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24 HINTERGRUND<br />
WWW.AUSTRIAINNOVATIV.AT • 6 / 2006<br />
Chemie verdient<br />
Vertrauen. Oder?<br />
Rund ein halbes Jahrhundert lang war „die Chemie“ der liebste<br />
Reibebaum des Umweltschutzes. Warum das heute nicht mehr so ist,<br />
hat Leopold Lukschanderl für AUSTRIA INNOVATIV zusammengefasst.<br />
Sie sind in der Zwischenzeit<br />
schon fast in Vergessenheit geraten,<br />
die großen Chemiekatastrophen<br />
von Seveso (1976, Dioxin) und<br />
Bhopal (1984, Methylisocyanat, mindestens<br />
3.800 Tote).<br />
Aber auch die PVC-Diskussion, die<br />
Schaumberge <strong>auf</strong> den Flüssen, die Perchloräthylen-Story<br />
(Putzereien), die mit<br />
unglaublichen Bioschmähs beworbenen<br />
PCP-haltigen Holzschutzmittel, die<br />
den menschlichen Zellstoffwechsel<br />
massiv beeinträchtigen können, das<br />
umfangreiche (und eigentlich noch immer<br />
nicht vollständig beseitigte) Indor-<br />
Pollution-Desaster mit – seinerzeit –<br />
Formaldehyd emittierenden Holzfaserplatten<br />
und einiges andere mehr.<br />
„Die Chemie“ fungierte viele Jahrzehnte<br />
lang als der liebste Reibebaum des<br />
in diesem Zeitraum <strong>auf</strong>blühenden Umweltschutzes.<br />
„Alles Leben ist Chemie“<br />
behauptete die Chemische Industrie.<br />
Kritiker waren eher der Ansicht, der<br />
Slogan diene wohl eher dazu, die verborgenen<br />
Gefahren aus der Rertorte<br />
zu übertünchen.<br />
Und der Chemiker und Wissenschaftsjournalist<br />
Hans-Werner Mackwitz<br />
konnte 1983 in seinem Buch „Zeitbombe<br />
Chemie“ fordern: „Einem Jahrhundert<br />
der Vergiftung der Industriegesellschaft<br />
müssen Jahrzehnte der Entgiftung<br />
folgen!“<br />
Hat das – im Großen und Ganzen –<br />
funktioniert? Hat sich der „Mantel des<br />
Schweigens und der Verdrängung, der<br />
jahrzehntelang die Gefahr synthetischer<br />
Stoffe umhüllt hat“ (Mackwitz),<br />
endlich gelüftet? Oder haben wir uns<br />
nur an das wahrlich pralle Konfliktpotenzial<br />
zwischen Chemie und Umweltschutz<br />
gewöhnt?<br />
Rachel Carson durchbrach die<br />
Informationsschranke<br />
Die „Reibungsflächen“ zwischen den<br />
Kontrahenten begannen sich 1962 mit<br />
der Publikation des Buches „Der Stumme<br />
Frühling“ von Rachel Carson abzuzeichnen.<br />
Ein Buch, das die Weltöffentlichkeit<br />
<strong>auf</strong>gerüttelt hat und trotzdem viele Jahre<br />
lang mit Steinen beworfen wurde.<br />
Die US-Wissenschaftlerin zog übrigens<br />
keineswegs gegen die Anwendung<br />
von allen chemischen Pestiziden zu<br />
Felde, und sie hielt den Mißbrauch bestimmter<br />
Pestizide auch nicht für die alleinige<br />
Ursache der Übel, die sie beschrieb.<br />
Aber sie holte die Tatsachen,<br />
die der Öffentlichkeit schon lange hätten<br />
enthüllt werden sollten, aus ihren<br />
Verstecken hervor: Sie durchbrach die<br />
Informationsschranke. Carson enthüllte<br />
zum ersten Mal öffentlich die – selbst<br />
für viele Naturwissenschafter neuen –<br />
tatsächlichen Beziehungen zwischen<br />
modernen Chemikalien und der gesamten<br />
Umwelt. Die Folgen: Die US-<br />
Bundesregierung verbot DDT und andere<br />
Pestizide, Waschmittel mussten<br />
biologisch abbaubar sein, die Chemiekonzerne<br />
wurden zum Rückzug gezwungen.<br />
All das geschah übrigens zu einer<br />
Zeit, als man in europäischen Zeitungen<br />
über die eigenen Umweltsünden<br />
noch sehr, sehr wenig gelesen hat.<br />
FOTOS: PHOTODISC