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GO EAST - Politik und Gesellschaft

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S t u d e n t i s c h e s J o u r n a l d e r B u c e r i u s L a w S c h o o l<br />

ISSN: 1862-0213<br />

Eine Eisenbahnfahrt ...<br />

mit der Transsib von Wladiwostok nach Moskau<br />

Ein Spaziergang ... Eine Gedankenreise ...<br />

durch die spannendsten Städte Osteuropas<br />

2,00 Euro Ausgabe VI, Frühjahr 2008<br />

<strong>GO</strong> <strong>EAST</strong><br />

Ein Langstreckenflug ...<br />

mit chinesischen Studenten nach Hamburg<br />

von Wolfgang Neškovic durch deutsche <strong>Politik</strong>


R U G E • K R Ö M E R<br />

F a c h a n w ä l t e f ü r A r b e i t s r e c h t<br />

Ruge • Krömer ist eine der größten arbeitsrechtlich spezialisierten Kanzleien in Deutschland.<br />

Zur Verstärkung unserer Kanzlei in Hamburg suchen wir im<br />

A R B E I T S R E C H T<br />

laufend Stationsreferendare <strong>und</strong> wissenschaftliche Mitarbeiter (m/w). Wir legen Wert<br />

darauf, dass Sie die Anwälte unserer Kanzlei bei ihrer praktischen Tätigkeit „am Fall“ unterstützen<br />

<strong>und</strong> auf diese Weise einen Einblick in die Tätigkeit eines Fachanwalts für Arbeitsrecht<br />

bekommen. Sie werden regelmäßig an Gerichtsterminen <strong>und</strong> Mandantenbesprechungen<br />

sowie Sozialplanverhandlungen etc. teilnehmen. Die praktische Tätigkeit wird ergänzt<br />

durch die regelmäßige Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen.<br />

Ihre schriftliche Bewerbung, gerne auch per E-Mail, richten Sie bitte an:<br />

Rechtsanwälte Ruge Krömer, Herrn Dr. Klaus Pawlak, Hans-Henny-Iahnn-Weg<br />

9, 22085 Hamburg, E-Mail: klauspawlak@rugekroemer.de, Telefon: 040/270<br />

75 5-0<br />

w w w . r u g e k r o e m e r . d e


Lara Friederichs <strong>und</strong> Martin Hejma, Chefredaktion<br />

Go East<br />

Sushi-Bars erleben in Deutschland zurzeit einen wahren Boom. Wie Pilze sprießen sie in den Großstädten<br />

aus dem Boden <strong>und</strong> werden sowohl von Businessmenschen als auch von Studenten häufig besucht.<br />

Auch asiatische Sportarten werden immer beliebter: Zur Entspannung macht man heute Yoga oder<br />

Qigong; zur sportlichen Ertüchtigung Tai Chi oder Aikido. Übers Wochenende fliegt man nicht mehr<br />

unbedingt nach Rom oder Paris – Prag oder Moskau sind die neuen Highlights. Und die zwei luxuriösesten<br />

Hotels Deutschlands befinden sich in Mecklenburg-Vorpommern <strong>und</strong> in Ostberlin.<br />

Die Reise in Richtung Osten wird immer attraktiver. Der Osten strahlt auf viele eine große Faszination<br />

aus <strong>und</strong> lässt zuweilen doch Befürchtungen hervortreten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> haben wir uns in unserer<br />

sechsten Ausgabe in unseren Rubriken Welt, Europa, Deutschland, Hamburg <strong>und</strong> Campus insbesondere<br />

mit dem Leben <strong>und</strong> der Kultur im Osten beschäftigt: Mit den „Dabbawalas“, die jeden Tag 200.000<br />

Mittagessen an indische Geschäftsleute in Mumbai pünktlich zustellen. Mit der letzten Diktatur auf<br />

europäischem Boden in Weißrussland, die von der Europäischen Union nicht effektiv bekämpft wird.<br />

Mit der Situation von Asylbewerbern in Deutschland, die nach wie vor sehr problematisch ist. <strong>und</strong> mit<br />

der Grenze Hamburgs zu Schleswig-Holstein, die jeden Tag von tausenden Arbeitnehmern morgens<br />

<strong>und</strong> abends überschritten wird. Seit dieser Ausgabe ist außerdem die vormalige Campuszeitung .buc<br />

in unserer neuen Rubrik Campus aufgegangen. In ihr wollen wir auch in Zukunft Themen, die Bezug<br />

zu unserer Hochschule haben, Aufmerksamkeit schenken: Diesmal beleuchten wir unsere Verbindung<br />

zu China.<br />

Vielleicht können wir Ihnen mit dieser Ausgabe die ein oder andere Facette des Ostens näher bringen.<br />

Einer Region <strong>und</strong> Kultur, die bei uns bereits sehr an Bedeutung gewonnen hat – die aber aus mehr als<br />

Sushi-Bars, Moskau oder Qigong besteht. Reisen Sie mit!<br />

Für die Redaktion<br />

// //<br />

Editorial - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Inhalt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Welt<br />

Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />

Flaggen im Osten der Welt<br />

// //<br />

Go West to the East<br />

Mit der transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />

Ein Stück Heimat im Chaos<br />

Ein logistisches Phänomen in Indien – Mumbais Dabbawalas<br />

China in Afrika<br />

Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />

Ewiger Konflikt<br />

Wie geht es weiter in Osttimor?<br />

Goodbye Hutongs<br />

Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />

Indiens Filmindustrie<br />

Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />

Europa<br />

Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />

Flaggen im Osten Europas<br />

A Growing Economy for Everyone?<br />

The history of the Russion trade unions movement<br />

Die Rote Re-Revolution<br />

Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />

Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />

Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />

Kurztrips nach Osteuropa<br />

Vier Städte für ein Halleluja<br />

Prag - Stadt der tausend Türme<br />

Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />

Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />

Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen<br />

9<br />

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35


Deutschland<br />

Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />

Flaggen im Osten Deutschlands<br />

Interview mit Wolfgang Neskovic<br />

„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische Demokratie“<br />

Eine deutsche Steuer<br />

Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />

Die Stadt der Zukunft<br />

Vier Fragen and Wolfgang Tiefensee<br />

Asylbewerber in Deutschland<br />

Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?<br />

Hamburg<br />

Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />

Flaggen im Osten Hamburgs<br />

Grenzwanderung<br />

Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher<br />

Campus<br />

Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />

Das Logo der Bucerius Law School<br />

Go East<br />

Karsten Thorn lehrt in China<br />

Go West<br />

Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />

Das Französisch der Zukunft<br />

Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden<br />

// //<br />

39<br />

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64<br />

Inhalt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


9<br />

Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />

Flaggen im Osten der Welt<br />

10<br />

Go West to the East<br />

Mit der transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />

12<br />

Ein Stück Heimat im Chaos<br />

Ein logistisches Phänomen in Indien – Mumbais Dabbawalas<br />

14<br />

China in Afrika<br />

Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />

16<br />

Ewiger Konflikt<br />

Wie geht es weiter in Osttimor?<br />

18<br />

Goodbye Hutongs<br />

Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />

20<br />

Indiens Filmindustrie<br />

Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />

// //


Welt<br />

Ausgabe 1/2008<br />

<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 8 //


Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />

Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />

Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten wirft<br />

unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten der Welt<br />

Die in Deutschland bekannteste Flagge eines Staates aus Fernost dürfte die Japans sein. Von bestechender<br />

Schlichtheit <strong>und</strong> hohem Wiedererkennungswert zugleich, sticht dem Betrachter der<br />

große tiefrote Kreis im Zentrum ins Auge. Er symbolisiert die Sonnenscheibe <strong>und</strong> prägt damit<br />

das Sinnbild vom „Land der aufgehenden Sonne“. Zugleich steht er aber auch für Japans kaiserliche<br />

Familie, die das Land schon seit über 2000 Jahren regiert <strong>und</strong> sich als direkte Nachkommen<br />

des Sonnengottes Amaterasu Omikami versteht. Bemerkenswert ist noch, dass der schneeweiße<br />

Hintergr<strong>und</strong> nicht etwa für den Himmel steht, sondern eine eigenständige Bedeutung hat. Er verkörpert<br />

Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Reinheit, zwei Werte, denen in Japans uralter Kultur ein besonderer<br />

Stellenwert zukommt.<br />

Rot symbolisiert den Mut der Bewohner Jakutiens<br />

Dass nicht alle Völker der Welt die Sonne mit roter Farbe symbolisieren, zeigt unter anderem<br />

die Flagge der russischen Provinz Jakutien. Sie wird durch eine weiße Sonne auf blauem Hintergr<strong>und</strong><br />

gekennzeichnet. Die Farbe Weiß soll dabei das ewige Leben, Blau das kalte Klima dieser<br />

zentralsibirischen Region darstellen. Auch den anderen Farben dieser noch sehr jungen, erst 1992<br />

eingeführten Flagge wird jeweils eine ganz spezielle Bedeutung zugewiesen. Der grüne Streifen<br />

am unteren Rand steht für Jakutiens Wälder, aber auch für Ges<strong>und</strong>heit. Der weiße Streifen unterhalb<br />

des blauen Feldes wiederum symbolisiert vor allem den Schnee, aber auch Klugheit. Der rote<br />

Streifen schließlich verkörpert als einzige Fläche kein Naturereignis, sondern steht für den Mut<br />

der Bewohner Jakutiens.<br />

Gelbe Sonne <strong>und</strong> roter Himmel sind dagegen die beherrschenden Farben der Flagge des pazifischen<br />

Inselstaats Kiribati. Die Farben wurden gewählt, um gerade den Sonnenaufgang über dem<br />

Meer – den blau-weißen Wellenstreifen – darzustellen. Der Sonnenaufgang ist ein Symbol für den<br />

Aufbruch des erst seit 1979 existierenden Staates in eine verheißungsvolle Zukunft. Über allem<br />

schwebt <strong>und</strong> wacht der goldgelbe Fregattvogel als Verkörperung der Herrschaft des Landes über<br />

die Meere.<br />

Nicht alle Fahnen sind so konsequent aufgebaut. Ein ziemliches Potpourri ist beispielsweise eine<br />

der komplexesten Flaggen der Welt – die von Turkmenistan. Auf der linken Seite findet sich zunächst<br />

ein Streifen mit fünf verschiedenen Teppichmustern, die traditionell von verschiedenen<br />

turkmenischen Stämmen verwendet wurden. Darunter wurde 1997 als Friedenssymbol genau der<br />

Ölzweig eingefügt, der sich auch auf der Fahne der Vereinten Nationen findet. Die fünf Sterne<br />

daneben symbolisieren die fünf turkmenischen Regionen, <strong>und</strong> schließlich der Halbmond daneben<br />

<strong>und</strong> die grüne Farbe erwartungsgemäß den Islam.<br />

Nepal hat die einzige nicht reckeckige Flagge<br />

Nicht fehlen darf an dieser Stelle ein Blick auf die Flagge Nepals, die ein Unikum besonderer Natur<br />

ist: Es handelt sich um die einzige Flagge der Welt, die nicht rechteckig ist. Sie erinnert den<br />

Betrachter an zwei übereinander gesetzte Dreiecke, <strong>und</strong> das aus gutem Gr<strong>und</strong>: Entstanden ist sie<br />

schon zu Beginn des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, als man zwei dreieckige Wimpel übereinander setzte.<br />

Ungewöhnlich muten auch Formen <strong>und</strong> Farben an. Dass der blaue Rand für den Frieden steht, mag<br />

dabei weniger überraschen, als dass das dominierende Rot den Rhododendron symbolisiert. Die<br />

beiden Embleme Sonne <strong>und</strong> Halbmond mit Stern schließlich trugen noch bis 1962 menschliche<br />

Züge, was ebenfalls nahezu einzigartig in der Welt der Fahnen <strong>und</strong> Flaggen ist. Eine einleuchtende<br />

Erklärung findet sich jedoch: Halbmond <strong>und</strong> Stern stehen für die Familie des Königs, die Sonne<br />

dagegen für die Familie Rana, deren Angehörige über Generationen das Amt des Premierministers<br />

in Erbfolge bekleideten.<br />

// //<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Ein Reisebericht von Christoph J.<br />

Heuer <strong>und</strong> Philipp Kersting<br />

„Sechs Tage im Zug? Ist das nicht<br />

langweilig?“ Unser Plan, mit der<br />

Transsibirischen Eisenbahn quer<br />

durch Russland zu fahren, stieß bei<br />

den meisten auf Skepsis. Mehr als<br />

sechs Tage in einem Zugabteil sind<br />

für viele nicht gerade Inbegriff erholsamer<br />

Osterferien. Und auch uns<br />

wurde erst rückblickend bewusst,<br />

auf was wir uns da eigentlich eingelassen<br />

hatten<br />

Wir hatten uns für die Fahrt von Ost<br />

nach West entschieden <strong>und</strong> Moskau,<br />

das Herz Russlands, als Endpunkt<br />

unserer Reise gewählt. Außerdem<br />

nahmen wir nicht die von Touristen<br />

bevorzugte Route durch China<br />

<strong>und</strong> die Mongolei, sondern die längere,<br />

ursprüngliche Strecke, die von<br />

Wladiwostok am pazifischen Ozean<br />

quer durch das russische Riesenreich<br />

bis in die Hauptstadt führt.<br />

Sechs Tage lang sind wir durch sieben<br />

Zeitzonen Richtung Westen gefahren,<br />

um dann doch irgendwie im<br />

Osten zu enden.<br />

Russland begrüßte uns zunächst<br />

mit der ganzen Herzlichkeit seiner<br />

Bürokratie, die den Untergang der<br />

Sowjetunion unbeschadet überlebt<br />

hat. „Waiting! Here!“, war alles, was<br />

wir in Moskau auf die – auf Russisch<br />

– gestellte Frage bekommen, wie<br />

wir denn zu unserem Anschlussflug<br />

nach Wladiwostok kämen. Als sich<br />

nach zwanzig Minuten nichts, aber<br />

auch gar nichts in dem inzwischen<br />

völlig verlassenen Terminal tat,<br />

befürchteten wir schon, dass das<br />

Flugzeug ohne uns starten würde.<br />

Aber am Ende kam dann doch noch<br />

ein uniformierter Beamter, der uns<br />

– nach einem lustlosen Blick in unsere<br />

Ausweispapiere – den Weg zum<br />

Anschlussflieger wies.<br />

Wladiwostok, „Beherrsche den Osten“,<br />

mag mit seinen Buchten <strong>und</strong><br />

Hügeln einst das städtebauliche Po-<br />

// 10 //<br />

Go West to the East<br />

Mit der Transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />

tential von Vancouver oder Seattle<br />

gehabt haben. Offenk<strong>und</strong>ig blieb es<br />

ungenutzt, denn das „Cannes des<br />

Ostens“ (so der Reiseführer!) ist zumindest<br />

im Winter eine verdreckte<br />

Großstadt ohne großen Charme.<br />

Die Entscheidung, hier nur einen<br />

Tag verbracht zu haben, bereuten<br />

wir nicht. Nach einem R<strong>und</strong>gang<br />

durch die Straßen <strong>und</strong> dem Einkauf<br />

überlebenswichtiger Vorräte<br />

wie Wodka, Wurst <strong>und</strong> Schokolade<br />

kehrten wir zum Bahnhof zurück.<br />

Nach dem obligatorischen Touristenfoto<br />

vor dem Obelisken mit der<br />

Kilometerzahl 9288 (so weit ist es<br />

bis zur Hauptstadt) bezogen wir am<br />

Abend unser Schlafwagenabteil.<br />

Man trägt postkommunistischen<br />

Einheits-Look<br />

Kurz nachdem der Zug den Bahnhof<br />

von Wladiwostok hinter sich<br />

gelassen hatte, konnte man auf<br />

den Gängen der Waggons eine Metamorphose<br />

der besonderen Art<br />

beobachten. Alle Reisenden – vom<br />

seriösen „bussinis men“ bis zum<br />

mürrisch dreinblickenden Luftwaffenoffizier<br />

– verschwanden kurz<br />

in ihren Abteilen, um nach wenigen<br />

Minuten im postkommunistischen<br />

Einheits-Look wieder auf den<br />

Gang zu treten: Man trägt in der<br />

Regel Jogginganzug (vorzugsweise<br />

von Puma, oder zumindest mit<br />

pumaähnlichem Logo) <strong>und</strong> dazu<br />

passende Adiletten (Pumaletten?).<br />

Dank eines Reiseführers waren wir<br />

darauf vorbereitet <strong>und</strong> schämten<br />

uns nicht, ebenfalls mit Jogginghose<br />

<strong>und</strong> T-Shirt auf dem Gang zu<br />

stehen.<br />

Während am Horizont die Sonne<br />

unterging, genehmigten wir uns<br />

in unserem Abteil einen ersten<br />

Wodka. Die Flasche verstauten wir<br />

schnell wieder im Rucksack, denn<br />

die fast schon mütterlichen Zugbegleiterinnen<br />

wissen zwar, dass<br />

in den Abteilen getrunken wird,<br />

doch können sie mitunter unwirsch<br />

reagieren, wenn der Alkohol allzu<br />

offensichtlich konsumiert wird. Im<br />

ansonsten menschenleeren Speisewagen<br />

servierte man uns Soljanka<br />

<strong>und</strong> nötigte uns zu einer Wodkaprobe.<br />

Das monotone Rattern der Eisenbahnschienen<br />

<strong>und</strong> die nicht enden<br />

wollenden Birkenwälder waren von<br />

nun an unsere ständigen Begleiter.<br />

Der Zug hielt alle paar St<strong>und</strong>en wenige<br />

Minuten <strong>und</strong> zwei- bis dreimal<br />

am Tag für mindestens zwanzig<br />

Minuten. Zeit genug, um sich ein<br />

wenig die Beine zu vertreten, das<br />

Bahnhofsgebäude <strong>und</strong> die nähere<br />

Umgebung zu erk<strong>und</strong>en sowie<br />

sich bei den fliegenden Händlern<br />

mit Verpflegung einzudecken. Auf<br />

Dauer waren die selbstgemachten<br />

Teigtaschen <strong>und</strong> Bliny günstiger als<br />

das Essen im Speisewagen. Doch zu<br />

weit sollte man sich nicht vom Zug<br />

entfernen, da dieser pünktlich <strong>und</strong><br />

ohne vorheriges Signal weiterfährt.<br />

Nach fast der Hälfte der Reisestrecke<br />

erreichten wir Irkutsk in der Nähe<br />

des Baikalsees. Wie die meisten<br />

Touristen, die diese Strecke fahren,<br />

hatten auch wir uns entschieden,<br />

hier einen Zwischenstopp einzulegen.<br />

Während unseres Aufenthalts<br />

übernachteten wir nicht im Hotel,<br />

sondern in einer Privatunterkunft.<br />

Unsere Gastgeberin, eine pensionierte<br />

Deutschprofessorin an der<br />

Universität von Irkutsk, bereitete<br />

uns einen herzlichen Empfang. Da<br />

unser Besuch auf das orthodoxe Osterfest<br />

fiel, bekamen wir gleich ein<br />

Stück von dem landestypischen Ostergebäck.<br />

In der Nacht nahmen wir<br />

am Mitternachtsgottesdienst <strong>und</strong><br />

an der anschließenden Prozession<br />

um die Kirche teil. Am nächsten<br />

Morgen besuchten wir ein Kloster,<br />

in dem der Patriarch von Sibirien<br />

den traditionellen Ostersegen spendete.<br />

Für den göttlichen Beistand<br />

waren wir schon wenig später sehr<br />

dankbar: Auf der Fahrt zum etwa<br />

60 Kilometer entfernten Baikalsee<br />

wich unser Fahrer Sergej wegen<br />

der zahlreichen Schlaglöcher häu-


fig auf die Gegenfahrbahn aus. Vor<br />

allem in Kurven <strong>und</strong> vor Bergkuppen<br />

trieb es uns den Angstschweiß<br />

auf die Stirn.<br />

Ein Land der Gegensätze<br />

In dem kleinen Dorf Listwjanka<br />

wurde uns – wie so häufig auf der<br />

Reise – die tiefe Kluft zwischen<br />

Arm <strong>und</strong> Reich vor Augen geführt.<br />

Neben dem bonbonfarbenen Hotel<br />

eines Neureichen führten unbefestigte<br />

Wege zu den Holzhütten<br />

der einfachen Dorfbewohner. Viele<br />

hier leben von Fischfang <strong>und</strong> dem<br />

aufkommenden Tourismus. Wegen<br />

der Größe des Sees friert dieser erst<br />

spät im Jahr zu, bleibt dafür aber<br />

lange von einer dicken Eisschicht<br />

bedeckt. Unser Spaziergang auf<br />

dem Eis war daher noch im April<br />

ungefährlich. Doch so imposant der<br />

winterliche See auch war, die wahre<br />

Schönheit des Baikals soll man – so<br />

wurde uns versichert – erst in den<br />

Sommermonaten erleben können.<br />

Mit dem Baikal-Express ging es für<br />

uns am nächsten Tagen weiter gen<br />

Westen. Der Express gilt als einer<br />

der komfortabelsten Züge auf der<br />

Strecke. Welche Luxussteigerung<br />

allerdings ein Plastikblumenstrauß<br />

<strong>und</strong> ein nicht funktionsfähiger<br />

Flachbildschirm im Abteil bringen<br />

soll, erschloss sich uns nicht. Unsere<br />

Reise führte weiter an Krasnojarsk<br />

<strong>und</strong> Nowosibirsk vorbei. Kurz hinter<br />

Jekaterinburg am Kilometerstand<br />

1 7 7 7<br />

kommt man an einem<br />

hel- len, vier Meter hohen<br />

Obelisken vorbei.<br />

Wäre er<br />

im Reisef<br />

ü h r e r<br />

nicht erwähnt worden, hätten wir<br />

ihn beim Kartenspielen im Abteil<br />

glatt verpasst. So aber wurde uns<br />

bewusst, dass wir Asien <strong>und</strong> damit<br />

Sibirien hinter uns gelassen hatten<br />

<strong>und</strong> uns nun wieder in Europa befanden.<br />

Nach der Stadt Wladimir,<br />

dem letzten Stopp vor Moskau,<br />

wichen die kleinen Dörfer <strong>und</strong> Birkenwälder<br />

allmählich den Vororten<br />

der Hauptstadt. Nach insgesamt<br />

9288 Kilometern erreichten wir die<br />

Metropole an der Moskwa. Auch<br />

hier kamen wir wieder bei einem<br />

pensionierten Dozenten unter. Er<br />

ist auf eine zusätzliche Einnahmequelle<br />

angewiesen, denn nach der<br />

mehrfachen Abwertung des Rubels<br />

kann er von seiner Rente allein<br />

kaum leben.<br />

Russlands lupenreine<br />

Demokratie<br />

Am nächsten Tag machten wir Bekanntschaft<br />

mit der viel gepriesenen<br />

lupenreinen Demokratie:<br />

Garri Kasparow, einer der führenden<br />

Köpfe der Opposition in Russland,<br />

hatte zu einer Demonstration<br />

aufgerufen. Den Warnungen unseres<br />

Gastgebers zum Trotz fuhren<br />

wir etwa fünf St<strong>und</strong>en vor Beginn<br />

der Protestveranstaltung zum Versammlungsort,<br />

um u n s<br />

ein Bild von<br />

der Lage<br />

zu ma-<br />

// 11 //<br />

chen. Die Straßen r<strong>und</strong> um den<br />

Puschkin-Platz waren bereits von<br />

Milizionären gesäumt. Wasserwerfer,<br />

H<strong>und</strong>estaffeln <strong>und</strong> bereitstehende<br />

Krankenwagen ließen nichts<br />

Gutes erahnen.<br />

Da uns eine Teilnahme an der Demonstration<br />

zu riskant erschien,<br />

machten wir uns auf den Weg zum<br />

Kreml. Um dorthin zu gelangen,<br />

mussten wir eine Straße überqueren.<br />

Dies gestaltete sich allerdings<br />

schwierig, da die hierfür vorgesehene<br />

Unterführung durch einen<br />

Polizei-Kordon abgesperrt war <strong>und</strong><br />

uns die Überquerung der Straße<br />

von einem Verkehrspolizisten gestenreich<br />

untersagt wurde. Erst nach<br />

längeren Verhandlungen beschloss<br />

man, uns in Begleitung zweier bewaffneter<br />

Polizisten nebst maulkorbbefreitem<br />

Schäferh<strong>und</strong> durch<br />

die Unterführung zu lotsen. Später<br />

erfuhren wir, dass nur wenige St<strong>und</strong>en<br />

später friedliche Demonstranten<br />

niedergeprügelt <strong>und</strong> Kasparow<br />

festgenommen wurde.<br />

Nicht nur die politische, sondern<br />

auch die gesellschaftliche Realität<br />

wurde uns eindrücklich vor Augen<br />

geführt. In den Straßen Moskaus<br />

sieht man Bentleys neben Bettlern,<br />

Mercedes- neben Revolutionsstern<br />

<strong>und</strong> novy ruski (die neureichen<br />

Russen) neben ärmlichen<br />

Babuschkas. Moskau ist<br />

eine Stadt der Gegensätze.<br />

Und wer<br />

einmal mit der<br />

Transsibirischen<br />

Eisenbahn gefahren<br />

ist, hat<br />

z u m i n d e s t<br />

eine Ahnung<br />

davon, dass<br />

dies auch für<br />

das ganze<br />

Land gilt.<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Aline Kalb<br />

Mit fast einh<strong>und</strong>ertprozentiger Erfolgsquote<br />

liefern die Dabbawalas<br />

täglich bis zu 200.000 Mittagessen<br />

pünktlich an jeden Ort Mumbais,<br />

der mit 13,1 Millionen Einwohnern<br />

bevölkerungsreichsten Stadt<br />

der Welt. Über ein ausgeklügeltes<br />

System gelangen hausgemachte<br />

Gerichte in zylinderförmigen Aluminiumgefäßen,<br />

den sogenannten<br />

Tiffin Boxes, vom heimatlichen Herd<br />

durch das Chaos des Großstadtverkehrs<br />

in die Büros der indischen<br />

// 12 //<br />

Ein Stück Heimat im Chaos<br />

Ein logistisches Phänomen in Indien - Mumbais Dabbawalas<br />

Metropole. Tiffin ist ein Relikt aus<br />

der Kolonialzeit <strong>und</strong> bedeutet leichtes<br />

Mittagessen. Dabbawala ist Hindi<br />

<strong>und</strong> setzt sich aus Dabba (Mittagessen)<br />

<strong>und</strong> Wala (Träger) zusammen.<br />

R<strong>und</strong> 5000 Mittagessenträger tragen<br />

täglich den Kampf mit der Zeit<br />

aus, um ihre K<strong>und</strong>en in deren Mittagspause<br />

mit Ghar Ka Khana (Hausmannskost)<br />

zu versorgen. Der Weg<br />

der Gerichte zum Bestimmungsort<br />

ist bis ins feinste Detail geplant <strong>und</strong><br />

wird über Codes gesteuert. Die Kombination<br />

aus Ziffern, Buchstaben<br />

<strong>und</strong> Farben verrät den Kurieren, die<br />

häufig weder lesen noch schreiben<br />

können, wohin die Mahlzeit geliefert<br />

werden soll. Eine Verzögerung<br />

kann sich ein Dabbawala nicht leisten,<br />

da sie das ganze System aus<br />

dem Gleichgewicht bringen würde.<br />

Der Arbeitstag eines Kuriers beginnt<br />

um neun Uhr am Morgen. Seine<br />

erste Station ist die Heimat des<br />

zu beliefernden, wo er das fertige<br />

Dabba abholt, das die Ehefrau bereits<br />

in aller Frühe zubereitet hat.<br />

Zu Fuß oder auf dem Fahrrad führt<br />

der Weg zum nächsten Bahnhof, wo<br />

die Tiffin Boxes von 10.40 bis 11.20<br />

Uhr auf Holzbretter gestapelt <strong>und</strong><br />

in Güterwagen verladen werden.


