GO EAST - Politik und Gesellschaft
GO EAST - Politik und Gesellschaft
GO EAST - Politik und Gesellschaft
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
S t u d e n t i s c h e s J o u r n a l d e r B u c e r i u s L a w S c h o o l<br />
ISSN: 1862-0213<br />
Eine Eisenbahnfahrt ...<br />
mit der Transsib von Wladiwostok nach Moskau<br />
Ein Spaziergang ... Eine Gedankenreise ...<br />
durch die spannendsten Städte Osteuropas<br />
2,00 Euro Ausgabe VI, Frühjahr 2008<br />
<strong>GO</strong> <strong>EAST</strong><br />
Ein Langstreckenflug ...<br />
mit chinesischen Studenten nach Hamburg<br />
von Wolfgang Neškovic durch deutsche <strong>Politik</strong>
R U G E • K R Ö M E R<br />
F a c h a n w ä l t e f ü r A r b e i t s r e c h t<br />
Ruge • Krömer ist eine der größten arbeitsrechtlich spezialisierten Kanzleien in Deutschland.<br />
Zur Verstärkung unserer Kanzlei in Hamburg suchen wir im<br />
A R B E I T S R E C H T<br />
laufend Stationsreferendare <strong>und</strong> wissenschaftliche Mitarbeiter (m/w). Wir legen Wert<br />
darauf, dass Sie die Anwälte unserer Kanzlei bei ihrer praktischen Tätigkeit „am Fall“ unterstützen<br />
<strong>und</strong> auf diese Weise einen Einblick in die Tätigkeit eines Fachanwalts für Arbeitsrecht<br />
bekommen. Sie werden regelmäßig an Gerichtsterminen <strong>und</strong> Mandantenbesprechungen<br />
sowie Sozialplanverhandlungen etc. teilnehmen. Die praktische Tätigkeit wird ergänzt<br />
durch die regelmäßige Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen.<br />
Ihre schriftliche Bewerbung, gerne auch per E-Mail, richten Sie bitte an:<br />
Rechtsanwälte Ruge Krömer, Herrn Dr. Klaus Pawlak, Hans-Henny-Iahnn-Weg<br />
9, 22085 Hamburg, E-Mail: klauspawlak@rugekroemer.de, Telefon: 040/270<br />
75 5-0<br />
w w w . r u g e k r o e m e r . d e
Lara Friederichs <strong>und</strong> Martin Hejma, Chefredaktion<br />
Go East<br />
Sushi-Bars erleben in Deutschland zurzeit einen wahren Boom. Wie Pilze sprießen sie in den Großstädten<br />
aus dem Boden <strong>und</strong> werden sowohl von Businessmenschen als auch von Studenten häufig besucht.<br />
Auch asiatische Sportarten werden immer beliebter: Zur Entspannung macht man heute Yoga oder<br />
Qigong; zur sportlichen Ertüchtigung Tai Chi oder Aikido. Übers Wochenende fliegt man nicht mehr<br />
unbedingt nach Rom oder Paris – Prag oder Moskau sind die neuen Highlights. Und die zwei luxuriösesten<br />
Hotels Deutschlands befinden sich in Mecklenburg-Vorpommern <strong>und</strong> in Ostberlin.<br />
Die Reise in Richtung Osten wird immer attraktiver. Der Osten strahlt auf viele eine große Faszination<br />
aus <strong>und</strong> lässt zuweilen doch Befürchtungen hervortreten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> haben wir uns in unserer<br />
sechsten Ausgabe in unseren Rubriken Welt, Europa, Deutschland, Hamburg <strong>und</strong> Campus insbesondere<br />
mit dem Leben <strong>und</strong> der Kultur im Osten beschäftigt: Mit den „Dabbawalas“, die jeden Tag 200.000<br />
Mittagessen an indische Geschäftsleute in Mumbai pünktlich zustellen. Mit der letzten Diktatur auf<br />
europäischem Boden in Weißrussland, die von der Europäischen Union nicht effektiv bekämpft wird.<br />
Mit der Situation von Asylbewerbern in Deutschland, die nach wie vor sehr problematisch ist. <strong>und</strong> mit<br />
der Grenze Hamburgs zu Schleswig-Holstein, die jeden Tag von tausenden Arbeitnehmern morgens<br />
<strong>und</strong> abends überschritten wird. Seit dieser Ausgabe ist außerdem die vormalige Campuszeitung .buc<br />
in unserer neuen Rubrik Campus aufgegangen. In ihr wollen wir auch in Zukunft Themen, die Bezug<br />
zu unserer Hochschule haben, Aufmerksamkeit schenken: Diesmal beleuchten wir unsere Verbindung<br />
zu China.<br />
Vielleicht können wir Ihnen mit dieser Ausgabe die ein oder andere Facette des Ostens näher bringen.<br />
Einer Region <strong>und</strong> Kultur, die bei uns bereits sehr an Bedeutung gewonnen hat – die aber aus mehr als<br />
Sushi-Bars, Moskau oder Qigong besteht. Reisen Sie mit!<br />
Für die Redaktion<br />
// //<br />
Editorial - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Inhalt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Welt<br />
Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />
Flaggen im Osten der Welt<br />
// //<br />
Go West to the East<br />
Mit der transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />
Ein Stück Heimat im Chaos<br />
Ein logistisches Phänomen in Indien – Mumbais Dabbawalas<br />
China in Afrika<br />
Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />
Ewiger Konflikt<br />
Wie geht es weiter in Osttimor?<br />
Goodbye Hutongs<br />
Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />
Indiens Filmindustrie<br />
Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />
Europa<br />
Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />
Flaggen im Osten Europas<br />
A Growing Economy for Everyone?<br />
The history of the Russion trade unions movement<br />
Die Rote Re-Revolution<br />
Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />
Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />
Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />
Kurztrips nach Osteuropa<br />
Vier Städte für ein Halleluja<br />
Prag - Stadt der tausend Türme<br />
Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />
Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />
Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen<br />
9<br />
10<br />
12<br />
14<br />
16<br />
18<br />
20<br />
35<br />
26<br />
29<br />
30<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35
Deutschland<br />
Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />
Flaggen im Osten Deutschlands<br />
Interview mit Wolfgang Neskovic<br />
„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische Demokratie“<br />
Eine deutsche Steuer<br />
Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />
Die Stadt der Zukunft<br />
Vier Fragen and Wolfgang Tiefensee<br />
Asylbewerber in Deutschland<br />
Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?<br />
Hamburg<br />
Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />
Flaggen im Osten Hamburgs<br />
Grenzwanderung<br />
Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher<br />
Campus<br />
Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />
Das Logo der Bucerius Law School<br />
Go East<br />
Karsten Thorn lehrt in China<br />
Go West<br />
Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />
Das Französisch der Zukunft<br />
Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden<br />
// //<br />
39<br />
40<br />
44<br />
46<br />
48<br />
53<br />
54<br />
59<br />
60<br />
62<br />
64<br />
Inhalt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
9<br />
Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />
Flaggen im Osten der Welt<br />
10<br />
Go West to the East<br />
Mit der transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />
12<br />
Ein Stück Heimat im Chaos<br />
Ein logistisches Phänomen in Indien – Mumbais Dabbawalas<br />
14<br />
China in Afrika<br />
Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />
16<br />
Ewiger Konflikt<br />
Wie geht es weiter in Osttimor?<br />
18<br />
Goodbye Hutongs<br />
Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />
20<br />
Indiens Filmindustrie<br />
Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />
// //
Welt<br />
Ausgabe 1/2008<br />
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 8 //
Von Sonnen <strong>und</strong> Teppichmustern<br />
Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />
Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten wirft<br />
unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten der Welt<br />
Die in Deutschland bekannteste Flagge eines Staates aus Fernost dürfte die Japans sein. Von bestechender<br />
Schlichtheit <strong>und</strong> hohem Wiedererkennungswert zugleich, sticht dem Betrachter der<br />
große tiefrote Kreis im Zentrum ins Auge. Er symbolisiert die Sonnenscheibe <strong>und</strong> prägt damit<br />
das Sinnbild vom „Land der aufgehenden Sonne“. Zugleich steht er aber auch für Japans kaiserliche<br />
Familie, die das Land schon seit über 2000 Jahren regiert <strong>und</strong> sich als direkte Nachkommen<br />
des Sonnengottes Amaterasu Omikami versteht. Bemerkenswert ist noch, dass der schneeweiße<br />
Hintergr<strong>und</strong> nicht etwa für den Himmel steht, sondern eine eigenständige Bedeutung hat. Er verkörpert<br />
Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Reinheit, zwei Werte, denen in Japans uralter Kultur ein besonderer<br />
Stellenwert zukommt.<br />
Rot symbolisiert den Mut der Bewohner Jakutiens<br />
Dass nicht alle Völker der Welt die Sonne mit roter Farbe symbolisieren, zeigt unter anderem<br />
die Flagge der russischen Provinz Jakutien. Sie wird durch eine weiße Sonne auf blauem Hintergr<strong>und</strong><br />
gekennzeichnet. Die Farbe Weiß soll dabei das ewige Leben, Blau das kalte Klima dieser<br />
zentralsibirischen Region darstellen. Auch den anderen Farben dieser noch sehr jungen, erst 1992<br />
eingeführten Flagge wird jeweils eine ganz spezielle Bedeutung zugewiesen. Der grüne Streifen<br />
am unteren Rand steht für Jakutiens Wälder, aber auch für Ges<strong>und</strong>heit. Der weiße Streifen unterhalb<br />
des blauen Feldes wiederum symbolisiert vor allem den Schnee, aber auch Klugheit. Der rote<br />
Streifen schließlich verkörpert als einzige Fläche kein Naturereignis, sondern steht für den Mut<br />
der Bewohner Jakutiens.<br />
Gelbe Sonne <strong>und</strong> roter Himmel sind dagegen die beherrschenden Farben der Flagge des pazifischen<br />
Inselstaats Kiribati. Die Farben wurden gewählt, um gerade den Sonnenaufgang über dem<br />
Meer – den blau-weißen Wellenstreifen – darzustellen. Der Sonnenaufgang ist ein Symbol für den<br />
Aufbruch des erst seit 1979 existierenden Staates in eine verheißungsvolle Zukunft. Über allem<br />
schwebt <strong>und</strong> wacht der goldgelbe Fregattvogel als Verkörperung der Herrschaft des Landes über<br />
die Meere.<br />
Nicht alle Fahnen sind so konsequent aufgebaut. Ein ziemliches Potpourri ist beispielsweise eine<br />
der komplexesten Flaggen der Welt – die von Turkmenistan. Auf der linken Seite findet sich zunächst<br />
ein Streifen mit fünf verschiedenen Teppichmustern, die traditionell von verschiedenen<br />
turkmenischen Stämmen verwendet wurden. Darunter wurde 1997 als Friedenssymbol genau der<br />
Ölzweig eingefügt, der sich auch auf der Fahne der Vereinten Nationen findet. Die fünf Sterne<br />
daneben symbolisieren die fünf turkmenischen Regionen, <strong>und</strong> schließlich der Halbmond daneben<br />
<strong>und</strong> die grüne Farbe erwartungsgemäß den Islam.<br />
Nepal hat die einzige nicht reckeckige Flagge<br />
Nicht fehlen darf an dieser Stelle ein Blick auf die Flagge Nepals, die ein Unikum besonderer Natur<br />
ist: Es handelt sich um die einzige Flagge der Welt, die nicht rechteckig ist. Sie erinnert den<br />
Betrachter an zwei übereinander gesetzte Dreiecke, <strong>und</strong> das aus gutem Gr<strong>und</strong>: Entstanden ist sie<br />
schon zu Beginn des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, als man zwei dreieckige Wimpel übereinander setzte.<br />
Ungewöhnlich muten auch Formen <strong>und</strong> Farben an. Dass der blaue Rand für den Frieden steht, mag<br />
dabei weniger überraschen, als dass das dominierende Rot den Rhododendron symbolisiert. Die<br />
beiden Embleme Sonne <strong>und</strong> Halbmond mit Stern schließlich trugen noch bis 1962 menschliche<br />
Züge, was ebenfalls nahezu einzigartig in der Welt der Fahnen <strong>und</strong> Flaggen ist. Eine einleuchtende<br />
Erklärung findet sich jedoch: Halbmond <strong>und</strong> Stern stehen für die Familie des Königs, die Sonne<br />
dagegen für die Familie Rana, deren Angehörige über Generationen das Amt des Premierministers<br />
in Erbfolge bekleideten.<br />
// //<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Ein Reisebericht von Christoph J.<br />
Heuer <strong>und</strong> Philipp Kersting<br />
„Sechs Tage im Zug? Ist das nicht<br />
langweilig?“ Unser Plan, mit der<br />
Transsibirischen Eisenbahn quer<br />
durch Russland zu fahren, stieß bei<br />
den meisten auf Skepsis. Mehr als<br />
sechs Tage in einem Zugabteil sind<br />
für viele nicht gerade Inbegriff erholsamer<br />
Osterferien. Und auch uns<br />
wurde erst rückblickend bewusst,<br />
auf was wir uns da eigentlich eingelassen<br />
