Die Lupe 04/2010 - Die Schweizerische Post
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Im Fernsehen, am Radio, in der Presse, von<br />
Plakatwänden, in Einkaufzentren winkt<br />
oder grüsst uns ein Nikolaus entgegen<br />
und verkündet, dass dieses Jahr die beste<br />
Weihnacht aller Zeiten vor der Tür stehe,<br />
die Preise bereits purzeln würden wie<br />
die Schneeflocken, die wir selten mehr zu<br />
sehen kriegen. Stressgeplagte Menschen<br />
eilen durch volle Strassenschluchten<br />
und Einkaufszentren. Und alle wollen sie<br />
dasselbe. Ein Geschenk für ihre Lieben.<br />
Vergessen sind in dem Moment Hass,<br />
Ärger, Neid, Missgunst und all die negativen<br />
Gefühle, die über das Jahr hinweg so<br />
viele Beziehungen vergiften. Mit dem<br />
teuersten, grössten und ausgefallensten<br />
Geschenk scheint alles Geschehene wett -<br />
gemacht werden zu können.<br />
Das Klingeln des <strong>Post</strong>boten lässt den alten<br />
Mann jäh aus seinen Tagträumen erwachen.<br />
Mit schlurfenden Schritten bewegt<br />
er sich zur Tür. Der <strong>Post</strong>bote ist einer der<br />
wenigen Menschen, mit denen der alte<br />
Mann zwischendurch ein Wort wechselt,<br />
ein paar Gedanken austauscht.<br />
18<br />
Manchmal trinken die zwei Männer gar<br />
zusammen einen Kaffee. Das strahlende<br />
Gesicht und die herzliche Begrüssung<br />
des modern Uniformierten berühren den<br />
alten Mann bis tief in sein Innerstes.<br />
Hat sie wohl geschrieben? Hat sie wohl<br />
endlich geschrieben?<br />
<strong>Die</strong> Antwort steckt zwischen den Fingern<br />
des Brief trägers. Ein Brief – ein Luftpostbrief!<br />
Endlich, sie hat geschrieben! Freudig<br />
nimmt der alte Mann die Sendung von<br />
der anderen Seite der Welt entgegen,<br />
riecht am Umschlag und drückt den Brief<br />
zärt lich und mit einer Form von Anmut<br />
an sein Herz. Jetzt will er nur noch eines.<br />
Sich den Zeilen widmen, auf die er so<br />
sehnsüchtig gehofft hat. Erwartungsvoll<br />
sieht ihn der Überbringer des Umschlags<br />
durch den Türspalt an. Draussen hat es<br />
zu schneien begonnen. Wunderschöne,<br />
zart-filigrane Schneesterne segeln still<br />
und leise vom Himmel. <strong>Die</strong> Szene gleicht<br />
einem Finale einer grossen Fernsehshow.<br />
Nur ist diese hier tausend Mal schöner.<br />
Zwei alte, weise – von vielen Erlebnissen<br />
und Geschichten geprägte – blaue Augen<br />
treffen auf ein dunkelbraunes Augen -<br />
paar, das – ohne Worte – nach einem<br />
Kaffee fragt. Leicht verlegen tritt der alte<br />
Mann von der Tür zurück und gewährt<br />
dem Boten Einlass.<br />
Bei einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee<br />
und einem gebrannten Wasser sitzen<br />
sich die beiden schweigend gegenüber.<br />
Der Alte räuspert sich ein paar Mal, bevor<br />
er stockend zu sprechen beginnt.<br />
Ein langes Leben habe er gehabt und alt<br />
sei er geworden. <strong>Die</strong> Leistungsfähigkeit<br />
des Körpers sei stark eingeschränkt, beim<br />
Gehen schmerzten die Beine, beim Sitzen<br />
und Liegen der Rücken. Das Gehör wolle<br />
nicht mehr so recht und die Sehkraft lasse<br />
auch nach. <strong>Die</strong>se Schmerzen verblassten<br />
aber nebst all dem seelischen Leid,<br />
das ein so langes Leben halt mit sich bringe.<br />
In armen Verhältnissen, mit vielen Geschwistern<br />
sei er aufgewachsen, habe noch<br />
Aktivdienst geleistet und den Vater früh<br />
verloren. <strong>Die</strong> Liebe seines Lebens, mit der er<br />
über sechzig Jahre verheiratet war, sei ihm