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«Alle Kinder können integriert werden» - Projekt Schul-In

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Erschienen in: ZLV-magazin, 1/2005, S. 12-14 (Zürcher Lehrerverband)<strong>In</strong>tegration: <strong>In</strong>terview mit Concita Filippini, Hochschule für Heilpädagogik in Zürich<strong>«Alle</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>können</strong> <strong>integriert</strong> <strong>werden»</strong>Aussonderung in Sonderklassen und -schulen machen nur Sinn, wenn sie zeitlich begrenzt sindoder wenn die Regelschule den Bedürfnissen nicht gerecht werden kann. Denn von der <strong>In</strong>tegrationkönnten alle Beteiligten profitieren, ist Concita Filippini überzeugt. Der Kanton Zürich ist jedochnoch weit entfernt.Braucht es Sonderschulen?Concita Filippini: Das Sonderschulsystem und somit die ganze differenzielle Heilpädagogik hatten geschichtlicheine wichtige Funktion. Sie haben dazu beigetragen, dass das Wissen in Theorie und Praxisrund um die Schweizer Heilpädagogik einen hohen qualitativen Stand erreicht hat bezüglich Diagnostik,Therapie- und Förderungsformen.Wann machen Sonderschulen Sinn?Sonderschulen machen dort Sinn, wo die Regelschule nicht für die besonderen Bedürfnisse eines Kindeseingerichtet ist, wo das <strong>Schul</strong>system und die Bedürfnisse des Schülers und seiner Eltern nicht oder nochnicht oder im Moment nicht zusammenpassen. Man ging früher davon aus, dass <strong>Kinder</strong> und Jugendlichein Sonderschulen nach einer gewissen Zeit wieder <strong>integriert</strong> werden, dies geschieht heute leider nur inganz seltenen Fällen.Wäre es möglich, alle <strong>Kinder</strong> in die Regelschule zu integrieren?Meiner Meinung nach ja. Zugegeben, früher konnte ich mir dies auch nicht vorstellen. Ich musste zuerstin Dänemark und in Italien erleben, das es wirklich gelingt, alle <strong>Kinder</strong> zu integrieren. Auch der PISA-Sieger Finnland zeigt, dass <strong>In</strong>tegration über weite Strecken machbar und erst noch erfolgreich ist.Wieso erhalten bei uns vor allem die Sonderklassen solchen Zuwachs?<strong>In</strong> diesem Zusammenhang läuft an der Hochschule für Heilpädagogik gerade eine Untersuchung (WASA-Studie, siehe www.hfh.ch > Forschung > C 2). Erste Resultate zeigen, dass <strong>Schul</strong>en, die sich auf heterogeneKlassen einstellen und sehr offene Lernmethoden pflegen, weniger separieren. Hohe <strong>In</strong>tegrationsratenherrschen weiter in Kantonen, die kein Angebot an Sonderschulen und -klassen haben.Das Angebot fördert demnach die Nachfrage?Ja, dies ist im Bereich Sonderpädagogik momentan sicher so. Ähnliches erlebt man auch in der Medizin.Braucht es Sonderklassen?Ich möchte nicht sagen, sie seien absolut nicht nötig. Manchmal ist es gut, einem Kind eine Möglichkeitzu geben, in einem ihm zugeschnittenen Kontext zu verweilen. Doch dies sollte – wie gesagt – nur vorübergehendsein, maximal für ein Jahr. Danach sollte das Kind zurück in die Regelklasse dürfen.Was spricht denn gegen das Separieren?Gegen das Separieren spricht zuerst einmal eine pädagogische Haltung, die davon ausgeht, dass eseine <strong>Schul</strong>e für alle <strong>Kinder</strong> geben sollte, in der gemeinsam und individuell gelernt werden kann, wo das<strong>Schul</strong>haus für alle Schüler, für alle Minderheiten und für die Mehrheit einen qualitativ guten Unterrichtorganisiert und gemeinsam durchführt. Gegen das Separieren spricht auch die Erfahrung der letztenJahrzehnte, wonach der Ausschluss von Minderheiten die <strong>Schul</strong>e in ihrer Entwicklung hemmt. Lehrerverlernen, die Verantwortung für alle Schüler zu übernehmen und entsprechende Kompetenzen aufzubauenoder mit Fachleuten zusammenzuarbeiten. Zudem zeigen Forschungsresultate, dass das separative<strong>Schul</strong>system Mängel aufweist: Schüler lernen im Fach Sprache weniger, trauen sich weniger zu,1