hatten<br />
Wir hatten uns für die Fahrt von Ost<br />
nach West entschieden <strong>und</strong> Moskau,<br />
das Herz Russlands, als Endpunkt<br />
unserer Reise gewählt. Außerdem<br />
nahmen wir nicht die von Touristen<br />
bevorzugte Route durch China<br />
<strong>und</strong> die Mongolei, sondern die längere,<br />
ursprüngliche Strecke, die von<br />
Wladiwostok am pazifischen Ozean<br />
quer durch das russische Riesenreich<br />
bis in die Hauptstadt führt.<br />
Sechs Tage lang sind wir durch sieben<br />
Zeitzonen Richtung Westen gefahren,<br />
um dann doch irgendwie im<br />
Osten zu enden.<br />
Russland begrüßte uns zunächst<br />
mit der ganzen Herzlichkeit seiner<br />
Bürokratie, die den Untergang der<br />
Sowjetunion unbeschadet überlebt<br />
hat. „Waiting! Here!“, war alles, was<br />
wir in Moskau auf die – auf Russisch<br />
– gestellte Frage bekommen, wie<br />
wir denn zu unserem Anschlussflug<br />
nach Wladiwostok kämen. Als sich<br />
nach zwanzig Minuten nichts, aber<br />
auch gar nichts in dem inzwischen<br />
völlig verlassenen Terminal tat,<br />
befürchteten wir schon, dass das<br />
Flugzeug ohne uns starten würde.<br />
Aber am Ende kam dann doch noch<br />
ein uniformierter Beamter, der uns<br />
– nach einem lustlosen Blick in unsere<br />
Ausweispapiere – den Weg zum<br />
Anschlussflieger wies.<br />
Wladiwostok, „Beherrsche den Osten“,<br />
mag mit seinen Buchten <strong>und</strong><br />
Hügeln einst das städtebauliche Po-<br />
// 10 //<br />
Go West to the East<br />
Mit der Transsibirischen Eisenbahn durch ein Land der Widersprüche<br />
tential von Vancouver oder Seattle<br />
gehabt haben. Offenk<strong>und</strong>ig blieb es<br />
ungenutzt, denn das „Cannes des<br />
Ostens“ (so der Reiseführer!) ist zumindest<br />
im Winter eine verdreckte<br />
Großstadt ohne großen Charme.<br />
Die Entscheidung, hier nur einen<br />
Tag verbracht zu haben, bereuten<br />
wir nicht. Nach einem R<strong>und</strong>gang<br />
durch die Straßen <strong>und</strong> dem Einkauf<br />
überlebenswichtiger Vorräte<br />
wie Wodka, Wurst <strong>und</strong> Schokolade<br />
kehrten wir zum Bahnhof zurück.<br />
Nach dem obligatorischen Touristenfoto<br />
vor dem Obelisken mit der<br />
Kilometerzahl 9288 (so weit ist es<br />
bis zur Hauptstadt) bezogen wir am<br />
Abend unser Schlafwagenabteil.<br />
Man trägt postkommunistischen<br />
Einheits-Look<br />
Kurz nachdem der Zug den Bahnhof<br />
von Wladiwostok hinter sich<br />
gelassen hatte, konnte man auf<br />
den Gängen der Waggons eine Metamorphose<br />
der besonderen Art<br />
beobachten. Alle Reisenden – vom<br />
seriösen „bussinis men“ bis zum<br />
mürrisch dreinblickenden Luftwaffenoffizier<br />
– verschwanden kurz<br />
in ihren Abteilen, um nach wenigen<br />
Minuten im postkommunistischen<br />
Einheits-Look wieder auf den<br />
Gang zu treten: Man trägt in der<br />
Regel Jogginganzug (vorzugsweise<br />
von Puma, oder zumindest mit<br />
pumaähnlichem Logo) <strong>und</strong> dazu<br />
passende Adiletten (Pumaletten?).<br />
Dank eines Reiseführers waren wir<br />
darauf vorbereitet <strong>und</strong> schämten<br />
uns nicht, ebenfalls mit Jogginghose<br />
<strong>und</strong> T-Shirt auf dem Gang zu<br />
stehen.<br />
Während am Horizont die Sonne<br />
unterging, genehmigten wir uns<br />
in unserem Abteil einen ersten<br />
Wodka. Die Flasche verstauten wir<br />
schnell wieder im Rucksack, denn<br />
die fast schon mütterlichen Zugbegleiterinnen<br />
wissen zwar, dass<br />
in den Abteilen getrunken wird,<br />
doch können sie mitunter unwirsch<br />
reagieren, wenn der Alkohol allzu<br />
offensichtlich konsumiert wird. Im<br />
ansonsten menschenleeren Speisewagen<br />
servierte man uns Soljanka<br />
<strong>und</strong> nötigte uns zu einer Wodkaprobe.<br />
Das monotone Rattern der Eisenbahnschienen<br />
<strong>und</strong> die nicht enden<br />
wollenden Birkenwälder waren von<br />
nun an unsere ständigen Begleiter.<br />
Der Zug hielt alle paar St<strong>und</strong>en wenige<br />
Minuten <strong>und</strong> zwei- bis dreimal<br />
am Tag für mindestens zwanzig<br />
Minuten. Zeit genug, um sich ein<br />
wenig die Beine zu vertreten, das<br />
Bahnhofsgebäude <strong>und</strong> die nähere<br />
Umgebung zu erk<strong>und</strong>en sowie<br />
sich bei den fliegenden Händlern<br />
mit Verpflegung einzudecken. Auf<br />
Dauer waren die selbstgemachten<br />
Teigtaschen <strong>und</strong> Bliny günstiger als<br />
das Essen im Speisewagen. Doch zu<br />
weit sollte man sich nicht vom Zug<br />
entfernen, da dieser pünktlich <strong>und</strong><br />
ohne vorheriges Signal weiterfährt.<br />
Nach fast der Hälfte der Reisestrecke<br />
erreichten wir Irkutsk in der Nähe<br />
des Baikalsees. Wie die meisten<br />
Touristen, die diese Strecke fahren,<br />
hatten auch wir uns entschieden,<br />
hier einen Zwischenstopp einzulegen.<br />
Während unseres Aufenthalts<br />
übernachteten wir nicht im Hotel,<br />
sondern in einer Privatunterkunft.<br />
Unsere Gastgeberin, eine pensionierte<br />
Deutschprofessorin an der<br />
Universität von Irkutsk, bereitete<br />
uns einen herzlichen Empfang. Da<br />
unser Besuch auf das orthodoxe Osterfest<br />
fiel, bekamen wir gleich ein<br />
Stück von dem landestypischen Ostergebäck.<br />
In der Nacht nahmen wir<br />
am Mitternachtsgottesdienst <strong>und</strong><br />
an der anschließenden Prozession<br />
um die Kirche teil. Am nächsten<br />
Morgen besuchten wir ein Kloster,<br />
in dem der Patriarch von Sibirien<br />
den traditionellen Ostersegen spendete.<br />
Für den göttlichen Beistand<br />
waren wir schon wenig später sehr<br />
dankbar: Auf der Fahrt zum etwa<br />
60 Kilometer entfernten Baikalsee<br />
wich unser Fahrer Sergej wegen<br />
der zahlreichen Schlaglöcher häu-
fig auf die Gegenfahrbahn aus. Vor<br />
allem in Kurven <strong>und</strong> vor Bergkuppen<br />
trieb es uns den Angstschweiß<br />
auf die Stirn.<br />
Ein Land der Gegensätze<br />
In dem kleinen Dorf Listwjanka<br />
wurde uns – wie so häufig auf der<br />
Reise – die tiefe Kluft zwischen<br />
Arm <strong>und</strong> Reich vor Augen geführt.<br />
Neben dem bonbonfarbenen Hotel<br />
eines Neureichen führten unbefestigte<br />
Wege zu den Holzhütten<br />
der einfachen Dorfbewohner. Viele<br />
hier leben von Fischfang <strong>und</strong> dem<br />
aufkommenden Tourismus. Wegen<br />
der Größe des Sees friert dieser erst<br />
spät im Jahr zu, bleibt dafür aber<br />
lange von einer dicken Eisschicht<br />
bedeckt. Unser Spaziergang auf<br />
dem Eis war daher noch im April<br />
ungefährlich. Doch so imposant der<br />
winterliche See auch war, die wahre<br />
Schönheit des Baikals soll man – so<br />
wurde uns versichert – erst in den<br />
Sommermonaten erleben können.<br />
Mit dem Baikal-Express ging es für<br />
uns am nächsten Tagen weiter gen<br />
Westen. Der Express gilt als einer<br />
der komfortabelsten Züge auf der<br />
Strecke. Welche Luxussteigerung<br />
allerdings ein Plastikblumenstrauß<br />
<strong>und</strong> ein nicht funktionsfähiger<br />
Flachbildschirm im Abteil bringen<br />
soll, erschloss sich uns nicht. Unsere<br />
Reise führte weiter an Krasnojarsk<br />
<strong>und</strong> Nowosibirsk vorbei. Kurz hinter<br />
Jekaterinburg am Kilometerstand<br />
1 7 7 7<br />
kommt man an einem<br />
hel- len, vier Meter hohen<br />
Obelisken vorbei.<br />
Wäre er<br />
im Reisef<br />
ü h r e r<br />
nicht erwähnt worden, hätten wir<br />
ihn beim Kartenspielen im Abteil<br />
glatt verpasst. So aber wurde uns<br />
bewusst, dass wir Asien <strong>und</strong> damit<br />
Sibirien hinter uns gelassen hatten<br />
<strong>und</strong> uns nun wieder in Europa befanden.<br />
Nach der Stadt Wladimir,<br />
dem letzten Stopp vor Moskau,<br />
wichen die kleinen Dörfer <strong>und</strong> Birkenwälder<br />
allmählich den Vororten<br />
der Hauptstadt. Nach insgesamt<br />
9288 Kilometern erreichten wir die<br />
Metropole an der Moskwa. Auch<br />
hier kamen wir wieder bei einem<br />
pensionierten Dozenten unter. Er<br />
ist auf eine zusätzliche Einnahmequelle<br />
angewiesen, denn nach der<br />
mehrfachen Abwertung des Rubels<br />
kann er von seiner Rente allein<br />
kaum leben.<br />
Russlands lupenreine<br />
Demokratie<br />
Am nächsten Tag machten wir Bekanntschaft<br />
mit der viel gepriesenen<br />
lupenreinen Demokratie:<br />
Garri Kasparow, einer der führenden<br />
Köpfe der Opposition in Russland,<br />
hatte zu einer Demonstration<br />
aufgerufen. Den Warnungen unseres<br />
Gastgebers zum Trotz fuhren<br />
wir etwa fünf St<strong>und</strong>en vor Beginn<br />
der Protestveranstaltung zum Versammlungsort,<br />
um u n s<br />
ein Bild von<br />
der Lage<br />
zu ma-<br />
// 11 //<br />
chen. Die Straßen r<strong>und</strong> um den<br />
Puschkin-Platz waren bereits von<br />
Milizionären gesäumt. Wasserwerfer,<br />
H<strong>und</strong>estaffeln <strong>und</strong> bereitstehende<br />
Krankenwagen ließen nichts<br />
Gutes erahnen.<br />
Da uns eine Teilnahme an der Demonstration<br />
zu riskant erschien,<br />
machten wir uns auf den Weg zum<br />
Kreml. Um dorthin zu gelangen,<br />
mussten wir eine Straße überqueren.<br />
Dies gestaltete sich allerdings<br />
schwierig, da die hierfür vorgesehene<br />
Unterführung durch einen<br />
Polizei-Kordon abgesperrt war <strong>und</strong><br />
uns die Überquerung der Straße<br />
von einem Verkehrspolizisten gestenreich<br />
untersagt wurde. Erst nach<br />
längeren Verhandlungen beschloss<br />
man, uns in Begleitung zweier bewaffneter<br />
Polizisten nebst maulkorbbefreitem<br />
Schäferh<strong>und</strong> durch<br />
die Unterführung zu lotsen. Später<br />
erfuhren wir, dass nur wenige St<strong>und</strong>en<br />
später friedliche Demonstranten<br />
niedergeprügelt <strong>und</strong> Kasparow<br />
festgenommen wurde.<br />
Nicht nur die politische, sondern<br />
auch die gesellschaftliche Realität<br />
wurde uns eindrücklich vor Augen<br />
geführt. In den Straßen Moskaus<br />
sieht man Bentleys neben Bettlern,<br />
Mercedes- neben Revolutionsstern<br />
<strong>und</strong> novy ruski (die neureichen<br />
Russen) neben ärmlichen<br />
Babuschkas. Moskau ist<br />
eine Stadt der Gegensätze.<br />
Und wer<br />
einmal mit der<br />
Transsibirischen<br />
Eisenbahn gefahren<br />
ist, hat<br />
z u m i n d e s t<br />
eine Ahnung<br />
davon, dass<br />
dies auch für<br />
das ganze<br />
Land gilt.<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Aline Kalb<br />
Mit fast einh<strong>und</strong>ertprozentiger Erfolgsquote<br />
liefern die Dabbawalas<br />
täglich bis zu 200.000 Mittagessen<br />
pünktlich an jeden Ort Mumbais,<br />
der mit 13,1 Millionen Einwohnern<br />
bevölkerungsreichsten Stadt<br />
der Welt. Über ein ausgeklügeltes<br />
System gelangen hausgemachte<br />
Gerichte in zylinderförmigen Aluminiumgefäßen,<br />
den sogenannten<br />
Tiffin Boxes, vom heimatlichen Herd<br />
durch das Chaos des Großstadtverkehrs<br />
in die Büros der indischen<br />
// 12 //<br />
Ein Stück Heimat im Chaos<br />
Ein logistisches Phänomen in Indien - Mumbais Dabbawalas<br />
Metropole. Tiffin ist ein Relikt aus<br />
der Kolonialzeit <strong>und</strong> bedeutet leichtes<br />
Mittagessen. Dabbawala ist Hindi<br />
<strong>und</strong> setzt sich aus Dabba (Mittagessen)<br />
<strong>und</strong> Wala (Träger) zusammen.<br />
R<strong>und</strong> 5000 Mittagessenträger tragen<br />
täglich den Kampf mit der Zeit<br />
aus, um ihre K<strong>und</strong>en in deren Mittagspause<br />
mit Ghar Ka Khana (Hausmannskost)<br />
zu versorgen. Der Weg<br />
der Gerichte zum Bestimmungsort<br />
ist bis ins feinste Detail geplant <strong>und</strong><br />
wird über Codes gesteuert. Die Kombination<br />
aus Ziffern, Buchstaben<br />
<strong>und</strong> Farben verrät den Kurieren, die<br />
häufig weder lesen noch schreiben<br />
können, wohin die Mahlzeit geliefert<br />
werden soll. Eine Verzögerung<br />
kann sich ein Dabbawala nicht leisten,<br />
da sie das ganze System aus<br />
dem Gleichgewicht bringen würde.<br />
Der Arbeitstag eines Kuriers beginnt<br />
um neun Uhr am Morgen. Seine<br />
erste Station ist die Heimat des<br />
zu beliefernden, wo er das fertige<br />
Dabba abholt, das die Ehefrau bereits<br />
in aller Frühe zubereitet hat.<br />
Zu Fuß oder auf dem Fahrrad führt<br />
der Weg zum nächsten Bahnhof, wo<br />
die Tiffin Boxes von 10.40 bis 11.20<br />
Uhr auf Holzbretter gestapelt <strong>und</strong><br />
in Güterwagen verladen werden.