An den Endstationen warten dann<br />

bereits weitere Dabbawalas, die die<br />

Boxen auf ihre Handwagen türmen<br />

oder überall an ihren Velos befestigen,<br />

um sie zu den Bürokomplexen<br />

Mumbais zu transportieren. Während<br />

sich die Manager der Stadt die<br />

frische Hausmannskost schmecken<br />

lassen, dürfen sich auch die Dabbawalas<br />

eine Pause genehmigen, um<br />

in den Tempeln hinter den Bahnhöfen<br />

zu beten oder sich mit ihrem<br />

eigenen Mittagessen für den<br />

Nachmittag zu stärken. Denn noch<br />

ist der Arbeitstag der Kuriere nicht<br />

beendet: Zwischen 13.15 <strong>und</strong> 14 Uhr<br />

sammeln sie die leeren Tiffin Boxes<br />

wieder ein <strong>und</strong> laden sie in den<br />

Zug, der sie pünktlich um 14.48 Uhr<br />

wieder zum Ausgangspunkt bringt.<br />

Von dort aus liefern die Dabbawalas<br />

sie zu den Haustüren, an denen sie<br />

die Mahlzeiten am Morgen abgeholt<br />

haben.<br />

Nun mag man sich fragen, wozu<br />

dieser Aufwand betrieben wird.<br />

Warum verabreden sich die indischen<br />

Büromitarbeiter in der Mittagspause<br />

nicht zum gemeinsamen<br />

Lunch im Bistro um die Ecke oder<br />

kaufen sich ein belegtes Sandwich<br />

am Kiosk? In Mumbai treffen eine<br />

Vielzahl von Ethnien aufeinander.<br />

Diese Vielfalt macht es unmöglich,<br />

den Geschmack jedes Mitarbeiters<br />

zu treffen. Für Hindus ist Rind tabu,<br />

für Muslime Schwein, Daschainas<br />

sind strikte Vegetarier <strong>und</strong> essen<br />

nicht einmal Wurzelgemüse. Zudem<br />

gibt es Sikhs, Parsen, Juden,<br />

Buddhisten sowie Christen, <strong>und</strong><br />

jede dieser Gruppen hat andere kulinarische<br />

Vorlieben <strong>und</strong> religiöse<br />

Vorschriften. Des Weiteren besitzt<br />

jede indische Familie ihr spezielles<br />

Geheimrezept für Masalas (Gewürzmischungen)<br />

oder Dals (Linsenpürees),<br />

welches selbstverständlich –<br />

jedes für sich – unübertrefflich ist.<br />

Dabbawalas streiken nie<br />

Auf der Homepage der Dabbawalas<br />

(www.mydabbawala.com) werden<br />

gleich zehn gute Gründe für die<br />

hausgemachte Alternative präsentiert.<br />

Zum einen seien die frisch<br />

zubereiteten Speisen weitaus gesünder<br />

<strong>und</strong> günstiger (pro Monat<br />

werden je nach Länge <strong>und</strong> Schwierigkeitsgrad<br />

der Route fünf bis acht<br />

Euro berechnet) als Junk Food. Zum<br />

anderen würden sich die K<strong>und</strong>en<br />

den aufwendigen Transport der<br />

Mahlzeiten im überfüllten Arbeitsverkehr<br />

ersparen <strong>und</strong> jedes Risiko,<br />

nicht rechtzeitig speisen zu können,<br />

vermeiden. Auch wird darauf<br />

hingewiesen, dass auf diese Weise<br />

die Unabhängigkeit vieler Familien<br />

bewahrt würde. Tatsächlich ist die<br />

Arbeit für die meisten Dabbawalas<br />

lebensnotwendig. Ohne sie wäre<br />

es ihnen nicht möglich, sich <strong>und</strong><br />

ihre Angehörigen zu versorgen.<br />

Ein weiterer Punkt verdient ebenfalls<br />

besondere Anerkennung: Die<br />

Dabbawalas werden niemals streiken.<br />

Trotz des bescheidenen Einkommens<br />

sind die Kuriere dankbar<br />

// 1 //<br />

für die Arbeit <strong>und</strong> gehen an ihre-<br />

Grenzen, um sie ordnungsgemäß<br />

auszuführen.<br />

Soziale Sicherheit kennen die<br />

Dabbawalas nicht. Auch wenn ihr<br />

Berufszweig oft als Gewerkschaft<br />

umschrieben wird, existiert keine<br />

geregelte Absicherung für Notfälle.<br />

Dabbawalas sind Unternehmer,<br />

deren Gruppen wie Kooperativen<br />

organisiert sind. Das Geld, das jeder<br />

Träger dort kassiert, wo er die<br />

Mahlzeit abholt, wird in einen großen<br />

Topf geworfen, dessen Inhalt am<br />

Monatsende nach Abzug der Ausgaben<br />

geteilt wird. Wer ein Essen<br />

nicht planmäßig ausliefert, zahlt<br />

Strafe. Gemeinsam entscheidet die<br />

Gruppe, wie lange im Krankheitsfall<br />

gezahlt werden kann. Benötigt<br />

ein Zusammenschluss zusätzliche<br />

Kuriere, kann sich ein Anwärter für<br />

50000 Rupien einkaufen. Arbeitet<br />

er nicht zuverlässig, wird er entlassen.<br />

Allerdings bietet diese Organisationsform<br />

auch gewisse Vorteile:<br />

Die Dabbawalas sind autark <strong>und</strong><br />

können ihre Preise selbst bestimmen.<br />

So verdient jeder Kurier monatlich<br />

5000 bis 6000 Rupien (etwa<br />

100 Euro). Ein Bauarbeiter hingegen<br />

bekommt häufig nicht einmal ein<br />

Fünftel.<br />

Die Dabbawalas sind ein Symbol indischer<br />

Effizienz. Sie vereinen alle<br />

Eigenschaften, die die Metropole<br />

in den letzten Jahrzehnten immer<br />

stärker wachsen ließen: Ausdauer,<br />

Genügsamkeit, Ehrgeiz, Arbeitswillen<br />

<strong>und</strong> Ideenreichtum. Einer Umfrage<br />

zufolge gehören die Dabbawalas<br />

von Mumbai zu den 55 Dingen,<br />

auf die Inder besonders stolz sind.<br />

Somit hat sich das, was der Legende<br />

zufolge bereits 1890 begann, als<br />

ein persischer Banker auf die Idee<br />

kam, sich sein Mittagessen ins Büro<br />

liefern zu lassen, zu einem Erfolgsmodell<br />

entwickelt, ohne das ein<br />

reibungsloser Arbeitsalltag in der<br />

indischen Metropole <strong>und</strong>enkbar<br />

wäre.<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

China engagiert sich zunehmend in<br />

Afrika <strong>und</strong> unterstützt dabei im Gegenzug<br />

für Öllieferungen auch korrupte<br />

<strong>und</strong> brutale Machthaber<br />

Ein Kommentar von Alexander<br />

Brüggemeier<br />

Chinas rasant wachsende Wirtschaft<br />

benötigt so viele Rohstoffe wie nie<br />

zuvor. Einen wichtigen Prozentsatz<br />

davon bezieht sie aus Afrika. Hier<br />

stellt China mittlerweile den drittwichtigsten<br />

Handelspartner dar.<br />

Es drängt sich daher die Frage auf,<br />

ob sich die Beziehungen zwischen<br />

China <strong>und</strong> Afrika zu einer Form des<br />

neokolonialistischen Imperialismus<br />

oder einer gleichwertigen Handelspartnerschaft<br />

entwickeln werden.<br />

Die Gegenleistungen der Chinesen<br />

für die gelieferten Rohstoffe sind<br />

vielfältig: Waffen, Kredite oder sogar<br />

die Schaffung einer kompletten<br />

Infrastruktur wie beispielsweise in<br />

Nigeria. Trotz grassierender Korruption<br />

gewährte China dort einen<br />

Kredit über zwei Milliarden Dollar<br />

zur Reparatur des maroden nigerianischen<br />

Straßennetzes. Dabei<br />

wollen es die neuen Fre<strong>und</strong>e aus<br />

dem Osten aber nicht belassen <strong>und</strong><br />

planen außerdem neue Kraftwerke<br />

<strong>und</strong> ein neues Eisenbahnschienennetz.<br />

Es mag daher kaum wie ein<br />

Zufall erscheinen, dass sich der chinesische<br />

Erdölkonzern China National<br />

Petroleum kurz nach einem<br />

Besuch des Ministerpräsidenten die<br />

Konzessionen für die Ausbeutung<br />

eines nigerianischen Ölfeldes sicherte,<br />

welches als äußerst ergiebig<br />

gilt <strong>und</strong> dementsprechend umworben<br />

ist.<br />

„Business is business“<br />

Beispiele wie diese gibt es noch<br />

viele andere, sei es Angola, dessen<br />

Bevölkerung nach dreißig Jahren<br />

des Bürgerkrieges in kaum vorstellbarer<br />

Armut um das Überleben<br />

kämpft, während sich die korrupte<br />

Elite das Leben mit chinesischen<br />

// 1 //<br />

China in Afrika<br />

Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />

Milliarden für Öl versüßt. Oder die<br />

international geächtete Diktatur<br />

des Despoten Robert Mugabe in<br />

Simbabwe, dem China Kampfflugzeuge<br />

lieferte <strong>und</strong> von dem es im<br />

Gegenzug Lizenzen für den Abbau<br />

von Chrom <strong>und</strong> Platin sowie für den<br />

Anbau von Tabak erhielt.<br />

Diese Wirtschafts- <strong>und</strong> Expansionspolitik<br />

der Chinesen korrumpiert<br />

jeden Versuch der westlichen Länder,<br />

in Afrika für nachhaltige Entwicklung<br />

zu sorgen. Zwar sind auch<br />

die in den 80er Jahren von der Weltbank<br />

<strong>und</strong> anderen internationalen<br />

Organisationen wie der OECD entwickelten<br />

Konzepte wie „good and<br />

bad governance“ nicht frei von Kritik<br />

geblieben, aber sie etablierten<br />

für die Zusammenarbeit zumindest<br />

Mindeststandards auf dem Gebiet<br />

der Menschenrechte <strong>und</strong> der Einhaltung<br />

von Regierungsprinzipien<br />

wie Transparenz, Partizipation,<br />

Rechtstaatlichkeit <strong>und</strong> Effizienz.<br />

China hingegen scheinen diese Konzepte<br />

wenig zu interessieren, wie<br />

der im Pekinger Handelsministerium<br />

für Afrika zuständige Li Xiaobing<br />

unverhohlen zugibt: „Business<br />

is business, wir importieren von jedem,<br />

der uns Öl liefert.“ Der demokratische<br />

Wandel <strong>und</strong> die gerechte<br />

Verteilung seien innerstaatliche<br />

Probleme, in die China sich nicht<br />

einmischen wolle. Hauptsache also,<br />

das Öl fließt.<br />

Mittlerweile äußern hinter vorgehaltener<br />

Hand auch westliche <strong>Politik</strong>vertreter<br />

starke Kritik an der<br />

chinesischen Praxis: „Die gehen<br />

überall rein <strong>und</strong> kennen keinerlei<br />

Skrupel,“ konstatiert ein hochrangiger<br />

deutscher Botschafter, der<br />

anonym bleiben möchte. Hintergr<strong>und</strong><br />

solcher Aussagen sind etwa<br />

Chinas Rohstoffverträge mit dem<br />

Sudan: Mehr als die Hälfte des geförderten<br />

Öls fließt nach China.<br />

Die 200.000 Toten des Genozids in<br />

der Krisenregion Darfur bleiben<br />

dabei bewusst außen vor.<br />

Mehr als die Hälfte des<br />

sudanischen Öls fließt<br />

nach China<br />

Nicht nur Öl <strong>und</strong> andere Rohstoffe<br />

sind Dinge, die die chinesische Führungselite<br />

jede Ethik vergessen lassen.<br />

Auch der gerade erst erschlossene<br />

<strong>und</strong> nicht einmal ansatzweise<br />

gesättigte Markt von knapp 900 Millionen<br />

Menschen macht Afrika so<br />

interessant. Für China bedeutet er<br />

sowohl Millionen an potentiellen<br />

K<strong>und</strong>en für seine Billigprodukte als<br />

auch ein Heer an preiswerten Arbeitern.<br />

Chinesischen Investoren bieten sich<br />

viele zum Verkauf stehende Firmen,<br />

welche den chinesischen Unternehmern<br />

<strong>und</strong> Billigproduzenten die<br />

Ausweitung ihres Geschäftsmodells<br />

auf einen neuen Kontinent ermöglichen<br />

<strong>und</strong> mit denen sie ihr<br />

geschäftliches Engagement<br />

in Europa noch stärker<br />

ausbauen können.<br />

Ihnen eröffnet<br />

sich auf diesem<br />

Wege<br />

beispielsw<br />

e i s e<br />

d i e


Möglichkeit, mittels afrikanischer<br />

Firmen die Einfuhrbeschränkungen<br />

der EU für chinesische Produkte<br />

zu umgehen. Für die eigenständige<br />

Entwicklung des Kontinents<br />

ist dieses chinesische Engagement<br />

indes von sehr zweifelhafter Wirkung.<br />

Für Sambias Textilindustrie<br />

etwa hatte die wirtschaftliche Intervention<br />

Chinas drastische Folgen.<br />

Inzwischen existiert dort nur<br />

noch ein Drittel der bisherigen<br />

afrikanischen Textilproduzenten,<br />

nachdem das Land mit Billigerzeugnissen<br />

aus dem Osten überflutet<br />

worden ist.<br />

Handelt es sich also um eine „winwin-Situation“<br />

oder werden alte<br />

Kolonialstrukturen wiederbelebt?<br />

Zwar sprechen chinesische Offizielle<br />

davon, dass „jede Beziehung zwischen<br />

uns <strong>und</strong> einem afrikanischen<br />

Staat eine Fre<strong>und</strong>schaft zwischen<br />

Partnern auf gleicher Augenhöhe<br />

ist“, aber nicht nur europäische<br />

Wissenschaftler, sondern auch der<br />

südafrikanische Präsident Thabo<br />

Mbeki erkennen die Entwicklungen,<br />

die sich abzeichnen: „Dadurch<br />

ist Afrika zur Unterentwicklung<br />

verdammt. Es besteht die Gefahr,<br />

dass zu China eine Beziehung aufgebaut<br />

wird, die koloniale Abhängigkeiten<br />

wiederholt.“ Ähnlich<br />

eindeutige Worte finden auch viele<br />

westliche Wissenschaftler: Afrika<br />

sei Rohstofflieferant <strong>und</strong> Quelle von<br />

Arbeitskräften, die in chinesischen<br />

Fabriken <strong>und</strong> Bergwerken <strong>und</strong> auf<br />

deren Baumwoll- <strong>und</strong> Tabakfeldern<br />

schuften. Somit hat sich Afrika<br />

nicht viel verändert. Noch immer<br />

sind sie die Knechte, nur sind die<br />

Massas jetzt gelb, nicht weiß.<br />

Wiederaufbau kolonialer<br />

Abhängigkeiten?<br />

// 1 //<br />

Auf der anderen Seite sollte man<br />

sich auch diese Fragen stellen: Haben<br />

wir nicht einfach manchmal<br />

Angst vor dieser neuen chinesischen<br />

Supermacht? Ist es unser Reflex gegenüber<br />

der „gelben Gefahr“, dass<br />

wir kritisieren <strong>und</strong> versuchen, China<br />

in ein schlechtes Licht zu rücken,<br />

obwohl man auch bei uns auf eine<br />

gewisse Doppelmoral verweisen<br />

könnte? Hat nicht beispielsweise<br />

die amerikanische Außenministerin<br />

im Weißen Haus dem Präsidenten<br />

von Äquatorialguinea Teodoro Obiang<br />

herzlich die Hand geschüttelt,<br />

obwohl dieser bekanntermaßen einer<br />

der schlimmsten Staatsverbrecher<br />

Afrikas ist? Die Tatsache, dass<br />

dieser Staat über große Ölvorkommen<br />

verfügt, welche hauptsächlich<br />

nach Amerika fließen, dürfte dabei<br />

genauso eine gewichtige Rolle gespielt<br />

haben wie bei der Auswahl<br />

der politischen Fre<strong>und</strong>e Pekings in<br />

Afrika.<br />

Aber auch wenn der Westen sich<br />

nicht immer vorbildlich verhält,<br />

muss festgestellt werden, dass vor<br />

allem für China Brechts Frage nach<br />

dem Fressen <strong>und</strong> der Moral aus<br />

seiner Dreigroschenoper wohl beantwortet<br />

ist: Zugriff auf wirtschaftliches<br />

Potenzial hat<br />

Vorrang vor Menschenrechten<br />

<strong>und</strong> guter Regierungsführung.<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Ewiger Konflikt<br />

Wie geht es weiter in Osttimor?<br />

Von Clara Lienike<br />

Nach der lang ersehnten internationalen<br />

Anerkennung als souveräner<br />

Staat hegte die internationale Staatengemeinschaft<br />

im Spätfrühling<br />

des Jahres 2002 große Hoffnungen.<br />

Mit der Unabhängigkeit Timor-<br />

Lestes sollte dem Land nun endlich<br />

ein Ende der Gewalt <strong>und</strong> seinen<br />

Bewohnern einen Ausweg aus der<br />

katastrophalen Sicherheitslage <strong>und</strong><br />

erdrückenden Armut ermöglicht<br />

werden. Mit dem Staatspräsidenten<br />

Mari Alkatiri <strong>und</strong> José Ramos-Horta,<br />

der als damaliger Sprecher der<br />

Unabhängigkeitsbewegung im Dezember<br />

1996 für sein Engagement<br />

mit dem Friedensnobelpreisträger<br />

ausgezeichnet wurde, schien es<br />

zunächst, dass die Ausgangsvoraussetzungen<br />

dafür gegeben seien.<br />

Jedoch nur vier Jahre nach seiner<br />

Unabhängigkeitserklärung wurde<br />

Timor-Leste von den schwersten<br />

Unruhen erschüttert, die es seit seiner<br />

Unabhängigkeit erlebt hatte. 37<br />

Menschen wurden innerhalb eines<br />

Monats getötet, 150.000 flüchteten.<br />

// 1 //<br />

Auslöser für diese erneute Welle<br />

der Gewalt war die Desertation von<br />

vierzig Prozent der timoresischen<br />

Soldaten, die damit ihren Prostest<br />

über den Zustand der nationalen<br />

Verteidigungskräfte zum Ausdruck<br />

brachten. Die schweren Ausschreitungen<br />

zwangen Präsident Alkatiri<br />

schließlich zum Rücktritt. Dieser<br />

Rücktritt Alkatiris hinterließ das<br />

Land bis zu den Neuwahlen im Jahr<br />

2007 in erneuter Unsicherheit.<br />

Seit 2007 wird der Staat von einer<br />

internationalen Schutztruppe abgesichert,<br />

zu der insbesondere Soldaten<br />

der ehemaligen Kolonialmacht<br />

Portugal gehören. Erschwert wird<br />

die Lage dadurch, dass aufgr<strong>und</strong> des<br />

bürgerkriegsähnlichen Zustands die<br />

Unterstützung Indonesiens erbeten<br />

wurde, obwohl das Verhältnis des<br />

jungen Staates zum großen Nachbarn<br />

auf Gr<strong>und</strong> seiner Geschichte in<br />

besonderem Maße gespannt ist:<br />

Nachdem Timor-Leste im Jahr 1975<br />

seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht<br />

Portugal proklamiert<br />

hatte, gab Indonesien zu erkennen,<br />

den jungen Staat nicht anerkennen<br />

<strong>und</strong> die Konsolidierung des Landes<br />

durch Einschreiten des Militärs<br />

verhindern zu wollen. Im schicksalhaften<br />

Folgejahr wurde Timor-<br />

Leste für einen Zeitraum von mehr<br />

als zwei Jahrzehnten vom Nachbarstaat<br />

annektiert <strong>und</strong> offiziell zur<br />

27. Provinz Indonesiens deklariert.<br />

Die kommenden 24 Jahre der indonesischen<br />

Unterdrückung sind von<br />

brutaler Gewalt <strong>und</strong> Völkermord<br />

geprägt, in der mindestens 200.000<br />

der insgesamt 850.000 Timorenser<br />

ums Leben kamen.<br />

Auch nachdem der 1965 an die<br />

Macht gekommene General Suharto,<br />

der den Befehl zum Einmarsch in<br />

Timor-Leste gegeben hatte, durch<br />

einen Regierungswechsel 1998 in<br />

Jakarta abgelöst <strong>und</strong> der östlichen<br />

Inselhälfte ein baldiges Referendum<br />

über die Unabhängigkeit versprochen<br />

worden war, verbesserte<br />

sich die Situation nur marginal. Ein<br />

erneuter trauriger Höhepunkt der<br />

Ausschreitungen ereignete sich im<br />

Sommer des Jahres 1999 im Zuge<br />

der landesweiten Abstimmung über<br />

die Unabhängigkeit Timor-Lestes.


Nachdem 78,5% der Bevölkerung<br />

in einem Referendum für einen<br />

souveränen Staat gestimmt hatten,<br />

verübten pro-indonesische Milizen<br />

in Timor-Leste ein erneutes Massaker.<br />

Auch eine UN-Resolution vom<br />

8. September 2000, in der die indonesische<br />

Regierung aufgefordert<br />

wurde, aktiv Maßnahmen gegen die<br />

bewaffneten Milizen, die jenseits<br />

der Grenze auch ein Jahr nach dem<br />

Unabhängigkeitsreferendum ca.<br />

130.000 Timorenser in Lagern festhielten,<br />

zu ergreifen, konnte angesichts<br />

der innenpolitischen Krise<br />

Indonesiens nicht zum Abebben der<br />

Gewalt beitragen.<br />

Seit den neuesten Ausschreitungen<br />

wird das Land, insbesondere die<br />

Hauptstadt Dilis, von einer internationalen<br />

Schutztruppe unter der<br />

Führung von Portugal bewacht.<br />

R<strong>und</strong> um die Uhr patrouillieren<br />

schwer bewaffnete UN-Soldaten<br />

in gepanzerten Fahrzeugen in den<br />

Straßen <strong>und</strong> versuchen, randalierenden<br />

Jugendbanden Einhalt zu<br />

gebieten.<br />

Der neue Staatspräsident Ramos-Horta<br />

sieht die hohe Jugendarbeitslosigkeit<br />

als Hauptgefahr<br />

für die Stabilisierung Timor-Lestes<br />

<strong>und</strong> hofft, diese während seiner<br />

Amtsperiode senken zu können.<br />

Er sieht weniger finanzielle denn<br />

administrative Probleme, die einer<br />

Konsolidierung des Landes entgegen<br />

stehen. Timor-Leste hat in den<br />

letzten beiden Jahren allein durch<br />

Erdölressourcen über 1,2 Milliarden<br />

Dollar eingenommen, jedoch sind<br />

die Lebensbedingungen der Bevölkerung<br />

nach wie vor von Armut<br />

<strong>und</strong> Unsicherheit geprägt, da es an<br />

einem effizienten Verteilungsapparat<br />

fehlt.<br />

Dies hat zur Folge, dass Timor-Leste<br />

auf internationale Hilfe angewiesen<br />

bleibt, solange es nicht gelingt, einen<br />

funktionerenden Staatsapparat<br />

aufzubauen <strong>und</strong> es an Richtern,<br />

Staatsanwälten <strong>und</strong> einsatzfähigen<br />

Polizisten mangelt.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass Timor-Leste<br />

hiermit nicht von der internationalen<br />

Gemeinschaft allein gelassen<br />

wird.<br />

// 17 //<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 18 //<br />

Goodbye, Hutongs<br />

Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />

Von Fabian Klemme<br />

China ist im Umbruch. Wer das hört,<br />

denkt zunächst an das rasante Wirtschaftswachstum,<br />

die Öffnung gen<br />

Westen oder den Menschenrechtsdialog.<br />

Doch an kaum einem anderen<br />

Ort im bevölkerungsreichsten<br />

Land der Erde tritt dieser Wandel<br />

so offensichtlich zutage wie in den<br />

Straßen Pekings.<br />

Die meisten Menschen werden mit<br />

der Hauptstadt Chinas wohl vor<br />

allem die Verbotene Stadt, das wohl<br />

behütete Zentrum des früheren<br />

Kaiserreichs, oder den Platz des<br />

Himmlischen Friedens in Verbindung<br />

bringen. Doch vom Stadtzentrum<br />

erstreckt sich rechts <strong>und</strong> links<br />

entlang der breiten Ausfallstraßen<br />

über Kilometer das wahre Herz der<br />

Stadt <strong>und</strong> ihr kultureller Schatz: die<br />

Hutongs.<br />

Die Hutongs, diese kleinen Gassen,<br />

die den Charme eines Landdorfs<br />

versprühen, sind wahre Rückzugsgebiete<br />

in der Hektik der Großstadt<br />

<strong>und</strong> zugleich Schauplatz<br />

pulsierenden gesellschaftlichen Lebens.<br />

Sie geben diesem geschichtsträchtigen<br />

Ort einen Charakter, ein<br />

Gesicht. Für europäische Augen zunächst<br />

etwas schmutzig wirkend,<br />

schlängeln sich tausende dieser<br />

Gässchen von den Hauptverkehrsachsen<br />

in die Labyrinthe der riesigen<br />

Häuserkarrees. Sie werden<br />

flankiert von den traditionellen sihe<br />

yuan, meist grauen, einstöckigen<br />

Vier-Harmonien-Höfen. Ursprünglich<br />

bot ein solcher Hof für nur eine<br />

Familie ein zu Hause, doch seit der<br />

Ein-Kind-<strong>Politik</strong> gehören Großfamilien<br />

der Vergangenheit an, <strong>und</strong><br />

so werden die Häuser um einen Hof<br />

heute meistens von mehreren Familien<br />

bewohnt.<br />

Charme eines Landdorfs<br />

Schlendert man durch diese Gassen,<br />

vergisst man schnell – trotz<br />

des allgegenwärtigen Smogs – dass<br />

man sich in einer 16-Millionen-


Einwohner Metropole befindet. Da<br />

jagen Kinder H<strong>und</strong>en hinterher<br />

<strong>und</strong> Frauen sitzen schwatzend in<br />

der Abendsonne. Ein alter Mann<br />

kommt summend mit seinem Kanarienvogelkäfig<br />

in der rechten<br />

Hand <strong>und</strong> seiner Teeflasche in der<br />

linken aus dem Park <strong>und</strong> grüßt<br />

seinen Nachbarn, der gerade in<br />

Pyjamahosen <strong>und</strong> Unterhemd mit<br />

einigen anderen Herren an einem<br />

kleinen Plastiktisch Majong spielt.<br />

Junge Mädchen sitzen kichernd auf<br />

Höckerchen vor einer winzigen Garküche<br />

<strong>und</strong> essen Maultaschen <strong>und</strong><br />

Lammspießchen. Über den Dächern<br />

dreht ein Taubenschwarm seine<br />

Kreise <strong>und</strong> beschert seinem Besitzer,<br />

der den Verschlag zum abendlichen<br />

Ausflug geöffnet hat, so der<br />

verbreitete Glaube, ein langes Leben.<br />

In der Luft mischen sich Grill-<br />

<strong>und</strong> Zigarettenrauch, Gewürze,<br />

frischer Tee, aber auch Abgase <strong>und</strong><br />

Waschhaus-Geruch zu einer unverwechselbaren<br />

Melange. Die kleinen<br />

Plätze laden zum verweilen ein <strong>und</strong><br />

um jede Ecke <strong>und</strong> hinter jeder Tür<br />

zu einem der Höfe erwartet einen<br />

eine neue Überraschung.<br />

Laut Statistik gibt es in Peking noch<br />

6000 solcher Hutongs die teilweise<br />

auf eine über 700-jährige Geschichte<br />

zurückblicken. Doch in Zeiten, in<br />

denen die aufstrebende Bevölkerung<br />

einen scheinbar unstillbaren<br />

Hunger nach Wohnraum hat <strong>und</strong><br />

in- <strong>und</strong> ausländische Investoren<br />

Räumlichkeiten benötigen, müssen<br />

viele der traditionellen Häuser modernen<br />

Wohnblocks <strong>und</strong> Bürotürmen<br />

weichen. Und so hat man bisweilen<br />

den Eindruck, sich auf einer<br />

einzigen riesigen Baustelle zu befinden,<br />

auf der Kräne wie Pilze aus<br />

dem Boden schießen. Wo gestern<br />

noch ein Hutong stand, werden<br />

heute auf 24-St<strong>und</strong>en-Baustellen<br />

mit einer Armee von Wanderarbeitern<br />

in Windeseile <strong>und</strong> unter<br />

schockierenden Sicherheitsbedingungen<br />

20-stöckige Wohnhäuser<br />

hochgezogen – mit Badezimmern,<br />

Aufzügen <strong>und</strong> Telefonleitungen.<br />

Anderenorts entstehen Stadien,<br />

Sportstätten <strong>und</strong> Infrastruktur:<br />

Für die nahenden olympischen<br />

Sommerspiele <strong>und</strong> bis zu deren<br />

Eröffnung soll die Stadt <strong>und</strong> mit<br />

ihr ganz China im schönsten Glanz<br />

erstrahlen. Und so stehen zwar die<br />

schönsten Höfe <strong>und</strong> die Residenzen<br />

ehemaliger Hofbeamter unter<br />

Denkmalschutz, doch die meisten<br />

Hutongs werden wohl in absehbarer<br />

Zeit unwiederbringlich das<br />

Zeitliche segnen. Damit weicht die<br />

Gemütlichkeit <strong>und</strong> Geborgenheit<br />

der Hutongs der Anonymität moderner<br />

Hochhaussiedlungen, wie<br />

sie sich in allen modernen Städten<br />

der Welt finden, <strong>und</strong> Peking verliert<br />

einen seiner charmantesten Charakterzüge.<br />

Ein scheinbar unstillbarer<br />

Hunger nach Wohnraum<br />

Überwältigt <strong>und</strong> schockiert ob dieser<br />

rasanten <strong>und</strong> scheinbar brutalen<br />

Entwicklung frage ich einen<br />

befre<strong>und</strong>eten chinesischen Studenten,<br />

was denn die Einwohner<br />

Pekings von dieser Entwicklung<br />

hielten. Seine Antwort ist einfach:<br />

„Wenn du, um auf die Toilette zugehen,<br />

jedes Mal dein Haus verlassen<br />

musst <strong>und</strong> daheim weder Telefonanschluss<br />

noch Heizung hast, tritt<br />

das Interesse an Tradition schnell<br />

hinter dem Bedürfnis nach besseren<br />

Lebensumständen zurück. Der<br />

Bau großer Wohnhäuser ermöglicht<br />

es dabei viel mehr Menschen, in<br />

den Genuss besserer Lebensqualität<br />

zu kommen, als die kostenintensive<br />

Modernisierung der Hutongs.“ Diese<br />

Aussage traf den w<strong>und</strong>en Punkt<br />

des Dilemmas, das zwischen Tradition<br />

<strong>und</strong> Modernisierung besteht.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass die Stadtplaner<br />

