euro / PG III: 560 Euro<br />

Das B-Premieren-Abonnement<br />

· Zehn Premieren im <strong>DT</strong> – immer samstags, 40% Rabatt<br />

· Regelmäßige Zusendung aller <strong>DT</strong> Informationsmaterialien<br />

· Vorkaufsrecht für Premieren in den anderen Spielstätten<br />

und für Gastspiele<br />

· Zusätzliche Karten für die zweite Vorstellung können<br />

mit <strong>10</strong>% Rabatt erworben werden<br />

· Feste Plätze in der gewählten Kategorie; übertragbar<br />

PG I: 270 Euro / PG II: 222 Euro / PG III: 174 Euro /<br />

ermäßigt 60 Euro<br />

Impressum<br />

Herausgeber: <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong>, Schumannstraße 13a, <strong>10</strong>117 Berlin<br />

Intendant: Ulrich Khuon<br />

Redaktion: Claus Caesar, Gaby Schweer<br />

Konzeption und Beratung: Matthias Kalle und Christoph Koch<br />

Gestaltung: Kerstin Finger, Susanne Probst<br />

Fotos: Arno Declair; Foto S. 25: Joachim Schulz<br />

Zeichnungen: Marcel van Eeden/courtesy Galerie Zink<br />

Druck und Herstellung: agit-Druck, Berlin


Marcel van Eeden für<br />

,Maria Stuart‘ von Friedrich Schiller<br />

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<strong>Spielzeit</strong> <strong>2009</strong>/<strong>10</strong>

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