An den Endstationen warten dann<br />
bereits weitere Dabbawalas, die die<br />
Boxen auf ihre Handwagen türmen<br />
oder überall an ihren Velos befestigen,<br />
um sie zu den Bürokomplexen<br />
Mumbais zu transportieren. Während<br />
sich die Manager der Stadt die<br />
frische Hausmannskost schmecken<br />
lassen, dürfen sich auch die Dabbawalas<br />
eine Pause genehmigen, um<br />
in den Tempeln hinter den Bahnhöfen<br />
zu beten oder sich mit ihrem<br />
eigenen Mittagessen für den<br />
Nachmittag zu stärken. Denn noch<br />
ist der Arbeitstag der Kuriere nicht<br />
beendet: Zwischen 13.15 <strong>und</strong> 14 Uhr<br />
sammeln sie die leeren Tiffin Boxes<br />
wieder ein <strong>und</strong> laden sie in den<br />
Zug, der sie pünktlich um 14.48 Uhr<br />
wieder zum Ausgangspunkt bringt.<br />
Von dort aus liefern die Dabbawalas<br />
sie zu den Haustüren, an denen sie<br />
die Mahlzeiten am Morgen abgeholt<br />
haben.<br />
Nun mag man sich fragen, wozu<br />
dieser Aufwand betrieben wird.<br />
Warum verabreden sich die indischen<br />
Büromitarbeiter in der Mittagspause<br />
nicht zum gemeinsamen<br />
Lunch im Bistro um die Ecke oder<br />
kaufen sich ein belegtes Sandwich<br />
am Kiosk? In Mumbai treffen eine<br />
Vielzahl von Ethnien aufeinander.<br />
Diese Vielfalt macht es unmöglich,<br />
den Geschmack jedes Mitarbeiters<br />
zu treffen. Für Hindus ist Rind tabu,<br />
für Muslime Schwein, Daschainas<br />
sind strikte Vegetarier <strong>und</strong> essen<br />
nicht einmal Wurzelgemüse. Zudem<br />
gibt es Sikhs, Parsen, Juden,<br />
Buddhisten sowie Christen, <strong>und</strong><br />
jede dieser Gruppen hat andere kulinarische<br />
Vorlieben <strong>und</strong> religiöse<br />
Vorschriften. Des Weiteren besitzt<br />
jede indische Familie ihr spezielles<br />
Geheimrezept für Masalas (Gewürzmischungen)<br />
oder Dals (Linsenpürees),<br />
welches selbstverständlich –<br />
jedes für sich – unübertrefflich ist.<br />
Dabbawalas streiken nie<br />
Auf der Homepage der Dabbawalas<br />
(www.mydabbawala.com) werden<br />
gleich zehn gute Gründe für die<br />
hausgemachte Alternative präsentiert.<br />
Zum einen seien die frisch<br />
zubereiteten Speisen weitaus gesünder<br />
<strong>und</strong> günstiger (pro Monat<br />
werden je nach Länge <strong>und</strong> Schwierigkeitsgrad<br />
der Route fünf bis acht<br />
Euro berechnet) als Junk Food. Zum<br />
anderen würden sich die K<strong>und</strong>en<br />
den aufwendigen Transport der<br />
Mahlzeiten im überfüllten Arbeitsverkehr<br />
ersparen <strong>und</strong> jedes Risiko,<br />
nicht rechtzeitig speisen zu können,<br />
vermeiden. Auch wird darauf<br />
hingewiesen, dass auf diese Weise<br />
die Unabhängigkeit vieler Familien<br />
bewahrt würde. Tatsächlich ist die<br />
Arbeit für die meisten Dabbawalas<br />
lebensnotwendig. Ohne sie wäre<br />
es ihnen nicht möglich, sich <strong>und</strong><br />
ihre Angehörigen zu versorgen.<br />
Ein weiterer Punkt verdient ebenfalls<br />
besondere Anerkennung: Die<br />
Dabbawalas werden niemals streiken.<br />
Trotz des bescheidenen Einkommens<br />
sind die Kuriere dankbar<br />
// 1 //<br />
für die Arbeit <strong>und</strong> gehen an ihre-<br />
Grenzen, um sie ordnungsgemäß<br />
auszuführen.<br />
Soziale Sicherheit kennen die<br />
Dabbawalas nicht. Auch wenn ihr<br />
Berufszweig oft als Gewerkschaft<br />
umschrieben wird, existiert keine<br />
geregelte Absicherung für Notfälle.<br />
Dabbawalas sind Unternehmer,<br />
deren Gruppen wie Kooperativen<br />
organisiert sind. Das Geld, das jeder<br />
Träger dort kassiert, wo er die<br />
Mahlzeit abholt, wird in einen großen<br />
Topf geworfen, dessen Inhalt am<br />
Monatsende nach Abzug der Ausgaben<br />
geteilt wird. Wer ein Essen<br />
nicht planmäßig ausliefert, zahlt<br />
Strafe. Gemeinsam entscheidet die<br />
Gruppe, wie lange im Krankheitsfall<br />
gezahlt werden kann. Benötigt<br />
ein Zusammenschluss zusätzliche<br />
Kuriere, kann sich ein Anwärter für<br />
50000 Rupien einkaufen. Arbeitet<br />
er nicht zuverlässig, wird er entlassen.<br />
Allerdings bietet diese Organisationsform<br />
auch gewisse Vorteile:<br />
Die Dabbawalas sind autark <strong>und</strong><br />
können ihre Preise selbst bestimmen.<br />
So verdient jeder Kurier monatlich<br />
5000 bis 6000 Rupien (etwa<br />
100 Euro). Ein Bauarbeiter hingegen<br />
bekommt häufig nicht einmal ein<br />
Fünftel.<br />
Die Dabbawalas sind ein Symbol indischer<br />
Effizienz. Sie vereinen alle<br />
Eigenschaften, die die Metropole<br />
in den letzten Jahrzehnten immer<br />
stärker wachsen ließen: Ausdauer,<br />
Genügsamkeit, Ehrgeiz, Arbeitswillen<br />
<strong>und</strong> Ideenreichtum. Einer Umfrage<br />
zufolge gehören die Dabbawalas<br />
von Mumbai zu den 55 Dingen,<br />
auf die Inder besonders stolz sind.<br />
Somit hat sich das, was der Legende<br />
zufolge bereits 1890 begann, als<br />
ein persischer Banker auf die Idee<br />
kam, sich sein Mittagessen ins Büro<br />
liefern zu lassen, zu einem Erfolgsmodell<br />
entwickelt, ohne das ein<br />
reibungsloser Arbeitsalltag in der<br />
indischen Metropole <strong>und</strong>enkbar<br />
wäre.<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
China engagiert sich zunehmend in<br />
Afrika <strong>und</strong> unterstützt dabei im Gegenzug<br />
für Öllieferungen auch korrupte<br />
<strong>und</strong> brutale Machthaber<br />
Ein Kommentar von Alexander<br />
Brüggemeier<br />
Chinas rasant wachsende Wirtschaft<br />
benötigt so viele Rohstoffe wie nie<br />
zuvor. Einen wichtigen Prozentsatz<br />
davon bezieht sie aus Afrika. Hier<br />
stellt China mittlerweile den drittwichtigsten<br />
Handelspartner dar.<br />
Es drängt sich daher die Frage auf,<br />
ob sich die Beziehungen zwischen<br />
China <strong>und</strong> Afrika zu einer Form des<br />
neokolonialistischen Imperialismus<br />
oder einer gleichwertigen Handelspartnerschaft<br />
entwickeln werden.<br />
Die Gegenleistungen der Chinesen<br />
für die gelieferten Rohstoffe sind<br />
vielfältig: Waffen, Kredite oder sogar<br />
die Schaffung einer kompletten<br />
Infrastruktur wie beispielsweise in<br />
Nigeria. Trotz grassierender Korruption<br />
gewährte China dort einen<br />
Kredit über zwei Milliarden Dollar<br />
zur Reparatur des maroden nigerianischen<br />
Straßennetzes. Dabei<br />
wollen es die neuen Fre<strong>und</strong>e aus<br />
dem Osten aber nicht belassen <strong>und</strong><br />
planen außerdem neue Kraftwerke<br />
<strong>und</strong> ein neues Eisenbahnschienennetz.<br />
Es mag daher kaum wie ein<br />
Zufall erscheinen, dass sich der chinesische<br />
Erdölkonzern China National<br />
Petroleum kurz nach einem<br />
Besuch des Ministerpräsidenten die<br />
Konzessionen für die Ausbeutung<br />
eines nigerianischen Ölfeldes sicherte,<br />
welches als äußerst ergiebig<br />
gilt <strong>und</strong> dementsprechend umworben<br />
ist.<br />
„Business is business“<br />
Beispiele wie diese gibt es noch<br />
viele andere, sei es Angola, dessen<br />
Bevölkerung nach dreißig Jahren<br />
des Bürgerkrieges in kaum vorstellbarer<br />
Armut um das Überleben<br />
kämpft, während sich die korrupte<br />
Elite das Leben mit chinesischen<br />
// 1 //<br />
China in Afrika<br />
Öl <strong>und</strong> Bodenschätze für Waffen <strong>und</strong> Kredite<br />
Milliarden für Öl versüßt. Oder die<br />
international geächtete Diktatur<br />
des Despoten Robert Mugabe in<br />
Simbabwe, dem China Kampfflugzeuge<br />
lieferte <strong>und</strong> von dem es im<br />
Gegenzug Lizenzen für den Abbau<br />
von Chrom <strong>und</strong> Platin sowie für den<br />
Anbau von Tabak erhielt.<br />
Diese Wirtschafts- <strong>und</strong> Expansionspolitik<br />
der Chinesen korrumpiert<br />
jeden Versuch der westlichen Länder,<br />
in Afrika für nachhaltige Entwicklung<br />
zu sorgen. Zwar sind auch<br />
die in den 80er Jahren von der Weltbank<br />
<strong>und</strong> anderen internationalen<br />
Organisationen wie der OECD entwickelten<br />
Konzepte wie „good and<br />
bad governance“ nicht frei von Kritik<br />
geblieben, aber sie etablierten<br />
für die Zusammenarbeit zumindest<br />
Mindeststandards auf dem Gebiet<br />
der Menschenrechte <strong>und</strong> der Einhaltung<br />
von Regierungsprinzipien<br />
wie Transparenz, Partizipation,<br />
Rechtstaatlichkeit <strong>und</strong> Effizienz.<br />
China hingegen scheinen diese Konzepte<br />
wenig zu interessieren, wie<br />
der im Pekinger Handelsministerium<br />
für Afrika zuständige Li Xiaobing<br />
unverhohlen zugibt: „Business<br />
is business, wir importieren von jedem,<br />
der uns Öl liefert.“ Der demokratische<br />
Wandel <strong>und</strong> die gerechte<br />
Verteilung seien innerstaatliche<br />
Probleme, in die China sich nicht<br />
einmischen wolle. Hauptsache also,<br />
das Öl fließt.<br />
Mittlerweile äußern hinter vorgehaltener<br />
Hand auch westliche <strong>Politik</strong>vertreter<br />
starke Kritik an der<br />
chinesischen Praxis: „Die gehen<br />
überall rein <strong>und</strong> kennen keinerlei<br />
Skrupel,“ konstatiert ein hochrangiger<br />
deutscher Botschafter, der<br />
anonym bleiben möchte. Hintergr<strong>und</strong><br />
solcher Aussagen sind etwa<br />
Chinas Rohstoffverträge mit dem<br />
Sudan: Mehr als die Hälfte des geförderten<br />
Öls fließt nach China.<br />
Die 200.000 Toten des Genozids in<br />
der Krisenregion Darfur bleiben<br />
dabei bewusst außen vor.<br />
Mehr als die Hälfte des<br />
sudanischen Öls fließt<br />
nach China<br />
Nicht nur Öl <strong>und</strong> andere Rohstoffe<br />
sind Dinge, die die chinesische Führungselite<br />
jede Ethik vergessen lassen.<br />
Auch der gerade erst erschlossene<br />
<strong>und</strong> nicht einmal ansatzweise<br />
gesättigte Markt von knapp 900 Millionen<br />
Menschen macht Afrika so<br />
interessant. Für China bedeutet er<br />
sowohl Millionen an potentiellen<br />
K<strong>und</strong>en für seine Billigprodukte als<br />
auch ein Heer an preiswerten Arbeitern.<br />
Chinesischen Investoren bieten sich<br />
viele zum Verkauf stehende Firmen,<br />
welche den chinesischen Unternehmern<br />
<strong>und</strong> Billigproduzenten die<br />
Ausweitung ihres Geschäftsmodells<br />
auf einen neuen Kontinent ermöglichen<br />
<strong>und</strong> mit denen sie ihr<br />
geschäftliches Engagement<br />
in Europa noch stärker<br />
ausbauen können.<br />
Ihnen eröffnet<br />
sich auf diesem<br />
Wege<br />
beispielsw<br />
e i s e<br />
d i e
Möglichkeit, mittels afrikanischer<br />
Firmen die Einfuhrbeschränkungen<br />
der EU für chinesische Produkte<br />
zu umgehen. Für die eigenständige<br />
Entwicklung des Kontinents<br />
ist dieses chinesische Engagement<br />
indes von sehr zweifelhafter Wirkung.<br />
Für Sambias Textilindustrie<br />
etwa hatte die wirtschaftliche Intervention<br />
Chinas drastische Folgen.<br />
Inzwischen existiert dort nur<br />
noch ein Drittel der bisherigen<br />
afrikanischen Textilproduzenten,<br />
nachdem das Land mit Billigerzeugnissen<br />
aus dem Osten überflutet<br />
worden ist.<br />
Handelt es sich also um eine „winwin-Situation“<br />
oder werden alte<br />
Kolonialstrukturen wiederbelebt?<br />
Zwar sprechen chinesische Offizielle<br />
davon, dass „jede Beziehung zwischen<br />
uns <strong>und</strong> einem afrikanischen<br />
Staat eine Fre<strong>und</strong>schaft zwischen<br />
Partnern auf gleicher Augenhöhe<br />
ist“, aber nicht nur europäische<br />
Wissenschaftler, sondern auch der<br />
südafrikanische Präsident Thabo<br />
Mbeki erkennen die Entwicklungen,<br />
die sich abzeichnen: „Dadurch<br />
ist Afrika zur Unterentwicklung<br />
verdammt. Es besteht die Gefahr,<br />
dass zu China eine Beziehung aufgebaut<br />
wird, die koloniale Abhängigkeiten<br />
wiederholt.“ Ähnlich<br />
eindeutige Worte finden auch viele<br />
westliche Wissenschaftler: Afrika<br />
sei Rohstofflieferant <strong>und</strong> Quelle von<br />
Arbeitskräften, die in chinesischen<br />
Fabriken <strong>und</strong> Bergwerken <strong>und</strong> auf<br />
deren Baumwoll- <strong>und</strong> Tabakfeldern<br />
schuften. Somit hat sich Afrika<br />
nicht viel verändert. Noch immer<br />
sind sie die Knechte, nur sind die<br />
Massas jetzt gelb, nicht weiß.<br />
Wiederaufbau kolonialer<br />
Abhängigkeiten?<br />
// 1 //<br />
Auf der anderen Seite sollte man<br />
sich auch diese Fragen stellen: Haben<br />
wir nicht einfach manchmal<br />
Angst vor dieser neuen chinesischen<br />
Supermacht? Ist es unser Reflex gegenüber<br />
der „gelben Gefahr“, dass<br />
wir kritisieren <strong>und</strong> versuchen, China<br />
in ein schlechtes Licht zu rücken,<br />
obwohl man auch bei uns auf eine<br />
gewisse Doppelmoral verweisen<br />
könnte? Hat nicht beispielsweise<br />
die amerikanische Außenministerin<br />
im Weißen Haus dem Präsidenten<br />
von Äquatorialguinea Teodoro Obiang<br />
herzlich die Hand geschüttelt,<br />
obwohl dieser bekanntermaßen einer<br />
der schlimmsten Staatsverbrecher<br />
Afrikas ist? Die Tatsache, dass<br />
dieser Staat über große Ölvorkommen<br />
verfügt, welche hauptsächlich<br />
nach Amerika fließen, dürfte dabei<br />
genauso eine gewichtige Rolle gespielt<br />
haben wie bei der Auswahl<br />
der politischen Fre<strong>und</strong>e Pekings in<br />
Afrika.<br />
Aber auch wenn der Westen sich<br />
nicht immer vorbildlich verhält,<br />
muss festgestellt werden, dass vor<br />
allem für China Brechts Frage nach<br />
dem Fressen <strong>und</strong> der Moral aus<br />
seiner Dreigroschenoper wohl beantwortet<br />
ist: Zugriff auf wirtschaftliches<br />
Potenzial hat<br />
Vorrang vor Menschenrechten<br />
<strong>und</strong> guter Regierungsführung.<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Ewiger Konflikt<br />
Wie geht es weiter in Osttimor?<br />
Von Clara Lienike<br />
Nach der lang ersehnten internationalen<br />
Anerkennung als souveräner<br />
Staat hegte die internationale Staatengemeinschaft<br />
im Spätfrühling<br />
des Jahres 2002 große Hoffnungen.<br />
Mit der Unabhängigkeit Timor-<br />
Lestes sollte dem Land nun endlich<br />
ein Ende der Gewalt <strong>und</strong> seinen<br />
Bewohnern einen Ausweg aus der<br />
katastrophalen Sicherheitslage <strong>und</strong><br />
erdrückenden Armut ermöglicht<br />
werden. Mit dem Staatspräsidenten<br />
Mari Alkatiri <strong>und</strong> José Ramos-Horta,<br />
der als damaliger Sprecher der<br />
Unabhängigkeitsbewegung im Dezember<br />
1996 für sein Engagement<br />
mit dem Friedensnobelpreisträger<br />
ausgezeichnet wurde, schien es<br />
zunächst, dass die Ausgangsvoraussetzungen<br />
dafür gegeben seien.<br />
Jedoch nur vier Jahre nach seiner<br />
Unabhängigkeitserklärung wurde<br />
Timor-Leste von den schwersten<br />
Unruhen erschüttert, die es seit seiner<br />
Unabhängigkeit erlebt hatte. 37<br />
Menschen wurden innerhalb eines<br />
Monats getötet, 150.000 flüchteten.<br />
// 1 //<br />
Auslöser für diese erneute Welle<br />
der Gewalt war die Desertation von<br />
vierzig Prozent der timoresischen<br />
Soldaten, die damit ihren Prostest<br />
über den Zustand der nationalen<br />
Verteidigungskräfte zum Ausdruck<br />
brachten. Die schweren Ausschreitungen<br />
zwangen Präsident Alkatiri<br />
schließlich zum Rücktritt. Dieser<br />
Rücktritt Alkatiris hinterließ das<br />
Land bis zu den Neuwahlen im Jahr<br />
2007 in erneuter Unsicherheit.<br />
Seit 2007 wird der Staat von einer<br />
internationalen Schutztruppe abgesichert,<br />
zu der insbesondere Soldaten<br />
der ehemaligen Kolonialmacht<br />
Portugal gehören. Erschwert wird<br />
die Lage dadurch, dass aufgr<strong>und</strong> des<br />
bürgerkriegsähnlichen Zustands die<br />
Unterstützung Indonesiens erbeten<br />
wurde, obwohl das Verhältnis des<br />
jungen Staates zum großen Nachbarn<br />
auf Gr<strong>und</strong> seiner Geschichte in<br />
besonderem Maße gespannt ist:<br />
Nachdem Timor-Leste im Jahr 1975<br />
seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht<br />
Portugal proklamiert<br />
hatte, gab Indonesien zu erkennen,<br />
den jungen Staat nicht anerkennen<br />
<strong>und</strong> die Konsolidierung des Landes<br />
durch Einschreiten des Militärs<br />
verhindern zu wollen. Im schicksalhaften<br />
Folgejahr wurde Timor-<br />
Leste für einen Zeitraum von mehr<br />
als zwei Jahrzehnten vom Nachbarstaat<br />
annektiert <strong>und</strong> offiziell zur<br />
27. Provinz Indonesiens deklariert.<br />
Die kommenden 24 Jahre der indonesischen<br />
Unterdrückung sind von<br />
brutaler Gewalt <strong>und</strong> Völkermord<br />
geprägt, in der mindestens 200.000<br />
der insgesamt 850.000 Timorenser<br />
ums Leben kamen.<br />
Auch nachdem der 1965 an die<br />
Macht gekommene General Suharto,<br />
der den Befehl zum Einmarsch in<br />
Timor-Leste gegeben hatte, durch<br />
einen Regierungswechsel 1998 in<br />
Jakarta abgelöst <strong>und</strong> der östlichen<br />
Inselhälfte ein baldiges Referendum<br />
über die Unabhängigkeit versprochen<br />
worden war, verbesserte<br />
sich die Situation nur marginal. Ein<br />
erneuter trauriger Höhepunkt der<br />
Ausschreitungen ereignete sich im<br />
Sommer des Jahres 1999 im Zuge<br />
der landesweiten Abstimmung über<br />
die Unabhängigkeit Timor-Lestes.