identifizieren sich mit ihrem Stigma «Lernbehinderung» oder «Verhaltensstörung» und orientieren sicheinseitig an Schülern und Schülerinnen mit gleichen oder ähnlichen Problemen. Und schliesslich kommtnoch eine soziale Ungerechtigkeit dazu. Eltern, die es sich leisten <strong>können</strong>, stecken ihr auffälliges Kindnicht in eine Sonderklasse, sondern schick-en es auf eine Privatschule, wo es den Weg an die Uni dannauch findet. Eine Chance, die eine Familie aus dem Balkan, aus der Unterschicht nicht hat.Sie sprechen die Chancengerechtigkeit an?Ja. Es gibt zum Beispiel eine Untersuchung, die gezeigt hat, dass <strong>Kinder</strong> aus Migrantenfamilien, die genaugleich intelligent waren und genau die gleichen Deutschkenntnisse hatten wie Schweizerkinder, indie Sonderklassen eingeteilt wurden, während die Schweizerkinder in der Regelklasse bleiben durften.Und was spricht für das <strong>In</strong>tegrieren?Von einer <strong>In</strong>tegration profitieren alle Beteiligten. Die Klasse entwickelt einen stärkeren Zusammenhalt,das <strong>integriert</strong>e Kind lernt oft mehr, die anderen <strong>Kinder</strong> werden reifer, haben eine bessere moralischeEntwicklung, da sie öfter in Dilemmasituationen kommen und sich dann auseinandersetzen müssen mit<strong>Kinder</strong>n, die wirkliche Schwierigkeiten haben.Was ist mit den Lehrpersonen?Lehrpersonen, aber auch Eltern, <strong>können</strong> sich die <strong>In</strong>tegration von <strong>Kinder</strong>n mit einer geistigen Behinderungoft nur schwer vorstellen. Auch in Italien taten sich anfänglich viele Lehrpersonen schwer mit dem neuenintegrativen System. Heute, nach 30 Jahren praktizierter <strong>In</strong>tegration, wird das Konzept als solches breitunterstützt. Viele wünschen sich allerdings eine bessere Qualität der Unterstützung. Das wünsche ich mirselbstverständlich auch hier in der Schweiz. Es geht bei der <strong>In</strong>tegration nicht um das blosse «Drinsein»,sondern um das aktive «Dabeisein», wo jedes Kind – seinen Bedürfnissen entsprechend – eine optimaleund qualitativ gute Förderung erhält.Welche Schwierigkeiten entstehen beim <strong>In</strong>tegrieren?Es ist nicht so, dass bei <strong>integriert</strong>en <strong>Kinder</strong>n alle sagen: «Wunderbar, es ist schön, dass du bei unsbleibst.» Gewisse auffällige <strong>Kinder</strong> <strong>können</strong> in der Klasse ausgeschlossen werden. Dann braucht es dieHilfe einer <strong>Schul</strong>ischen Heilpädagogin oder eines Heilpädagogen. Weiter ist das Selbstwertgefühl von<strong>integriert</strong>en <strong>Kinder</strong>n tiefer als in Sonderschulen oder -klassen. Dies muss eine Lehrperson im Auge behaltenund gezielt angehen.Wie viele <strong>Kinder</strong> und Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen erträgt es in einer Regelklasse?Das ist nicht einfach zu sagen, das hängt ganz stark von der Zusammensetzung der Klasse ab. Wenn ichganz diktatorisch Rahmenbedingungen vorgeben könnte, wären dies maximal zwanzig <strong>Kinder</strong> pro Klasseund davon zwei mit Behinderung, die von einer <strong>Schul</strong>ischen Heilpädagogin