in Peking – trotz der nachvollziehbaren<br />

Bemühungen eine<br />

moderne Stadt mit hohen Lebensstandards<br />

für alle zu schaffen – die<br />

Tradition nicht aus den Augen verlieren<br />

<strong>und</strong> die Bewahrung dieser<br />

einmaligen Orte fördern. Denn die<br />

Hutongs stehen nicht nur für unverwechselbare<br />

Architektur, sondern<br />

für eine Lebensart, die einmalig ist<br />

<strong>und</strong> deren Verlust nicht nur einer<br />

Chinas, sondern wohl der ganzen<br />

Menschheit sein würde. Es sei jedem,<br />

der einmal die Chance hat, in<br />

diese w<strong>und</strong>ervolle Stadt zu reisen,<br />

ans Herz gelegt, die Hutongs zu besuchen.<br />

Solange es sie noch gibt.<br />

// 1 //<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Eva Rhode<br />

Drei St<strong>und</strong>en. So lange dauern indische<br />

Filme in der Regel mindestens<br />

– <strong>und</strong> es für die Zuschauer<br />

unmöglich, so lange ohne Toilettenpause<br />

oder die Möglichkeit, Snacks<br />

zu kaufen auszukommen. Aus dieser<br />

Gewohnheit heraus macht man in<br />

Indien auch bei den kürzeren ausländischen<br />

Filmen nach der Hälfte<br />

eine Pause. Die ist auch nötig, um<br />

sich zu beruhigen: Inder gehen ins<br />

Kino, um drei St<strong>und</strong>en lang zu lachen<br />

<strong>und</strong> zu weinen. Emotionen<br />

sind in Bollywood-Produktionen<br />

extrem wichtig <strong>und</strong> nach Verlassen<br />

des Kinos verspürt man nicht selten<br />

einen Katharsis-Effekt.<br />

Gut tausend Bollywood-<br />

Filme <strong>und</strong> 3,6 Milliarden<br />

Tickets jährlich<br />

Laut Businessweek werden jedes<br />

Jahr 3,6 Milliarden Tickets für Bollywood-Vorstellungen<br />

verkauft.<br />

Bollywood ist dabei nur ein Teil<br />

der indischen Filmindustrie, doch<br />

allein dieser produziert mehr als<br />

1000 Filme pro Jahr. Der Begriff Bollywood<br />

ist eine Zusammensetzung<br />

aus Bombay, heutzutage Mumbai<br />

genannt, <strong>und</strong> Hollywood. Und auch<br />

wenn es im Gegensatz zu Hollywood<br />

keinen real existierenden Ort<br />

namens Bollywood gibt, kann man<br />

doch sagen, dass Bombay die inoffizielle<br />

Filmhauptstadt Indiens ist.<br />

Das indische Filmgeschäft existiert<br />

seit über 90 Jahren <strong>und</strong> ist damit<br />

äußerst traditionsreich. Der erste<br />

Stummfilm wurde bereits 1913<br />

produziert <strong>und</strong> die Beliebtheit der<br />

Bollywood-Filme ist heute Generationen<br />

übergreifend hoch. Ganze<br />

Straßenzüge sind mit riesigen<br />

Postern der beliebtesten Schauspieler<br />

<strong>und</strong> den neusten Streifen<br />

geschmückt, die teilweise sogar<br />

handgemalt sind. Trotz der großen<br />

Zahl an ausländischen Filmen, die<br />

in indischen Kinos gezeigt werden,<br />

sind Bollywood-Filme aus dem Pro-<br />

// 20 //<br />

Indiens Filmindustrie<br />

Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />

gramm nicht wegzudenken. Dabei<br />

gefällt vor allem den Jugendlichen,<br />

dass die Produzenten <strong>und</strong> Regisseure,<br />

die Filme an ihre Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Wertvorstellungen angepasst<br />

haben. So tragen die Schauspieler<br />

vermehrt westliche Kleidung an<br />

Stelle der traditionellen indischen<br />

Gewänder. Auch arrangierte Heiraten<br />

verschwinden zunehmend<br />

aus den Filmen <strong>und</strong> werden durch<br />

selbstorganisiertes Kennenlernen<br />

<strong>und</strong> Heiraten ersetzt.<br />

Besonderes Merkmal von Bollywood-Filmen<br />

neben den typischen<br />

Themen, die behandelt werden, sind<br />

die Musik <strong>und</strong> der Tanz. „Ein Gr<strong>und</strong>,<br />

warum Bollywood-Filme immer<br />

noch so beliebt sind, ist sicherlich<br />

auch die Tatsache, dass die Musik<br />

sehr ergreifend ist <strong>und</strong> man darauf<br />

vertrauen kann, dass bestimmte<br />

Themen behandelt werden“, meint<br />

Nayyia. Dabei haben sich jedoch die<br />

Themen im Lauf der Jahrzehnte gewandelt.<br />

In den Siebzigern standen<br />

hauptsächlich politische Themen<br />

wie etwa der Kampf gegen den Kapitalismus<br />

im Vordergr<strong>und</strong>. In den<br />

folgenden zwanzig Jahren wandelten<br />

sich die Filme indes immer<br />

mehr zu Liebesfilmen, wobei in den<br />

Neunzigern verstärkt Elemente aus<br />

Actionfilmen hinzutraten. Aktuell<br />

sind die indischen Traditionen, die<br />

Familie <strong>und</strong> Auswanderung das dominante<br />

Thema der Streifen. Dabei<br />

wird zwar auch Kritik an veralteten<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> Traditionen geäußert,<br />

doch im Vordergr<strong>und</strong> stehen<br />

Schicksalsdramatik, Intrigen<br />

<strong>und</strong> natürlich Liebe.<br />

Indische Traditionen,<br />

Tänze <strong>und</strong> Gesang<br />

Die Zuschauer erwarteten dies für<br />

ihr Geld. So muss selbst in „Blockbustern“<br />

wie etwa dem „Kabul-Express“,<br />

der die Geschichte zweier<br />

indischer Reporter erzählte, die<br />

aus Afghanistan über den Krieg<br />

berichten immer auch sehr viel getanzt<br />

<strong>und</strong> gesungen werden. Vor<br />

der Kulisse des kriegszerrütteten<br />

Afghanistans wirkt dies zwar etwas<br />

unpassend, allerdings haben<br />

Kinofilme die nicht reichlich Musik<br />

<strong>und</strong> Tanz beinhalten, in Indien<br />

so gut wie keine Chance habe. In<br />

Indien werden extra Kurse angeboten,<br />

in denen man die Tänze zu ausgewählten<br />

Filmen erlernen kann<br />

– Fans führen sie dann in speziellen<br />

Wettbewerben auf. Songs, die es<br />

zum So<strong>und</strong>track eines populären<br />

Streifens schaffen, haben nahezu<br />

die Garantie, zum Erfolgshit auf<br />

dem Subkontinent zu werden.<br />

Eine Altersfreigabe gibt es im indischen<br />

Kino fast nie. Kinder schauen<br />

sich Bollywood-Filme buchstäblich<br />

schon mit Null Jahren an: Eltern<br />

gehen mit ihren kindern schon von<br />

klein auf in die Filmtheater, Bedenken<br />

gibt es lediglich bei ausländischen.<br />

Aus Sicht konservativer<br />

Eltern vielleicht mit gutem Gr<strong>und</strong>,<br />

denn Sexszenen oder zu viel nackte<br />

Haut, kommen in Bollywood-Filmen<br />

gar nicht vor. Auch Küsse vor<br />

der Kamera sind keine Selbstverständlichkeit.<br />

Bollywood reflektiert die Realität<br />

so wie es Hollywood tut. Manches<br />

ist real <strong>und</strong> manches ist einfach nur<br />

Glanz <strong>und</strong> Glitzer <strong>und</strong> absolute Fiktion.<br />

In manchen Teilen, etwa der<br />

Kleidung oder der Partnerschaft<br />

hat sich die indische <strong>Gesellschaft</strong><br />

an westliche Traditionen angepasst<br />

<strong>und</strong> genau derselbe Prozess findet<br />

auch in der Filmindustrie statt. Allerdings<br />

es ist zum Beispiel Hindi<br />

als Filmsprache immer noch eher<br />

die Regel als die Ausnahme.<br />

Die Filme sind nicht nur in Indien<br />

oder in Pakistan, wo man das dem<br />

Hindi verwandte Urdu spricht, verbreitet,<br />

sondern lassen sich mittlerweile<br />

auch in jedem Land auf<br />

der Welt finden, in das Inder ausgewandert<br />

sind. Von besonderer<br />

Bedeutung sind dabei die Vereinigten<br />

Staaten, das Vereinigte Königreich<br />

sowie die arabischen Emirate.<br />

Daher werden viele der Filme ins


Englische oder Arabische synchronisiert.<br />

Altersfreigaben gibt es<br />

nicht<br />

Ausgerechnet die Schweiz ist Drehort<br />

vieler Bollywood-Filme <strong>und</strong><br />

Thema vieler Bollywood-Songs. Die<br />

Filme haben einen großen Einfluss<br />

auf die indischen Zuschauer <strong>und</strong><br />

viele Marken, die in den Filmen positiv<br />

dargestellt werden, steigen so<br />

auch in der Achtung der Kinobesucher.<br />

Die Schweiz<br />

hat sich so<br />

unter den Indern zu einem sehr begehrten Reiseziel<br />

gemausert. Ob das bedeutet, dass die Filme<br />

demnächst auch ins Schweizerdeutsche synchronisiert<br />

werden <strong>und</strong> sich vielleicht<br />

schweizerische Traditionen, wie etwa<br />

das Käsefondue in Mumbai durchsetzen<br />

werden, wird allerdings<br />

erst die Zeit zeigen.<br />

// 21 //<br />

Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


25<br />

Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />

Flaggen im Osten Europas<br />

// 22 //<br />

26<br />

A Growing Economy for Everyone?<br />

The history of the Russion trade unions movement<br />

29<br />

Die Rote Re-Revolution<br />

Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />

30<br />

Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />

Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />

32<br />

Kurztrips nach Osteuropa<br />

Vier Städte für ein Halleluja<br />

Prag - Stadt der tausend Türme<br />

Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />

Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />

Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen


Europa<br />

Ausgabe 1/2008<br />

<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 2 //


Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />

Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />

wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Europas<br />

Betrachtet man die Flaggen der verschiedenen Staaten im östlichen Europa, so springen drei Farben<br />

sofort ins Auge: Rot, Weiß <strong>und</strong> Blau dominieren auf vielen von ihnen in den verschiedensten<br />

Kombinationen <strong>und</strong> Mustern. Von der Tschechischen Republik über die Slowakei, Slowenien <strong>und</strong><br />

Kroatien bis hin zur Russischen Föderation – stets sind es diese so genannten panslawischen Farben,<br />

die das Bild der jeweiligen Flagge prägen. Spätestens seit dem panslawischen Kongress in<br />

Prag von 1848, bei dem Vertreter der verschiedenen slawischen Völker über eine mögliche Vereinigung<br />

debattierten, waren diese Farben als „die slawischen“ anerkannt. Eine tiefere individuelle<br />

Bedeutung kommt jeder der drei Farben aber nicht zu.<br />

Rot – Weiß – Blau<br />

Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />

Auf den meisten Fahnen sind die Farben in drei wagerechten Streifen übereinander angeordnet,<br />

oftmals – aber keineswegs immer – ist der oberste Streifen der weiße (Russland, Slowenien, die<br />

Slowakei). Häufig wird das Nationalwappen in die Fahne integriert – so bei Kroatien, der Slowakei<br />

oder Slowenien. Von diesem Bild hebt sich die tschechische Fahne ein wenig ab: Sie kennzeichnet<br />

vor allem das große blaue Dreieck am Vorliek, dem Teil der Flagge, der dem Fahnenstock, an dem<br />

sie gehisst wird, am nächsten ist. Das Dreieck wurde in die ursprünglich nur rot-weiße Fahne<br />

eingefügt, um sie von der Polens zu unterscheiden. Auf der Fahne treffen sich die panslawischen<br />

Farben mit denen der tschechischen Regionen: So will es der Zufall, dass Blau die Farbe Mährens<br />

ist, während rot <strong>und</strong> weiß traditionell Böhmen repräsentieren.<br />

Ebenfalls eine Sonderstellung unter den panslawisch geprägten Fahnen nimmt die bulgarische<br />

Flagge ein. Auch sie besitzt einen roten <strong>und</strong> einen weißen Streifen, doch der blaue wurde bei<br />

ihr durch einen grünen Streifen ersetzt, um sie von der russischen Trikolore unterscheiden zu<br />

können. Grün wurde dabei gewählt, um die Jugendlichkeit des aufbrechenden Volkes zu symbolisieren.<br />

Grün soll Jugendlichkeit symbolisieren<br />

Eine sehr traditionsreiche Fahne aus dem südosteuropäischen Raum ist die griechische. Neun<br />

blaue <strong>und</strong> weiße Streifen repräsentieren die neun Silben des Rufes aus dem Unabhängigkeitskrieg,<br />

der übersetzt so viel bedeutet wie „Freiheit oder Tod!“. Dabei steht blau für Himmel <strong>und</strong><br />

Meer, während weiß an die Reinheit des griechischen Freiheitskampfes erinnern soll. Das Kreuz<br />

im oberen linken Viertel, einen Bereich der Fahne, den man auch als Gösch bezeichnet, schließlich<br />

repräsentiert das Gottvertrauen des griechischen Volkes.<br />

Anders als die griechische Fahne stammt die Bosnien <strong>und</strong> Herzegowinas aus der jüngeren Vergangenheit:<br />

Sie wurde vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erst 1998 im Rahmen des zur<br />

Unabhängigkeit des Landes führenden Friedensprozesses nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg<br />

vergeben. Kreiert hat sie die so genannte Westendorp-Kommission, die eigens zur Schöpfung einer<br />

neuen Flagge ins Leben gerufen worden war <strong>und</strong> sich aus Mitgliedern aller drei ethnischen<br />

Volksgruppen zusammensetzte – Serben, Kroaten <strong>und</strong> Muslimen. Das gelbe Dreieck vollzieht den<br />

geographischen Umriss des Staatsgebiets nach, während die als unendlich gedachte Kette von<br />

Sternen ebenso wie die Farben von der Fahne der EU stammt. Auf diese Weise soll die Verb<strong>und</strong>enheit<br />

der Region mit dem westlichen Europa zum Ausdruck gebracht werden.<br />

// 2 //<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Zalina Sanova<br />

If we embrace the idea that economic<br />

growth leads to a natural solution<br />

of social issues and matters<br />

connected with the recognition by<br />

people of their rights as a social<br />

group, taxpayers, citizens and simply<br />

human beings, then the gain in<br />

importance of trade unions in the<br />

Russian Federation could serve as<br />

an example for it. One of the most<br />

surprising, yet not so rare questions<br />

that legal practitioners and consultants<br />

face today is how to avoid a<br />

trade union. Is that possible, and<br />

if not, is there anything that could<br />

be done instead? While it is quite<br />

pronounced that a corporation as<br />

an employer would be concerned<br />

about these matters in the face of<br />

the danger of losing the absolute<br />

power over its staff, the “surprising”<br />

part results from the fact that<br />

nowadays employees are interested<br />

in protecting their rights and are<br />

eager to stand up for them. This is<br />

almost unthinkable in a country<br />

where the unemployment rate has<br />

been an issue for decades and employees<br />

have been more interested<br />

in keeping their position than fostering<br />

opportunism with the employer.<br />

However, the famous case of<br />

Ford Motor Company in Leningrad<br />

Oblast (North-Western Russia),<br />

which has been a burning conflict<br />

for years and reached its pinnacle<br />

in causing a nation-wide dispute<br />

this autumn, shows that the trend<br />

goes beyond unity within one company<br />

and we are already facing an<br />

inter-industrial and inter-territorial<br />

unification which puts on alert<br />

most of the international corporations,<br />

especially the “blue-collar”<br />

industries.<br />

Historically, trade unions as officially<br />

recognized organizations date<br />

back to 1905. Before that, they were<br />

prohibited, although they already<br />

existed de facto as <strong>und</strong>ergro<strong>und</strong><br />

unions. On the edge of the new<br />

century a few isolated movements<br />

within the working class started to<br />

// 2 //<br />

A Growing Economy for Everyone?<br />

The history of the Russian trade unions movement<br />

mold into more complex and meaningful<br />

associations. Between 1905<br />

and 1907, the first revolution started<br />

to open regional, inter-industrial<br />

divisions, central union commissions<br />

and bodies with their own<br />

hierarchy. Main requirements of the<br />

time were to limit the working day<br />

to 8 hours per day, a salary increase,<br />

a ban on night and overtime work, a<br />

ban on child labour, improved working<br />

conditions for women, cancellation<br />

of penalties et cetera. Trade<br />

union charters were introduced<br />

and the employers were required to<br />

conclude collective agreements. At<br />

that time, trade unions were expanding<br />

through the corporate level in<br />

contrast to previous unification having<br />

been based on profession.<br />

After the Revolution, trade unions<br />

lost their initial independence and<br />

grew into public mass organizations,<br />

although in the 1920s, trade<br />

unions were still powerful and<br />

could even promote opposing positions<br />

within the party. Basically,<br />

the trade unions at that time were<br />

lobbying for the transfer of certain<br />

social and economic state duties to<br />

their responsibilities. They also de<br />

facto played a major role in social<br />

life at that time, being the meeting<br />

point of the representatives of the<br />

working class for a variety of<br />

issues: trade unions were<br />

an effective means of advancement<br />

of literacy,<br />

distribution of supplies<br />

a n d s o l v i n g<br />

unemployment problems. However,<br />

later on, trade unions became part<br />

of the state mechanism with more<br />

formal functions and standing.<br />

They could not oppose the party<br />

and became mediators between the<br />

employees and, now, the state rather<br />

than capital. By all means, trade<br />

unions at that time were another<br />

effective means of control by the<br />

state, considering that the majority<br />

of the population were members of<br />

the trade unions. They did, however,<br />

preserve all their major functions:<br />

representation, monitoring,<br />

defense. This can partly be attributed<br />

to the fact that trade unions<br />

were distributing social benefits<br />

and were deeply involved in moral<br />

and cultural issues – practically<br />

engaging with the<br />

employees‘ organization of<br />

their free time and planning<br />

leisure and entertainment<br />

activities.<br />

Over the time this function<br />

won over the real<br />

significance of trade<br />

unions against<br />

the overall ceasing<br />

activity of<br />

trade unions<br />

as the employees‘representative<br />

bodies and lack<br />

of enthusiasm by<br />

the people in a<br />

country where<br />

too much enthusiasm


and activity could draw unwanted<br />

interest. However, just as in any<br />

other country with a history of trade<br />

unions, they still could be used<br />

as spring-board for a career, in its<br />

twisted meaning back then.<br />

This tendency became particularly<br />

prominent in the period of stagnation<br />

of Soviet economy, which<br />

lead to a crisis of trade unions in<br />

the Soviet Union. After the abolition<br />

of the requirement that<br />

workers had to be members<br />

of a trade union, there was<br />

a mass deflux of employees<br />

from the organizations who<br />

did not see any sense in being<br />

part of a practically useless<br />

mechanism.<br />

The collapse of the Soviet<br />

Union triggered a renaissance<br />

of the trade union<br />

mo- vements in other<br />

post-communist<br />

countries,<br />

whereas in<br />

R u s s i a ,<br />

p e o p l e<br />

w e r e<br />

d i s -<br />

a p -<br />

pointed from the existing institutions.<br />

The fissure became obvious<br />

in the beginning of the 20th century<br />

when the existing trade unions<br />

abandoned their mentees and chose<br />

to follow the state course. That<br />

period was characterized by strikes<br />

throughout the country, the closing<br />

of factories and plants, a massive<br />

unemployment rate and non-payment<br />

of salaries and, as a result,<br />

dissolution of most trade unions.<br />

Employers create Pocket<br />

Trade Unions<br />

The current government has changed<br />

the outlook on the problem<br />

and, starting from 2000, a concept<br />

of social partnership is being implemented.<br />

Although nowadays, trade<br />

unions backed up by the state and<br />

trade unions of the new wave that<br />

have been expressing more activity<br />

coexist, the overall tendency has<br />

been met with open ears. Thus,<br />

trade unions began to concern<br />

employers.<br />

To answer the question posed in<br />

the very beginning: no, there is<br />

no way one can legally<br />

prevent a trade union.<br />

However, most<br />

of the em-<br />

// 27 //<br />

ployers following the advice of<br />

their consultants take the bull by<br />

the horns and actually initiate trade<br />

unions themselves, in an attempt to<br />

build so-called “pocket trade unions”<br />

which would be loyal to the<br />

employer. It is not an illegal practice<br />

and the employers acknowledge<br />

the fact that they cannot prevent<br />

such a pocket trade union from<br />

growing into a real power. There<br />

have been issues with employers<br />

who may sometimes try to impose<br />

so-called “yellow-dog” contracts<br />

on their employees. However, due<br />

to the absolute invalidity of such<br />

agreements, these practices have<br />

ceased over time. The legal base<br />

nowadays is not only is capable of<br />

protecting trade unions and their<br />

members, but is in fact meant to encourage<br />

the above mentioned social<br />

partnership. Taking into account<br />

the antagonism between state and<br />

alternative trade unions, he process<br />

does not develop smoothly, but the<br />

overall tendency shows that this<br />

question will not vanish from agenda<br />

for long time.<br />

The right of formation of trade unions,<br />

their establishment to protect<br />

everyone’s interests, is formalized<br />

in Article 30 of the Constitution of<br />

the Russian Federation. According<br />

to article 2 of the Federal law as of<br />

J a n u a r y 12, 1996 No 10-FZ<br />

“On pro- fessional unions,<br />

t h e i r rights and guarantees<br />

of their activity”<br />

( l a s t amended in<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

25/07/2002) – a trade union (or a<br />

professional union, using the exact<br />

Russian expression) is a voluntary<br />

public union of citizens connected<br />

by common industrial or professional<br />

interests due to their occupation,<br />

and is established in order to<br />

represent and protect their social<br />

labour rights and interests.<br />

A high number of rejections<br />

for formal reasons<br />

Anyone who has reached the age<br />

of 14 and is carrying out labour is<br />

entitled to create a trade union,<br />

including citizens of the Russian<br />

Federation, foreign citizens and<br />

individuals without citizenship.<br />

For establishing a trade union, one<br />

must hold a fo<strong>und</strong>ing meeting (conference,<br />

general assembly) with no<br />

less than three participants aged<br />

over 14 and carrying out labour.<br />

The fo<strong>und</strong>ers must adopt three resolutions:<br />

on the establishment of<br />

a trade union, on the approval of<br />

its Charter (By-Laws) and on the<br />

appointment of its governing and<br />

controlling revising bodies. By a<br />

territorial principle the unions can<br />

operate as nation-wide associations<br />

of trade unions, inter-regional associations<br />

and territorial associations<br />

of trade union organizations. The<br />

state is not entitled to influence the<br />

trade unions and they are meant to<br />

be absolutely independent, being<br />

suject only to the provisions of<br />

their charters. A trade union is not<br />

required to be registered. If trade<br />

unions need to acquire the rights<br />

of legal entities, they can be registered<br />

with the state authorities in a<br />

declarative manner. In practice, this<br />

means that if a trade union wants<br />

to open its own bank account and<br />

manage the membership contributions,<br />

it will need to be registered as<br />

an initial trade union organization<br />

– a voluntary union of members<br />

of a trade union working in one<br />

company (corporation or organization)<br />

– territorial organization of<br />

a trade union – voluntary union of<br />

members of the initial trade unions<br />

which is active on the territory of<br />

region, city, one or several subjects<br />

of Russian Federation.<br />

There is a curious ambiguity, howe-<br />

// 28 //<br />

ver, that despite the declarative nature<br />

of registration by law, the initial<br />

trade union organization must be<br />

registered within one month from<br />

the date of the general meeting. As<br />

practice shows, there is a great number<br />

of rejections by the authorities<br />

for formal reasons. Registration of<br />

initial trade union organizations is<br />

carried out by territorial bodies of<br />

the Federal Registration Authority<br />

at the location of its executive body;<br />

registration of nation-wide and international<br />

unions – is carried out<br />

by the Federal Registration Authority<br />

jurisdictional to the Ministry of<br />

Justice of Russian Federation.<br />

Reviewing the functional meaning<br />

of trade unions one must mention<br />

the most valuable aspects such as<br />

A) Collective agreements provide<br />

additional rights, obligations and<br />

guarantees of the parties beyond<br />

the scope of the law;<br />

B) Labour disputes. According to<br />

the law, a company that has a trade<br />

union must also establish a labour<br />

disputes commission. In case<br />

of any discrepancies or discontent<br />

of the employees, they are entitled<br />

to make claims to the commission<br />

which must take all actions possible<br />

to resolve the conflict. This also<br />

applies to the obligation of an employer<br />

to receive information from<br />

the trade union for any act of dismissal.<br />

C) Lobbying. Lobbying has always<br />

been one of the main functions of<br />

trade unions throughout the world,<br />

but only since Russia has reached a<br />

certain economic level this has become<br />

a meaningful goal. Taking, for<br />

example, the North-Western region<br />

of Russia, particularly the Leningrad<br />

Oblast aro<strong>und</strong> St. Petersburg:<br />

this district has been chosen by numerous<br />

international companies as<br />

the site for their production plants.<br />

Ford, Toyota, Merloni, Nokian Tyres<br />

and more have come to build<br />

production plants. This has been<br />

provided for by the investment<br />

attraction policy implemented by<br />

the government of the district. And<br />

together with the development of<br />

the district, the new investors suddenly<br />

faced the problem of lack of<br />

workforce. Basically, the plants are<br />

in competition for the “blue-collar”<br />

workers located in the area and<br />

only few of them have active trade<br />

unions. However, this is enough to<br />

put pressure on the employers of<br />

the district.<br />

The Ford case<br />

Ford is the most renowned case<br />

– their employees started a famous<br />

campaign and have been on strike<br />

for better salaries and conditions<br />

for several years. The management<br />

of the company could only submit<br />

to that, which in turn raises the<br />

average salary for the same kind<br />

of work throughout the area. Immediately<br />

after salary increases by<br />

Ford, the employees of neighboring<br />

plants made claims for higher<br />

compensation packages and where<br />

the employer hesitated they not<br />

just went on strike but just left and<br />

went directly to another neighboring<br />

company which is already<br />

eager to accept their workforce at<br />

a higher price. The unemployment<br />

rate in this district is aro<strong>und</strong> 0,5-<br />

0,6% of the population and those<br />

left are just not capable of working.<br />

Of course, this development does<br />

not mean that the Ford trade union<br />

receives everything it demands<br />

without obstacles. Their last strike<br />

held in November 2007 has been<br />

evaluated to mean a $3-6 mln loss<br />

for every day of strike for Ford, and<br />

the company raised a claim which<br />

was affirmed by the court on the<br />

gro<strong>und</strong>s of violation of strike announcement<br />

procedures. The union<br />

has already filed appeal.<br />

This is the most discussed example<br />

of trade union action in Russia.<br />

However, such cases emerge more<br />

frequently with the overall development<br />

of the industrial sector<br />

and the explicit lack of workforce in<br />

the country. Thus, trade unions appear<br />

in the scope of interest of legal<br />

specialists that build new teams to<br />

conduct research on this issue, and<br />

look for possible solutions for their<br />

clients.