Nachdem 78,5% der Bevölkerung<br />
in einem Referendum für einen<br />
souveränen Staat gestimmt hatten,<br />
verübten pro-indonesische Milizen<br />
in Timor-Leste ein erneutes Massaker.<br />
Auch eine UN-Resolution vom<br />
8. September 2000, in der die indonesische<br />
Regierung aufgefordert<br />
wurde, aktiv Maßnahmen gegen die<br />
bewaffneten Milizen, die jenseits<br />
der Grenze auch ein Jahr nach dem<br />
Unabhängigkeitsreferendum ca.<br />
130.000 Timorenser in Lagern festhielten,<br />
zu ergreifen, konnte angesichts<br />
der innenpolitischen Krise<br />
Indonesiens nicht zum Abebben der<br />
Gewalt beitragen.<br />
Seit den neuesten Ausschreitungen<br />
wird das Land, insbesondere die<br />
Hauptstadt Dilis, von einer internationalen<br />
Schutztruppe unter der<br />
Führung von Portugal bewacht.<br />
R<strong>und</strong> um die Uhr patrouillieren<br />
schwer bewaffnete UN-Soldaten<br />
in gepanzerten Fahrzeugen in den<br />
Straßen <strong>und</strong> versuchen, randalierenden<br />
Jugendbanden Einhalt zu<br />
gebieten.<br />
Der neue Staatspräsident Ramos-Horta<br />
sieht die hohe Jugendarbeitslosigkeit<br />
als Hauptgefahr<br />
für die Stabilisierung Timor-Lestes<br />
<strong>und</strong> hofft, diese während seiner<br />
Amtsperiode senken zu können.<br />
Er sieht weniger finanzielle denn<br />
administrative Probleme, die einer<br />
Konsolidierung des Landes entgegen<br />
stehen. Timor-Leste hat in den<br />
letzten beiden Jahren allein durch<br />
Erdölressourcen über 1,2 Milliarden<br />
Dollar eingenommen, jedoch sind<br />
die Lebensbedingungen der Bevölkerung<br />
nach wie vor von Armut<br />
<strong>und</strong> Unsicherheit geprägt, da es an<br />
einem effizienten Verteilungsapparat<br />
fehlt.<br />
Dies hat zur Folge, dass Timor-Leste<br />
auf internationale Hilfe angewiesen<br />
bleibt, solange es nicht gelingt, einen<br />
funktionerenden Staatsapparat<br />
aufzubauen <strong>und</strong> es an Richtern,<br />
Staatsanwälten <strong>und</strong> einsatzfähigen<br />
Polizisten mangelt.<br />
Es bleibt zu hoffen, dass Timor-Leste<br />
hiermit nicht von der internationalen<br />
Gemeinschaft allein gelassen<br />
wird.<br />
// 17 //<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 18 //<br />
Goodbye, Hutongs<br />
Wandel in Peking – Städtebau zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne<br />
Von Fabian Klemme<br />
China ist im Umbruch. Wer das hört,<br />
denkt zunächst an das rasante Wirtschaftswachstum,<br />
die Öffnung gen<br />
Westen oder den Menschenrechtsdialog.<br />
Doch an kaum einem anderen<br />
Ort im bevölkerungsreichsten<br />
Land der Erde tritt dieser Wandel<br />
so offensichtlich zutage wie in den<br />
Straßen Pekings.<br />
Die meisten Menschen werden mit<br />
der Hauptstadt Chinas wohl vor<br />
allem die Verbotene Stadt, das wohl<br />
behütete Zentrum des früheren<br />
Kaiserreichs, oder den Platz des<br />
Himmlischen Friedens in Verbindung<br />
bringen. Doch vom Stadtzentrum<br />
erstreckt sich rechts <strong>und</strong> links<br />
entlang der breiten Ausfallstraßen<br />
über Kilometer das wahre Herz der<br />
Stadt <strong>und</strong> ihr kultureller Schatz: die<br />
Hutongs.<br />
Die Hutongs, diese kleinen Gassen,<br />
die den Charme eines Landdorfs<br />
versprühen, sind wahre Rückzugsgebiete<br />
in der Hektik der Großstadt<br />
<strong>und</strong> zugleich Schauplatz<br />
pulsierenden gesellschaftlichen Lebens.<br />
Sie geben diesem geschichtsträchtigen<br />
Ort einen Charakter, ein<br />
Gesicht. Für europäische Augen zunächst<br />
etwas schmutzig wirkend,<br />
schlängeln sich tausende dieser<br />
Gässchen von den Hauptverkehrsachsen<br />
in die Labyrinthe der riesigen<br />
Häuserkarrees. Sie werden<br />
flankiert von den traditionellen sihe<br />
yuan, meist grauen, einstöckigen<br />
Vier-Harmonien-Höfen. Ursprünglich<br />
bot ein solcher Hof für nur eine<br />
Familie ein zu Hause, doch seit der<br />
Ein-Kind-<strong>Politik</strong> gehören Großfamilien<br />
der Vergangenheit an, <strong>und</strong><br />
so werden die Häuser um einen Hof<br />
heute meistens von mehreren Familien<br />
bewohnt.<br />
Charme eines Landdorfs<br />
Schlendert man durch diese Gassen,<br />
vergisst man schnell – trotz<br />
des allgegenwärtigen Smogs – dass<br />
man sich in einer 16-Millionen-
Einwohner Metropole befindet. Da<br />
jagen Kinder H<strong>und</strong>en hinterher<br />
<strong>und</strong> Frauen sitzen schwatzend in<br />
der Abendsonne. Ein alter Mann<br />
kommt summend mit seinem Kanarienvogelkäfig<br />
in der rechten<br />
Hand <strong>und</strong> seiner Teeflasche in der<br />
linken aus dem Park <strong>und</strong> grüßt<br />
seinen Nachbarn, der gerade in<br />
Pyjamahosen <strong>und</strong> Unterhemd mit<br />
einigen anderen Herren an einem<br />
kleinen Plastiktisch Majong spielt.<br />
Junge Mädchen sitzen kichernd auf<br />
Höckerchen vor einer winzigen Garküche<br />
<strong>und</strong> essen Maultaschen <strong>und</strong><br />
Lammspießchen. Über den Dächern<br />
dreht ein Taubenschwarm seine<br />
Kreise <strong>und</strong> beschert seinem Besitzer,<br />
der den Verschlag zum abendlichen<br />
Ausflug geöffnet hat, so der<br />
verbreitete Glaube, ein langes Leben.<br />
In der Luft mischen sich Grill-<br />
<strong>und</strong> Zigarettenrauch, Gewürze,<br />
frischer Tee, aber auch Abgase <strong>und</strong><br />
Waschhaus-Geruch zu einer unverwechselbaren<br />
Melange. Die kleinen<br />
Plätze laden zum verweilen ein <strong>und</strong><br />
um jede Ecke <strong>und</strong> hinter jeder Tür<br />
zu einem der Höfe erwartet einen<br />
eine neue Überraschung.<br />
Laut Statistik gibt es in Peking noch<br />
6000 solcher Hutongs die teilweise<br />
auf eine über 700-jährige Geschichte<br />
zurückblicken. Doch in Zeiten, in<br />
denen die aufstrebende Bevölkerung<br />
einen scheinbar unstillbaren<br />
Hunger nach Wohnraum hat <strong>und</strong><br />
in- <strong>und</strong> ausländische Investoren<br />
Räumlichkeiten benötigen, müssen<br />
viele der traditionellen Häuser modernen<br />
Wohnblocks <strong>und</strong> Bürotürmen<br />
weichen. Und so hat man bisweilen<br />
den Eindruck, sich auf einer<br />
einzigen riesigen Baustelle zu befinden,<br />
auf der Kräne wie Pilze aus<br />
dem Boden schießen. Wo gestern<br />
noch ein Hutong stand, werden<br />
heute auf 24-St<strong>und</strong>en-Baustellen<br />
mit einer Armee von Wanderarbeitern<br />
in Windeseile <strong>und</strong> unter<br />
schockierenden Sicherheitsbedingungen<br />
20-stöckige Wohnhäuser<br />
hochgezogen – mit Badezimmern,<br />
Aufzügen <strong>und</strong> Telefonleitungen.<br />
Anderenorts entstehen Stadien,<br />
Sportstätten <strong>und</strong> Infrastruktur:<br />
Für die nahenden olympischen<br />
Sommerspiele <strong>und</strong> bis zu deren<br />
Eröffnung soll die Stadt <strong>und</strong> mit<br />
ihr ganz China im schönsten Glanz<br />
erstrahlen. Und so stehen zwar die<br />
schönsten Höfe <strong>und</strong> die Residenzen<br />
ehemaliger Hofbeamter unter<br />
Denkmalschutz, doch die meisten<br />
Hutongs werden wohl in absehbarer<br />
Zeit unwiederbringlich das<br />
Zeitliche segnen. Damit weicht die<br />
Gemütlichkeit <strong>und</strong> Geborgenheit<br />
der Hutongs der Anonymität moderner<br />
Hochhaussiedlungen, wie<br />
sie sich in allen modernen Städten<br />
der Welt finden, <strong>und</strong> Peking verliert<br />
einen seiner charmantesten Charakterzüge.<br />
Ein scheinbar unstillbarer<br />
Hunger nach Wohnraum<br />
Überwältigt <strong>und</strong> schockiert ob dieser<br />
rasanten <strong>und</strong> scheinbar brutalen<br />
Entwicklung frage ich einen<br />
befre<strong>und</strong>eten chinesischen Studenten,<br />
was denn die Einwohner<br />
Pekings von dieser Entwicklung<br />
hielten. Seine Antwort ist einfach:<br />
„Wenn du, um auf die Toilette zugehen,<br />
jedes Mal dein Haus verlassen<br />
musst <strong>und</strong> daheim weder Telefonanschluss<br />
noch Heizung hast, tritt<br />
das Interesse an Tradition schnell<br />
hinter dem Bedürfnis nach besseren<br />
Lebensumständen zurück. Der<br />
Bau großer Wohnhäuser ermöglicht<br />
es dabei viel mehr Menschen, in<br />
den Genuss besserer Lebensqualität<br />
zu kommen, als die kostenintensive<br />
Modernisierung der Hutongs.“ Diese<br />
Aussage traf den w<strong>und</strong>en Punkt<br />
des Dilemmas, das zwischen Tradition<br />
<strong>und</strong> Modernisierung besteht.<br />
Es bleibt zu hoffen, dass die Stadtplaner<br />
in Peking – trotz der nachvollziehbaren<br />
Bemühungen eine<br />
moderne Stadt mit hohen Lebensstandards<br />
für alle zu schaffen – die<br />
Tradition nicht aus den Augen verlieren<br />
<strong>und</strong> die Bewahrung dieser<br />
einmaligen Orte fördern. Denn die<br />
Hutongs stehen nicht nur für unverwechselbare<br />
Architektur, sondern<br />
für eine Lebensart, die einmalig ist<br />
<strong>und</strong> deren Verlust nicht nur einer<br />
Chinas, sondern wohl der ganzen<br />
Menschheit sein würde. Es sei jedem,<br />
der einmal die Chance hat, in<br />
diese w<strong>und</strong>ervolle Stadt zu reisen,<br />
ans Herz gelegt, die Hutongs zu besuchen.<br />
Solange es sie noch gibt.<br />
// 1 //<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Eva Rhode<br />
Drei St<strong>und</strong>en. So lange dauern indische<br />
Filme in der Regel mindestens<br />
– <strong>und</strong> es für die Zuschauer<br />
unmöglich, so lange ohne Toilettenpause<br />
oder die Möglichkeit, Snacks<br />
zu kaufen auszukommen. Aus dieser<br />
Gewohnheit heraus macht man in<br />
Indien auch bei den kürzeren ausländischen<br />
Filmen nach der Hälfte<br />
eine Pause. Die ist auch nötig, um<br />
sich zu beruhigen: Inder gehen ins<br />
Kino, um drei St<strong>und</strong>en lang zu lachen<br />
<strong>und</strong> zu weinen. Emotionen<br />
sind in Bollywood-Produktionen<br />
extrem wichtig <strong>und</strong> nach Verlassen<br />
des Kinos verspürt man nicht selten<br />
einen Katharsis-Effekt.<br />
Gut tausend Bollywood-<br />
Filme <strong>und</strong> 3,6 Milliarden<br />
Tickets jährlich<br />
Laut Businessweek werden jedes<br />
Jahr 3,6 Milliarden Tickets für Bollywood-Vorstellungen<br />
verkauft.<br />
Bollywood ist dabei nur ein Teil<br />
der indischen Filmindustrie, doch<br />
allein dieser produziert mehr als<br />
1000 Filme pro Jahr. Der Begriff Bollywood<br />
ist eine Zusammensetzung<br />
aus Bombay, heutzutage Mumbai<br />
genannt, <strong>und</strong> Hollywood. Und auch<br />
wenn es im Gegensatz zu Hollywood<br />
keinen real existierenden Ort<br />
namens Bollywood gibt, kann man<br />
doch sagen, dass Bombay die inoffizielle<br />
Filmhauptstadt Indiens ist.<br />
Das indische Filmgeschäft existiert<br />
seit über 90 Jahren <strong>und</strong> ist damit<br />
äußerst traditionsreich. Der erste<br />
Stummfilm wurde bereits 1913<br />
produziert <strong>und</strong> die Beliebtheit der<br />
Bollywood-Filme ist heute Generationen<br />
übergreifend hoch. Ganze<br />
Straßenzüge sind mit riesigen<br />
Postern der beliebtesten Schauspieler<br />
<strong>und</strong> den neusten Streifen<br />
geschmückt, die teilweise sogar<br />
handgemalt sind. Trotz der großen<br />
Zahl an ausländischen Filmen, die<br />
in indischen Kinos gezeigt werden,<br />
sind Bollywood-Filme aus dem Pro-<br />
// 20 //<br />
Indiens Filmindustrie<br />
Bollywood, Tanz <strong>und</strong> Schwyzerdütsch<br />
gramm nicht wegzudenken. Dabei<br />
gefällt vor allem den Jugendlichen,<br />
dass die Produzenten <strong>und</strong> Regisseure,<br />
die Filme an ihre Bedürfnisse<br />
<strong>und</strong> Wertvorstellungen angepasst<br />
haben. So tragen die Schauspieler<br />
vermehrt westliche Kleidung an<br />
Stelle der traditionellen indischen<br />
Gewänder. Auch arrangierte Heiraten<br />
verschwinden zunehmend<br />
aus den Filmen <strong>und</strong> werden durch<br />
selbstorganisiertes Kennenlernen<br />
<strong>und</strong> Heiraten ersetzt.<br />
Besonderes Merkmal von Bollywood-Filmen<br />
neben den typischen<br />
Themen, die behandelt werden, sind<br />
die Musik <strong>und</strong> der Tanz. „Ein Gr<strong>und</strong>,<br />
warum Bollywood-Filme immer<br />
noch so beliebt sind, ist sicherlich<br />
auch die Tatsache, dass die Musik<br />
sehr ergreifend ist <strong>und</strong> man darauf<br />
vertrauen kann, dass bestimmte<br />
Themen behandelt werden“, meint<br />
Nayyia. Dabei haben sich jedoch die<br />
Themen im Lauf der Jahrzehnte gewandelt.<br />
In den Siebzigern standen<br />
hauptsächlich politische Themen<br />
wie etwa der Kampf gegen den Kapitalismus<br />
im Vordergr<strong>und</strong>. In den<br />
folgenden zwanzig Jahren wandelten<br />
sich die Filme indes immer<br />
mehr zu Liebesfilmen, wobei in den<br />
Neunzigern verstärkt Elemente aus<br />
Actionfilmen hinzutraten. Aktuell<br />
sind die indischen Traditionen, die<br />
Familie <strong>und</strong> Auswanderung das dominante<br />
Thema der Streifen. Dabei<br />
wird zwar auch Kritik an veralteten<br />
Vorstellungen <strong>und</strong> Traditionen geäußert,<br />
doch im Vordergr<strong>und</strong> stehen<br />
Schicksalsdramatik, Intrigen<br />
<strong>und</strong> natürlich Liebe.<br />
Indische Traditionen,<br />
Tänze <strong>und</strong> Gesang<br />
Die Zuschauer erwarteten dies für<br />
ihr Geld. So muss selbst in „Blockbustern“<br />
wie etwa dem „Kabul-Express“,<br />
der die Geschichte zweier<br />
indischer Reporter erzählte, die<br />
aus Afghanistan über den Krieg<br />