unterstützt werden. Obwohles meistens nicht <strong>Kinder</strong> mit Behinderungen sind, die Schwierigkeiten bereiten, sondern eher der Umgangmit Verhaltensauffälligkeiten. Diese zu verstehen, ist ganz schwierig – dazu braucht es gut ausgebildete<strong>Schul</strong>ische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, die der Regelklassenlehrperson beratend zurSeite stehen <strong>können</strong>.Im Kanton Zürich sind die Klassengrössen demnach viel zu hoch?Wenn man integrieren will ja. Man müsste auch dafür sorgen, dass die Lehrpersonen wieder mehr Wertschätzungbekommen. Sie machen einen aufwändigen Job und sollten sich vermehrt wieder mit Engagementden <strong>Kinder</strong>n widmen <strong>können</strong>. Dieses bleibt leider oft auf der Strecke, wenn Lehrpersonen sichmit Schülerinnen oder Schülern in Grabenkämpfe verstricken, wenn es nicht läuft.Was wäre die Lösung, dass es nicht dazu kommt?Die Tragfähigkeit der Regelklasse muss verbessert werden. Wir müssen uns mehr auf Heterogenitäteinstellen: <strong>In</strong>dividualisieren (gewisse <strong>Kinder</strong> erreichen dies, andere nur jenes), mehr ressourcenorientiertarbeiten, mehr für das Lernen motivieren, mehr offene Unterrichtsformen praktizieren, mehr Lernstrategienvermitteln, den <strong>Kinder</strong>n mehr Verantwortung abgeben, mehr Kompetenzen im Umgang und in derPrävention mit Unterrichtsstörungen erarbeiten, mehr Bereitschaft der Lehrpersonen für die <strong>In</strong>tegrationund die gezielte Förderung aufbauen. Auf der Ebene der <strong>Schul</strong>e müsste ein gutes Organisationsklimageschaffen werden, etwa durch gezielte Kooperations- und Beratungsformen und eine offene Gesprächkultur.Wie schätzen Sie die Bedingungen im Kanton Zürich ein?Das neue Volksschulgesetz fordert und ermöglicht mehr <strong>In</strong>tegration im Kanton Zürich. Frühe Förderungund <strong>In</strong>tegration bieten beispielsweise die Grundstufe, die Tageskindergärten und für <strong>Kinder</strong> aus fremdemKulturen die Horte. Wichtig ist <strong>In</strong>klusion und Förderung von Anfang an. Die integrative <strong>Schul</strong>ungsform2


(ISF) im Kanton Zürich nimmt täglich zu, so wie auch die Teilautonomen oder geleiteten Volksschulen(TaV). <strong>In</strong> einzelnen Regionen werden auch einzelne <strong>Kinder</strong> mit geistiger Behinderung <strong>integriert</strong>. Ich begrüssediese <strong>Projekt</strong>e sehr. Im Kanton Zürich herrscht im Moment aber eine schwierige Situation. Sonderklassen<strong>können</strong> nicht von einem Tag auf den anderen gestrichen werden, da die Rahmenbedingungenfür die <strong>In</strong>tegration nicht überall gegeben sind. Die Abschiebung in die Sonderklasse muss aber meinerAnsicht nach abnehmen.Wieso wird nicht mehr <strong>integriert</strong>?Problematisch für die <strong>In</strong>tegration ist zum Beispiel die geteilte Oberstufe. Diese lässt <strong>In</strong>tegration praktischnicht zu. Es braucht schweizweit einheitliche Lösungen: <strong>In</strong>tegration als Normalfall begleitet von sonderpädagogischenMassnahmen. Weiterhin denke ich an Tageskindergärten und Horte, Deutschunterrichtbereits im <strong>Kinder</strong>garten, ein Jahr früher in die <strong>Schul</strong>e, tragfähige Regelschulen (TaV), mehr Tagesschulen,mehr <strong>integriert</strong>e Freizeitangebote – gefragt wären grosse Veränderungen und nicht bloss ein bisschenhier und ein bisschen dort.<strong>In</strong>terview Martin Kilchenmann3

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