Die Rote Re-Revolution<br />

Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />

Ein Kommentar von Benedikt<br />

Jasper<br />

Russland fühlt sich schwach. Seit<br />

Leica <strong>und</strong> Sputnik hat es keine nennenswerten<br />

Erfolge mehr verzeichnen<br />

können <strong>und</strong> dann folgten auch<br />

noch der Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

<strong>und</strong> die nüchterne Botschaft,<br />

dass sich Russland nun nicht<br />

mehr mit der halben Welt, sondern<br />

nur noch mit Tschetschenien <strong>und</strong><br />

Weißrussland herumärgern darf.<br />

Um seinen Anspruch als Weltmacht<br />

nicht gänzlich einbüßen zu müssen,<br />

hat das Land jedoch noch drei Asse<br />

im Ärmel, die ihre Bedeutung insbesondere<br />

im Zusammenhang mit<br />

Putins Präsidentschaft erhalten:<br />

Den Status als Atommacht, die Mitgliedschaft<br />

im UN-Sicherheitsrat<br />

sowie seine Energiepolitik. Letztere<br />

verdankt ihr Gewicht Russlands reichen<br />

Erdöl- <strong>und</strong> Gasvorkommen.<br />

Besondere Aufmerksamkeit wird<br />

dabei dem früheren Geschäftsbereich<br />

des Ministeriums für Gasförder-<br />

<strong>und</strong> Gastransportindustrie für<br />

Erdöl- <strong>und</strong> Gaswirtschaft<br />

der UdSSR,<br />

der heutigen Ak-<br />

tiengesellschaft<br />

Gazprom gewidmet.<br />

Gazprom ist das<br />

weltgrößte Erdgasförderunternehmen<br />

<strong>und</strong> mit Unterstützung<br />

der russischen Regierung<br />

auf Beutezug in Europa. In Erinnerung<br />

geblieben sind die Gasstreits<br />

mit der Ukraine <strong>und</strong> mit Weißrussland.<br />

Das kurzfristige Abstellen der<br />

Gaslieferungen an die Ukraine 2005<br />

darf als Schuss vor den Bug oder<br />

kleine Machtdemonstration verstanden<br />

werden, der aufgezwungene<br />

Deal mit Weißrussland 2006,<br />

den Gaspreis nur gering zu erhöhen<br />

<strong>und</strong> dabei 50 % Anteile am weißrussischen<br />

Erdgas-Verteilersystem an<br />

Gazprom abzugeben, wohl als klare<br />

Intention:<br />

„Go West!“<br />

Stichwort Renationalisierung<br />

Nicht völlig zu Unrecht befürchten<br />

also Experten wie der auf Wirtschaftskriminalität<br />

spezialisierte<br />

Publizist Jürgen Roth eine weitere<br />

Expansion in die einheimischen Energiebranchen<br />

durch das russische<br />

Unternehmen. Offiziell agiert Gazprom<br />

zwar als f r e i e s<br />

marktwirt- schaftl<br />

i c h e s U n t e r -<br />

n e h - m e n ,<br />

jedoch schimm<br />

e r t u n t e r<br />

d e m n e u e n<br />

Anstrich s c h o n<br />

wieder die alte<br />

F a r b e h i n -<br />

durch. D a s<br />

S t i c h -<br />

w o r t<br />

heißt<br />

Renationalisierung,<br />

besonders bei<br />

den Unternehmen Rosneft<br />

<strong>und</strong> Gazptom. Rosneft, ein<br />

staatlicher Ölkonzern, kaufte nach<br />

dem (auch nach stalinistischen<br />

Maßstäben) perfekt inszenierten<br />

Steuerhinterziehungsverfahren gegen<br />

den Ölproduzenten Jukos <strong>und</strong><br />

dessen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden<br />

Michail Chodorkowski<br />

(der immer noch in Sibirien in Haft<br />

sitzt!) das Unternehmen auf <strong>und</strong> ist<br />

somit größter (staatlicher) Ölpro-<br />

// 2 //<br />

duzent. Um den Kreis zu schließen,<br />

kaufte Rosneft mehr als 50 % der<br />

Gazprom-Anteile. Zwar scheint die<br />

Metamorphose der Reintegration<br />

in das Staatsgefüge unter einem<br />

Deckmantel abzulaufen, doch hält<br />

die russische Föderation über alle<br />

Zwischenverbindungen schon jetzt<br />

wieder Anteile an 40 % der russlandweiten<br />

Gesamtförderung an<br />

Erdöl <strong>und</strong> Erdgas.<br />

Langfristig will Gazprom<br />

die Energiepreise bestimmen<br />

Dies, gekoppelt an eine immense<br />

Marktkapitalisierung, soll zu einer<br />

Beteiligung an Energieversorgern<br />

in Mittel- <strong>und</strong> Westeuropa führen,<br />

um langfristig ein Preisdiktat ausüben<br />

zu können. Vorboten dieser<br />

Entwicklung sind erste Fußballverein-Sponsorenverträge.<br />

Zudem weigert sich Russland bisher<br />

ziemlich erfolgreich, die Europäische<br />

Energiecharta zu ratifizieren,<br />

welche ausländischen Unternehmen<br />

einen größeren unternehmerischen<br />

Spielraum einräumen<br />

würde <strong>und</strong> Wettbewerb<br />

s c h a f f e n<br />

könnte.<br />

Hin <strong>und</strong><br />

w i e d e r<br />

werden<br />

K o o p e -<br />

rationen<br />

wie bei der<br />

Ostseepipeline<br />

oder bei der Beteiligung an<br />

Erdgasfeldern geschlossen, doch<br />

sind sich die Funktionäre um Putin<br />

einig, dass niemand einen bestimmenden<br />

Einfluss an diesem strategisch<br />

wichtigen Sektor gewinnen<br />

soll.<br />

Auf dem Weg zurück zur alten<br />

Machtstellung kann diese russische<br />

Energiepolitik für Europa eine verheerende<br />

Rolle spielen. Abzuwarten<br />

bleibt, ob dann auch der letzte<br />

deutsche (Ex-)<strong>Politik</strong>er deren Intentionen<br />

erkennt.<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Die letzte europäische Diktatur<br />

grenzt nach den jüngsten Erweiterungen<br />

direkt an die Europäische<br />

Union. Nun beginnt sich Widerstand<br />

gegen die <strong>und</strong>emokratische <strong>Politik</strong><br />

des Alleinherrschers Lukaschenka<br />

zu regen <strong>und</strong> die EU tut nichts.<br />

Dabei könnten schon symbolische<br />

Maßnahmen dem unterdrückten<br />

Volk helfen, sich zu befreien<br />

Von Daniel Schneider<br />

Vorneweg eine gute Nachricht: Die<br />

Demokratie ist auf dem Vormarsch<br />

in Europa. Gab es 1939 vor Ausbruch<br />

des zweiten Weltkrieges kaum 14<br />

Staaten unseres Kontinents, die<br />

sich eines demokratischen Systems<br />

berühmen konnten, so waren es<br />

1960 bereits 19 Länder <strong>und</strong> Mitte<br />

der 1980er Jahre 23. Heute,<br />

nachdem sich<br />

der ehemalige<br />

Ostblock<br />

überwiegend<br />

demokratisiert<br />

<strong>und</strong> sich manche<br />

Staaten vereinigt<br />

<strong>und</strong> andere<br />

getrennt haben,<br />

gibt es derer schon<br />

42 – eine Zahl, die<br />

fast mit der Anzahl<br />

an Staaten in Europa<br />

übereinstimmt. Fast.<br />

Ein autoritär-diktatorisch<br />

geführtes Land<br />

widersetzt sich dem Sie- geszug<br />

des demokratischen Systems:<br />

Weißrussland. Ein unfreies freies<br />

Land, von oben herab regiert durch<br />

die harte Hand des Präsidenten Aljaksandr<br />

Lukaschenka. Zwar gibt<br />

es ein Parlament, die Repräsentantenkammer,<br />

die alle vier Jahre neu<br />

gewählt wird, doch nach Angaben<br />

der Organisation für Sicherheit <strong>und</strong><br />

Zusammenarbeit in Europa OSZE<br />

fanden die letzten freien Wahlen<br />

im Jahre 1995 statt. Seitdem wurde<br />

zweimal ein Parlament gewählt,<br />

in den Jahren 2000 <strong>und</strong> 2004, doch<br />

// 0 //<br />

Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />

Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />

beide Male entfielen knapp 90 %<br />

der Mandate auf Lukaschenkatreue<br />

so genannte „Unabhängige“,<br />

denen allerdings lediglich eine<br />

Statistenrolle in der One-Man-<br />

Show des Aljaksandr Lukaschenka<br />

zukommt. Sogar hierzulande waren<br />

Fernsehausschnitte von einer<br />

bezeichnenden Szene aus der Repräsentantenkammer<br />

zu sehen:<br />

Der Ges<strong>und</strong>heitsminister muss auf<br />

Geheiß des Präsidenten im Parlament<br />

erscheinen. Dort lässt ihn der<br />

Präsident aufstehen <strong>und</strong> erteilt ihm<br />

in einem minutenlangen Wutanfall<br />

öffentlich unter wüsten Beschimpfungen<br />

eine Rüge – <strong>und</strong> der Minister<br />

lässt die Attacke demütig über<br />

sich ergehen.<br />

Ein<br />

Geheimdienst<br />

namens KGB…<br />

So ergeht es ganz Weißrussland.<br />

Widerstand wird kaum geduldet,<br />

politische Gegner müssen mit Repressalien<br />

rechnen. Wo sich die Opposition<br />

formiert <strong>und</strong> sogar, wie bei<br />

den Präsidentschaftswahlen 2006<br />

mit Aljaksandr Milinkewitsch einen<br />

einigermaßen aussichtsreichen<br />

Kandidaten ins Rennen schicken<br />

kann, bedient sich die Regierung<br />

unverblümt der Wahlfälschung.<br />

Nach offiziellen Zahlen, die nicht<br />

nur von der Opposition als Farce<br />

bezeichnet wurden, erhielt der po-<br />

puläre Oppositionsführer gerade<br />

einmal um die 6 % der abgegebenen<br />

Stimmen. Überlegener Sieger: Aljaksandr<br />

Lukanschenka mit 82,6 %<br />

der Stimmen. Und das, obwohl der<br />

Präsident nach der Verfassung eigentlich<br />

gar nicht für eine weitere<br />

Amtszeit hätte kandidieren dürfen.<br />

Auch Pressefreiheit ist ein Fremdwort<br />

in Weißrussland. Die staatlich<br />

finanzierten Medien haben es sich<br />

zur Hauptaufgabe gemacht, den<br />

Personenkult um Lukaschenka zu<br />

fördern. Ihnen liegt nichts ferner<br />

als Kritik am herrschenden System.<br />

Private unabhängige <strong>und</strong> dem<br />

Präsidenten unliebsame Zeitungen<br />

werden durch den Staat am Vertrieb<br />

gehindert oder durch fingierte Prozesse<br />

juristisch drangsaliert. In Erinnerung<br />

geblieben ist insbesondere<br />

das Verfahren gegen die Zeitung<br />

Nascha Niwa (zu deutsch „Unsere<br />

Flur“) im Jahre 1998, als man dem<br />

als oppositionell geltenden Blatt<br />

die Benutzung einer nicht zugelassenen<br />

weißrussischen Rechtsschreibung<br />

vorwarf.<br />

…ein roter Stern im<br />

Wappen…<br />

Präsident Lukaschenka ist<br />

bereits seit 1994 im Amt,<br />

<strong>und</strong> ihm ist, so scheint es,<br />

jedes Mittel recht, damit das auch<br />

so bleibt. In Weißrussland hat sich<br />

überhaupt wenig geändert, seit es<br />

die Sowjetunion nicht mehr gibt,<br />

Teil derer Weißrussland einst als<br />

Unionsrepublik mit dem Namen<br />

Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik<br />

war. Das Land führt seit<br />

Mitte der 1990er Jahre auf Geheiß<br />

Lukaschenkas wieder den roten<br />

kommunistischen Stern im Staatswappen,<br />

der Geheimdienst heißt<br />

noch wie Sowjetzeiten KGB <strong>und</strong> von<br />

Marktwirtschaft ist weit <strong>und</strong> breit<br />

nichts zu sehen. Planwirtschaft<br />

heißt die Maxime, <strong>und</strong> darunter<br />

leidet Weißrusslands Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> mit ihr die Menschen. Die wirtschaftliche<br />

Leistungsfähigkeit sank<br />

nach 1990 vom ohnehin tiefen Ni-


veau noch einmal kräftig. Erst zu Beginn<br />

des neuen Jahrtausends konnte<br />

sich die weißrussische Wirtschaft<br />

im Schlepptau der boomenden<br />

Weltwirtschaft soweit erholen, dass<br />

sie wieder die Produktivität des Jahres<br />

1990 erreichte. Das Wohlstandsniveau<br />

bleibt jedoch bescheiden:<br />

Der Human Development Index der<br />

Vereinten Nationen, Maßstab für<br />

den Stand der menschlichen Entwicklung<br />

in den Ländern der Welt,<br />

sah Weißrussland im Mittelfeld an<br />

67. Stelle von 177 Ländern– hinter<br />

Polen, den Bahamas <strong>und</strong> Mexiko<br />

ebenso wie hin- t e r<br />

Kuba, Tonga <strong>und</strong><br />

Russland. Vor<br />

allem verglichen<br />

mit den übrigen<br />

europäischen<br />

Staaten stellt<br />

der Human<br />

Development<br />

Index der RegierungLuk<br />

a s c h e n k a<br />

ein Armutszeugnis<br />

aus.<br />

Weißrussland<br />

steht<br />

an 35. Stelle<br />

von 40 untersuchten<br />

europäischen Staaten, trotz seiner<br />

geo-strategisch günstigen Lage im<br />

Zentrum Osteuropas. Nur Albanien,<br />

die Ukraine, Kasachstan, die<br />

Türkei <strong>und</strong> Moldawien stehen noch<br />

schlechter da. Würde es seine Stellung<br />

als Transitland zwischen Russland<br />

<strong>und</strong> West- <strong>und</strong> Mitteleuropa<br />

besser nutzen – das Land könnte<br />

florieren. Doch solange sich die politischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Strukturen<br />

nicht ändern, werden die Menschen<br />

weiter leiden, zusätzlich gebeutelt<br />

von dem Erbe der Tschernobyl-Katastrophe.<br />

Die ereignete sich zwar<br />

in der Ukraine, doch so nahe an<br />

heute weißrussischem Territorium,<br />

dass durch östliche Luftströmungen<br />

in jenen Tagen von 1986 vor allem<br />

Weißrussen ges<strong>und</strong>heitliche Schäden<br />

davon trugen. Die Folgen sind<br />

noch heute vor allem im Südosten<br />

des Landes spürbar. Ganze Landstriche<br />

sind unbewohnbar oder zumindest<br />

für die Landwirtschaft nicht<br />

nutzbar, ganz zu schweigen von<br />

vielen Krebs- <strong>und</strong> Schilddrüsenerkrankungen,<br />

die einhergehen mit<br />

einer latent hohen Selbstmordrate.<br />

Verständlich, dass dies private Investoren<br />

kaum anlocken kann. Auch<br />

die Bürger Weißrusslands scheinen<br />

verschreckt: Über sechs Prozent Bevölkerungsrückgang<br />

seit 1990 sprechen<br />

eine deutliche Sprache.<br />

…weder Opposition noch<br />

freie Presse…<br />

Und doch mehren sich in der jüngeren<br />

Vergangenheit Zeichen, die Anlass<br />

zur Hoffnung geben. Als 2004 in<br />

der Ukraine die Orange Revolution<br />

mehr Demokratie versprach, erwarteten<br />

viele Menschen<br />

eine Wiederholung<br />

dieser Ereignisse in Weißrussland -<br />

<strong>und</strong> wurden bisher enttäuscht. Auch<br />

die gefälschte Präsidentschaftswahl<br />

im vergangenen Jahr vermochte es<br />

nicht, die Massen aufzurütteln <strong>und</strong><br />

zum Sturz des Präsidenten zu motivieren.<br />

Doch trotzdem regt sich verstärkt<br />

öffentlich geäußerter Unmut.<br />

In jener Wahlnacht kam es erstmals<br />

seit Jahren zu umfangreicheren<br />

Demonstrationen in der Hauptstadt<br />

Minsk gegen das despotische<br />

Regime. Auch wenn der Druck auf<br />

den Präsidenten noch nicht stark<br />

genug war um ihn zur Aufgabe zu<br />

bewegen, so wird er doch verstärkt<br />

mit Protesten zu rechnen haben. Es<br />

mag in nicht allzu ferner Zukunft<br />

der Tag kommen, an dem er sich<br />

der öffentlichen Meinung beugen<br />

muss.<br />

Dazu sollte aber auch die so genannte<br />

westliche Welt, insbesondere<br />

die Europäische Union, ihren<br />

Beitrag leisten. Mit der Osterweite-<br />

// 1 //<br />

rung 2004 haben sich ihre Grenzen<br />

bis an die Weißrusslands verschoben,<br />

so dass auch ein vitales Eigeninteresse<br />

der Union an politisch<br />

stabilen Verhältnissen dort besteht.<br />

Bislang jedoch konzentrieren die<br />

politischen Führer der Union ihre<br />

Aufmerksamkeit auf die Regime im<br />

Irak oder Iran, in Afghanistan oder<br />

im Kongo, schließlich zuletzt in Myanmar,<br />

während man den Diktator<br />

Lukaschenka in seinem Vorgarten<br />

duldet, als genüge er ohne weiteres<br />

den „westlichen“ Ansprüchen an<br />

Demokratie. Dass Russland noch<br />

immer seine schützende Hand über<br />

den „kleinen Bruder“ Weißrussland<br />

hält, mag insoweit als Erklärung<br />

taugen – ein guter Gr<strong>und</strong> ist<br />

es nicht. Es mangelt aber nicht nur<br />

an politischen Sanktionen, sondern<br />

auch an solchen im sozialen <strong>und</strong><br />

kulturellen Bereich.<br />

…<strong>und</strong> allein gelassen von<br />

Europa.<br />

Warum ist es weißrussischen Sportlern<br />

erlaubt, in der Qualifikation<br />

zur UEFA-Fußball-Europameisterschaft<br />

oder bei olympischen Spielen<br />

anzutreten? Weshalb dürfen Stars<br />

wie Ex-Tischtennis-Europameister<br />

<strong>und</strong> Vize-Weltmeister Wladimir<br />

Samsonow ungehindert an internationalen<br />

Turnieren teilnehmen – in<br />

Europa <strong>und</strong> anderswo? Weißrussland<br />

<strong>und</strong> seine Athleten könnten<br />

von sportlichen Wettbewerben<br />

insgesamt ausgeschlossen werden,<br />

wie es einst Südafrika zu Zeiten der<br />

Apartheid erging. Diese Beispiele<br />

verdeutlichen, dass Europa falsche<br />

Zeichen setzt, anstatt klar Position<br />

zu beziehen, um der Bevölkerung<br />

Weißrusslands wenigstens symbolisch<br />

Mut zu machen.<br />

Das demokratische System war im<br />

vergangenen halben Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Garant für politische, wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> auch militärische Stabilität<br />

sowie die Entwicklung <strong>und</strong> den<br />

Wohlstands unseres Kontinents. Diese<br />

Erfolgsgeschichte muss Gr<strong>und</strong><br />

genug für die EU sein, selbstbewusster<br />

dafür einzutreten, dass die<br />

europäische Demokratie auch diese<br />

letzte Hürde nimmt.<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Martin Hejma<br />

Prag wird gelegentlich als das Wien<br />

Osteuropas bezeichnet. Durchaus<br />

ein Lob – für Wien. In Wahrheit<br />

fühlt man sich eher wie in Rom:<br />

Eine Stadt mit Charakter. Eine Stadt<br />

mit Charme. Und billigen Kneipen.<br />

In der Hauptstadt Tschechiens wird<br />

noch jeder zum Romantiker. Einzige<br />

Bedingung ist die Fähigkeit,<br />

die große Menge an Touristen <strong>und</strong><br />

Kitsch ausblenden zu können. Dann<br />

aber ist ein Bummel mehr als ein<br />

Genuss, es ist ein Gedicht: Mit der<br />

Straßenbahn zur Prager Burg, wo<br />

unter der St.-Veits-Dom oder das<br />

Goldene Gäschen zu sehen sind.<br />

Über den Hradschiner Platz kommt<br />

man dann zur Burgrampe, wo einen<br />

// 2 //<br />

Kurztrips nach Osteuropa<br />

Vier Städte für ein Halleluja!<br />

Nicht nur <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Wirtschaft, auch unsere Urlaubsziele werden erfasst von der Globalisierung. Nicht genug damit,<br />

dass man mittlerweile zu Taxi Preisen quer durch unseren Kontinent fliegen kann, auch neue Gegenden bieten sich an<br />

besucht zu werden. Wir sind vier der Einladungen gefolgt<br />

Prag - Stadt der tausend Türme<br />

Ein Spaziergang durch die goldene Hauptstadt Tschechiens<br />

der schönste Blick über die ganze<br />

Stadt mit ihren tausend Türmen<br />

erwartet. Schafft man es aber doch,<br />

sich loszureißen, schlendert man<br />

die immense Burgtreppe hinunter,<br />

vorbei an der Nikolauskirche <strong>und</strong><br />

am Kleinseitner Ringplatz von wo<br />

aus man zur Karlsbrücke kommt.<br />

Ein Geheimtipp ist die Kampa-Insel<br />

in der Moldau. Hier entfaltet die alte<br />

Dame Prag endgültig ihr ganz eigenes<br />

Flair. Von hier sollte man noch<br />

den Weg durch die Altstadt-Gassen<br />

zum Altstädter Ring finden <strong>und</strong> die<br />

Astronomische Uhr am Altstädter<br />

Rathaus mit ihrem Glockenspiel bew<strong>und</strong>ern.<br />

Zuletzt geht es zum Ende<br />

des Königswegs durch die Celetna-<br />

Gasse hin zum Pulverturm.<br />

Prag steht in Tschechien im Zentrum<br />

des medialen <strong>und</strong> des allgemeinen<br />

Interesses. Und es steht<br />

damit für eine bewegte Vergangenheit:<br />

Orte wie der Zaun der<br />

Deutschen Botschaft, über den<br />

sich 1989 H<strong>und</strong>erte DDR-Bürger<br />

auf westliches Hoheitsgebiet retteten,<br />

der Wenzelsplatz, auf den im<br />

Prager Frühling 1968 sowjetische<br />

Panzer rollten, aber auch Orte wie<br />

alte ursprüngliche Straßenbahnen.<br />

Überall hier kann man ihn noch<br />

riechen, den Duft des eisernen Vorhangs.<br />

Das neue Tschechien macht<br />

sich dagegen fein für den Westen,<br />

bleibt aber tschechisch im besten<br />

Sinn: Frauen tragen Röcke, Ältere<br />

werden geschätzt, das Aufstehen in<br />

allen Bussen <strong>und</strong> Straßenbahnen ist<br />

für Jüngere selbstverständlich - <strong>und</strong><br />

die Sprache, slawisch hart <strong>und</strong> doch<br />

voller Verniedlichungen, verzaubert.<br />

Das postkommunistische Tsche-


chien mag innerlich noch dabei<br />

sein sich (wieder) an die Marktwirtschaft<br />

zu gewöhnen. Eine unzuverlässige<br />

politische Klasse voller<br />

komplizierter Machtbündnisse,<br />

strukturelle wirtschaftliche Probleme<br />

<strong>und</strong> marktwirtschaftliche<br />

Von Lukas Inhoffen<br />

Während das Interesse westeuropäischer<br />

Bildungsreisender an<br />

den Metropolen Osteuropas stetig<br />

steigt, ist auch das entstanden,<br />

was ein zahlungskräftiges, vor<br />

allem aber junges Publikum während<br />

der Sommermonate sucht:<br />

ein Idyll für Partytouristen. Bis vor<br />

wenigen Jahren galt der Osten Bulgariens<br />

dieser Zielgruppe eher als<br />

Geheimtipp, der den spanischen<br />

Partyhochburgen Mallorca <strong>und</strong><br />

Lloret de Mar nur allmählich das<br />

Wasser zu reichen vermochte. Heute<br />

säumen in Slantschew Brjag, zu<br />

deutsch „Sonnenstrand“, mehr als<br />

500 Hotels den r<strong>und</strong> acht Kilometer<br />

langen Sandstrand am Schwarzen<br />

Meer, den die feierlaunigen<br />

Nachwuchstouristen meist jedoch<br />

erst im Laufe des Nachmittages in<br />

entspannter Urlaubslangsamkeit<br />

füllen. Familien oder ältere Urlauber<br />

sucht man vergeblich. Ohnehin<br />

wird Slantschew Brjag dem Erholungsanspruch<br />

durchschnittlicher<br />

Urlauber wohl allein seiner künstlichen<br />

Wirkung wegen nicht gerecht<br />

werden können. Denn eigentlich ist<br />

Slantschew Brjag nicht mehr als ein<br />

Enttäuschungen führen auch zu einer<br />

gewissen Popularität der Kommunisten<br />

(18, 5 % bei den letzten<br />

Parlamentswahlen). Die Millionenmetropole<br />

an der Moldau aber ist so<br />

freudig weltoffen wie nur eine Stadt<br />

sein kann. Und deswegen fühlt man<br />

Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />

Feiern für den Fuhrpark<br />

Strandabschnitt, den solvente Hotelmagnaten<br />

zubetoniert <strong>und</strong> mithilfe<br />

von Autoschranken <strong>und</strong> Kontrollposten<br />

eingezäunt haben, um<br />

es mit dem Ziel einer scheinbaren<br />

Exklusivität von der verarmten<br />

Umgebung abzuschotten. Innerhalb<br />

dieses Partybiotops dominieren neben<br />

Restaurants vor allem Bars <strong>und</strong><br />

Discotheken das Bild. Sie sind das<br />

Ziel der für durchtanzte Nächte gekommenen<br />

Gäste, die nach der allabendlichen<br />

Schließung der hoteleigenen<br />

Bars bis weit in den Morgen<br />

hinein dort verweilen.<br />

Trotz aller Bemühungen vermag<br />

weder Urlaubsatmosphäre noch Alkoholkonsum<br />

über die Armut hinwegtäuschen.<br />

So findet sich etwa<br />

ein traurig dreinblickender Junge,<br />

dem die Folgen der Verwahrlosung<br />

in seinem noch jungen Leben ins<br />

Gesicht geschrieben stehen, sitzt<br />

am Wegesrand. Er spielt auf einem<br />

viel zu großen Akkordeon, vor ihm<br />

ein kleiner Bettelbecher, dazwischen<br />

junge <strong>und</strong> ältere Frauen, die<br />

in gebrochenem Englisch lauthals<br />

Liebesdienste zum Hungerlohn anpreisen.<br />

Eine makabere Szenerie,<br />

die beweist, dass die einheimische<br />

Bevölkerung wie so oft wenig bis gar<br />

nicht vom immensen Tourismusgeschäft<br />

profitiert. Ohnehin klären<br />

// //<br />

sich in jeder tschechischen Kneipe<br />

wie zu Hause, wenn man „Knedlovepro-zelo“,<br />

Schweinebraten mit<br />

Knödeln <strong>und</strong> Kraut“ bestellt.<br />

Wien, Rom, Paris, Berlin? Nein,<br />

Prag!<br />

Hotelangestellte ganz unverhohlen<br />

über die mafiösen Machtverhältnisse<br />

auf: Wenige Hotelmanager<br />

schieben sich die Karten gegenseitig<br />

zu, teilen den gesamten Einfluss<br />

unter sich auf <strong>und</strong> präsentieren ihn<br />

in Form eines viele deutsche Luxuskarossen<br />

umfassenden Fuhrparks<br />

vor den Hoteleingängen.<br />

Trotzdem werden die wenigsten<br />

Partyurlauber diesen offenk<strong>und</strong>ig<br />

faden Beigeschmack mit in ihre<br />

Heimat nehmen, da wohl niemand<br />

den Zweck eines solchen Urlaubs<br />

in der Auseinandersetzung mit sozialen<br />

Problematiken sieht. Denn<br />

nicht zuletzt ist es gerade dieser<br />

Umstand, der die einst enorm günstigen<br />

Preise für Getränke <strong>und</strong> Verpflegung<br />

außerhalb der Hotelanlagen,<br />

in denen die Unterbringung<br />

ohne zusätzliche Extras mitunter<br />

für wenige Euro zu haben ist, ermöglichte.<br />

Gut daran ist, dass diese<br />

inszenierte touristische Enklave des<br />

Wohlstands das bietet, wonach ein<br />

zahlungskräftiges Publikum, das<br />

seine Erfahrungen hoffentlich nicht<br />

als Ausschnitt des bulgarischen Alltags<br />

versteht, auf der Suche ist. Besser<br />

wäre es, wenn davon alle in <strong>und</strong><br />

um Slantschew Brjag profitierten.<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

von Konstantin Kleine<br />

Golden glänzend steht er da, ein<br />

Symbol, das Mittelalter <strong>und</strong> Aufklärung<br />

überdauert hat. Der Pokal ist<br />

immer noch die Zierde des Senatsraums<br />

der Jagiellonen-Universität.<br />

Sonnenlicht fällt durch bleiverglaste<br />

Fenster. Die Jagiellonen-Universität<br />

ist eine der ältesten Mitteleuropas.<br />

Heute besuchen 40 000 Studenten<br />

diese Universität, insgesamt sind<br />

es 160 000 Studenten in Krakau. Das<br />

prägt das Stadtbild.<br />

Krakau liegt im Südosten Polens<br />

am Ufer der Weichsel. Der Legende<br />

nach wurde der heutige Schlosshügel<br />

zunächst von einem Drachen bewohnt,<br />

bis jener vom Fürsten Krak<br />

besiegt wurde <strong>und</strong> auf dem Hügel<br />

die Stadt Krakau gegründet wurde.<br />

Nicht aus dem Reich der Fabel: die<br />

Krakauer Gegend ist seit mehr als<br />

20 000 Jahren besiedelt, der Salzabbau<br />

um Krakau begann bereits in<br />

prähistorischer Zeit.<br />

Draußen, in den Gassen der Altstadt,<br />

begegnen einem viele junge Menschen.<br />

Ein Tipp: Die allerorten feilgebotenen<br />

Krakauer Kringel - der<br />

Urahn des Bagels. Wem der Imbiss<br />

auf die Hand nicht ausreicht, findet<br />

r<strong>und</strong> um den Rynek Główny, dem<br />

Hauptmarkt, Cafés, Restaurants,<br />

Bars <strong>und</strong> über 200 Kellerkneipen.<br />

In der Sonne ist es manchmal auch<br />

Ende September noch warm.<br />

An der Grenze zwischen See- <strong>und</strong><br />

Kontinentalklima hängt das Wetter<br />

in Krakau stark von der vorherrschenden<br />

Windrichtung ab. Weht<br />

der Wind von Russland her aus Osten,<br />

kann es auch im Herbst schon<br />

bitterkalt werden. Handschuhe <strong>und</strong><br />

Mütze nicht vergessen!<br />

Vom Wawel aus kann man die ganze<br />

Stadt überblicken. Die Burg wurde<br />

1000 Jahre lang wieder <strong>und</strong> wieder<br />

umgebaut, erweitert, verbessert,<br />

dem Zeitgeist angepasst. Der Mix<br />

aus Romantik, Gotik, Renaissance,<br />

Barock, Rokoko, Klassizismus <strong>und</strong><br />

Jugendstilelementen lässt die Frage<br />

// //<br />

Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />

Ein Spaziergang durch die alte Hauptstadt Polens<br />

nach der Bauepoche des jeweiligen<br />

Seitenschiffs der Burgkathedrale<br />

zu einem kurzweiligen Ratespiel<br />

werden. In den staatlichen Kunstsammlungen<br />

im Inneren ist alles<br />

von Waffen bis Wandteppichen zu<br />

bestaunen.<br />

Seit 1038, bis ins 16. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

war Krakau die Hauptstadt Polens.<br />

Nikolaus Kopernikus <strong>und</strong> Karol<br />

Wojtyła, Erzbischof von Krakau <strong>und</strong><br />

Papst Johannes Paul II., haben in<br />

Krakau studiert. Krakau, besonders<br />

der Stadtteil Nowa Huta, war einer<br />

der Brennpunkte der Solidarność-<br />

Bewegung. Krakau war <strong>und</strong> ist ein<br />

Zentrum von Kultur, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>Politik</strong>. Die heimliche Hauptstadt<br />

Polens.<br />

Wenn man durch die Gassen des<br />

Stadtteils Kasimierz schlendert,<br />

hat man sofort das Titelthema von<br />

Schindlers Liste im Ohr. Gedreht<br />

wurde der Film zu großen Teilen<br />

im ehemals jüdischen Viertel. Seiner<br />

tragischen Vergangenheit zum<br />

Trotz ist es heute das Szeneviertel<br />

Krakaus. Ein lauer Spätsommerabend<br />

im Biergarten neben dem jüdischen<br />

Kulturzentrum lässt einen<br />

erahnen, warum. Man stößt sich<br />

den Kopf an knorrigen, uralten<br />

Obstbäumen <strong>und</strong> bestellt einfach<br />

„Piwo“ – es gibt nur eine Sorte Bier<br />

– Żywiec.<br />

Im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand Kazimierz<br />

als selbstständige Stadt.<br />

Nach Pogromen in Krakau siedelten<br />

ab dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend<br />

Juden in Kazimierz. Hiervon<br />

zeugen heute mehrere Synagogen<br />

<strong>und</strong> jüdische Friedhöfe. Seit 1867<br />

gehört Kazimierz zu Krakau. Unter<br />

deutscher Besatzung verlor fast die<br />

gesamte Bevölkerung ihr Leben,<br />

Kazimierz verfiel. Seit dem Fall des<br />

Kommunismus saniert, ist es heute<br />

ein Hauptanziehungspunkt für<br />

Stadtbesucher.<br />

Krakau ist eine Stadt für sonnige<br />

Tage - kein Problem, die Sonne<br />

scheint in der drittgrößten polnischen<br />

Stadt oft genug!


Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen<br />

Die vielen Seiten der vom Tourismus unentdeckten Hauptstadt Moldawiens<br />

von Felix Jaeger<br />

Chişinău (Kischinau) ist die Hauptstadt<br />

Moldawiens, eines EU-Anrainerstaates<br />

mit knapp 4,5 Millionen<br />

Einwohnern <strong>und</strong> doch so unbekannt<br />

wie ein französisches Dorf.<br />

Dabei ist Chişinău eine der grünsten<br />

Städte Europas <strong>und</strong> mehr als<br />

nur eine Reise wert. In der warmen<br />

Jahreszeit etwa bietet ein Sonntagsspaziergang<br />

inklusive Bootsfahrt<br />

auf dem Stadtsee im „parcul la izvor“<br />

die Erholung, die nach einer<br />

durchfeierten Nacht in Discos wie<br />

dem „City“ oder „Military Club“ nötig<br />

ist. Der Charme dieser Metropole<br />

zeigt sich indes besonders an der<br />

imposanten Hauptkathedrale hinter<br />

dem Triumphbogen am breiten<br />

Boulevard Stefans des Großen oder<br />

auf dem großen Zentralmarkt wo<br />

von Obst, Gemüse, Fleisch <strong>und</strong> einheimischen<br />

Gerichten wie Pelmeni<br />

(russische Tortellini) über Kleider<br />

<strong>und</strong> Hygieneartikeln bis zu kleinen<br />

Haushaltsgegenständen wirklich alles<br />

verkauft wird. Ebenso lohnt sich<br />

ein Besuch des Staatstheaters, insbesondere<br />

wenn man das Glück hat,<br />

bei günstigen Eintrittspreisen das<br />

beeindruckende russische Staatsballet<br />

aus St. Petersburg zu sehen.<br />

Als die größten ihrer Art sind die<br />

nicht weit entfernten Weinkatakomben<br />

in Cricova eine weitere<br />

ganz besondere Attraktion. Um<br />

sich in Moldawien fortzubewegen<br />

benutzt man Busse oder Minibusse,<br />

so genannte Maxi-Taxis, was auch<br />

passender ist. Nicht schlecht staunt<br />

man, wenn man auf dem Fahrplan<br />

des Chişinăuer Busbahnhofs das<br />

Schild Chişinău – Flensburg“ liest.<br />

Auf einer Fläche die ungefähr dem<br />

Hauptbahnhof in Hamburg entspricht,<br />

herrscht dort großes Treiben;<br />

umherlaufende Händler verkaufen<br />

Eis, Zeitungen oder sogar<br />

Plastiktüten.<br />

Wenn man einen von ihnen auf rumänisch<br />

nach dem Weg fragt, kann<br />

es passieren, dass er auf russisch<br />

antwortet. Moldawien war früher<br />

rumänisch, wurde aber in der Sowjetzeit<br />

russifiziert, weshalb viele<br />

Bewohner Chişinăus zweisprachig<br />

aufgewachsen sind. Im Gegensatz<br />

zu russisch ist rumänisch keine slawische<br />

Sprache, sondern eine romanische<br />

<strong>und</strong> dem italienischen sehr<br />

ähnlich. In Moldawien gibt es ferner<br />

ukrainische <strong>und</strong> turkstämmige<br />

Minderheiten, die ihre Sprache<br />

sprechen. Dieser kulturelle Reichtum<br />

hilft jedoch über Moldawiens<br />

Situation als „Armenhaus Europas“<br />

nicht hinweg. Die oft abenteuerliche<br />

Flucht vieler Arbeitsuchender<br />

ins Ausland hat dazu geführt, dass<br />

vor allem nicht-erwerbsfähige zurückgeblieben<br />

sind, unter ihnen<br />

viele Kinder. Zurückhaltende Schätzungen<br />

besagen, dass sich mehr als<br />

10% der moldawischen Staatsbürger<br />

im Ausland befinden <strong>und</strong> Umfragen<br />

ergeben, dass 62% der Bürger für<br />

eine Zeit oder für immer das Land<br />

verlassen würden. Die Moldawier<br />

sind sich ihrer Situation bewusst<br />

<strong>und</strong> in den letzten Jahren hat sich<br />

bereits vieles verändert.<br />

// //<br />

Ein großes Problem bereitet jedoch<br />

der im moldawischen Staatsgebiet<br />

liegende, international nicht<br />

anerkannte Staat Transnistrien.<br />

Von dort hat sich ein Teil der Sovjetarmee<br />

nach der Unabhängigkeitserklärung<br />

Moldawiens 1991<br />

nicht entfernt <strong>und</strong> einen Bürgerkrieg<br />

angestiftet, der seit 1993 ruht.<br />

Transnistrien wurde mir gegenüber<br />

einmal als „Land der W<strong>und</strong>er“ bezeichnet:<br />

Es gibt dort noch einen<br />

sozialistischen Diktator, eine eigene<br />

Währung, eine Post mit eigenen<br />

Briefmarken <strong>und</strong> Reisepässe – nichts<br />

davon ist im restlichen Moldawien<br />

oder im Ausland brauchbar.<br />

Wie auch aus anderen Regionen<br />

Osteuropas bekannt, ist die Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

in Moldawien überwältigend.<br />

In der transnistrischen<br />

Stadt Bender habe ich mit Pflaumenschnaps<br />

auf das Leben „ so wie<br />

die Äpfel <strong>und</strong> Birnen im Frühling“<br />

angestoßen, in Chişinău wurde ich<br />

von der Witwe eines auf jiddisch<br />

schreibenden Schriftstellers zum<br />

Essen mit Mitgliedern der wieder<br />

gewachsenen jüdischen Gemeinde<br />

eingeladen. Im Gegensatz zum Wissen<br />

der Deutschen über Moldawien<br />

ist das Wissen der Moldawier umgekehrt<br />

beeindruckend. Auch kennt<br />

fast jeder jemanden, der schon zum<br />

Arbeiten nach Deutschland gekommen<br />

ist. So ist es im Gegensatz das<br />

Mindeste wenigstens von der Existenz<br />

Chişinăus, der Hauptstadt von<br />

Moldawien, Kenntnis genommen<br />

zu haben.<br />

Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


39<br />

Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />

Flaggen im Osten Deutschlands<br />

// //<br />

40<br />

Interview mit Wolfgang Neskovic<br />

„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische Demokratie“<br />

44<br />

Eine deutsche Steuer<br />

Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />

46<br />

Die Stadt der Zukunft<br />

Vier Fragen and Wolfgang Tiefensee<br />

48<br />

Asylbewerber in Deutschland<br />

Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?


Deutschland<br />

Ausgabe 1/2008<br />

<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 8 //


Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />

Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />

Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />

wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Deutschlands<br />

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre1990 kamen im Osten fünf neue B<strong>und</strong>esländer<br />

zur B<strong>und</strong>esrepublik hinzu, <strong>und</strong> natürlich erhielt jedes seine eigene Flagge. Da manche der Länder<br />

zwar als Institution eine große Tradition aufwiesen (vor allem Sachsen, aber auch Thüringen <strong>und</strong><br />

Anhalt) <strong>und</strong> sogar zum Teil schon zu Zeiten des Kaiserreichs existierten, aber geographisch die<br />

Landesgebiete 1990 völlig neu zugeordnet wurden, erhielten alle fünf Länder eine neue Flagge,<br />

auch wenn Farben <strong>und</strong> Motive teilweise bis auf das Mittelalter zurückzuführen sind.<br />

Brandenburg kann auf eine große Tradition zurückblicken. Schließlich war es das Kernland <strong>und</strong><br />

ist das Überbleibsel des einst größten deutschen Landes Preußen. Auch wenn die Alliierten 1947<br />

Preußen als „Träger des Militarismus <strong>und</strong> der Reaktion in Deutschland“ zum Mitschuldigen an<br />

beiden Weltkriegen erklärt <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong> Preußen aufgelöst haben, so ist man sich in<br />

Brandenburg seiner Vergangenheit bewusst. Folglich wählte man den preußischen Adler zum<br />

Wappentier <strong>und</strong> als Hintergr<strong>und</strong> einen roten <strong>und</strong> einen weißen Streifen. Beide Farben waren<br />

in Brandenburg sogar schon vor der Entstehung Preußens in Gebrauch <strong>und</strong> stammen aus dem<br />

zwölften Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Die neuen B<strong>und</strong>esländer erhielten 1990 alle neue Flaggen<br />

Nicht so eindeutig ist das Erbe Mecklenburg-Vorpommerns, aus dem man 1990 eine neue Landesdienstflagge<br />

zusammenstellte. Das B<strong>und</strong>esland vereinigt das früher von der Hanse geprägte<br />

im Westen liegende Mecklenburg mit dem in der B<strong>und</strong>esrepublik verbliebenen Rumpf desjenigen<br />

Landes, das einst riesige Flächen im heutigen Polen bedeckte: Pommern. Diese zwei Elemente<br />

sollen auch in der Fahne zum Ausdruck kommen. Blau <strong>und</strong> Weiß sind die traditionellen Farben<br />

Pommerns, während Gelb <strong>und</strong> Rot Mecklenburg kennzeichnen. Rot <strong>und</strong> Weiß wiederum sind alte<br />

Farben der Hanse. Die Farben haben auch noch symbolische Bedeutung: Blau steht für Meer <strong>und</strong><br />

Himmel, Gelb für Kornfelder <strong>und</strong> Rot für Backsteine, das Material, aus dem traditionellerweise<br />

viele Häuser in der Region errichtet werden. Der Stier (für Mecklenburg) <strong>und</strong> der Greif (für Vorpommern)<br />

schließlich sind altbekannte Embleme, die als Wappentiere schon seit langem in Gebrauch<br />

sind.<br />

Sonderstatus Berlin<br />

Einen Sonderstatus nimmt Berlin ein: Eigentlich ist es kein „neues“ B<strong>und</strong>esland, denn West-Berlin<br />

war mit einigen Einschränkungen schon seit 1949 Teil der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> deren elftes B<strong>und</strong>esland.<br />

Dennoch wollen wir Berlin in diese Betrachtung mit aufnehmen, da das Land 1990 erheblich<br />

an Fläche hinzugewann, indem man ihm den ehemaligen Sowjetischen Sektor der Stadt <strong>und</strong><br />

damit das Gebiet Ostberlins einverleibte. An seiner Flagge hat sich dadurch nichts geändert, <strong>und</strong><br />

bei ihr handelt es sich wahrscheinlich um die bekannteste der neuen Länder: Zwei wagerechte<br />

rote Streifen am oberen beziehungsweise unteren Ende der Fahne flankieren eine weiße Fläche,<br />

auf der leicht versetzt zum Fahnenstock hin ein Bär zu sehen ist, der in die gleiche Richtung zu<br />

paradieren scheint. Weniger bekannt ist, dass der Bär schon im Mittelalter tatsächlich als Wortspiel<br />

mit dem Namen der Stadt gewählt wurde, <strong>und</strong> dass er zunächst große Mühe hatte, im Kampf<br />

mit dem traditionellen Wappentier Preußens zu bestehen – dem Adler. Gerade weil sich in dieser<br />

Frage aber das preußische Element nicht durchsetzen konnte, wollte man bei der Schaffung der<br />

Fahne im Jahre 1911 Berlins Stellung als Herz <strong>und</strong> Kapitale Preußens ebenso wie seine Verb<strong>und</strong>enheit<br />

mit dessen Kernprovinz Brandenburg auf andere Weise betonen. Daher entschied man sich,<br />

die brandenburgischen Farben rot <strong>und</strong> weiß auch auf der Berliner Landesfahne zu verwenden.<br />

// //<br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

SPD-Mitglied, Grüner, jetzt parteilos<br />

für Die Linke im B<strong>und</strong>estag. Jurastudium<br />

in Hamburg, Richter am<br />

Landgericht Lübeck, Lehrauftrag<br />

an der Universität Hamburg, BGH-<br />

Richter.<br />

Wolfgang Nešković‘ Karriere ist steil<br />

<strong>und</strong> ungewöhnlich. Bekannt wurde<br />

der Jurist, Jahrgang 1948, durch ein<br />

Aufsehen erregendes Urteil zur Legalisierung<br />

von Cannabis, dem Urteil<br />

zu den so genannten „geringen<br />

Mengen“ von 1994.<br />

Derzeit ist er stellvertretender Vorsitzender<br />

des Rechtsausschusses des<br />

deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> Mitglied<br />

des parlamentarischen Kontrollgremiums<br />

zur Überwachung<br />

der deutschen Nachrichtendienste.<br />

Anlässlich seines Vortrages an der<br />

Bucerius Law School hat die <strong>Politik</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> mit ihm über <strong>Politik</strong>,<br />

Ideale <strong>und</strong> sein Leben gesprochen.<br />

Das Interview führten Lukas Mezger<br />

<strong>und</strong> Konstantin Kleine<br />

P&G: Herr Nešković, einige meinen, der<br />

Wortlaut eines Gesetzes gibt in Wirklichkeit<br />

höchstens Hinweise für die<br />

Rechtsfindung, letztlich aber entscheiden<br />

vor allem oberste Gerichte nach<br />

ihrem Gerechtigkeitsempfinden im Einzelfall.<br />

Wie ist da Ihre Einschätzung?<br />

Wolfgang Nešković: Im Kern treffen<br />

Richter bei der Auslegung des<br />

Rechtes <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Wertungsentscheidungen auch<br />

Willensentscheidungen. Das sehen<br />

Sie etwa an den unterschiedlichen<br />

Urteilen zur Rechtschreibreform.<br />

Schon Goethe sagte ja im Faust: „Im<br />

Auslegen seid frisch <strong>und</strong> munter!<br />

Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“<br />

Ein weiter Spielraum bei der<br />

Auslegung wäre auch überhaupt<br />

kein Problem, wenn eine Pluralität<br />

unter der Richterschaft für den<br />

// 0 //<br />

Interview mit Wolfgang Neškovic<br />

„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische<br />

Demokratie“<br />

nötigen Ausgleich im Gesamtbild<br />

sorgen würde. An dieser Pluralität<br />

fehlt es aber mit Blick auf die soziale<br />

Herkunft der Richter. Obwohl sie<br />

ihre Urteile im Namen des Volkes<br />

sprechen, repräsentieren sie in ihren<br />

Wertehorizonten nicht dessen<br />

Gesamtspektrum, sondern nur einen<br />

Ausschnitt der Bevölkerung.<br />

P&G: Wie war die Umstellung von Ihrer<br />

Arbeit als oberster B<strong>und</strong>esrichter zum<br />

Oppositionspolitiker im B<strong>und</strong>estag?<br />

Nešković: Sehr gewöhnungsbedürftig.<br />

Man tauscht die Akten gegen<br />

Menschen ein. Die am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

gewohnte Tiefe <strong>und</strong> Breite<br />

des intellektuellen Diskurses hat<br />

am B<strong>und</strong>estag Seltenheitswert. Das<br />

vermisse ich schon. Am B<strong>und</strong>estag<br />

ist oft mehr die Empathie als der Intellekt<br />

gefragt. Das kann man aber<br />

auch gut finden. Es ist die Nähe zu<br />

den Menschen, nicht zuletzt auch<br />

zu meinen klugen <strong>und</strong> engagierten<br />

Mitarbeitern, die mir viel bedeutet.<br />

„Man tauscht die Akten<br />

gegen Menschen ein“<br />

P&G: Sie sind über die Brandenburger<br />

Landesliste der Linkspartei in den B<strong>und</strong>estag<br />

eingezogen. Wie haben Sie sich<br />

Ihren Wahlkreis ausgesucht?<br />

Nešković: Ursprünglich sollte es<br />

für mich gar keinen Wahlkreis geben.<br />

Dann bot man mir wahlweise<br />

Potsdam oder Cottbus an. Für<br />

Potsdam sprach zunächst viel; die<br />

Stadt liegt vor der Haustür Berlins<br />

<strong>und</strong> sie ist die Landeshauptstadt<br />

Brandenburgs. Ein kluger Landesvorsitzender<br />

hatte dann aber interveniert.<br />

Er verdeutlichte mir, dass<br />

es in Cottbus in Der Linken viele<br />

junge Leute mit reichlich Elan <strong>und</strong><br />

einem Bedarf nach Erfahrung gibt.<br />

Auch die politischen Aufgaben, die<br />

sich mit Cottbus verbinden, waren<br />

verlockend. Cottbus ist praktisch<br />

die Gerichtshauptstadt Branden-<br />

burgs. Dort erwartete mich zudem<br />

– wegen des Vattenfall-Sitzes – die<br />

spannende Energiepolitik. Auch leben<br />

in Cottbus viele Sorben, deren<br />

Rechte als kulturelle Minderheit<br />

mir (auch wegen meiner eigenen<br />

Herkunft) ein Anliegen sind. Zudem<br />

bietet die Region eine kulturell<br />

vielfältige Szene <strong>und</strong> viele soziale<br />

Brennpunkte.<br />

Ich entschied mich also für Cottbus<br />

<strong>und</strong> bin sehr froh über meine Entscheidung.<br />

Das liegt vor allem an<br />

den Menschen der Stadt. Die Cottbuser<br />

gehen mit den Härten der<br />

Wiedervereinigung bemerkenswert<br />

wesensstark um. Das kann man<br />

schlecht erzählen, man muss es erleben.<br />

P&G: Welche Fähigkeiten brauchen Sie<br />

als B<strong>und</strong>estagsabgeordneter, die Sie in<br />

Ihrem Richteramt nicht so stark benötigt<br />

haben?<br />

Nešković: Wenn man die Frage auf<br />

den BGH begrenzt, dann geht es im<br />

B<strong>und</strong>estag wohl vermehrt um Kommunikationsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Empathie.<br />

Darum ging es jedoch auch in<br />

den Jahren, in denen ich als Richter<br />

in der Tatsacheninstanz tätig war.<br />

Als Abgeordneter müssen Sie komprimieren<br />

können. Es fehlt Ihnen<br />

oft die Zeit zu langem Nachdenken.<br />

Dann kommt es darauf an zu improvisieren<br />

<strong>und</strong> für die Improvisation<br />

auch den nötigen politischen Mut<br />

aufzubringen.<br />

P&G: Inwiefern hilft Ihnen Ihr juristisches<br />

Wissen trotzdem bei Ihrem<br />

Arbeitsalltag?<br />

Nešković: Es hilft mir sehr. Im<br />

Rechtsausschuss sitzen im Regelfall<br />

zwei Vertretern meiner Fraktion<br />

jeweils elf Rechtspolitiker der SPD<br />

<strong>und</strong> der CDU/CSU gegenüber. Wenn<br />

Sie für dieses Zahlenverhältnis die<br />

Fülle der Vorgänge bedenken <strong>und</strong><br />

auch den Umstand, dass man in der<br />

Koalition auf die Bearbeitungen der


Ministerien zurückgreifen kann,<br />

dann schadet es nicht, wenn Sie als<br />

Oppositionsabgeordneter ein umfangreiches<br />

juristisches Wissen bereits<br />

mitbringen.<br />

„Im B<strong>und</strong>estag ist Kommunikationsfähigkeit<br />

<strong>und</strong><br />

Empathie gefragt“<br />

P&G: <strong>Politik</strong>er müssen täglich Stellung<br />

beziehen - im B<strong>und</strong>estag gibt es sehrhäufig<br />

Abstimmungen zu sehr verschiedenen<br />

Themen: Wie oft vertrauen<br />

Sie anderen (etwa Fraktionen) <strong>und</strong> wie<br />

stark kann man es leisten, sich selbst<br />

eine Meinung zu bilden? Wie eignen Sie<br />

sich das für Ihre Arbeit nötige Fachwissen<br />

an?<br />

Nešković: Der Rechtsausschuss ist<br />

bei fast allen Gesetzesvorhaben<br />

beteiligt <strong>und</strong> in sehr vielen Fällen<br />

federführend. Wenn man in einer<br />

Woche dreißig bis vierzig Vorlagen<br />

bedenken <strong>und</strong> beraten will, dann ist<br />

man gezwungen, sich auch auf die<br />

Kenntnisse <strong>und</strong> Meinungen anderer<br />

zu verlassen. Ich tue das, wenn<br />

auch nicht gerade begeistert. Ich<br />

habe hervorragende Mitarbeiter,<br />

die mich informieren <strong>und</strong> auch zu<br />

tiefschürfenden Nachfragen meist<br />

eine Antwort haben oder doch<br />

schnell entwickeln können. Für sie<br />

<strong>und</strong> mich verläuft die Aneignung<br />

von Fachwissen über die Konsumtion<br />

von unglaublich viel Papier-<br />

<strong>und</strong> Bildschirmtexten.<br />

P&G: Sie haben die deutsche Parteienlandschaft<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln<br />

kennen gelernt - wie stehen Sie zu<br />

Fraktionszwang <strong>und</strong> parteiinternem<br />

Diskurs?<br />

Nešković: Der Fraktionszwang tötet<br />

die parlamentarische Demokratie.<br />

Wertvolles Diskurspotential geht<br />

// 1 //<br />

durch ihn verloren. So etabliert<br />

sich gerade in der Großen Koalition<br />

die Herrschaft der Wenigen für die<br />

Wenigen. Als Oppositionspolitiker<br />

weiß man natürlich, dass man keine<br />

gesetzgeberischen Entscheidungen<br />

treffen kann, weil es dafür an den<br />

nötigen Mehrheiten fehlt. Damit<br />

kann man schon leben. Schlimmer<br />

aber ist es für die Abgeordneten der<br />

Koalitionsparteien. Sie müssen regelmäßig<br />

die Illusion pflegen, dass<br />

sie Einfluss auf die Gesetzgebung<br />

nehmen könnten. Dabei verfügen<br />

sie über einen solchen Einfluss<br />

nicht. Sie beschließen lediglich, was<br />

das Küchenkabinett der Kanzlerin<br />

beschließt. Wozu der B<strong>und</strong>estag<br />

überhaupt fähig wäre, kann er so<br />

nicht unter Beweis stellen.<br />

„Die Große Koalition ist<br />

eine Herrschaft der Wenigen<br />

für die Wenigen“<br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

P&G: Wie unabhängig ist man als parteiloser<br />

Fraktionssprecher der Linken?<br />

Nešković: Man ist immer so unabhängig,<br />

wie man es erstrebt. Ich<br />

bin bisher noch nie unter Frak-<br />

tionszwang gestellt worden. Das ist<br />

nicht üblich. Wichtig ist uns, dass<br />

die abweichende Meinung vorher<br />

in der Fraktionssitzung mitgeteilt<br />

wird. Die Linke ist insgesamt in<br />

der Meinungsbildung signifikant<br />

toleranter als andere Fraktionen.<br />

Die Pluralität an Meinungen ist erwünscht<br />

<strong>und</strong> der Umgang damit<br />

souverän. Ich fühle mich sehr frei<br />

in meiner Fraktion.<br />

P&G: Wo sehen Sie die Kernaufgaben<br />

der deutschen Geheimdienste?<br />

Nešković: Die Kernaufgabe liegt natürlich<br />

in der Informationsbeschaffung<br />

als Gr<strong>und</strong>lage für politische<br />

Entscheidungen. Für den BND als<br />

Auslandsnachrichtendienst geht<br />

es darum, Informationen für die<br />

Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik zu<br />

gewinnen. Der Verfassungsschutz<br />

ist angehalten, Informationen zum<br />

Schutz der Verfassung zu besorgen.<br />

Thematisch hat die Terrorismusbekämpfung<br />

- zumindest in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung - einen<br />