berichten immer auch sehr viel getanzt<br />
<strong>und</strong> gesungen werden. Vor<br />
der Kulisse des kriegszerrütteten<br />
Afghanistans wirkt dies zwar etwas<br />
unpassend, allerdings haben<br />
Kinofilme die nicht reichlich Musik<br />
<strong>und</strong> Tanz beinhalten, in Indien<br />
so gut wie keine Chance habe. In<br />
Indien werden extra Kurse angeboten,<br />
in denen man die Tänze zu ausgewählten<br />
Filmen erlernen kann<br />
– Fans führen sie dann in speziellen<br />
Wettbewerben auf. Songs, die es<br />
zum So<strong>und</strong>track eines populären<br />
Streifens schaffen, haben nahezu<br />
die Garantie, zum Erfolgshit auf<br />
dem Subkontinent zu werden.<br />
Eine Altersfreigabe gibt es im indischen<br />
Kino fast nie. Kinder schauen<br />
sich Bollywood-Filme buchstäblich<br />
schon mit Null Jahren an: Eltern<br />
gehen mit ihren kindern schon von<br />
klein auf in die Filmtheater, Bedenken<br />
gibt es lediglich bei ausländischen.<br />
Aus Sicht konservativer<br />
Eltern vielleicht mit gutem Gr<strong>und</strong>,<br />
denn Sexszenen oder zu viel nackte<br />
Haut, kommen in Bollywood-Filmen<br />
gar nicht vor. Auch Küsse vor<br />
der Kamera sind keine Selbstverständlichkeit.<br />
Bollywood reflektiert die Realität<br />
so wie es Hollywood tut. Manches<br />
ist real <strong>und</strong> manches ist einfach nur<br />
Glanz <strong>und</strong> Glitzer <strong>und</strong> absolute Fiktion.<br />
In manchen Teilen, etwa der<br />
Kleidung oder der Partnerschaft<br />
hat sich die indische <strong>Gesellschaft</strong><br />
an westliche Traditionen angepasst<br />
<strong>und</strong> genau derselbe Prozess findet<br />
auch in der Filmindustrie statt. Allerdings<br />
es ist zum Beispiel Hindi<br />
als Filmsprache immer noch eher<br />
die Regel als die Ausnahme.<br />
Die Filme sind nicht nur in Indien<br />
oder in Pakistan, wo man das dem<br />
Hindi verwandte Urdu spricht, verbreitet,<br />
sondern lassen sich mittlerweile<br />
auch in jedem Land auf<br />
der Welt finden, in das Inder ausgewandert<br />
sind. Von besonderer<br />
Bedeutung sind dabei die Vereinigten<br />
Staaten, das Vereinigte Königreich<br />
sowie die arabischen Emirate.<br />
Daher werden viele der Filme ins
Englische oder Arabische synchronisiert.<br />
Altersfreigaben gibt es<br />
nicht<br />
Ausgerechnet die Schweiz ist Drehort<br />
vieler Bollywood-Filme <strong>und</strong><br />
Thema vieler Bollywood-Songs. Die<br />
Filme haben einen großen Einfluss<br />
auf die indischen Zuschauer <strong>und</strong><br />
viele Marken, die in den Filmen positiv<br />
dargestellt werden, steigen so<br />
auch in der Achtung der Kinobesucher.<br />
Die Schweiz<br />
hat sich so<br />
unter den Indern zu einem sehr begehrten Reiseziel<br />
gemausert. Ob das bedeutet, dass die Filme<br />
demnächst auch ins Schweizerdeutsche synchronisiert<br />
werden <strong>und</strong> sich vielleicht<br />
schweizerische Traditionen, wie etwa<br />
das Käsefondue in Mumbai durchsetzen<br />
werden, wird allerdings<br />
erst die Zeit zeigen.<br />
// 21 //<br />
Welt - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
25<br />
Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />
Flaggen im Osten Europas<br />
// 22 //<br />
26<br />
A Growing Economy for Everyone?<br />
The history of the Russion trade unions movement<br />
29<br />
Die Rote Re-Revolution<br />
Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />
30<br />
Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />
Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />
32<br />
Kurztrips nach Osteuropa<br />
Vier Städte für ein Halleluja<br />
Prag - Stadt der tausend Türme<br />
Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />
Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />
Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen
Europa<br />
Ausgabe 1/2008<br />
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 2 //
Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />
Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />
wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Europas<br />
Betrachtet man die Flaggen der verschiedenen Staaten im östlichen Europa, so springen drei Farben<br />
sofort ins Auge: Rot, Weiß <strong>und</strong> Blau dominieren auf vielen von ihnen in den verschiedensten<br />
Kombinationen <strong>und</strong> Mustern. Von der Tschechischen Republik über die Slowakei, Slowenien <strong>und</strong><br />
Kroatien bis hin zur Russischen Föderation – stets sind es diese so genannten panslawischen Farben,<br />
die das Bild der jeweiligen Flagge prägen. Spätestens seit dem panslawischen Kongress in<br />
Prag von 1848, bei dem Vertreter der verschiedenen slawischen Völker über eine mögliche Vereinigung<br />
debattierten, waren diese Farben als „die slawischen“ anerkannt. Eine tiefere individuelle<br />
Bedeutung kommt jeder der drei Farben aber nicht zu.<br />
Rot – Weiß – Blau<br />
Von Dreiecken <strong>und</strong> Streifen<br />
Auf den meisten Fahnen sind die Farben in drei wagerechten Streifen übereinander angeordnet,<br />
oftmals – aber keineswegs immer – ist der oberste Streifen der weiße (Russland, Slowenien, die<br />
Slowakei). Häufig wird das Nationalwappen in die Fahne integriert – so bei Kroatien, der Slowakei<br />
oder Slowenien. Von diesem Bild hebt sich die tschechische Fahne ein wenig ab: Sie kennzeichnet<br />
vor allem das große blaue Dreieck am Vorliek, dem Teil der Flagge, der dem Fahnenstock, an dem<br />
sie gehisst wird, am nächsten ist. Das Dreieck wurde in die ursprünglich nur rot-weiße Fahne<br />
eingefügt, um sie von der Polens zu unterscheiden. Auf der Fahne treffen sich die panslawischen<br />
Farben mit denen der tschechischen Regionen: So will es der Zufall, dass Blau die Farbe Mährens<br />
ist, während rot <strong>und</strong> weiß traditionell Böhmen repräsentieren.<br />
Ebenfalls eine Sonderstellung unter den panslawisch geprägten Fahnen nimmt die bulgarische<br />
Flagge ein. Auch sie besitzt einen roten <strong>und</strong> einen weißen Streifen, doch der blaue wurde bei<br />
ihr durch einen grünen Streifen ersetzt, um sie von der russischen Trikolore unterscheiden zu<br />
können. Grün wurde dabei gewählt, um die Jugendlichkeit des aufbrechenden Volkes zu symbolisieren.<br />
Grün soll Jugendlichkeit symbolisieren<br />
Eine sehr traditionsreiche Fahne aus dem südosteuropäischen Raum ist die griechische. Neun<br />
blaue <strong>und</strong> weiße Streifen repräsentieren die neun Silben des Rufes aus dem Unabhängigkeitskrieg,<br />
der übersetzt so viel bedeutet wie „Freiheit oder Tod!“. Dabei steht blau für Himmel <strong>und</strong><br />
Meer, während weiß an die Reinheit des griechischen Freiheitskampfes erinnern soll. Das Kreuz<br />
im oberen linken Viertel, einen Bereich der Fahne, den man auch als Gösch bezeichnet, schließlich<br />
repräsentiert das Gottvertrauen des griechischen Volkes.<br />
Anders als die griechische Fahne stammt die Bosnien <strong>und</strong> Herzegowinas aus der jüngeren Vergangenheit:<br />
Sie wurde vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erst 1998 im Rahmen des zur<br />
Unabhängigkeit des Landes führenden Friedensprozesses nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg<br />
vergeben. Kreiert hat sie die so genannte Westendorp-Kommission, die eigens zur Schöpfung einer<br />
neuen Flagge ins Leben gerufen worden war <strong>und</strong> sich aus Mitgliedern aller drei ethnischen<br />
Volksgruppen zusammensetzte – Serben, Kroaten <strong>und</strong> Muslimen. Das gelbe Dreieck vollzieht den<br />
geographischen Umriss des Staatsgebiets nach, während die als unendlich gedachte Kette von<br />
Sternen ebenso wie die Farben von der Fahne der EU stammt. Auf diese Weise soll die Verb<strong>und</strong>enheit<br />
der Region mit dem westlichen Europa zum Ausdruck gebracht werden.<br />
// 2 //<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Zalina Sanova<br />
If we embrace the idea that economic<br />
growth leads to a natural solution<br />
of social issues and matters<br />
connected with the recognition by<br />
people of their rights as a social<br />
group, taxpayers, citizens and simply<br />
human beings, then the gain in<br />
importance of trade unions in the<br />
Russian Federation could serve as<br />
an example for it. One of the most<br />
surprising, yet not so rare questions<br />
that legal practitioners and consultants<br />
face today is how to avoid a<br />
trade union. Is that possible, and<br />
if not, is there anything that could<br />
be done instead? While it is quite<br />
pronounced that a corporation as<br />
an employer would be concerned<br />
about these matters in the face of<br />
the danger of losing the absolute<br />
power over its staff, the “surprising”<br />
part results from the fact that<br />
nowadays employees are interested<br />
in protecting their rights and are<br />
eager to stand up for them. This is<br />
almost unthinkable in a country<br />
where the unemployment rate has<br />
been an issue for decades and employees<br />
have been more interested<br />
in keeping their position than fostering<br />
opportunism with the employer.<br />
However, the famous case of<br />
Ford Motor Company in Leningrad<br />
Oblast (North-Western Russia),<br />
which has been a burning conflict<br />
for years and reached its pinnacle<br />
in causing a nation-wide dispute<br />
this autumn, shows that the trend<br />
goes beyond unity within one company<br />
and we are already facing an<br />
inter-industrial and inter-territorial<br />
unification which puts on alert<br />
most of the international corporations,<br />
especially the “blue-collar”<br />
industries.<br />
Historically, trade unions as officially<br />
recognized organizations date<br />
back to 1905. Before that, they were<br />
prohibited, although they already<br />
existed de facto as <strong>und</strong>ergro<strong>und</strong><br />
unions. On the edge of the new<br />
century a few isolated movements<br />
within the working class started to<br />
// 2 //<br />
A Growing Economy for Everyone?<br />
The history of the Russian trade unions movement<br />
mold into more complex and meaningful<br />
associations. Between 1905<br />
and 1907, the first revolution started<br />
to open regional, inter-industrial<br />
divisions, central union commissions<br />
and bodies with their own<br />
hierarchy. Main requirements of the<br />
time were to limit the working day<br />
to 8 hours per day, a salary increase,<br />
a ban on night and overtime work, a<br />
ban on child labour, improved working<br />
conditions for women, cancellation<br />
of penalties et cetera. Trade<br />
union charters were introduced<br />
and the employers were required to<br />
conclude collective agreements. At<br />
that time, trade unions were expanding<br />
through the corporate level in<br />
contrast to previous unification having<br />
been based on profession.<br />
After the Revolution, trade unions<br />
lost their initial independence and<br />
grew into public mass organizations,<br />
although in the 1920s, trade<br />
unions were still powerful and<br />
could even promote opposing positions<br />
within the party. Basically,<br />
the trade unions at that time were<br />
lobbying for the transfer of certain<br />
social and economic state duties to<br />
their responsibilities. They also de<br />
facto played a major role in social<br />
life at that time, being the meeting<br />
point of the representatives of the<br />
working class for a variety of<br />
issues: trade unions were<br />
an effective means of advancement<br />
of literacy,<br />
distribution of supplies<br />
a n d s o l v i n g<br />
unemployment problems. However,<br />
later on, trade unions became part<br />
of the state mechanism with more<br />
formal functions and standing.<br />
They could not oppose the party<br />
and became mediators between the<br />
employees and, now, the state rather<br />
than capital. By all means, trade<br />
unions at that time were another<br />
effective means of control by the<br />
state, considering that the majority<br />
of the population were members of<br />
the trade unions. They did, however,<br />
preserve all their major functions:<br />
representation, monitoring,<br />
defense. This can partly be attributed<br />
to the fact that trade unions<br />
were distributing social benefits<br />
and were deeply involved in moral<br />
and cultural issues – practically<br />
engaging with the<br />
employees‘ organization of<br />
their free time and planning<br />
leisure and entertainment<br />
activities.<br />
Over the time this function<br />
won over the real<br />
significance of trade<br />
unions against<br />
the overall ceasing<br />
activity of<br />
trade unions<br />
as the employees‘representative<br />
bodies and lack<br />
of enthusiasm by<br />
the people in a<br />
country where<br />
too much enthusiasm
and activity could draw unwanted<br />
interest. However, just as in any<br />
other country with a history of trade<br />
unions, they still could be used<br />
as spring-board for a career, in its<br />
twisted meaning back then.<br />
This tendency became particularly<br />
prominent in the period of stagnation<br />
of Soviet economy, which<br />
lead to a crisis of trade unions in<br />
the Soviet Union. After the abolition<br />
of the requirement that<br />
workers had to be members<br />
of a trade union, there was<br />
a mass deflux of employees<br />
from the organizations who<br />
did not see any sense in being<br />
part of a practically useless<br />
mechanism.<br />
The collapse of the Soviet<br />
Union triggered a renaissance<br />
of the trade union<br />
mo- vements in other<br />
post-communist<br />
countries,<br />
whereas in<br />
R u s s i a ,<br />
p e o p l e<br />
w e r e<br />
d i s -<br />
a p -<br />
pointed from the existing institutions.<br />
The fissure became obvious<br />
in the beginning of the 20th century<br />
when the existing trade unions<br />
abandoned their mentees and chose<br />
to follow the state course. That<br />
period was characterized by strikes<br />
throughout the country, the closing<br />
of factories and plants, a massive<br />
unemployment rate and non-payment<br />
of salaries and, as a result,<br />
dissolution of most trade unions.<br />
Employers create Pocket<br />
Trade Unions<br />
The current government has changed<br />
the outlook on the problem<br />
and, starting from 2000, a concept<br />
of social partnership is being implemented.<br />
Although nowadays, trade<br />
unions backed up by the state and<br />
trade unions of the new wave that<br />
have been expressing more activity<br />
coexist, the overall tendency has<br />
been met with open ears. Thus,<br />
trade unions began to concern<br />
employers.<br />
To answer the question posed in<br />
the very beginning: no, there is<br />
no way one can legally<br />
prevent a trade union.<br />
However, most<br />
of the em-<br />
// 27 //<br />
ployers following the advice of<br />
their consultants take the bull by<br />
the horns and actually initiate trade<br />
unions themselves, in an attempt to<br />
build so-called “pocket trade unions”<br />
which would be loyal to the<br />
employer. It is not an illegal practice<br />
and the employers acknowledge<br />
the fact that they cannot prevent<br />
such a pocket trade union from<br />
growing into a real power. There<br />
have been issues with employers<br />
who may sometimes try to impose<br />
so-called “yellow-dog” contracts<br />
on their employees. However, due<br />
to the absolute invalidity of such<br />
agreements, these practices have<br />
ceased over time. The legal base<br />
nowadays is not only is capable of<br />
protecting trade unions and their<br />
members, but is in fact meant to encourage<br />
the above mentioned social<br />
partnership. Taking into account<br />
the antagonism between state and<br />
alternative trade unions, he process<br />
does not develop smoothly, but the<br />
overall tendency shows that this<br />
question will not vanish from agenda<br />
for long time.<br />
The right of formation of trade unions,<br />
their establishment to protect<br />
everyone’s interests, is formalized<br />
in Article 30 of the Constitution of<br />
the Russian Federation. According<br />
to article 2 of the Federal law as of<br />
J a n u a r y 12, 1996 No 10-FZ<br />
“On pro- fessional unions,<br />
t h e i r rights and guarantees<br />
of their activity”<br />
( l a s t amended in<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
25/07/2002) – a trade union (or a<br />
professional union, using the exact<br />
Russian expression) is a voluntary<br />
public union of citizens connected<br />
by common industrial or professional<br />
interests due to their occupation,<br />
and is established in order to<br />
represent and protect their social<br />
labour rights and interests.<br />
A high number of rejections<br />
for formal reasons<br />
Anyone who has reached the age<br />
of 14 and is carrying out labour is<br />
entitled to create a trade union,<br />
including citizens of the Russian<br />
Federation, foreign citizens and<br />
individuals without citizenship.<br />
For establishing a trade union, one<br />
must hold a fo<strong>und</strong>ing meeting (conference,<br />
general assembly) with no<br />
less than three participants aged<br />
over 14 and carrying out labour.<br />
The fo<strong>und</strong>ers must adopt three resolutions:<br />
on the establishment of<br />
a trade union, on the approval of<br />
its Charter (By-Laws) and on the<br />
appointment of its governing and<br />
controlling revising bodies. By a<br />
territorial principle the unions can<br />
operate as nation-wide associations<br />
of trade unions, inter-regional associations<br />
and territorial associations<br />
of trade union organizations. The<br />
state is not entitled to influence the<br />
trade unions and they are meant to<br />
be absolutely independent, being<br />
suject only to the provisions of<br />
their charters. A trade union is not<br />
required to be registered. If trade<br />
unions need to acquire the rights<br />
of legal entities, they can be registered<br />
with the state authorities in a<br />
declarative manner. In practice, this<br />
means that if a trade union wants<br />
to open its own bank account and<br />
manage the membership contributions,<br />
it will need to be registered as<br />
an initial trade union organization<br />
– a voluntary union of members<br />
of a trade union working in one<br />
company (corporation or organization)<br />
– territorial organization of<br />
a trade union – voluntary union of<br />
members of the initial trade unions<br />
which is active on the territory of<br />
region, city, one or several subjects<br />
of Russian Federation.<br />
There is a curious ambiguity, howe-<br />
// 28 //<br />
ver, that despite the declarative nature<br />
of registration by law, the initial<br />
trade union organization must be<br />
registered within one month from<br />
the date of the general meeting. As<br />
practice shows, there is a great number<br />
of rejections by the authorities<br />
for formal reasons. Registration of<br />
initial trade union organizations is<br />
carried out by territorial bodies of<br />
the Federal Registration Authority<br />
at the location of its executive body;<br />
registration of nation-wide and international<br />
unions – is carried out<br />
by the Federal Registration Authority<br />
jurisdictional to the Ministry of<br />
Justice of Russian Federation.<br />
Reviewing the functional meaning<br />
of trade unions one must mention<br />
the most valuable aspects such as<br />
A) Collective agreements provide<br />
additional rights, obligations and<br />
guarantees of the parties beyond<br />
the scope of the law;<br />
B) Labour disputes. According to<br />
the law, a company that has a trade<br />
union must also establish a labour<br />
disputes commission. In case<br />
of any discrepancies or discontent<br />
of the employees, they are entitled<br />
to make claims to the commission<br />
which must take all actions possible<br />
to resolve the conflict. This also<br />
applies to the obligation of an employer<br />
to receive information from<br />
the trade union for any act of dismissal.<br />
C) Lobbying. Lobbying has always<br />
been one of the main functions of<br />
trade unions throughout the world,<br />
but only since Russia has reached a<br />
certain economic level this has become<br />
a meaningful goal. Taking, for<br />
example, the North-Western region<br />
of Russia, particularly the Leningrad<br />
Oblast aro<strong>und</strong> St. Petersburg:<br />
this district has been chosen by numerous<br />
international companies as<br />
the site for their production plants.<br />
Ford, Toyota, Merloni, Nokian Tyres<br />
and more have come to build<br />
production plants. This has been<br />
provided for by the investment<br />
attraction policy implemented by<br />
the government of the district. And<br />
together with the development of<br />
the district, the new investors suddenly<br />
faced the problem of lack of<br />
workforce. Basically, the plants are<br />
in competition for the “blue-collar”<br />
workers located in the area and<br />
only few of them have active trade<br />
unions. However, this is enough to<br />
put pressure on the employers of<br />
the district.<br />
The Ford case<br />
Ford is the most renowned case<br />
– their employees started a famous<br />
campaign and have been on strike<br />
for better salaries and conditions<br />
for several years. The management<br />
of the company could only submit<br />
to that, which in turn raises the<br />
average salary for the same kind<br />
of work throughout the area. Immediately<br />
after salary increases by<br />
Ford, the employees of neighboring<br />
plants made claims for higher<br />
compensation packages and where<br />
the employer hesitated they not<br />
just went on strike but just left and<br />
went directly to another neighboring<br />
company which is already<br />
eager to accept their workforce at<br />
a higher price. The unemployment<br />
rate in this district is aro<strong>und</strong> 0,5-<br />
0,6% of the population and those<br />
left are just not capable of working.<br />
Of course, this development does<br />
not mean that the Ford trade union<br />
receives everything it demands<br />
without obstacles. Their last strike<br />
held in November 2007 has been<br />
evaluated to mean a $3-6 mln loss<br />
for every day of strike for Ford, and<br />
the company raised a claim which<br />
was affirmed by the court on the<br />
gro<strong>und</strong>s of violation of strike announcement<br />
procedures. The union<br />
has already filed appeal.<br />
This is the most discussed example<br />
of trade union action in Russia.<br />
However, such cases emerge more<br />
frequently with the overall development<br />
of the industrial sector<br />
and the explicit lack of workforce in<br />
the country. Thus, trade unions appear<br />
in the scope of interest of legal<br />
specialists that build new teams to<br />
conduct research on this issue, and<br />
look for possible solutions for their<br />
clients.
Die Rote Re-Revolution<br />
Russlands Machtsicherung im Bereich der Energieversorgung<br />
Ein Kommentar von Benedikt<br />
Jasper<br />
Russland fühlt sich schwach. Seit<br />
Leica <strong>und</strong> Sputnik hat es keine nennenswerten<br />
Erfolge mehr verzeichnen<br />
können <strong>und</strong> dann folgten auch<br />
noch der Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
<strong>und</strong> die nüchterne Botschaft,<br />
dass sich Russland nun nicht<br />
mehr mit der halben Welt, sondern<br />
nur noch mit Tschetschenien <strong>und</strong><br />
Weißrussland herumärgern darf.<br />
Um seinen Anspruch als Weltmacht<br />
nicht gänzlich einbüßen zu müssen,<br />
hat das Land jedoch noch drei Asse<br />
im Ärmel, die ihre Bedeutung insbesondere<br />
im Zusammenhang mit<br />
Putins Präsidentschaft erhalten:<br />
Den Status als Atommacht, die Mitgliedschaft<br />
im UN-Sicherheitsrat<br />
sowie seine Energiepolitik. Letztere<br />
verdankt ihr Gewicht Russlands reichen<br />
Erdöl- <strong>und</strong> Gasvorkommen.<br />
Besondere Aufmerksamkeit wird<br />
dabei dem früheren Geschäftsbereich<br />
des Ministeriums für Gasförder-<br />
<strong>und</strong> Gastransportindustrie für<br />
Erdöl- <strong>und</strong> Gaswirtschaft<br />
der UdSSR,<br />
der heutigen Ak-<br />
tiengesellschaft<br />
Gazprom gewidmet.<br />
Gazprom ist das<br />
weltgrößte Erdgasförderunternehmen<br />
<strong>und</strong> mit Unterstützung<br />
der russischen Regierung<br />
auf Beutezug in Europa. In Erinnerung<br />
geblieben sind die Gasstreits<br />
mit der Ukraine <strong>und</strong> mit Weißrussland.<br />
Das kurzfristige Abstellen der<br />
Gaslieferungen an die Ukraine 2005<br />
darf als Schuss vor den Bug oder<br />
kleine Machtdemonstration verstanden<br />
werden, der aufgezwungene<br />
Deal mit Weißrussland 2006,<br />
den Gaspreis nur gering zu erhöhen<br />
<strong>und</strong> dabei 50 % Anteile am weißrussischen<br />
Erdgas-Verteilersystem an<br />
Gazprom abzugeben, wohl als klare<br />
Intention:<br />
„Go West!“<br />
Stichwort Renationalisierung<br />
Nicht völlig zu Unrecht befürchten<br />
also Experten wie der auf Wirtschaftskriminalität<br />
spezialisierte<br />
Publizist Jürgen Roth eine weitere<br />
Expansion in die einheimischen Energiebranchen<br />
durch das russische<br />
Unternehmen. Offiziell agiert Gazprom<br />
zwar als f r e i e s<br />
marktwirt- schaftl<br />
i c h e s U n t e r -<br />
n e h - m e n ,<br />
jedoch schimm<br />
e r t u n t e r<br />
d e m n e u e n<br />
Anstrich s c h o n<br />
wieder die alte<br />
F a r b e h i n -<br />
durch. D a s<br />
S t i c h -<br />
w o r t<br />
heißt<br />
Renationalisierung,<br />
besonders bei<br />
den Unternehmen Rosneft<br />
<strong>und</strong> Gazptom. Rosneft, ein<br />
staatlicher Ölkonzern, kaufte nach<br />
dem (auch nach stalinistischen<br />
Maßstäben) perfekt inszenierten<br />
Steuerhinterziehungsverfahren gegen<br />
den Ölproduzenten Jukos <strong>und</strong><br />
dessen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden<br />
Michail Chodorkowski<br />
(der immer noch in Sibirien in Haft<br />
sitzt!) das Unternehmen auf <strong>und</strong> ist<br />
somit größter (staatlicher) Ölpro-<br />
// 2 //<br />
duzent. Um den Kreis zu schließen,<br />
kaufte Rosneft mehr als 50 % der<br />
Gazprom-Anteile. Zwar scheint die<br />
Metamorphose der Reintegration<br />
in das Staatsgefüge unter einem<br />
Deckmantel abzulaufen, doch hält<br />
die russische Föderation über alle<br />
Zwischenverbindungen schon jetzt<br />
wieder Anteile an 40 % der russlandweiten<br />
Gesamtförderung an<br />
Erdöl <strong>und</strong> Erdgas.<br />
Langfristig will Gazprom<br />
die Energiepreise bestimmen<br />
Dies, gekoppelt an eine immense<br />