unverhältnismäßig hohen Stellenwert<br />

angenommen. Das Risiko, von<br />

einem Laster vor der eigenen Haustür<br />

überfahren zu werden, ist wesentlich<br />

größer, als die Gefahr, Opfer<br />

eines terroristischen Anschlages<br />

zu werden. Hier wird viel Hysterie<br />

<strong>und</strong> Problembehauptung betrieben,<br />

die mit den erfragten Kernaufgaben<br />

der Geheimdienste wenig zu<br />

tun haben.<br />

P&G: Sie sind unter anderem wegen<br />

Joschka Fischers Zustimmung zum Kosovokrieg<br />

aus der Partei der Grünen<br />

ausgetreten. Wie gehen Sie mit dem<br />

Zwiespalt zwischen Idealismus <strong>und</strong> Realpolitik<br />

um?<br />

Nešković: Gar nicht. Für mich gibt<br />

es nur <strong>Politik</strong>, die sich an idealen<br />

Werten orientieren muss. Diejenigen,<br />

die stets vom Primat des Machbaren<br />

reden, weigern sich damit,<br />

das machbar zu machen, was ihren<br />

Werten entspricht. Wenn sie Recht<br />

hätten, würden wir noch immer<br />

// 2 //<br />

im gesellschaftlichen Zustand der<br />

Sklaverei verharren.<br />

Es ist natürlich notwendig, die Möglichkeiten<br />

auszuloten, die dem Ideal<br />

den Boden bereiten können. Wer<br />

so verfährt, ist Idealist <strong>und</strong> Realist<br />

in einem. Es ist aber völlig falsch,<br />

dem Ideal den Boden zu entziehen,<br />

indem man – im Gr<strong>und</strong>e dankbar –<br />

auf die mangelnden Möglichkeiten<br />

verweist. Wer so verfährt, ist ein<br />

politischer Feigling.<br />

„Kriege sind das Versagen<br />

der <strong>Politik</strong> mit anderen<br />

Mitteln“<br />

P&G: Sie stimmen regelmäßig gegen<br />

Auslandseinsätze der B<strong>und</strong>eswehr. Wie<br />

stehen Sie zur Verantwortung Deutschlands<br />

im Zusammenhang mit internationalen<br />

Konflikten?<br />

Nešković: Das ist ein schwieriges<br />

Thema. Eine geeignete Antwort<br />

müsste Seiten füllen. Ich will es<br />

aber relativ kurz versuchen.<br />

Zunächst einmal besteht Deutschlands<br />

Verantwortung vorrangig<br />

darin, im Inland für das Wohl der<br />

Menschen zu sorgen.<br />

Was unsere Verantwortung nach<br />

außen betrifft, so gibt es hier viel<br />

Selbstbetrug <strong>und</strong> auch Heuchelei.<br />

Kriege sind das Versagen der <strong>Politik</strong><br />

mit anderen Mitteln. Konflikte<br />

haben Ursachen. Viele der heutigen<br />

Konflikte reichen zurück bis<br />

zu den Verbrechen der westlichen<br />

Kolonialpolitik; andere Konflikte<br />

sind weiterwirkende Spannungen<br />

auf den alten Nebenschauplätzen<br />

des Kalten Krieges. Die allermeisten<br />

Konflikte haben zudem eine<br />

tiefere Ursache in einer blockierten<br />

gesellschaftlichen Entwicklung, für<br />

die der Westen eine erhebliche Mitverantwortung<br />

trägt. Wer etwa einer<br />

schmalen Oberschicht in einem<br />

früh-feudalen Regime Diamanten<br />

oder Öl abkauft, der kann sich<br />

nicht darüber w<strong>und</strong>ern, dass dort<br />

die Demokratie nicht vorankommt<br />

<strong>und</strong> soziale Missstände regelmäßig<br />

Kriege entfachen.<br />

Unsere Außenpolitik sollte also<br />

zu allererst darin bestehen, den<br />

Menschen in anderen Staaten eine<br />

Chance für wirtschaftliche Entwick-


lung <strong>und</strong> allgemeine Prosperität zu<br />

ermöglichen. Tatsächlich aber tun<br />

wir das nur im ganz geringen Maße,<br />

während wir in viel höherem Maße<br />

unsere außenwirtschaftlichen Egoismen<br />

<strong>und</strong> die unserer so genannten<br />

Bündnispartner verfolgen. Wir<br />

tun das oft genug zulasten der Entwicklungschancen<br />

anderer.<br />

Was unsere Auslandeinsätze angeht,<br />

möchte ich also zusammenfassen:<br />

Es überzeugt mich nicht, ständig<br />

die teure Feuerwehr zu schicken,<br />

wenn man stattdessen mit den dafür<br />

aufgewandten finanziellen Mitteln<br />

wirkungsvoll gegen die Brandursachen<br />

vorgehen könnte.<br />

P&G: Der Linken wird oft vorgeworfen,<br />

das Gedankengut der SED weiterzutragen.<br />

Nešković: Der Vorwurf ist reine<br />

Demagogie. Für diesen Vorwurf<br />

gibt es keine ernst zu nehmenden<br />

Belege. Vielmehr wird mit solch<br />

haltlosen Unterstellungen versucht,<br />

dem Engagement der Linken<br />

für soziale Gerechtigkeit den moralischen<br />

Boden zu entziehen.<br />

„Staatliche Fürsorge ist<br />

die Gr<strong>und</strong>lage für die Ermöglichung<br />

von Freiheit“<br />

P&G: Wie würden Sie heute die SED in<br />

wenigen Worten beschreiben?<br />

Nešković: Auch hier sind „wenige<br />

Worte“ eine hohe Hürde für das Bemühen<br />

um Richtigkeit.<br />

Es gibt heute eine Reihe von Überlegungen,<br />

wonach zum Beispiel<br />

der „real existierende Sozialismus“<br />

eigentlich staatskapitalistisch verfasst<br />

war. Wenn Sie ein Land mit<br />

einem Superkonzern gleichsetzen<br />

<strong>und</strong> sich einen Eigentümer vorstellen,<br />

der ein ausgeprägtes soziales<br />

Bewusstsein, aber keine Wertschätzung<br />

für Freiheit <strong>und</strong> Individualität<br />

hat – dann haben Sie vielleicht die<br />

SED vor sich.<br />

Es ist allerdings leicht, mit den Erkenntnissen<br />

der Gegenwart die<br />

Vergangenheit zu bewerten. Viel<br />

schwieriger ist es, in der jeweiligen<br />

Gegenwart die Gegenwart zu erkennen.<br />

Vor der Aufgabe stehen wir<br />

heute auch wieder. Wenn wir für<br />

unsere Gegenwart annehmen, dass<br />

jeder Sozialismus falsch sein muss,<br />

dann verkennen wir mit Sicherheit<br />

unsere Gegenwart.<br />

P&G: Wie bewerten Sie das Spannungsfeld<br />

zwischen persönlicher Freiheit <strong>und</strong><br />

staatlicher Fürsorge?<br />

Nešković: An <strong>und</strong> für sich sollte jeder<br />

problemlos einsehen können,<br />

dass Freiheit eine materielle Gr<strong>und</strong>lage<br />

benötigt, um sinnvoll ausgeübt<br />

werden zu können. Was nützt mir<br />

die Freiheit, wenn ich der Mittel<br />

entbehre sie wahrzunehmen? Dann<br />

kann ich frei verhungern oder frei<br />

erfrieren. Staatliche Fürsorge ist<br />

also nicht das Gegenteil, sondern<br />

die Gr<strong>und</strong>lage für die Ermöglichung<br />

von Freiheit für sehr viele Menschen.<br />

Es ist die Lebenslüge unserer so<br />

genannten Leistungsgesellschaft,<br />

dass es vorwiegend vom eigenen<br />

Einsatz abhinge, ob sich die Freiheit<br />

für einen lohnt oder nicht. Wer aus<br />

Armut unfrei ist, ist selten selbst<br />

schuld daran. Das können Sie – im<br />

Umkehrschluss – an der sozialen<br />

Herkunft der heutigen Studentenschaft<br />

ablesen, deren Kinder später<br />

wieder einmal mit höherer Tendenz<br />

studieren <strong>und</strong> besser verdienen<br />

werden als der Querschnitt der<br />

Bevölkerung.<br />

Solange diese Muster bestehen,<br />

ist staatliche Fürsorge ein nötiger<br />

Schicksalskorrektor <strong>und</strong> ihre Beschneidung<br />

nicht nur ein ungerechter,<br />

sondern auch ein freiheitsfeindlicher<br />

Akt.<br />

P&G: Auf welcher Seite des Dammtors<br />

würden Sie heute studieren <strong>und</strong> was<br />

halten Sie von privaten Bildungseinrichtungen?<br />

Nešković: Ich bin zumindest für den<br />

kleinen Grenzverkehr zwischen<br />

beiden Einrichtungen <strong>und</strong> lasse die<br />

Richtung völlig offen. Ich wünschte<br />

mir, dass die öffentlichen Einrichtungen<br />

eine ähnliche Ausstattung<br />

aufwiesen <strong>und</strong> eine ähnliche Bildungsqualität<br />

zu offerieren hätten,<br />

wie es vermutlich die Ihrige Einrichtung<br />

vermag.<br />

P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />

// //<br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Birgit Weitemeyer<br />

Ausgangsfall<br />

Ein Ehepaar hatte sich gegen die<br />

Festsetzung des Solidaritätszuschlags<br />

in ihrem Einkommensteuerbescheid<br />

für das Jahr 2002 erfolglos<br />

mit Einspruch <strong>und</strong> Klage gewandt.<br />

Sowohl das FG Münster (EFG 2006,<br />

371) als auch der BFH (BStBl. II<br />

2006, 692) hielten das Solidaritätsgesetz<br />

1995 vom 23.6.1993 für verfassungsgemäß.<br />

Gegen den Nichtzulassungsbeschluss<br />

des BFH erhob<br />

das Ehepaar mit Unterstützung<br />

durch den B<strong>und</strong> der Steuerzahler<br />

Verfassungsbeschwerde. Die Frage<br />

ist beim BVerfG seit dem 28.6.2006<br />

anhängig (2 BvR 1708/06). Es bestehen<br />

insbesondere Zweifel<br />

daran, ob der Solidaritätszuschlag<br />

als Ergänzungsabgabe<br />

zeitlich unbegrenzt<br />

erhoben<br />

werden darf. Mit<br />

Unterbrechungen<br />

gibt es den „Soli“ immerhin<br />

seit 17 Jahren.<br />

Der Solidaritätszuschlag 1991<br />

Die Zuschlagsteuer wurde durch das<br />

Solidaritätszuschlagsgesetz 1991<br />

(BGBl. I 1318) kurz nach der Wiedervereinigung<br />

zur Finanzierung der<br />

daraus folgenden Kosten in Höhe<br />

von 3,75 % auf die Einkommen- <strong>und</strong><br />

Körperschaftsteuer zunächst für<br />

zwei Jahre befristet eingefügt. Bereits<br />

kurz nach der Einführung des<br />

Soli hatte ein Rechtsanwalt Verfassungsbeschwerde<br />

erhoben, die das<br />

BVerfG (NJW 2000, 797) nicht zur<br />

Entscheidung angenommen <strong>und</strong><br />

die Einführung des Solidaritätszuschlags<br />

für rechtens erklärt hatte.<br />

Die Besonderheit des deutschen<br />

Finanzsystems besteht darin, dass<br />

die in der Finanzverfassung der Art.<br />

106 ff. GG genannten Steuern wegen<br />

der diffizilen Regelung der Verteilung<br />

der Gesetzgebungs-, Verwaltungs-<br />

<strong>und</strong> vor allem Ertragshoheit<br />

// //<br />

Eine deutsche Steuer<br />

Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />

auf B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Gemeinden<br />

abschließend sind <strong>und</strong> der Staat<br />

nur solche Steuern erheben darf,<br />

die von ihrem Charakter den dort<br />

genannten Steuerarten entsprechen.<br />

Nach Art. 106<br />

Abs. 1 Nr. 6 GG darf eine<br />

Ergänzungsabgabe zur<br />

Einkommens- <strong>und</strong> zur<br />

Körperschaftssteuer erhoben<br />

werden, deren Ertrag<br />

dem B<strong>und</strong> zusteht. Die<br />

Vorschrift hat den Zweck, die Vorrangigkeit<br />

der Einkommen- <strong>und</strong><br />

Körperschaftsteuer für die Finanzierung<br />

des öffentlichen Haushalts<br />

sicherzustellen, gleichwohl aber die<br />

Erträge ausschließlich dem B<strong>und</strong><br />

zukommen zu lassen, während er<br />

sich die Erträge aus einer Erhöhung<br />

der Einkommen- <strong>und</strong> Körperschaftsteuer<br />

nach Art. 106 Abs. 3 GG mit<br />

den Ländern teilen müsste (BVerfG<br />

NJW 2000, 797, 798). Für die Jahre<br />

1991 <strong>und</strong> 1992 stellte das BVerfG<br />

keinen Verfassungsverstoß fest.<br />

Der Solidaritätszuschlag sei eine<br />

Ergänzungsabgabe im Sinne der<br />

Finanzverfassung. Seine Höhe sei<br />

verhältnismäßig <strong>und</strong> belaste den<br />

Kläger nicht übermäßig.<br />

Der Solidaritätszuschlag 1995<br />

Das Solidaritätszuschlagsgesetz<br />

1995 vom 23.6.1993 (BGBl. I 1993,<br />

944, 975 f.) führte die Abgabe seit<br />

1995 wieder ein, erhöhte den Steuersatz<br />

auf 5,5 % der Einkommen-<br />

<strong>und</strong> Körperschaftsteuer<br />

<strong>und</strong> gilt seitdem<br />

unbefristet im Jahre<br />

2008 im 13. Jahr.<br />

Der BFH verweist in<br />

einer knappen Begründung<br />

auf eine<br />

ältere Entscheidung<br />

des BVerfG zu einer Ergänzungsabgabe<br />

in Höhe<br />

von 3 % auf die Einkommen-<br />

<strong>und</strong> Körperschaftsteuer aus dem<br />

Jahr 1967 (BVerfGE 32, 333, 340), in<br />

der das Gericht ausdrücklich festgestellt<br />

hatte, aus dem Begriff der<br />

Ergänzungsabgabe sei nicht herzuleiten,<br />

dass diese von vornherein<br />

befristet eingeführt werden müsse,<br />

sowie auf weitere Verfassungsbeschwerden,<br />

die das Verfassungsgericht<br />

in der Zwischenzeit ohne<br />

eine Begründung nicht zur Entscheidung<br />

angenommen hatte<br />

(Beschluss vom 26.11.1997<br />

– 1 BvR 2372/92 <strong>und</strong> vom<br />

2.5.1997 – 1 BvR 2373/95). Der<br />

Begriff der Ergänzungsabgabe<br />

besage lediglich, so der BFH,<br />

dass die Abgabe die Einkommen-<br />

<strong>und</strong> Körperschaftsteuer ergänzt.<br />

Das bedeute aber lediglich, dass<br />

der Zuschlag in einer Akzessorietät<br />

zu diesen Steuern stehen müsse.<br />

Dieses Erfordernis ist erfüllt, weil<br />

sich die Höhe des Zuschlags nach<br />

einem festen Prozentsatz der Einkommen-<br />

oder Körperschaftsteuerschuld<br />

bemisst.<br />

Ausblick<br />

Wie das BVerfG für das Streitjahr<br />

2002 <strong>und</strong> damit für das 7. Jahr des<br />

Soli entscheiden wird, ist ungewiss.<br />

Da das Verfassungsgericht allerdings<br />

in keinem seiner Beschlüsse<br />

die zeitliche Dauer als ein maßgebendes<br />

Kriterium gesehen hat, ist<br />

wohl eher zu erwarten, dass auch<br />

die aktuelle Verfassungsbeschwerde<br />

nicht zur Entscheidung angenommen<br />

wird. Auch wenn der Soli<br />

den Begriff der Ergänzungsabgabe<br />

erfüllen mag, in anderer Hinsicht<br />

ist das Gesetz ein Etikettenschwindel.<br />

Da die Steuer sowohl im Westen<br />

als auch im Osten erhoben wird<br />

<strong>und</strong> die zusätzlichen Einnahmen<br />

keinerlei Zweckbindung<br />

unterliegen, damit<br />

also nicht besonders<br />

den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

zugute kommen, handelt<br />

es sich eigentlich nicht um<br />

einen Solidaritätszuschlag<br />

für den Osten, sondern um eine<br />

allgemeine Steuererhöhung.<br />

Die Autorin, Frau Prof. Dr. Birgit<br />

Weitemeyer ist seit 2007 Professorin<br />

der Bucerius Law School am<br />

Lehrstuhl für Steuerrecht.


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Der B<strong>und</strong>esminister für Verkehr,<br />

Bau- <strong>und</strong> Stadtenwicklung ist<br />

ein vielbeschäftigter Mann. Bahnprivatisierung,<br />

Wohngeld, LKW-<br />

Maut, Aufbau Ost – alles muss er<br />

koordinieren.<br />

Trotzdem fand der gebürtige Geraer,<br />

der nach seinem Ingenieursstudium<br />

auch schon Leipziger Oberbürgermeister<br />

war, Zeit, der <strong>Politik</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> einige Fragen zur Stadt<br />

der Zukunft zu beantworten.<br />

Das Interview führten Aline Kalb<br />

<strong>und</strong> Konstantin Kleine<br />

P&G: Die deutsche Stadt von heute:<br />

Leerstehende Wohnblocks, wenig Grünfläche,<br />

starke Diskrepanzen zwischen<br />

Stadtteilen. Wie sieht die Stadt der Zukunft<br />

aus?<br />

Wolfgang Tiefensee: Meine Wahrnehmung<br />

der deutschen Städte von<br />

heute ist eine andere: überwiegend<br />

gute Wohnverhältnisse, viel Stadtgrün<br />

– allerdings vor allem in den<br />

großen Städten auch starke Segregation.<br />

Die Vielfalt der deutschen<br />

Städte bringt auch eine Vielfalt an<br />

zukunftsfähigen Modellen hervor,<br />

die „Stadt der Zukunft“ wird also<br />

verschiedene Gesichter haben.<br />

Hier wird jede Stadt ihren ureigenen<br />

Weg suchen <strong>und</strong> finden. Städte<br />

sind dynamisch. Sie wachsen <strong>und</strong><br />

sie schrumpfen. Sie müssen sich<br />

immer neuen Bedürfnissen <strong>und</strong><br />

Anforderungen anpassen. Je besser<br />

es gelingt, möglicherweise gegenläufige<br />

Interessen zu vereinen,<br />

desto erfolgreicher wird die Stadt<br />

sein. Wichtig ist, dass dabei eine<br />

neue Qualität entsteht <strong>und</strong> alle Bewohner<br />

mitgenommen werden. Die<br />

Stadt der Zukunft muss für alle da<br />

sein.<br />

P&G: In Ihrem Vortrag an der Bucerius<br />

Law School nannten Sie das Zusammenspiel<br />

der Generationen (zum Beispiel in<br />

Mehrgenerationenhäusern) als einen<br />

Lösungsansatz für die Probleme, die<br />

durch den demographischen Wandel in<br />

// //<br />

Die Stadt der Zukunft<br />

Vier Fragen an Wolfgang Tiefensee<br />

den Städten geschaffen werden. Zurzeit<br />

verlassen aber viele, vor allem hochqualifizierte,<br />

junge Menschen Deutschland.<br />

Verschärft das zusätzlich die demographische<br />

Problematik? Funktionieren<br />

Mehrgenerationenhäuser auch ohne<br />

die heutige Teenagergeneration?<br />

„Innenstädte müssen lebendig<br />

gestaltet werden“<br />

Tiefensee: Es ist heute normal, einen<br />

Teil des Arbeitslebens im Ausland<br />

zu verbringen. Übrigens kommen<br />

auch viele hochqualifizierte Menschen<br />

nach Deutschland. Aber Sie<br />

haben Recht, der demographische<br />

Wandel ist ein sehr wichtiges Thema.<br />

Die Förderung des Zusammenlebens<br />

mehrerer Generationen ist<br />

ein wichtiger <strong>Politik</strong>ansatz vor diesem<br />

Hintergr<strong>und</strong>. Dabei geht es vor<br />

allem darum, Innenstädte lebendig<br />

zu gestalten, zum Beispiel durch attraktive<br />

Aufenthaltmöglichkeiten<br />

für Jung <strong>und</strong> Alt sowie Treffpunkte<br />

in Gemeinschaftseinrichtungen wie<br />

in Nachbarschaftszentren. Dazu<br />

gehören auch neue Wohnformen<br />

wie Mehrgenerationenhäuser. Der<br />

Stadtraum muss so gestaltet sein,<br />

dass junge wie ältere Menschen<br />

sich wohl fühlen, dort bleiben wollen<br />

oder dorthin zurückkehren.<br />

Um neue Impulse in den Städten<br />

auszulösen, haben wir im Rahmen<br />

der Nationalen Stadtentwicklungspolitik<br />

eine Vielzahl von Initiativen<br />

ergriffen. Mein Ministerium lässt<br />

beispielsweise derzeit anhand von<br />

31 Modellvorhaben untersuchen,<br />

welche Innovationen für familien-<br />

<strong>und</strong> altengerechte Stadtquartiere<br />

notwendig sind, um attraktive städtische<br />

Lebenswelten für alle Generationen<br />

zu stärken. Dafür stellt die<br />

B<strong>und</strong>esregierung 20 Millionen Euro<br />

bereit.<br />

Die Projekte reichen vom Mehrgenerationenwohnen,<br />

zum Beispiel in<br />

Schwerin, über die generationsübergreifende<br />

Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung<br />

von Freiflächen, wie den Sport- <strong>und</strong><br />

Begegnungsparks in Kiel, bis hin zu<br />

Stadtteil- <strong>und</strong> Familienzentren, die


zur Unterstützung der Kommunikation<br />

neue Technologien nutzen,<br />

beispielsweise in Offenburg.<br />

P&G: Entsteht durch so genannte<br />

„Leuchttürme“ – Konzentration von<br />

Fördergeldern auf wenige „Innova-<br />

tionszentren“ – ein Konkurrenzkampf<br />

zwischen den Städten? Schadet dieser<br />

bereits gut entwickelten Regionen?<br />

Tiefensee: Die Städtebauförderung<br />

unterstützt eine Vielzahl von Städten<br />

<strong>und</strong> Gemeinden in allen Regionen<br />

Deutschlands. Seit 1971 hat<br />

der B<strong>und</strong> r<strong>und</strong> zwölf Milliarden<br />

Euro bereitgestellt. Derzeit wird die<br />

Städtebauförderung in über 2100<br />

Stadtquartieren eingesetzt. Das belegt,<br />

dass wir gerade nicht nur die<br />

Metropolen als „Leuchttürme“ fördern,<br />

sondern auch die Klein- <strong>und</strong><br />

Mittelstädte im ländlichen Raum.<br />

Die Städtebauförderung konzentriert<br />

sich in den Städten auf die<br />

Gebiete mit städtebaulichen Missständen<br />

<strong>und</strong> besonderem Entwicklungsbedarf.<br />

In diesem Jahr startet<br />

ein spezielles Programm für die<br />

Entwicklung der Innenstädte, mit<br />

dem die Stadt- <strong>und</strong> Ortsteilzentren<br />

als Standorte für Wirtschaft, Kultur<br />

sowie als Orte zum Wohnen, Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Leben erhalten werden<br />

sollen.<br />

P&G: Kann uns ein vereintes Europa<br />

helfen, die Probleme in den Städten, vor<br />

die uns der demographische Wandel<br />

stellt, zu lösen?<br />

Tiefensee: Da die Probleme des demographischen<br />

Wandels in den<br />

meisten europäischen Staaten sehr<br />

ähnlich gelagert sind, ist das Thema<br />

selbstverständlich auch auf der<br />

europäischen Tagesordnung. Die<br />

für die Stadt- <strong>und</strong> Raumentwicklung<br />

zuständigen Ministerinnen<br />

<strong>und</strong> Minister der EU haben unter<br />

unserer Präsidentschaft in ihrer<br />

„Leipzig-Charta“ ein Zeichen gesetzt.<br />

Wir können viel voneinander<br />

lernen <strong>und</strong> uns untereinander<br />

abstimmen. Die Probleme müssen<br />

wir aber vor Ort lösen. In Städten<br />

mit Bevölkerungsrückgang müssen<br />

wir eine konsequente <strong>Politik</strong> für die<br />

Konsolidierung der Städte verfolgen.<br />

Das bedeutet: Konsolidierung<br />

der Wohnungsmärkte, Konzentra-<br />

// 7 //<br />

tion auf die Innenstädte mit Einzelhandel<br />

<strong>und</strong> Gewerbe, aber auch die<br />

Städte als Wohnstandorte wieder<br />

attraktiver machen. Wir verfolgen<br />

dieses Ziel im Rahmen der Städtebauförderung<br />

mit dem Programm<br />

„Stadtumbau“. In fast allen Städten<br />

müssen die Weichen für eine altersgerechte<br />

Wohnungs- <strong>und</strong> Stadtentwicklungspolitik<br />

gestellt werden,<br />

die das Zusammenleben der Generationen<br />

stärkt.<br />

„Es müssen die Weichen<br />

für eine altersgerechte<br />

Stadtentwicklungspolitik<br />

gestellt werden“<br />

Weiterhin richten wir unser besonderes<br />

Augenmerk auf die Verbesserung<br />

der Integration zugewanderter<br />

Bevölkerungsgruppen. Das<br />

Programm „Soziale Stadt“ <strong>und</strong> das<br />

Modellvorhaben „Innovationen<br />

für Familien- <strong>und</strong> altengerechte<br />

Stadtquartiere“ bieten einen Referenzrahmen<br />

für zukunftsweisende<br />

Strategien. In einer Entwicklungsphase,<br />

in der in vielen europäischen<br />

Städten die Einwohnerzahlen<br />

zurückgehen <strong>und</strong> der Anteil<br />

älterer Einwohner stark zunimmt,<br />

muss ein Schwergewicht der Stadt-<br />

entwicklungspolitik insbesondere<br />

auch darin liegen, die jüngeren<br />

Generationen als zukünftige Leistungsträger<br />

in den Produktions-<br />

<strong>und</strong> Wissensprozess dauerhaft<br />

einzubeziehen. Das gilt für benachteiligte<br />

Stadtteile mit vergleichsweise<br />

hohen Anteilen an Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen, insbesondere mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong>, in besonderem<br />

Maße. Aus diesen Gründen<br />

können die Mittel des europäischen<br />

Strukturfonds <strong>und</strong> des europäischen<br />

Sozialfonds zunehmend<br />

auch für diese Aufgabenstellungen<br />

eingesetzt werden. Sie unterstützen<br />

damit wirksam die nationalen<br />

Anstrengungen.<br />

P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />

Weitere Informationen zu dem bis Ende<br />

2009 laufenden Forschungsfeld im Rahmen<br />

der nationalen Stadtentwicklung<br />

können über das Internet abgerufen<br />

werden unter www.stadtquartiere.de.<br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Quintin Mahlow<br />

Trotz hoher Zäune <strong>und</strong> gefährlicher<br />

Fluchtbedingungen probieren<br />

verzweifelte Afrikaner Europa<br />

zu erreichen. Sobald sie auf europäischen<br />

Boden gelangen, steht ihnen<br />

das Asylverfahren der EU-Staaten<br />

zu, unabhängig davon, ob sie hilfsbedürftige<br />

Flüchtlinge sind oder als<br />

Wirtschaftsmigranten der Armut<br />

entrinnen wollen. Auch Deutschland<br />

gehört, neben Frankreich,<br />

Großbritannien <strong>und</strong> Schweden, zu<br />

einem der Hauptzufluchtsorte für<br />

Asylbewerber.<br />

Im Gr<strong>und</strong>gesetz steht im ersten Absatz<br />

des Artikels 16a schlicht, dass<br />

politisch Verfolgte Asylrecht<br />

genießen. Das Recht auf Asyl<br />

wird ergänzt durch den<br />

Abschiebeschutz des<br />

Aufenthaltsgesetzes.<br />

Dort heißt es in §<br />

60 Abs. 1, dass ein<br />

Ausländer nicht<br />

in einen Staat<br />

abgeschoben<br />

werden darf,<br />

in dem sein<br />

Leben oder seine<br />

Freiheit wegen<br />

seiner Rasse, Religion,<br />

Staatsangehörigkeit, seiner<br />

Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />

sozialen Gruppe oder wegen seiner<br />

politischen Überzeugung bedroht<br />

ist.<br />

Die Asylbewerbezahlen<br />

haben sich seit 2001 halbiert<br />

Hervorzuheben ist bei dieser Definition,<br />

dass allgemeine Notsituationen<br />

– wie Armut, Bürgerkriege,<br />

Naturkatastrophen oder Arbeitslosigkeit<br />

– als Gründe für eine Asylgewährung<br />

ausgeschlossen sind.<br />

Dies ist historisch bedingt. Der § 60<br />

des Aufenthaltsgesetzes basiert auf<br />

der internationalen Definition der<br />

1951 verfassten Genfer Flüchtlingskonvention.<br />

Die Genfer Formulie-<br />

// 8 //<br />

Asylbewerber in Deutschland<br />

Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?<br />

rung wurde im Kontext des Kalten<br />

Krieges gefasst <strong>und</strong> richtete sich<br />

primär an die vorhandenen europäischen<br />

Flüchtlinge.<br />

Vor fünfzehn Jahren<br />

wurden in Deutschland,<br />

zu Zeiten des<br />

Balkankonflikts,<br />

über 400.000<br />

Asylanträge<br />

gestellt.<br />

Diese<br />

Antragszahl<br />

bleibt bis heute<br />

unübertroffen.<br />

Seitdem sank die Zahl<br />

der Asylgesuche stetig. Die<br />

letztjährigen Antragszahlen lagen<br />

laut B<strong>und</strong>esamt für Migration<br />

<strong>und</strong> Flüchtlinge bei 30.000. Dieser<br />

Rückgang spiegelt eine globale Tendenz<br />

wider. Asylbewerberzahlen<br />

in Industriestaaten haben sich seit<br />

2001 halbiert <strong>und</strong> damit den niedrigsten<br />

Stand seit zwei Jahrzehnten<br />

erreicht.<br />

Nach Ansicht des Hohen Flüchtlingskommissars<br />

der Vereinten Nationen<br />

(UNHCR) ist der Rückgang<br />

der Asylanträge in erster Linie auf<br />

die restriktive Asylpolitik in den<br />

westlichen Industriestaaten zurückzuführen.<br />

Weltweit gibt es<br />

weiterhin über 30 Millionen<br />

Flüchtlinge.<br />

Wenn wenig<br />

e r<br />

v o n<br />

i h n e n<br />

wo h l h a b e n d e<br />

Industriestaaten<br />

erreichen, bedeutet dies,<br />

dass bereits überstrapazierte<br />

Entwicklungsländer den Großteil<br />

der Flüchtlinge aufnehmen.<br />

Die Erfolgsquote der Asylanträge<br />

ist in den letzten Jahren auf r<strong>und</strong><br />

sieben Prozent gesunken. Mehr als


90 Prozent der Anträge werden abgelehnt.<br />

Kann man hieraus folgern,<br />

dass Asylbewerber überwiegend<br />

das System missbrauchen <strong>und</strong> gar<br />

keine „ echten“ Flüchtlinge sind?<br />

Verglichen mit anderen Ländern<br />

besitzt Deutschland sehr begrenzte<br />

legale Einwanderungsmöglichkeiten.<br />

Andere Länder, wie die USA,<br />

Kanada oder Australien, bieten<br />

beispielsweise ein Punktesystem;<br />

Bewerber erhalten dabei „Pluspunkte“<br />

für Fachqualifikationen<br />

oder Sprachkenntnisse. Um doch<br />

eine Aufenthaltsgenehmigung zu<br />

erlangen, entwickelte sich das Asylrecht<br />

zum Schlupfloch. Viele Menschen<br />

beantragten Asyl, obwohl<br />

sie nicht die gesetzlichen<br />

Kriterien erfüllten.<br />

Z u -<br />

d e m<br />

werden<br />

fast ein<br />

Drittel der<br />

Asylanträge<br />

aus rein formellen<br />

Gründen<br />

abgelehnt. Formelle<br />

Gründe sind<br />

zum Beispiel, dass ein<br />

anderer EU-Mitgliedstaat<br />

für den Asylbewerber<br />

zuständig ist.<br />

Schließlich müssen die engen<br />

Kriterien des Asylrechts im Verhältnis<br />

zur humanitären Bedürftig-<br />

keit der Asylbewerber bedacht werden.<br />

Jemand, der die Asylkriterien<br />

nicht erfüllt, ist keineswegs weniger<br />

hilfsbedürftig. So kann jemand,<br />

der seine Religion im Herkunftsland<br />

nicht ausüben darf, erfolgreich Asyl<br />

beantragen, während ein Opfer allgemeiner<br />

Gewaltsituationen, z.B.<br />

eines Bürgerkriegs, keine Chance<br />

auf Asyl hat (es fehlt an individualisierter<br />

staatlicher Verfolgung).<br />

Mehr als 90 Prozent der<br />

Anträge werden abgelehnt<br />

Unabhängig davon, wie nachvollziehbar<br />

die Fluchtgründe sind,<br />

haben eine Menge Asylbewerber<br />

keine Aussicht auf den Erfolg ihres<br />

Antrags. Es vergeht viel Zeit, bis ein<br />

Verfahren nach Erschöpfung aller<br />

rechtsstaatlichen Einspruchsmöglichkeiten<br />

abgeschlossen ist<br />

<strong>und</strong> die abgelehnten Asylbewerber<br />

Deutschland<br />

verlassen. Bei Asylbewerbern,<br />

deren Antrag im<br />

Jahr 2006 letztinstanzlich<br />

abgeschlossen wurde, betrug<br />

die durchschnittliche<br />

Gesamtverfahrensdauer<br />

fast zwei Jahre. Bei knapp<br />

einem Zehntel der Asylbewerber<br />

betrug die Gesamtverfahrensdauer<br />

mehr als<br />

fünf Jahre.<br />

Diese Wartezeit ist mit zermürbender<br />

Ungewissheit für die<br />

Asylbewerber <strong>und</strong> schwierigen<br />

politischen Fragen für den Staat<br />

verb<strong>und</strong>en. Einerseits ergibt es<br />

Sinn, Asylbewerbern nicht gleich<br />

eine Arbeitserlaubnis zu erteilen,<br />

um so Asylmissbrauch aus rein wirtschaftlichen<br />

Gründen entgegenzuwirken;<br />

andererseits wird dadurch<br />

in der Öffentlichkeit der Eindruck<br />

von Abhängigkeit verstärkt. Zudem<br />

resultiert aus der Arbeitslosigkeit<br />

selbst eine Vielzahl von Problemen.<br />

Besonders für jene Menschen,<br />

die es gewohnt sind, in ihrem Herkunftsland<br />

zu arbeiten <strong>und</strong> für ihre<br />

Familie zu sorgen.<br />

Ferner sind in Asylbewerberunterkünften<br />

auf engstem Raum viele<br />

desillusionierte Menschen zusam-<br />

// //<br />

mengepfercht. Es ist also nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />

dass die Heime soziale<br />

Spannungen mit sich bringen.<br />

Ein weiteres Problem ist das Thema<br />

Integration. Gerade bei Asylbewerbern<br />

führt es zu einer besonders<br />

komplizierten Frage. Bis zu welchem<br />

Grad sollen Asylbewerber integriert<br />

werden, wenn sie möglicherweise<br />

schon bald wieder abgeschoben<br />

werden? Ist es zu verantworten,<br />

dass Kinder sich an ein Schulsystem<br />

gewöhnen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften bilden,<br />

um dann wieder entwurzelt zu<br />

werden? Kann man von den Eltern<br />

erwarten, dass sie Deutsch lernen,<br />

wenn sie ohnehin hauptsächlich<br />

nur im Asylbewerberheim leben,<br />

nicht arbeiten <strong>und</strong> vielleicht schon<br />

bald wieder weg müssen?<br />

Sollen Asylbewerber integriert<br />

werden?<br />

Ferner sind laut dem UNHCR viele<br />

Asylbewerber ungenügend über die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Erfolgsaussichten<br />

des Asylverfahrens informiert. Es<br />

findet in der Regel keine Beratung<br />

über Alternativen zum Asylverfahren<br />

oder die Möglichkeit einer freiwilligen<br />

Rückkehr statt. Meist kann<br />

nur durch Flüchtlingshilfsorganisationen<br />

eine Rechtsberatung finanziert<br />

werden.<br />

Genauso wie das Schicksal der einzelnen<br />

Asylbewerber ist die Zukunft<br />

der Asylpolitik ungewiss. Die<br />

Gr<strong>und</strong>fragen werden auch zukünftig<br />

weitgehend auf EU-Ebene geformt.<br />

Während die Antragszahlen sinken,<br />

schlagen einzelne Mitgliedsstaaten<br />

vor, das Asylverfahren auf Gebiete<br />

außerhalb der EU-Grenzen zu verlagern.<br />

Die Hürden für Asylbewerber,<br />

in die Festung Europa zu gelangen,<br />

werden wohl immer höher. So kommentiert<br />

die Flüchtlingsorganisation<br />

„Pro Asyl“: „Es entsteht der<br />

Eindruck, die EU strebe nicht den<br />

Schutz von Flüchtlingen, sondern<br />

den Schutz Europas vor Flüchtlingen<br />

an.“<br />

Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


53<br />

Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />

Flaggen im Osten Hamburgs<br />

// 0 //<br />

54<br />

Grenzwanderung<br />

Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher


Hamburg<br />

Ausgabe 1/2008<br />

<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 2 //


Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />

Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />

Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />

wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Hamburgs<br />

Eigene Flaggen führen die sieben Hamburger Bezirke nicht, doch einige von ihnen haben sich<br />

– inoffizielle – Wappen erhalten. Spätestens mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, das dem<br />

Hamburger Stadtgebiet seine heutige Form verlieh, haben alle Wappen <strong>und</strong> Hoheitszeichen auf<br />

Bezirks- <strong>und</strong> Stadtteilebene ihren offiziellen Charakter zugunsten des Hamburger Stadtwappens<br />

verloren. Dennoch werden auch die Traditionen der Bezirke – <strong>und</strong> mit ihnen ihre Wappen – hochgehalten,<br />

von Bürgerinitiativen, Kulturvereinen oder Geschichtskontoren, zum Teil sogar unterstützt<br />

von den Bezirksämtern.<br />

Besonders ausgiebig wird die Traditionspflege in Bergedorf betrieben. Ob dies wirklich daran<br />

liegt, dass die Bergedorfer so weit außerhalb des Hamburger Kerngebiets liegen, dass sie sich nur<br />

eingeschränkt mit Hamburg selbst identifizieren, oder ob die Ursache nicht vielmehr darin besteht,<br />

dass Bergedorf topographisch von den umliegenden Bezirken klar abgrenzbar ist <strong>und</strong> sich<br />

daher seine eigene Identität in ganz anderem Maße erhalten hat als zum Beispiel Eimsbüttel, mag<br />

dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist man stolz, Bergedorfer zu sein, <strong>und</strong> präsentiert beim geselligen<br />

Beisammensein an der Liedertafel, im Bürgerverein, in der genealogischen <strong>Gesellschaft</strong> oder<br />

im Kultur- & Geschichtskontor auch gerne sein Wappen. Letzteres wurde erst 1927 im Auftrag des<br />

Magistrats der damaligen Stadt Bergedorf neu gestaltet, auch wenn erste Vorläufer schon auf das<br />

Jahr 1275 datiert werden. Es besteht aus drei Laub tragenden, nebeneinander stehenden grünen<br />

Eichen vor weißem Hintergr<strong>und</strong>. Die Eichen stehen jede für sich auf einem kleinen Hügel, heraldisch<br />

als „grüner Dreiberg“ bezeichnet.<br />

Man ist stolz, Bergedorfer zu sein<br />

Das Wandsbeker Wappen ist weniger naturnah gestaltet. Es stammt von 1870 <strong>und</strong> zeigt im Vordergr<strong>und</strong><br />

einen Hut, eine Tasche <strong>und</strong> einen Schirm, alles in Silber, vor blauem Hintergr<strong>und</strong>. Dies<br />

sind die Insignien eines berühmten Redakteurs des Wandsbecker Bothen, einer im späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

im Ort herausgegebene Zeitung, die vor allem für ihren literarischen Teil bekannt wurde.<br />

Es handelt sich um den bekannten Dichter Matthias Claudius, noch heute vielen als Autor des<br />

Gedichts „Der Mond ist aufgegangen“ bekannt. Im heraldisch rechten oberen Teil des Wandsbeker<br />

Wappens ist wiederum ein kleines Wappen abgebildet, <strong>und</strong> zwar das des heutigen schleswig-holsteinischen<br />

Kreises Stomarn. Er grenzt unmittelbar an Wandsbek. Mit der Berücksichtigung im<br />

Wappen soll die enge Verb<strong>und</strong>enheit beider Gebiete zum Ausdruck gebracht werden. Das Stomarner<br />

Wappen zeigt vor rotem Gr<strong>und</strong> einen kunstvoll gezeichneten silbernen Schwan in Kampfstellung<br />

mit erhobenem rechten Bein <strong>und</strong> einer goldenen Krone um den rechten Hals.<br />

Stellvertretend für den ebenfalls einen Teil des Hamburger Ostens abdeckenden Bezirk Hamburg-<br />

Mitte, der als Kernbezirk von Groß-Hamburg kein eigenes Wappen führt, wollen wir uns noch<br />

kurz dem Hamburger Stadtwappen widmen. Seine Farben sind der Vergangenheit Hamburgs als<br />

Hansestadt geschuldet: Rot <strong>und</strong> Weiß sind die traditionellen Farben der Hanse. Drei Türme ragen<br />

in den Himmel, von denen die äußeren beiden für die Wehrhaftigkeit <strong>und</strong> die Verb<strong>und</strong>enheit der<br />

Stadt mit der Hanse stehen, während der mittlere den mittelalterlichen Dom <strong>und</strong> damit Hamburgs<br />

Beziehung zur Kirche repräsentiert. Über den beiden äußeren Türmen schweben die beiden<br />

„Mariensterne“, die ihren Namen von der Schutzpatronin Hamburgs erhalten haben.<br />

// //<br />

Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Von Astrid Schnabel<br />

Die Landesgrenze ist unscheinbar,<br />

markiert durch ein verbeultes, mit<br />

Graffiti-Tags verziertes Schild auf<br />

einem Grünstreifen, halb verdeckt<br />

durch Gestrüpp. Auf der einen Seite<br />

liegt das Tor zur Welt, auf der<br />

anderen Seite ein Agrarland. Hier<br />

beginnen die feinen Unterschiede<br />

zwischen Stadtstaat <strong>und</strong> dem nördlichsten<br />

deutschen B<strong>und</strong>esland.<br />

Und wer an der Grenze wohnt, kann<br />

das Beste aus beiden Ländern mitnehmen.<br />

// //<br />

Grenzwanderung<br />

Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher<br />

Morgens beginnt die Arbeitsmigration:<br />

Ein Berufstätiger nach<br />

dem anderen macht sich auf den<br />

Weg nach Hamburg. Gut ein Drittel<br />

der in Hamburg Beschäftigten sind<br />

Pendler aus dem Speckgürtel, alleine<br />

33.000 Personen kommen aus<br />

dem Kreis Stormarn, vier von fünf<br />

dort lebenden Berufstätigen. Während<br />

sich auf A1, A7 <strong>und</strong> den zahlreichen<br />

B<strong>und</strong>esstraßen morgens<br />

Autos der Kennzeichen OD, PI, SE<br />

<strong>und</strong> HL neben den „echten“ Hamburgern<br />

stauen, wünscht man sich<br />

tagsüber ein wenig mehr Leben im<br />

Kreis – viele Orte sind mittags ausgestorbene<br />

Schlafstätten, die nur<br />

noch wenig mit den Bauerndörfern<br />

<strong>und</strong> Kleinstädten von früher zu tun<br />

haben. Tagsüber halten kleine Kinder,<br />

Eltern in Erziehungszeit <strong>und</strong><br />

Rentner die Stellung, bis sich am<br />

Abend die Welle an Pendlern wieder<br />

Richtung Wohnort bewegt. Hier endet<br />

der HVV <strong>und</strong> beginnt der VHH,<br />

der neben immer weiter gekürzten<br />

Busverbindungen in der Adventszeit<br />

Shuttlebusse zum Weihnachtsmarkt<br />

auf Gut Basthorst anbietet.<br />

Je nach Sicht der Dinge liegen die<br />

Prioritäten etwas anders als in der<br />

unmittelbaren Nachbarschaft.<br />

Hier endet der HVV <strong>und</strong><br />

beginnt der VHH<br />

Es lässt sich nicht verhehlen:<br />

Schleswig-Holstein ist immer noch<br />

von der Landwirtschaft geprägt,<br />

auch wenn insbesondere die Milchwirtschaft<br />

seit Jahren kontinuierlich<br />

abnimmt. Gut 1,1 Mio. Hektar<br />

w e r d e n für


die Landwirtschaft genutzt, das<br />

sind gut 70 Prozent der Gesamtfläche.<br />

Während die Westküste fast<br />

ausschließlich von Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Tourismus lebt, sind um die<br />

größeren Städte Produktion <strong>und</strong><br />

Tertiärsektor angesiedelt. Der<br />

größte Arbeitgeber ist die Uniklinik<br />

Schleswig-Holstein, weitere namhafte<br />

Arbeitgeber sind die Drägerwerke<br />

oder Ethicon. Wer abseits der<br />

Ballungszentren lebt, hat jedoch<br />

schlechte Karten; es mangelt an<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> Ausbildungsplätzen,<br />

<strong>und</strong> vielerorts an Perspektiven.<br />

Desolate Dörfer, nur ein paar Minuten<br />

von der Linie des Schleswig-<br />

Holstein-Express entfernt, bieten<br />

wenig Ausblick <strong>und</strong> werfen die Frage<br />

auf, wie es dort weitergehen soll.<br />

Resthöfe <strong>und</strong> Bauland sind günstig,<br />

<strong>und</strong> wer nicht vor Ort in den wenigen<br />

Geschäften oder Ansiedlungen<br />

wie Reha-Einrichtungen arbeiten<br />

kann, pendelt, vielfach über 100 km<br />

auf dem einfachen Weg.<br />

Schleswig-Holstein ist<br />

PISA-Gewinner<br />

Während Hamburg wirtschaftlich<br />

die Nase vorn hat, ist Schleswig-Holstein<br />

der PISA-Gewinner des Nordens.<br />

Schleswig-Holstein liegt im<br />

OECD-Durchschnitt – ein Ergebnis,<br />

das sich so manches B<strong>und</strong>esland nur<br />

wünschen kann. Bildung ist Ländersache,<br />

<strong>und</strong> wer an der Grenze lebt,<br />

kann davon profitieren. Schwächere<br />

Schüler, die in Schleswig-Holstein<br />

scheitern, wandern gerne nach<br />

Hamburg ab. Umgekehrt funktioniert<br />

dieser Trick nur schleppend<br />

– in den letzten zwei Jahren meist,<br />

um noch knapp dem Zentralabitur<br />

zu entgehen. Ab 2008 gibt es auch<br />

in Schleswig-Holstein ein teilweises<br />

Zentralabitur in Kernfächern wie<br />

Englisch, Mathematik, Dänisch oder<br />

Chemie; Hamburg startete schon<br />

2005 das Experiment. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

bestimmt zwar der Hauptwohnsitz,<br />

in welchem B<strong>und</strong>esland eingeschult<br />

wird, allerdings gibt es auch dafür<br />

zahlreiche Ausnahmen. Letztendlich<br />

zahlt das jeweilige B<strong>und</strong>esland<br />

für den Schulplatz im Nachbarland<br />

Schleswig-Holstein an Hamburg im<br />

Rahmen des Gastschulabkommens<br />

gut acht Millionen Euro, um die<br />

Wanderung der schleswig-holsteinischen<br />

Schüler<br />

im Budget auszugleichen.<br />

Um der<br />

Realität<br />

des sich<br />

i m m e r<br />

// //<br />

näher kommenden Schulalltags<br />

gerecht zu werden, sollen im Zuge<br />

weiterer Schulreformen gemeinsame<br />

Oberstufenprofile geschaffen<br />

werden, die zum einen Lehrerst<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> zum anderen den Kurspoker<br />

sparen <strong>und</strong> – das könnte Hamburg<br />

angesichts der gravierenden<br />

Unterschiede bei den PISA-Ergebnissen<br />

ganz gelegen kommen – das<br />

Bildungsniveau angleichen. Damit<br />

fallen idealerweise auch die Hürden<br />

beim Schulwechsel, <strong>und</strong> ein weiterer<br />

Schritt zum sowohl kritisierten<br />

als auch willkommenen Nordstaat<br />

ist gemacht.<br />

Ob in zehn, zwanzig oder dreißig<br />

Jahren Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-<br />

Holstein immer noch „nur“ Nachbarn<br />

sind oder Teil eines großen<br />

Nordstaates, ist bisher ungewiss.<br />

Mit gemeinsamen Aussagen halten<br />

sich die Regierungschefs der nördlichen<br />

B<strong>und</strong>esländer eher bedeckt,<br />

doch eines ist gewiss, ob mit oder<br />

ohne Gesamt-Nordstaat: Hamburg<br />

<strong>und</strong> Schleswig-Hols<br />

t e i n<br />

kommen<br />

sich immernäher.<br />

Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


59<br />

Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />

Das Logo der Bucerius Law School<br />

60<br />

Go East<br />

Karsten Thorn lehrt in China<br />

62<br />

Go West<br />

Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />

64<br />

Das Französisch der Zukunft<br />

Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden


Campus<br />

Ausgabe 1/2008<br />

<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

// 8 //


Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />

Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele Flaggen.<br />

Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten wirft unser<br />

Autor Daniel Schneider zuletzt einen Blick auf das Law-School-Logo – nicht im Osten, aber egal<br />

Eine eigene Flagge oder ein eigenes Wappen hat der „Osten“ der Bucerius Law School nicht – doch immerhin<br />

verfügt die Hochschule insgesamt über ein eigenes Logo, das den Studierenden, Mitarbeitern<br />

<strong>und</strong> Gästen der Hochschule an vielen Stellen ins Auge springt. Die Law School legt großen Wert auf<br />

ihr Corporate Design, dessen zentraler Bestandteil das Logo ist.<br />

Das Logo enthält zwei Teile, einen Bildteil <strong>und</strong> einen Wortteil. Der Bildteil besteht aus drei nebeneinander<br />

stehenden Rechtecken, von denen die beiden äußeren exakt gleich geformt sind. Es handelt<br />

sich jeweils um längliche Rechtecke, die wagerecht links <strong>und</strong> rechts vom mittleren Rechteck liegen<br />

<strong>und</strong> dieses einrahmen. Dabei wird die Symmetrie streng gewahrt. Das mittlere Rechteck dagegen ist<br />

kompakter <strong>und</strong> „kürzer“, wenn auch kein Quadrat. Zudem sind die beiden längeren Seiten vertikal<br />

angeordnet. Verglichen mit den beiden äußeren Rechtecken steht das mittlere folglich gewissermaßen<br />

auf der Seite.<br />

Die Anordnung der drei Rechtecke symbolisiert das Hauptgebäude der Hochschule, das ehemalige<br />

Botanische Staatsinstitut. Die beiden äußeren Rechtecke repräsentieren den Süd- <strong>und</strong> den Ostflügel,<br />

wobei auf eine Darstellung des Knicks, der dem Ostflügel zueigen ist, verzichtet wurde. Weniger bekannt<br />

ist allerdings, dass dem Bildteil eine weitere Bedeutung zukommt. Er symbolisiert zugleich die<br />

Waage der Justitia, der römischen Göttin des Rechtswesens <strong>und</strong> der Gerechtigkeit. Die Waage ist vor<br />

allem ein Sinnbild dafür, dass der Richter die Sachlage sorgfältig abwägen wird, ehe er sein Urteil fällt.<br />

Auf diese Weise wird die Aussage des unteren Schriftzugs „Hochschule für Rechtswissenschaft“ noch<br />

einmal unterstrichen. Ebenso wie dieser ist auch der gesamte Bildteil im Dunkelrot der Hochschule<br />

gehalten. Dieser Farbgebung kommt ebenso wie dem gesamten Logo ein hoher Wiedererkennungswert<br />

zu.<br />

Drei Rechtecke<br />

Der Wortteil wiederum beinhaltet zwei übereinander stehende Schriftzüge, zum einen den Namen<br />

der Hochschule „Bucerius Law School“, zum anderen den Untertitel „Hochschule für Rechtswissenschaft“.<br />

Dabei ist der Name oben immer in Schwarz gehalten, während der untere Schriftzug stets im<br />

charakteristischen dunklen Rot der Law School erscheint. Die Hochschule legt großen Wert darauf,<br />

dass das Logo stets vollständig abgebildet wird, also auch beide Schriftzüge zusammen erscheinen.<br />

Auf diese Weise wird der Terminus „Bucerius Law School Hochschule für Rechtswissenschaft“ in der<br />

Öffentlichkeit als feststehender <strong>und</strong> einheitlicher Begriff für die Institution gefestigt.<br />

// //<br />

Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Go East<br />

Karsten Thorn lehrt in China<br />

Professor Dr. Karsten Thorn, LL.M.,<br />

ist Professor an der Bucerius Law<br />

School für Bürgerliches Recht, Internationales<br />

Privat- <strong>und</strong> Handelsrecht<br />

<strong>und</strong> Rechtsvergleichung. Im<br />

Rahmen seiner Lehrtätigkeit reist<br />

er regelmäßig nach China, um dort<br />

chinesischen Studenten sowie Postgraduates<br />

<strong>und</strong> Anwälte zu unterrichten.<br />

Stephan Kuntner <strong>und</strong><br />

Martin Hejma sprachen mit Karsten<br />

Thorn über seine Erfahrungen<br />

in China.<br />

P&G: Herr Professor Thorn, Sie reisen<br />

beruflich regelmäßig nach China. Welche<br />

Lehrtätigkeiten nehmen Sie dort<br />

wahr?<br />

Prof. Karsten Thorn: Es gibt bisher<br />

drei Programme der Bucerius<br />

Law School in China, an denen ich<br />

beteiligt bin. Begonnen hat mein<br />

Engagement in China vor vier Jahren<br />

mit dem Summer Law Institute<br />

in Suzhou, einem dreiwöchigen<br />

Kursprogramm zum Internationalen<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Handelsrecht,<br />

an dem Studierende aus den USA,<br />

Europa <strong>und</strong> China teilnehmen. Seit<br />

zwei Jahren unterrichte ich zudem<br />

Module im Internationalen Handelsrecht<br />

für Masterstudenten <strong>und</strong><br />

Postgraduates an der CEIBS, der<br />

China Europe International Business<br />

School in Shanghai. Neu für<br />

mich war im letzten Jahr ein zweiwöchiger<br />

Kurs an der CASS, der<br />

Chinese Academy of Social Science<br />

in Beijing, der für chinesische Anwälte<br />

angeboten wurde. Ab diesem<br />

Jahr werde ich darüber hinaus an<br />

einem neuen Kursprogramm für<br />

Führungskräfte in Kooperation mit<br />

der European School of Management<br />

and Technology in China mitwirken.<br />

P&G: Handelt es sich bei Ihren Lehrtätigkeiten<br />

eher um einen einseitigen<br />

Bildungsexport von Deutschland nach<br />

China oder wird ein wissenschaftlicher<br />

Austausch ermöglicht, von dem auch<br />

Sie für Ihre Arbeit profitieren können?<br />

// 0 //<br />

Thorn: Dies ist sehr unterschiedlich.<br />

An der CEIBS ist es für mich sehr<br />

wertvoll, von den Ökonomen zu erfahren,<br />

was in der Vertragspraxis<br />

tatsächlich passiert. Die haben eine<br />

viel praktischere Sicht auf die Themen,<br />

die ich theoretisch vermittle.<br />

Das ist für mich ganz wesentlich,<br />

denn die Inhalte, die ich unterrichte,<br />

sollen keinesfalls im leeren<br />

akademischen Raum schweben. Bei<br />

der Summer Law School in Suzhou<br />

ist der akademische Austausch mit<br />

den amerikanischen Kollegen sehr<br />

intensiv <strong>und</strong> produktiv. Mit den<br />

chinesischen Kollegen entsteht inzwischen<br />

ein ähnlicher Austausch,<br />

aber am Anfang dauert es natürlich<br />

ein wenig, bis man zueinander findet.<br />

„Keinesfalls im leeren<br />

akademischen Raum<br />

schweben“<br />

P&G: Als Sie mit der Lehrtätigkeit in<br />

China begonnen haben, was waren die<br />

deutlichsten Unterschiede zu Ihren Erfahrungen<br />

aus Deutschland?<br />

Thorn: Chinesische Studierende<br />

sind nicht die sokratische Lehrmethode<br />

gewöhnt, wie wir sie auch<br />

an der Law School pflegen. Dass sie<br />

selbst aktiv zum Unterricht beitragen<br />

sollen, ist für die Studierenden<br />

eine neue Erfahrung. Das ist aber<br />

gar nicht so außergewöhnlich, denn<br />

wenn Sie nach Frankreich gehen,<br />

machen Sie ähnliche Erfahrungen.<br />

In China tritt in dieser Hinsicht sogar<br />

langsam eine Veränderung ein.<br />

Wie überall sind es dabei die Frauen,<br />

die schneller anfangen, sich aktiv<br />

zu beteiligen. Sie tun sich einfach<br />

leichter mit den Fremdsprachen<br />

<strong>und</strong> scheinen weniger Angst zu haben,<br />

ihr Gesicht zu verlieren.