Marktkapitalisierung, soll zu einer<br />
Beteiligung an Energieversorgern<br />
in Mittel- <strong>und</strong> Westeuropa führen,<br />
um langfristig ein Preisdiktat ausüben<br />
zu können. Vorboten dieser<br />
Entwicklung sind erste Fußballverein-Sponsorenverträge.<br />
Zudem weigert sich Russland bisher<br />
ziemlich erfolgreich, die Europäische<br />
Energiecharta zu ratifizieren,<br />
welche ausländischen Unternehmen<br />
einen größeren unternehmerischen<br />
Spielraum einräumen<br />
würde <strong>und</strong> Wettbewerb<br />
s c h a f f e n<br />
könnte.<br />
Hin <strong>und</strong><br />
w i e d e r<br />
werden<br />
K o o p e -<br />
rationen<br />
wie bei der<br />
Ostseepipeline<br />
oder bei der Beteiligung an<br />
Erdgasfeldern geschlossen, doch<br />
sind sich die Funktionäre um Putin<br />
einig, dass niemand einen bestimmenden<br />
Einfluss an diesem strategisch<br />
wichtigen Sektor gewinnen<br />
soll.<br />
Auf dem Weg zurück zur alten<br />
Machtstellung kann diese russische<br />
Energiepolitik für Europa eine verheerende<br />
Rolle spielen. Abzuwarten<br />
bleibt, ob dann auch der letzte<br />
deutsche (Ex-)<strong>Politik</strong>er deren Intentionen<br />
erkennt.<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Die letzte europäische Diktatur<br />
grenzt nach den jüngsten Erweiterungen<br />
direkt an die Europäische<br />
Union. Nun beginnt sich Widerstand<br />
gegen die <strong>und</strong>emokratische <strong>Politik</strong><br />
des Alleinherrschers Lukaschenka<br />
zu regen <strong>und</strong> die EU tut nichts.<br />
Dabei könnten schon symbolische<br />
Maßnahmen dem unterdrückten<br />
Volk helfen, sich zu befreien<br />
Von Daniel Schneider<br />
Vorneweg eine gute Nachricht: Die<br />
Demokratie ist auf dem Vormarsch<br />
in Europa. Gab es 1939 vor Ausbruch<br />
des zweiten Weltkrieges kaum 14<br />
Staaten unseres Kontinents, die<br />
sich eines demokratischen Systems<br />
berühmen konnten, so waren es<br />
1960 bereits 19 Länder <strong>und</strong> Mitte<br />
der 1980er Jahre 23. Heute,<br />
nachdem sich<br />
der ehemalige<br />
Ostblock<br />
überwiegend<br />
demokratisiert<br />
<strong>und</strong> sich manche<br />
Staaten vereinigt<br />
<strong>und</strong> andere<br />
getrennt haben,<br />
gibt es derer schon<br />
42 – eine Zahl, die<br />
fast mit der Anzahl<br />
an Staaten in Europa<br />
übereinstimmt. Fast.<br />
Ein autoritär-diktatorisch<br />
geführtes Land<br />
widersetzt sich dem Sie- geszug<br />
des demokratischen Systems:<br />
Weißrussland. Ein unfreies freies<br />
Land, von oben herab regiert durch<br />
die harte Hand des Präsidenten Aljaksandr<br />
Lukaschenka. Zwar gibt<br />
es ein Parlament, die Repräsentantenkammer,<br />
die alle vier Jahre neu<br />
gewählt wird, doch nach Angaben<br />
der Organisation für Sicherheit <strong>und</strong><br />
Zusammenarbeit in Europa OSZE<br />
fanden die letzten freien Wahlen<br />
im Jahre 1995 statt. Seitdem wurde<br />
zweimal ein Parlament gewählt,<br />
in den Jahren 2000 <strong>und</strong> 2004, doch<br />
// 0 //<br />
Nachbarschaftshilfe für Weißrussland<br />
Höchste Zeit, demokratische Verantwortung zu übernehmen<br />
beide Male entfielen knapp 90 %<br />
der Mandate auf Lukaschenkatreue<br />
so genannte „Unabhängige“,<br />
denen allerdings lediglich eine<br />
Statistenrolle in der One-Man-<br />
Show des Aljaksandr Lukaschenka<br />
zukommt. Sogar hierzulande waren<br />
Fernsehausschnitte von einer<br />
bezeichnenden Szene aus der Repräsentantenkammer<br />
zu sehen:<br />
Der Ges<strong>und</strong>heitsminister muss auf<br />
Geheiß des Präsidenten im Parlament<br />
erscheinen. Dort lässt ihn der<br />
Präsident aufstehen <strong>und</strong> erteilt ihm<br />
in einem minutenlangen Wutanfall<br />
öffentlich unter wüsten Beschimpfungen<br />
eine Rüge – <strong>und</strong> der Minister<br />
lässt die Attacke demütig über<br />
sich ergehen.<br />
Ein<br />
Geheimdienst<br />
namens KGB…<br />
So ergeht es ganz Weißrussland.<br />
Widerstand wird kaum geduldet,<br />
politische Gegner müssen mit Repressalien<br />
rechnen. Wo sich die Opposition<br />
formiert <strong>und</strong> sogar, wie bei<br />
den Präsidentschaftswahlen 2006<br />
mit Aljaksandr Milinkewitsch einen<br />
einigermaßen aussichtsreichen<br />
Kandidaten ins Rennen schicken<br />
kann, bedient sich die Regierung<br />
unverblümt der Wahlfälschung.<br />
Nach offiziellen Zahlen, die nicht<br />
nur von der Opposition als Farce<br />
bezeichnet wurden, erhielt der po-<br />
puläre Oppositionsführer gerade<br />
einmal um die 6 % der abgegebenen<br />
Stimmen. Überlegener Sieger: Aljaksandr<br />
Lukanschenka mit 82,6 %<br />
der Stimmen. Und das, obwohl der<br />
Präsident nach der Verfassung eigentlich<br />
gar nicht für eine weitere<br />
Amtszeit hätte kandidieren dürfen.<br />
Auch Pressefreiheit ist ein Fremdwort<br />
in Weißrussland. Die staatlich<br />
finanzierten Medien haben es sich<br />
zur Hauptaufgabe gemacht, den<br />
Personenkult um Lukaschenka zu<br />
fördern. Ihnen liegt nichts ferner<br />
als Kritik am herrschenden System.<br />
Private unabhängige <strong>und</strong> dem<br />
Präsidenten unliebsame Zeitungen<br />
werden durch den Staat am Vertrieb<br />
gehindert oder durch fingierte Prozesse<br />
juristisch drangsaliert. In Erinnerung<br />
geblieben ist insbesondere<br />
das Verfahren gegen die Zeitung<br />
Nascha Niwa (zu deutsch „Unsere<br />
Flur“) im Jahre 1998, als man dem<br />
als oppositionell geltenden Blatt<br />
die Benutzung einer nicht zugelassenen<br />
weißrussischen Rechtsschreibung<br />
vorwarf.<br />
…ein roter Stern im<br />
Wappen…<br />
Präsident Lukaschenka ist<br />
bereits seit 1994 im Amt,<br />
<strong>und</strong> ihm ist, so scheint es,<br />
jedes Mittel recht, damit das auch<br />
so bleibt. In Weißrussland hat sich<br />
überhaupt wenig geändert, seit es<br />
die Sowjetunion nicht mehr gibt,<br />
Teil derer Weißrussland einst als<br />
Unionsrepublik mit dem Namen<br />
Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik<br />
war. Das Land führt seit<br />
Mitte der 1990er Jahre auf Geheiß<br />
Lukaschenkas wieder den roten<br />
kommunistischen Stern im Staatswappen,<br />
der Geheimdienst heißt<br />
noch wie Sowjetzeiten KGB <strong>und</strong> von<br />
Marktwirtschaft ist weit <strong>und</strong> breit<br />
nichts zu sehen. Planwirtschaft<br />
heißt die Maxime, <strong>und</strong> darunter<br />
leidet Weißrusslands Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> mit ihr die Menschen. Die wirtschaftliche<br />
Leistungsfähigkeit sank<br />
nach 1990 vom ohnehin tiefen Ni-
veau noch einmal kräftig. Erst zu Beginn<br />
des neuen Jahrtausends konnte<br />
sich die weißrussische Wirtschaft<br />
im Schlepptau der boomenden<br />
Weltwirtschaft soweit erholen, dass<br />
sie wieder die Produktivität des Jahres<br />
1990 erreichte. Das Wohlstandsniveau<br />
bleibt jedoch bescheiden:<br />
Der Human Development Index der<br />
Vereinten Nationen, Maßstab für<br />
den Stand der menschlichen Entwicklung<br />
in den Ländern der Welt,<br />
sah Weißrussland im Mittelfeld an<br />
67. Stelle von 177 Ländern– hinter<br />
Polen, den Bahamas <strong>und</strong> Mexiko<br />
ebenso wie hin- t e r<br />
Kuba, Tonga <strong>und</strong><br />
Russland. Vor<br />
allem verglichen<br />
mit den übrigen<br />
europäischen<br />
Staaten stellt<br />
der Human<br />
Development<br />
Index der RegierungLuk<br />
a s c h e n k a<br />
ein Armutszeugnis<br />
aus.<br />
Weißrussland<br />
steht<br />
an 35. Stelle<br />
von 40 untersuchten<br />
europäischen Staaten, trotz seiner<br />
geo-strategisch günstigen Lage im<br />
Zentrum Osteuropas. Nur Albanien,<br />
die Ukraine, Kasachstan, die<br />
Türkei <strong>und</strong> Moldawien stehen noch<br />
schlechter da. Würde es seine Stellung<br />
als Transitland zwischen Russland<br />
<strong>und</strong> West- <strong>und</strong> Mitteleuropa<br />
besser nutzen – das Land könnte<br />
florieren. Doch solange sich die politischen<br />
<strong>und</strong> sozialen Strukturen<br />
nicht ändern, werden die Menschen<br />
weiter leiden, zusätzlich gebeutelt<br />
von dem Erbe der Tschernobyl-Katastrophe.<br />
Die ereignete sich zwar<br />
in der Ukraine, doch so nahe an<br />
heute weißrussischem Territorium,<br />
dass durch östliche Luftströmungen<br />
in jenen Tagen von 1986 vor allem<br />
Weißrussen ges<strong>und</strong>heitliche Schäden<br />
davon trugen. Die Folgen sind<br />
noch heute vor allem im Südosten<br />
des Landes spürbar. Ganze Landstriche<br />
sind unbewohnbar oder zumindest<br />
für die Landwirtschaft nicht<br />
nutzbar, ganz zu schweigen von<br />
vielen Krebs- <strong>und</strong> Schilddrüsenerkrankungen,<br />
die einhergehen mit<br />
einer latent hohen Selbstmordrate.<br />
Verständlich, dass dies private Investoren<br />
kaum anlocken kann. Auch<br />
die Bürger Weißrusslands scheinen<br />
verschreckt: Über sechs Prozent Bevölkerungsrückgang<br />
seit 1990 sprechen<br />
eine deutliche Sprache.<br />
…weder Opposition noch<br />
freie Presse…<br />
Und doch mehren sich in der jüngeren<br />
Vergangenheit Zeichen, die Anlass<br />
zur Hoffnung geben. Als 2004 in<br />
der Ukraine die Orange Revolution<br />
mehr Demokratie versprach, erwarteten<br />
viele Menschen<br />
eine Wiederholung<br />
dieser Ereignisse in Weißrussland -<br />
<strong>und</strong> wurden bisher enttäuscht. Auch<br />
die gefälschte Präsidentschaftswahl<br />
im vergangenen Jahr vermochte es<br />
nicht, die Massen aufzurütteln <strong>und</strong><br />
zum Sturz des Präsidenten zu motivieren.<br />
Doch trotzdem regt sich verstärkt<br />
öffentlich geäußerter Unmut.<br />
In jener Wahlnacht kam es erstmals<br />
seit Jahren zu umfangreicheren<br />
Demonstrationen in der Hauptstadt<br />
Minsk gegen das despotische<br />
Regime. Auch wenn der Druck auf<br />
den Präsidenten noch nicht stark<br />
genug war um ihn zur Aufgabe zu<br />
bewegen, so wird er doch verstärkt<br />
mit Protesten zu rechnen haben. Es<br />
mag in nicht allzu ferner Zukunft<br />
der Tag kommen, an dem er sich<br />
der öffentlichen Meinung beugen<br />
muss.<br />
Dazu sollte aber auch die so genannte<br />
westliche Welt, insbesondere<br />
die Europäische Union, ihren<br />
Beitrag leisten. Mit der Osterweite-<br />
// 1 //<br />
rung 2004 haben sich ihre Grenzen<br />
bis an die Weißrusslands verschoben,<br />
so dass auch ein vitales Eigeninteresse<br />
der Union an politisch<br />
stabilen Verhältnissen dort besteht.<br />
Bislang jedoch konzentrieren die<br />
politischen Führer der Union ihre<br />
Aufmerksamkeit auf die Regime im<br />
Irak oder Iran, in Afghanistan oder<br />
im Kongo, schließlich zuletzt in Myanmar,<br />
während man den Diktator<br />
Lukaschenka in seinem Vorgarten<br />
duldet, als genüge er ohne weiteres<br />
den „westlichen“ Ansprüchen an<br />
Demokratie. Dass Russland noch<br />
immer seine schützende Hand über<br />
den „kleinen Bruder“ Weißrussland<br />
hält, mag insoweit als Erklärung<br />
taugen – ein guter Gr<strong>und</strong> ist<br />
es nicht. Es mangelt aber nicht nur<br />
an politischen Sanktionen, sondern<br />
auch an solchen im sozialen <strong>und</strong><br />
kulturellen Bereich.<br />
…<strong>und</strong> allein gelassen von<br />
Europa.<br />
Warum ist es weißrussischen Sportlern<br />
erlaubt, in der Qualifikation<br />
zur UEFA-Fußball-Europameisterschaft<br />
oder bei olympischen Spielen<br />
anzutreten? Weshalb dürfen Stars<br />
wie Ex-Tischtennis-Europameister<br />
<strong>und</strong> Vize-Weltmeister Wladimir<br />
Samsonow ungehindert an internationalen<br />
Turnieren teilnehmen – in<br />
Europa <strong>und</strong> anderswo? Weißrussland<br />
<strong>und</strong> seine Athleten könnten<br />
von sportlichen Wettbewerben<br />
insgesamt ausgeschlossen werden,<br />
wie es einst Südafrika zu Zeiten der<br />
Apartheid erging. Diese Beispiele<br />
verdeutlichen, dass Europa falsche<br />
Zeichen setzt, anstatt klar Position<br />
zu beziehen, um der Bevölkerung<br />
Weißrusslands wenigstens symbolisch<br />
Mut zu machen.<br />
Das demokratische System war im<br />
vergangenen halben Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
Garant für politische, wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> auch militärische Stabilität<br />
sowie die Entwicklung <strong>und</strong> den<br />
Wohlstands unseres Kontinents. Diese<br />
Erfolgsgeschichte muss Gr<strong>und</strong><br />
genug für die EU sein, selbstbewusster<br />
dafür einzutreten, dass die<br />
europäische Demokratie auch diese<br />
letzte Hürde nimmt.<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Martin Hejma<br />
Prag wird gelegentlich als das Wien<br />
Osteuropas bezeichnet. Durchaus<br />
ein Lob – für Wien. In Wahrheit<br />
fühlt man sich eher wie in Rom:<br />
Eine Stadt mit Charakter. Eine Stadt<br />
mit Charme. Und billigen Kneipen.<br />
In der Hauptstadt Tschechiens wird<br />
noch jeder zum Romantiker. Einzige<br />
Bedingung ist die Fähigkeit,<br />
die große Menge an Touristen <strong>und</strong><br />
Kitsch ausblenden zu können. Dann<br />
aber ist ein Bummel mehr als ein<br />
Genuss, es ist ein Gedicht: Mit der<br />
Straßenbahn zur Prager Burg, wo<br />
unter der St.-Veits-Dom oder das<br />
Goldene Gäschen zu sehen sind.<br />
Über den Hradschiner Platz kommt<br />
man dann zur Burgrampe, wo einen<br />
// 2 //<br />
Kurztrips nach Osteuropa<br />
Vier Städte für ein Halleluja!<br />