P&G: In den westlichen Medien wird<br />

häufig der Eindruck vermittelt, dass<br />

in China das Konkurrenzdenken schon<br />

recht früh ausgeprägt ist. Entspricht<br />

dies auch Ihren Erfahrungen?<br />

Thorn: Der Wettbewerbsgedanke<br />

ist in China durchaus ausgeprägt.<br />

Ich kann aber nicht für ganz China<br />

sprechen. Eine Besonderheit in<br />

Südchina mag zum Teil auch darin<br />

liegen, dass gerade der Shanghaier<br />

Raum in dem Ruf steht, aufgr<strong>und</strong><br />

der Handelstradition eine extreme<br />

Wettbewerbsgesellschaft zu sein.<br />

Außerhalb der Familien scheinen<br />

darunter manchmal Werte wie soziale<br />

Verantwortung oder Loyalität<br />

gegenüber den Arbeitgebern zu leiden.<br />

„Die chinesischen Frauen<br />

fangen schneller an, sich<br />

aktiv zu beteiligen“<br />

P&G: Ein anderes typisches China-Bild<br />

ist das der pausenlos arbeitenden Menschen.<br />

Entspricht dies Ihrem Eindruck<br />

von den chinesischen Studierenden?<br />

Thorn: Die chinesischen Studierenden<br />

arbeiten hart <strong>und</strong> investieren<br />

viel Zeit für das Lernen. In Suzhou<br />

konnte dies dann mitunter zu Meinungsverschiedenheiten<br />

mit den<br />

amerikanischen <strong>und</strong> europäischen<br />

Studierenden führen, wenn sich die<br />

Chinesen spät abends noch zum gemeinsamen<br />

Lernen zusammensetzen<br />

wollten. Wenn sie ein konkretes<br />

Ziel vor Augen haben, arbeiten die<br />

Chinesen, glaube ich, wirklich bis<br />

zum Umfallen. Ob das immer effizient<br />

geschieht, ist dabei natürlich<br />

eine andere Frage. Dennoch ist es<br />

keineswegs eine <strong>Gesellschaft</strong>, die<br />

nur für die Arbeit lebt, sondern im<br />

Gr<strong>und</strong>e feiern auch die Chinesen<br />

wirklich gerne <strong>und</strong> genießen ihre<br />

Freizeit.<br />

P&G: Hat die rasante wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Entwicklung in<br />

China Auswirkungen auf Ihre Kurse<br />

<strong>und</strong> die Studierenden?<br />

// 1 //<br />

Thorn: Für das Programm in Suzhou<br />

verzeichnen wir einen stetigen Anstieg<br />

an Bewerbern, deren Qualität<br />

immer besser wird. Gerade in Bezug<br />

auf die Englischkenntnisse gab es<br />

über die Jahre einen beachtlichen<br />

Fortschritt. Eine andere Beobachtung<br />

ist der Nationalstolz, mit dem<br />

die Chinesen in Diskussionen für ihr<br />

Land einstehen. Der scheint durch<br />

die wirtschaftlichen Entwicklungen<br />

deutlich belebt zu sein.<br />

„Die Chinesen haben keine<br />

Zukunftsängste“<br />

P&G: Wenn Sie deutschen Studenten einen<br />

Rat geben sollten, gibt es etwas, das<br />

wir von den Chinesen lernen sollten?<br />

Thorn: Zunächst müssen sie lernen,<br />

mit anderen sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Strukturen umzugehen<br />

<strong>und</strong> den anderen so zu akzeptieren,<br />

wie er ist. Dabei haben die Chinesen<br />

sehr sympathische Seiten, denn sie<br />

sind ein sehr familienfre<strong>und</strong>liches<br />

<strong>und</strong> fröhliches Volk, in dem viel<br />

gelacht wird. Vielleicht können wir<br />

uns davon etwas abschauen. Die Chinesen<br />

haben auch – anders als wir<br />

– keine entsprechenden Zukunftsängste.<br />

Während bei uns alles, was<br />

neu ist, mit großem Misstrauen beäugt<br />

wird, gilt in China das andere<br />

Extrem: Das Neue scheint immer<br />

besser zu sein als das Alte. Ob man<br />

dieses Klischee, dass wir so fleißig<br />

werden müssen wie die Chinesen,<br />

übernehmen muss, dazu würde ich<br />

sagen, dass es – wie überall – Fleißige<br />

<strong>und</strong> weniger Fleißige gibt. Die<br />

Chinesen haben jedoch ihre eigene<br />

Kultur, <strong>und</strong> damit muss man lernen<br />

umzugehen. Wir sollten <strong>und</strong><br />

werden die Chinesen nicht ändern,<br />

aber wir sollten auch uns nicht derart<br />

verändern, um sie schließlich zu<br />

imitieren. Denn ich glaube, dass das<br />

bei den Chinesen auf wenig Respekt<br />

stoßen würde.<br />

P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />

Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

An Interview by Stephan Kuntner<br />

P&G: Why is studying abroad attractive<br />

to Chinese students?<br />

Runyu Wang: Even though the economy<br />

is growing rapidly, China still<br />

is a developing country. Taking a<br />

different perspective and gaining<br />

new knowledge and ideas provides<br />

inspiration for our policy at home.<br />

Individually, studying abroad can<br />

also increase my chances to find an<br />

interesting job and have a fulfilling<br />

career.<br />

Dongzhen Yu: Particularly for law<br />

students who want to work for an<br />

international law firm or specialize<br />

in international law, studying<br />

abroad is an essential requirement.<br />

Of course, Germany’s reputation for<br />

studying law is not yet comparable<br />

with England or the US. Nevertheless,<br />

as the popularity of Bucerius is<br />

growing so fast, I am sure that this<br />

will change in the future.<br />

P&G: What are typical difficulties Chinese<br />

Students have to face if they want<br />

to study abroad?<br />

Yu: Many Chinese students wish<br />

to study abroad but their main<br />

concern is to finance their studies.<br />

Depending on how excellent the<br />

student is, he might be awarded a<br />

scholarship, although the competition<br />

for this is very strong.<br />

Wang: Even some of the best Chinese<br />

students never have the opportunity<br />

to study abroad. The decision<br />

whether one can afford the expensive<br />

fees and higher cost of living<br />

depends on the financial support<br />

of the families. With an income of<br />

most Chinese families between only<br />

EUR 150,- and 500,- per month, this<br />

is quite a burden for the families.<br />

Therefore I am very grateful that I<br />

receive a partial scholarship.<br />

P&G: Why did you choose Germany as<br />

the country for your studies abroad?<br />

// 2 //<br />

Go West<br />

Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />

Yu: When I decided to participate in<br />

the Bucerius International Program<br />

in 2004, I was influenced by the very<br />

positive public opinion the Chinese<br />

have about Germany. Especially the<br />

way how Germany dealt with its liability<br />

for the Second World War is<br />

highly respected in China, as we are<br />

still very sensitive about the Japanese<br />

attitude towards the Anti-Japanese<br />

War from 1937 to 1945. Furthermore,<br />

Germany of course is the<br />

origin of Communism and home<br />

of Karl Marx and Friedrich Engels.<br />

When I returned to Germany in<br />

2006, I was attracted by the unique<br />

Master’s Program at Bucerius. During<br />

an Internship at an international<br />

law firm in Shanghai, I realized<br />

that I<br />

“ G e r m a n y<br />

is a developed,<br />

tidy and well-ordered<br />

country”<br />

had to improve my professional<br />

knowledge and legal English skills.<br />

Wang: Besides the good relationship<br />

between my University and Bucerius<br />

Law School, in my opinion, Germany<br />

is the western country that is<br />

most friendly to China. In China, we<br />

think that Germany is a developed,<br />

tidy and well-ordered country with<br />

a very good legal system. And, of<br />

course – Germany is known for having<br />

the best beer in the World. Living<br />

here for the past four months<br />

now, I have to say that Germany is<br />

more beautiful than I had expected<br />

and that I really like the nice, friendly<br />

people in Germany.<br />

P&G: What are differences between<br />

China and Germany in regard<br />

to the style of lectures at University?


Wang: In Germany, students are<br />

more active and involved in the<br />

classes than in China. At my Chinese<br />

University, we have more than 200<br />

students in one class and there is<br />

no interaction with the Professors.<br />

Master Programs in China mainly<br />

rely on the students studying by<br />

themselves. In addition, the curriculum<br />

is not as structured and well<br />

guided as the Bucerius Program.<br />

Yu: Professors in Germany are very<br />

experienced and very professional.<br />

During their lectures, they focus<br />

on the law and teach us to analyse<br />

and work with the law. In China on<br />

the other hand, the rule of law has<br />

not been the legal tradition and for<br />

over twenty years, until the end of<br />

the Cultural Revolution, there was<br />

no legal education at all. As a result<br />

the Chinese Professors still do not<br />

always focus on analysing and working<br />

with the law but rather rely on<br />

general principles.<br />

P&G: Have you noticed any differences<br />

between Chinese and German students?<br />

Wang: Chinese students are also<br />

very friendly and seem to have similar<br />

interests to German students.<br />

However, student life in China is<br />

mainly influenced by studying very<br />

hard to achieve a good degree at<br />

University. The competition is very<br />

strong and students are confronted<br />

with huge pressure to make a successful<br />

career.<br />

Yu: German students seem to be<br />

more independent and very selfdisciplined,<br />

whereas Chinese students<br />

are strongly influenced and<br />

guided by authorities.<br />

“I got used to eating<br />

bread”<br />

P&G: Is there anything that you consider<br />

typically German and now realize<br />

that you have adopted those “German<br />

characteristics”?<br />

Yu: One aspect is the German food.<br />

I actually got used to eating bread,<br />

which was uncommon to me before.<br />

In China, we also like to eat<br />

warm meals three times a day but<br />

during my time in Germany I began<br />

to forget about having hot food all<br />

the time.<br />

For the second aspect, I am not really<br />

sure if it is typical German or<br />

not – but as it is very important<br />

for Chinese people that everyone<br />

“keeps his face”, meaning to have<br />

an honourable reputation I have<br />

noticed that this is quite different<br />

in Germany. It seems that people<br />

don’t give the whole concept about<br />

“keeping the face” much thought<br />

and especially after a night at the<br />

bars, people enjoy spreading stories<br />

about rather embarrassing things<br />

the others said or did. Therefore it<br />

seems as if one always has to cherish<br />

his reputation very much.<br />

Wang: I think there are many positive<br />

characteristics that I would like<br />

to learn from the Germans, especially<br />

thoroughness and efficiency.<br />

P&G: How can the studies in Germany<br />

influence your future?<br />

Wang: I am sure that this experience<br />

in Germany will strongly influence<br />

my future, as I am acquiring so<br />

many new ideas and different methods<br />

to resolve problems. Getting<br />

to know so many people from different<br />

countries and making friends<br />

from all over the world is another<br />

aspect that will permanently enrich<br />

my life.<br />

Yu: I would like to act as a “bridge”<br />

between China and Germany and<br />

enhance the cooperation between<br />

Runyu Wang grew up in Bading,<br />

Hebei Province and is an LL.M Graduate<br />

from the Chinese Academy of<br />

Social Sciences in Beijing. She takes<br />

part in the Bucerius/WHU Master<br />

of Law and Business-Program<br />

2007/2008.<br />

Dongzhen Yu grew up in Dezhou,<br />

Shandong Province and is an LL.M<br />

Graduate of Legal History from Fudan<br />

University School of Law. He<br />

participated in the Bucerius International<br />

Programm 2004 and graduated<br />

2007 as a Bucerius/WHU Master<br />

of Law and Business.<br />

// //<br />

our countries. As German people<br />

and companies are exploring the<br />

East, we Chinese will eventually do<br />

the same and explore Europe. As we<br />

do this, we have to respect that the<br />

European countries have their own<br />

history, culture and values, which<br />

are quite different from Chinese<br />

culture. Unless we respect these<br />

differences, it may lead to fear or<br />

scepticism of the Europeans and<br />

cause conflicts between China and<br />

Europe.<br />

Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

Chinesisch wird eine immer beliebtere<br />

Sprache <strong>und</strong> die Anzahl<br />

der Menschen, die Chinesisch als<br />

Fremdsprache lernen wollen, steigt.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> sprach Stephan<br />

Kuntner mit Hong Li-Ziemer <strong>und</strong><br />

Dr. Ruth Cremerius über die Geschichte<br />

der chinesischen Sprache,<br />

ihre zunehmende Verbreitung <strong>und</strong><br />

die Schwierigkeiten, die mit ihrem<br />

Erlernen verb<strong>und</strong>en sind<br />

P&G: Frau Li-Ziemer, wenn Sie es in nur<br />

wenigen Worten beschreiben müssten:<br />

Was würden Sie sagen, ist der wesentliche<br />

Unterschied zwischen der chinesischen<br />

Sprache <strong>und</strong> den indogermanischen<br />

Sprachen?<br />

Li-Ziemer: In der chinesischen Sprache<br />

gibt es kein Alphabet, aus dem<br />

die Wörter zusammengesetzt werden,<br />

sondern die Sprache besteht<br />

aus Schriftzeichen. Die Schwierigkeit<br />

liegt insbesondere darin, dass<br />

aus dem Schriftzeichen selbst kein<br />

Rückschluss auf die Aussprache<br />

des Wortes gezogen werden kann.<br />

Sieht man ein Schriftzeichen zum<br />

ersten Mal, steht man diesem erst<br />

einmal sprachlos gegenüber. Um<br />

Chinesisch zu lernen, muss deshalb<br />

jedes Wort doppelt gelernt werden.<br />

Zum einen die Schreibweise <strong>und</strong><br />

zum anderen die Aussprache des<br />

Schriftzeichens. Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

wurde extra dafür das Pinyin<br />

entwickelt, eine lateinische Lautschrift,<br />

die die Aussprache der chinesischen<br />

Schriftzeichen wiedergibt.<br />

Erschwert wird die Aussprache<br />

allerdings wiederum dadurch, dass<br />

jedes Wort im Hochchinesischen in<br />

vier unterschiedlichen Tonhöhen<br />

ausgesprochen werden kann <strong>und</strong><br />

dass es je nach Tonhöhe eine andere<br />

Bedeutung hat.<br />

P&G: Sie sprechen von „Hochchinesisch“,<br />

welche Sprachenvielfalt besteht<br />

innerhalb Chinas?<br />

Li-Ziemer: In China bestehen große<br />

sprachliche Unterschiede zwischen<br />

// //<br />

Das Französisch der Zukunft<br />

Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden<br />

den einzelnen Regionen. Anders als<br />

in Deutschland weicht die Sprache<br />

der Menschen im Süden so stark<br />

von der Sprache der Nordchinesen<br />

ab, dass es für diese zum Teil wie<br />

eine fremde Sprache klingt.<br />

Cremerius: In China können verschiedene<br />

Regionalsprachen unterschieden<br />

werden, die sich wieder in<br />

verschiedene Untergruppen gliedern.<br />

Dadurch wird die mündliche<br />

Verständigung innerhalb Chinas<br />

enorm erschwert, was immer eines<br />

der ganz großen Probleme des<br />

Landes war. Durch die Bemühungen<br />

der chinesischen Regierung seit<br />

1949, in den Schulen <strong>und</strong> Medien<br />

hochchinesische Sprecher einzusetzen,<br />

wurde inzwischen aber<br />

erreicht, dass im Gr<strong>und</strong>e jedes chinesisches<br />

Kind Hochchinesisch versteht,<br />

selbst wenn es zu Hause eine<br />

Regionalsprache spricht.<br />

P&G: Häufig wird auch „Mandarin“ als<br />

Bezeichnung für die chinesische Sprache<br />

verwendet, ist das nur ein anderer<br />

Begriff für Hochchinesisch?<br />

Cremerius: Mandarin ist ein Lehnwort,<br />

das nur außerhalb Chinas<br />

verwendet wird. Ursprünglich bezeichnete<br />

Mandarin einen hohen<br />

Beamten. Als Peking Regierungshauptstadt<br />

wurde [Anm. d. Red.:<br />

1421 n. Chr.], kamen Beamte aus<br />

dem ganzen Reich in die Hauptstadt,<br />

die sich zwar schriftlich durch<br />

die einheitlichen Schriftzeichen<br />

problemlos verständigen konnten,<br />

aber deren mündlicher Austausch<br />

ungeheure Probleme bereitet hat.<br />

Unter den Beamten hat sich deshalb<br />

eine Sprache entwickelt, die<br />

auf den Lautungen der im Raum Peking<br />

gesprochenen Regionalsprache<br />

basierte. So entstand die Lingua<br />

Franca der Beamtenschaft. Abgeleitet<br />

von dem portugiesischen Wort<br />

mandarim, welches Ratgeber <strong>und</strong><br />

Minister bedeutet, nahmen die<br />

Briten dieses Wort später auch als<br />

Bezeichnung für die chinesische<br />

Sprache auf. Dieser angelsächsische<br />

Ausdruck Mandarin schmuggelt sich


nun allmählich auch ins Deutsche<br />

ein.<br />

„Mandarin ist ein Lehnwort,<br />

das nur außerhalb<br />

Chinas verwendet wird“<br />

Streng genommen sind Mandarin<br />

<strong>und</strong> Hochchinesisch jedoch zu trennen.<br />

Hochchinesisch ist im Gr<strong>und</strong>e<br />

aber auch eine Kunstsprache, die<br />

nach dem Niedergang des Kaiserreichs<br />

Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstanden ist. Auf einer eigens<br />

einberufenen Konferenz zur Festlegung<br />

einer einheitlichen Nationalsprache<br />

kam es zu starken Auseinandersetzungen<br />

zwischen den<br />

Vertretern der Nord- <strong>und</strong> Südchinesen<br />

darüber, welche Regionalsprache<br />

als Gr<strong>und</strong>lage der einheitlichen<br />

Sprache dienen sollte. Die Fraktion<br />

aus Nordchina konnte sich dabei<br />

letztendlich durchsetzen, weshalb<br />

das heutige Hochchinesisch auf der<br />

Sprache beruht, die in <strong>und</strong> um Peking<br />

gesprochen wird.<br />

P&G: Neben den Schwierigkeiten, die<br />

Sie eingangs beschrieben haben – was<br />

macht Chinesisch zu einer so anspruchsvollen<br />

Sprache?<br />

Cremerius: Die Schriftzeichen bereiten<br />

den Lernenden eindeutig am<br />

meisten Schwierigkeiten.<br />

Li-Ziemer: Die Grammatik hingegen<br />

ist für die Umgangssprache sehr<br />

einfach zu erlernen, denn es gibt<br />

weder Konjugationen noch Deklinationen.<br />

Auch die Aussprache erlernen<br />

viele Schüler recht schnell,<br />

wohingegen das Training des Hör-<br />

verständnisses deutlich schwieriger<br />

ist <strong>und</strong> viel Zeit beansprucht.<br />

P&G: Konnten Sie beobachten, inwiefern<br />

das Erlernen dieser so gr<strong>und</strong>legend<br />

anderen Sprache zu Veränderungen<br />

beim Lernverhalten Ihren Sprachschülern<br />

führt?<br />

Cremerius: Hirnforscher in den<br />

USA haben sich mit der Frage beschäftigt,<br />

wie sich das Erlernen der<br />

chinesischen Sprache auf die Hirnfunktionen<br />

auswirkt. Sie haben dabei<br />

festgestellt, dass beim Sprechen<br />

von Hochchinesisch oder Kantonesisch<br />

beide Gehirnhälften aktiv<br />

sind. Diese Forschungen werden<br />

noch fortgesetzt <strong>und</strong> davon versprechen<br />

auch wir uns spannende<br />

Erkenntnisse für die Ausbildung<br />

von Chinesischlernenden. Aus meinen<br />

eigenen Beobachtungen kann<br />

ich sagen, dass sich die Gedächtnisfähigkeiten<br />

von Chinesischlernenden<br />

deutlich verbessern.<br />

„Die Gedächtnisfähigkeit<br />

von Chinesischlernenden<br />

verbessert sich deutlich“<br />

Li-Ziemer: Ich merke bei meinen<br />

Kindern, die beide Chinesisch spre-<br />

chen <strong>und</strong> mit denen ich bis zum<br />

Kindergartenalter überhaupt kein<br />

Deutsch gesprochen habe, dass beide<br />

ungeheuer schnell auswendig<br />

lernen können <strong>und</strong> ein sehr gutes<br />

Gedächtnis haben, was ihnen unheimlich<br />

beim Erlernen weiterer<br />

Sprachen hilft.<br />

P&G: Was ist nach Ihrer Erfahrung die<br />

Motivation der meisten Studierenden<br />

// //<br />

<strong>und</strong> Sprachschüler, sich dem Chinesischen<br />

zu widmen?<br />

Cremerius: Bei unseren Sinologiestudenten<br />

spielen ein großes Interesse<br />

an der chinesischen Kultur<br />

<strong>und</strong> der Wunsch, durch den Schrifterwerb<br />

auch Texte im Original zu<br />

lesen, eine entscheidende Rolle.<br />

Viele unserer Studierenden haben<br />

auch in der Schule schon drei bis<br />

vier Fremdsprachen gelernt <strong>und</strong><br />

möchten nun eine nicht-indogermanische<br />

Sprache lernen. Andere<br />

wiederum haben schon mehr oder<br />

weniger konkrete Berufsvorstellungen,<br />

etwa als Kulturvermittler<br />

zwischen China <strong>und</strong> Deutschland<br />

oder in der Wirtschaft zu arbeiten.<br />

Das Interesse kann sich aber natürlich<br />

während des Studiums ändern,<br />

etwa die Hälfte der Studierenden<br />

arbeitet später in der Wirtschaft,<br />

andere sind in den unterschiedlichsten<br />

Bereichen tätig.<br />

Li-Ziemer: Bei meinen Sprachschülern<br />

ist die Motivation auch sehr<br />

unterschiedlich. Als ich vor zwanzig<br />

Jahren mit dem Unterricht begonnen<br />

habe, waren überwiegend<br />

das Interesse an der Kultur oder die<br />

Vorbereitung einer privaten Chi-<br />

nareise ausschlaggebend. Aufgr<strong>und</strong><br />

der aufstrebenden wirtschaftlichen<br />

Rolle Chinas haben inzwischen immer<br />

mehr Sprachschüler den Eindruck,<br />

sie müssten die Sprache lernen,<br />

um langfristig den Anschluss<br />

nicht zu verpassen. So möchten<br />

viele Geschäftsleute <strong>und</strong> Manager<br />

Gr<strong>und</strong>kenntnisse in der Sprache<br />

erwerben, um diese im Zuge ihrer<br />

Geschäftskontakte zu Chinesen an-<br />

Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>


Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

wenden zu können. Es gibt nur ganz<br />

wenige Schüler, die sich gezielt<br />

auf die HSK-Prüfung vorbereiten.<br />

Der Hanyu Shuiping Kaoshi ist ein<br />

standardisierter <strong>und</strong> international<br />

anerkannter chinesischer Sprachfähigkeitstest,<br />

der etwa Voraussetzung<br />

für ein chinesischsprachiges<br />

Studium an einer chinesischen<br />

Universität ist oder auch als Einstellungsvoraussetzung<br />

bei einigen<br />

Unternehmen gilt. Diese Sprachschüler<br />

lernen natürlich auf einem<br />

ganz anderen Niveau.<br />

P&G: Haben diese Veränderungen bei<br />

der Motivation auch Auswirkungen auf<br />

die Nachfrage nach Chinesischkursen<br />

<strong>und</strong> Studienplätzen der Sinologie?<br />

Li-Ziemer: Ich kann seit geraumer<br />

Zeit einen ganz starken Anstieg der<br />

Nachfrage verzeichnen.<br />

Cremerius: Die Zahl der Interessenten,<br />

die die Sprache lernen<br />

möchten, hat insgesamt zugenommen.<br />

Als diese Entwicklung in den<br />

80er Jahren begonnen hatte, bestand<br />

zum Erlernen der Sprache<br />

nur die Möglichkeit eines Sinologiestudiums,<br />

was zu einer enormen<br />

Zunahme der Studienanfänger<br />

führte. Inzwischen erleben wir aber<br />

die sehr schöne Entwicklung, dass<br />

sich das große Thema China <strong>und</strong><br />

die chinesische Sprache in anderen<br />

Fakultäten ausbreiten. In Hamburg<br />

konzipieren wir momentan zusammen<br />

mit den Wirtschaftswissenschaftlern<br />

einen neuen BA-Studiengang,<br />

der Sinologie <strong>und</strong> Wirtschaft<br />

verbindet.<br />

P&G: Wenn Sie einen Ausblick in die<br />

Zukunft wagen, welche Bedeutung wird<br />

die chinesische Sprache in zwanzig,<br />

dreißig Jahren weltweit haben?<br />

Li-Ziemer: Die Verbreitung der chinesischen<br />

Sprache in Südostasien<br />

erfolgt rasend schnell, egal, ob man<br />

nach Thailand, Vietnam oder Indien<br />

schaut. Doch auch in England<br />

wird an immer mehr Gr<strong>und</strong>schulen<br />

Chinesischunterricht angeboten.<br />

Die Entwicklung in Hamburg<br />

zeigt, dass immer mehr Gymnasien<br />

Chinesisch als AG anbieten <strong>und</strong><br />

auf eine große Nachfrage stoßen.<br />

In einem Hamburger Gymnasium<br />

// //<br />

wird Chinesisch inzwischen sogar<br />

schon als Leistungskurs angeboten.<br />

Ich könnte mir deshalb vorstellen,<br />

dass Chinesisch bereits in zehn Jahren<br />

in den Schulen den Stellenwert<br />

erlangt, den heute Spanisch oder<br />

Französisch haben.<br />

„Chinesisch wird sich in<br />

den kommenden Jahren<br />

wirklich etablieren“<br />

Cremerius: Man kann sagen, dass<br />

Chinesisch allmählich Russisch von<br />

den Schulen verdrängt. Die Ressourcen<br />

werden neu verteilt. Ob<br />

das ein Boom ist, der irgendwann<br />

vorbei ist, wird sich zeigen, aber ich<br />

denke, dass sich Chinesisch in den<br />

kommenden Jahren wirklich etablieren<br />

wird.<br />

P&G: Wie viele Schriftzeichen muss man<br />

gelernt haben, bis man Chinesisch „beherrscht“?<br />

Cremerius: Es hängt stark davon ab,<br />

mit welchem Ziel man die Sprache<br />

lernt <strong>und</strong> was man mit ihr machen<br />

möchte. Je nachdem, in welchem<br />

Bereich man die Sprache nutzen<br />

möchte, braucht man ein unterschiedliches<br />

Vokabular, so dass pauschale<br />

Antworten schwierig sind.<br />

Li-Ziemer: Im Alltag kann man sich<br />

mit 2500 bis 3000 Schriftzeichen gut<br />

bewegen <strong>und</strong> eine chinesische Zeitung<br />

lesen.<br />

P&G: Und wie lange dauert es, bis man<br />

ein gutes Sprachniveau erreicht hat?<br />

Li-Ziemer: Das kommt natürlich auf<br />

den einzelnen Studenten an, wie<br />

viel Ehrgeiz, Zeit <strong>und</strong> Energie er in<br />

das Erlernen der Sprache investiert.<br />

Die Schüler etwa, die sich auf die<br />

HSK-Prüfung vorbereiten, haben<br />

konkrete Ziele <strong>und</strong> arbeiten sehr<br />

ehrgeizig darauf hin.<br />

Cremerius: Liegt das entsprechende<br />

Engagement vor, so ist es unseren<br />

guten <strong>und</strong> sehr guten Studenten<br />

in der Regel möglich, nach einem<br />

zweijährigen Studium an der Uni-<br />

versität <strong>und</strong> einem halbjährigen<br />

Aufenthalt in China die HSK-Prüfung<br />

auf Stufe sechs zu bestehen,<br />

welches die Zugangsvoraussetzung<br />

für die Universität ist.<br />

P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />

Hong Li-Ziemer ist in Beijing aufgewachsen<br />

<strong>und</strong> hat dort Germanistik,<br />

Literatur <strong>und</strong> Geschichte studiert.<br />

Seit 1986 lebt sie in Deutschland <strong>und</strong><br />

lehrt seit über 15 Jahren als freie Dozentin<br />

an verschiedenen Hochschulen<br />

die chinesische Sprache. Zudem<br />

ist sie Direktorin der „Hanhua-Chinesischschule“<br />

in Hamburg. 2007<br />

wurde sie von der chinesischen Regierung<br />

offiziell als „Herausragende<br />

Chinesischlehrerin im Ausland“<br />

ausgezeichnet.<br />

Dr. Ruth Cremerius ist promovierte<br />

Sinologin. Sie unterrichtet chinesische<br />

Sprache <strong>und</strong> zeitgenössische<br />

Literatur am Asien-Afrika-Institut<br />

der Universität Hamburg.


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> 1/2008<br />

Chefredaktion<br />

Lara Friederichs, Martin Hejma (V.i.S.d.P.)<br />

Kaufmännische Leitung<br />

Eva Schreiber<br />

Grafik, Layout <strong>und</strong> Fotos<br />

Konstantin Kleine - www.konsi.net<br />

Schlussredaktion<br />

Lukas Mezger<br />

Jacob Roggon<br />

Katharina Minski<br />

Redaktion<br />

Welt<br />

Konrad Erzberger<br />

Alexander Iken<br />

Marvin Nimoh<br />

Europ<br />

Astrid Schnabel<br />

Marlene Ruf<br />

Melanie Buhk<br />

Deutschland<br />

Katharina Mohr<br />

Lukas Inhoffen<br />

Wiebke Thurm<br />

Hamburg<br />

Rabea Herbener<br />

Lola Nick<br />

Campus<br />

Aline Kalb<br />

Gesamtredaktion<br />

Daniel Schneider<br />

Lukas Mezger<br />

Fabian Klemme<br />

Stephan Kuntner<br />

Entwicklung<br />

Hanna Schridde<br />

Konrad Erzberger<br />

Herausgeber<br />

Die Redaktion<br />

Dank gilt…<br />

der Hochschulleitung der Bucerius Law<br />

School:<br />

Herrn Dr. Hariolf Wenzler, Herrn Professor<br />

Dr. Karsten Schmidt <strong>und</strong>Herrn Dr. Markus<br />

Baumanns<br />

für die wohlwollende Unterstützung dieser<br />

studentischen Initiative;<br />

den Mitarbeitern des Studiums Generale<br />

für tatkräftige Unterstützung;<br />

Dr. Götze Land & Karte,<br />

für die fre<strong>und</strong>liche Leihgabe der Titelbild-<br />

Utensilien;<br />

dem Hammonia Verlag, insbesondere Herrn<br />

Römer für die sehr gute Zusammenarbeit<br />

// 7 //<br />

ISSN 18 2 - 021<br />

Kontakt<br />

politik-gesellschaft@law-school.de<br />

www.politik-gesellschaft.de<br />

Alle Beiträge erscheinen exklusiv in <strong>Politik</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Die dabei vertretenen Ansichten<br />

sind solche der Autoren; sie spiegeln<br />

weder die Ansichten der Redaktion noch die<br />

der Bucerius Law School wider.<br />

Bildverzeichnis<br />

Titel, S. 3, 4, 14, 34, 36, 37, 41, 42, 43, 44, 45,<br />

46, 47, 48, 52, 53, 56, 57, 58, 60, 61, 64, 65, 66,<br />

67: Konstantin Kleine/konsi.net<br />

S. 6: Oliver Spuhl/ospuhl.de<br />

S. 11 Fragenus/PIXELIO<br />

S. 12: CC-BY-NC-SA 2.0-US Premshree Pillai<br />

S. 16/17: CC-BY-SA 2.0-US David Axe<br />

S. 18/19: Fabian Klemme<br />

S. 21: Torun Basu<br />

S. 22/23: CC-BY-NC-SA 2.0-US hampshiregirl<br />

S. 26/27: Yaroslav Ushakov<br />

S. 29: Ove Tøpfer<br />

S. 32: Sybille Mader/PIXELIO<br />

S. 33: CC-BY-SA Meph 666<br />

S. 35: Felix Jaeger<br />

S. 45: CC-BY-SA RvM, CC-BY-NC-SA Dave<br />

Dunne<br />

S. 50/51: Sir Toby/photocase.de<br />

S. 54/55: blickEnd/photocase.de<br />

S. 59: Bucerius Law School gGmbH<br />

S. 63: privat<br />

Impressum - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>

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