Nicht nur <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Wirtschaft, auch unsere Urlaubsziele werden erfasst von der Globalisierung. Nicht genug damit,<br />
dass man mittlerweile zu Taxi Preisen quer durch unseren Kontinent fliegen kann, auch neue Gegenden bieten sich an<br />
besucht zu werden. Wir sind vier der Einladungen gefolgt<br />
Prag - Stadt der tausend Türme<br />
Ein Spaziergang durch die goldene Hauptstadt Tschechiens<br />
der schönste Blick über die ganze<br />
Stadt mit ihren tausend Türmen<br />
erwartet. Schafft man es aber doch,<br />
sich loszureißen, schlendert man<br />
die immense Burgtreppe hinunter,<br />
vorbei an der Nikolauskirche <strong>und</strong><br />
am Kleinseitner Ringplatz von wo<br />
aus man zur Karlsbrücke kommt.<br />
Ein Geheimtipp ist die Kampa-Insel<br />
in der Moldau. Hier entfaltet die alte<br />
Dame Prag endgültig ihr ganz eigenes<br />
Flair. Von hier sollte man noch<br />
den Weg durch die Altstadt-Gassen<br />
zum Altstädter Ring finden <strong>und</strong> die<br />
Astronomische Uhr am Altstädter<br />
Rathaus mit ihrem Glockenspiel bew<strong>und</strong>ern.<br />
Zuletzt geht es zum Ende<br />
des Königswegs durch die Celetna-<br />
Gasse hin zum Pulverturm.<br />
Prag steht in Tschechien im Zentrum<br />
des medialen <strong>und</strong> des allgemeinen<br />
Interesses. Und es steht<br />
damit für eine bewegte Vergangenheit:<br />
Orte wie der Zaun der<br />
Deutschen Botschaft, über den<br />
sich 1989 H<strong>und</strong>erte DDR-Bürger<br />
auf westliches Hoheitsgebiet retteten,<br />
der Wenzelsplatz, auf den im<br />
Prager Frühling 1968 sowjetische<br />
Panzer rollten, aber auch Orte wie<br />
alte ursprüngliche Straßenbahnen.<br />
Überall hier kann man ihn noch<br />
riechen, den Duft des eisernen Vorhangs.<br />
Das neue Tschechien macht<br />
sich dagegen fein für den Westen,<br />
bleibt aber tschechisch im besten<br />
Sinn: Frauen tragen Röcke, Ältere<br />
werden geschätzt, das Aufstehen in<br />
allen Bussen <strong>und</strong> Straßenbahnen ist<br />
für Jüngere selbstverständlich - <strong>und</strong><br />
die Sprache, slawisch hart <strong>und</strong> doch<br />
voller Verniedlichungen, verzaubert.<br />
Das postkommunistische Tsche-
chien mag innerlich noch dabei<br />
sein sich (wieder) an die Marktwirtschaft<br />
zu gewöhnen. Eine unzuverlässige<br />
politische Klasse voller<br />
komplizierter Machtbündnisse,<br />
strukturelle wirtschaftliche Probleme<br />
<strong>und</strong> marktwirtschaftliche<br />
Von Lukas Inhoffen<br />
Während das Interesse westeuropäischer<br />
Bildungsreisender an<br />
den Metropolen Osteuropas stetig<br />
steigt, ist auch das entstanden,<br />
was ein zahlungskräftiges, vor<br />
allem aber junges Publikum während<br />
der Sommermonate sucht:<br />
ein Idyll für Partytouristen. Bis vor<br />
wenigen Jahren galt der Osten Bulgariens<br />
dieser Zielgruppe eher als<br />
Geheimtipp, der den spanischen<br />
Partyhochburgen Mallorca <strong>und</strong><br />
Lloret de Mar nur allmählich das<br />
Wasser zu reichen vermochte. Heute<br />
säumen in Slantschew Brjag, zu<br />
deutsch „Sonnenstrand“, mehr als<br />
500 Hotels den r<strong>und</strong> acht Kilometer<br />
langen Sandstrand am Schwarzen<br />
Meer, den die feierlaunigen<br />
Nachwuchstouristen meist jedoch<br />
erst im Laufe des Nachmittages in<br />
entspannter Urlaubslangsamkeit<br />
füllen. Familien oder ältere Urlauber<br />
sucht man vergeblich. Ohnehin<br />
wird Slantschew Brjag dem Erholungsanspruch<br />
durchschnittlicher<br />
Urlauber wohl allein seiner künstlichen<br />
Wirkung wegen nicht gerecht<br />
werden können. Denn eigentlich ist<br />
Slantschew Brjag nicht mehr als ein<br />
Enttäuschungen führen auch zu einer<br />
gewissen Popularität der Kommunisten<br />
(18, 5 % bei den letzten<br />
Parlamentswahlen). Die Millionenmetropole<br />
an der Moldau aber ist so<br />
freudig weltoffen wie nur eine Stadt<br />
sein kann. Und deswegen fühlt man<br />
Slantschew Brjag - Stadt der fünfh<strong>und</strong>ert Hotels<br />
Feiern für den Fuhrpark<br />
Strandabschnitt, den solvente Hotelmagnaten<br />
zubetoniert <strong>und</strong> mithilfe<br />
von Autoschranken <strong>und</strong> Kontrollposten<br />
eingezäunt haben, um<br />
es mit dem Ziel einer scheinbaren<br />
Exklusivität von der verarmten<br />
Umgebung abzuschotten. Innerhalb<br />
dieses Partybiotops dominieren neben<br />
Restaurants vor allem Bars <strong>und</strong><br />
Discotheken das Bild. Sie sind das<br />
Ziel der für durchtanzte Nächte gekommenen<br />
Gäste, die nach der allabendlichen<br />
Schließung der hoteleigenen<br />
Bars bis weit in den Morgen<br />
hinein dort verweilen.<br />
Trotz aller Bemühungen vermag<br />
weder Urlaubsatmosphäre noch Alkoholkonsum<br />
über die Armut hinwegtäuschen.<br />
So findet sich etwa<br />
ein traurig dreinblickender Junge,<br />
dem die Folgen der Verwahrlosung<br />
in seinem noch jungen Leben ins<br />
Gesicht geschrieben stehen, sitzt<br />
am Wegesrand. Er spielt auf einem<br />
viel zu großen Akkordeon, vor ihm<br />
ein kleiner Bettelbecher, dazwischen<br />
junge <strong>und</strong> ältere Frauen, die<br />
in gebrochenem Englisch lauthals<br />
Liebesdienste zum Hungerlohn anpreisen.<br />
Eine makabere Szenerie,<br />
die beweist, dass die einheimische<br />
Bevölkerung wie so oft wenig bis gar<br />
nicht vom immensen Tourismusgeschäft<br />
profitiert. Ohnehin klären<br />
// //<br />
sich in jeder tschechischen Kneipe<br />
wie zu Hause, wenn man „Knedlovepro-zelo“,<br />
Schweinebraten mit<br />
Knödeln <strong>und</strong> Kraut“ bestellt.<br />
Wien, Rom, Paris, Berlin? Nein,<br />
Prag!<br />
Hotelangestellte ganz unverhohlen<br />
über die mafiösen Machtverhältnisse<br />
auf: Wenige Hotelmanager<br />
schieben sich die Karten gegenseitig<br />
zu, teilen den gesamten Einfluss<br />
unter sich auf <strong>und</strong> präsentieren ihn<br />
in Form eines viele deutsche Luxuskarossen<br />
umfassenden Fuhrparks<br />
vor den Hoteleingängen.<br />
Trotzdem werden die wenigsten<br />
Partyurlauber diesen offenk<strong>und</strong>ig<br />
faden Beigeschmack mit in ihre<br />
Heimat nehmen, da wohl niemand<br />
den Zweck eines solchen Urlaubs<br />
in der Auseinandersetzung mit sozialen<br />
Problematiken sieht. Denn<br />
nicht zuletzt ist es gerade dieser<br />
Umstand, der die einst enorm günstigen<br />
Preise für Getränke <strong>und</strong> Verpflegung<br />
außerhalb der Hotelanlagen,<br />
in denen die Unterbringung<br />
ohne zusätzliche Extras mitunter<br />
für wenige Euro zu haben ist, ermöglichte.<br />
Gut daran ist, dass diese<br />
inszenierte touristische Enklave des<br />
Wohlstands das bietet, wonach ein<br />
zahlungskräftiges Publikum, das<br />
seine Erfahrungen hoffentlich nicht<br />
als Ausschnitt des bulgarischen Alltags<br />
versteht, auf der Suche ist. Besser<br />
wäre es, wenn davon alle in <strong>und</strong><br />
um Slantschew Brjag profitierten.<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
von Konstantin Kleine<br />
Golden glänzend steht er da, ein<br />
Symbol, das Mittelalter <strong>und</strong> Aufklärung<br />
überdauert hat. Der Pokal ist<br />
immer noch die Zierde des Senatsraums<br />
der Jagiellonen-Universität.<br />
Sonnenlicht fällt durch bleiverglaste<br />
Fenster. Die Jagiellonen-Universität<br />
ist eine der ältesten Mitteleuropas.<br />
Heute besuchen 40 000 Studenten<br />
diese Universität, insgesamt sind<br />
es 160 000 Studenten in Krakau. Das<br />
prägt das Stadtbild.<br />
Krakau liegt im Südosten Polens<br />
am Ufer der Weichsel. Der Legende<br />
nach wurde der heutige Schlosshügel<br />
zunächst von einem Drachen bewohnt,<br />
bis jener vom Fürsten Krak<br />
besiegt wurde <strong>und</strong> auf dem Hügel<br />
die Stadt Krakau gegründet wurde.<br />
Nicht aus dem Reich der Fabel: die<br />
Krakauer Gegend ist seit mehr als<br />
20 000 Jahren besiedelt, der Salzabbau<br />
um Krakau begann bereits in<br />
prähistorischer Zeit.<br />
Draußen, in den Gassen der Altstadt,<br />
begegnen einem viele junge Menschen.<br />
Ein Tipp: Die allerorten feilgebotenen<br />
Krakauer Kringel - der<br />
Urahn des Bagels. Wem der Imbiss<br />
auf die Hand nicht ausreicht, findet<br />
r<strong>und</strong> um den Rynek Główny, dem<br />
Hauptmarkt, Cafés, Restaurants,<br />
Bars <strong>und</strong> über 200 Kellerkneipen.<br />
In der Sonne ist es manchmal auch<br />
Ende September noch warm.<br />
An der Grenze zwischen See- <strong>und</strong><br />
Kontinentalklima hängt das Wetter<br />
in Krakau stark von der vorherrschenden<br />
Windrichtung ab. Weht<br />
der Wind von Russland her aus Osten,<br />
kann es auch im Herbst schon<br />
bitterkalt werden. Handschuhe <strong>und</strong><br />
Mütze nicht vergessen!<br />
Vom Wawel aus kann man die ganze<br />
Stadt überblicken. Die Burg wurde<br />
1000 Jahre lang wieder <strong>und</strong> wieder<br />
umgebaut, erweitert, verbessert,<br />
dem Zeitgeist angepasst. Der Mix<br />
aus Romantik, Gotik, Renaissance,<br />
Barock, Rokoko, Klassizismus <strong>und</strong><br />
Jugendstilelementen lässt die Frage<br />
// //<br />
Krakau - Stadt der sechsh<strong>und</strong>ert Kneipen<br />
Ein Spaziergang durch die alte Hauptstadt Polens<br />
nach der Bauepoche des jeweiligen<br />
Seitenschiffs der Burgkathedrale<br />
zu einem kurzweiligen Ratespiel<br />
werden. In den staatlichen Kunstsammlungen<br />
im Inneren ist alles<br />
von Waffen bis Wandteppichen zu<br />
bestaunen.<br />
Seit 1038, bis ins 16. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
war Krakau die Hauptstadt Polens.<br />
Nikolaus Kopernikus <strong>und</strong> Karol<br />
Wojtyła, Erzbischof von Krakau <strong>und</strong><br />
Papst Johannes Paul II., haben in<br />
Krakau studiert. Krakau, besonders<br />
der Stadtteil Nowa Huta, war einer<br />
der Brennpunkte der Solidarność-<br />
Bewegung. Krakau war <strong>und</strong> ist ein<br />
Zentrum von Kultur, Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> <strong>Politik</strong>. Die heimliche Hauptstadt<br />
Polens.<br />
Wenn man durch die Gassen des<br />
Stadtteils Kasimierz schlendert,<br />
hat man sofort das Titelthema von<br />
Schindlers Liste im Ohr. Gedreht<br />
wurde der Film zu großen Teilen<br />
im ehemals jüdischen Viertel. Seiner<br />
tragischen Vergangenheit zum<br />
Trotz ist es heute das Szeneviertel<br />
Krakaus. Ein lauer Spätsommerabend<br />
im Biergarten neben dem jüdischen<br />
Kulturzentrum lässt einen<br />
erahnen, warum. Man stößt sich<br />
den Kopf an knorrigen, uralten<br />
Obstbäumen <strong>und</strong> bestellt einfach<br />
„Piwo“ – es gibt nur eine Sorte Bier<br />
– Żywiec.<br />
Im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand Kazimierz<br />
als selbstständige Stadt.<br />
Nach Pogromen in Krakau siedelten<br />
ab dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend<br />
Juden in Kazimierz. Hiervon<br />
zeugen heute mehrere Synagogen<br />
<strong>und</strong> jüdische Friedhöfe. Seit 1867<br />
gehört Kazimierz zu Krakau. Unter<br />
deutscher Besatzung verlor fast die<br />
gesamte Bevölkerung ihr Leben,<br />
Kazimierz verfiel. Seit dem Fall des<br />
Kommunismus saniert, ist es heute<br />
ein Hauptanziehungspunkt für<br />
Stadtbesucher.<br />
Krakau ist eine Stadt für sonnige<br />
Tage - kein Problem, die Sonne<br />
scheint in der drittgrößten polnischen<br />
Stadt oft genug!
Kischinau - Stadt der dutzenden Attraktionen<br />
Die vielen Seiten der vom Tourismus unentdeckten Hauptstadt Moldawiens<br />
von Felix Jaeger<br />
Chişinău (Kischinau) ist die Hauptstadt<br />
Moldawiens, eines EU-Anrainerstaates<br />
mit knapp 4,5 Millionen<br />
Einwohnern <strong>und</strong> doch so unbekannt<br />
wie ein französisches Dorf.<br />
Dabei ist Chişinău eine der grünsten<br />
Städte Europas <strong>und</strong> mehr als<br />
nur eine Reise wert. In der warmen<br />
Jahreszeit etwa bietet ein Sonntagsspaziergang<br />
inklusive Bootsfahrt<br />
auf dem Stadtsee im „parcul la izvor“<br />
die Erholung, die nach einer<br />
durchfeierten Nacht in Discos wie<br />
dem „City“ oder „Military Club“ nötig<br />
ist. Der Charme dieser Metropole<br />
zeigt sich indes besonders an der<br />
imposanten Hauptkathedrale hinter<br />
dem Triumphbogen am breiten<br />
Boulevard Stefans des Großen oder<br />
auf dem großen Zentralmarkt wo<br />
von Obst, Gemüse, Fleisch <strong>und</strong> einheimischen<br />
Gerichten wie Pelmeni<br />
(russische Tortellini) über Kleider<br />
<strong>und</strong> Hygieneartikeln bis zu kleinen<br />
Haushaltsgegenständen wirklich alles<br />
verkauft wird. Ebenso lohnt sich<br />
ein Besuch des Staatstheaters, insbesondere<br />
wenn man das Glück hat,<br />
bei günstigen Eintrittspreisen das<br />
beeindruckende russische Staatsballet<br />
aus St. Petersburg zu sehen.<br />
Als die größten ihrer Art sind die<br />
nicht weit entfernten Weinkatakomben<br />
in Cricova eine weitere<br />
ganz besondere Attraktion. Um<br />
sich in Moldawien fortzubewegen<br />
benutzt man Busse oder Minibusse,<br />
so genannte Maxi-Taxis, was auch<br />
passender ist. Nicht schlecht staunt<br />
man, wenn man auf dem Fahrplan<br />
des Chişinăuer Busbahnhofs das<br />
Schild Chişinău – Flensburg“ liest.<br />
Auf einer Fläche die ungefähr dem<br />
Hauptbahnhof in Hamburg entspricht,<br />
herrscht dort großes Treiben;<br />
umherlaufende Händler verkaufen<br />
Eis, Zeitungen oder sogar<br />
Plastiktüten.<br />
Wenn man einen von ihnen auf rumänisch<br />
nach dem Weg fragt, kann<br />
es passieren, dass er auf russisch<br />
antwortet. Moldawien war früher<br />
rumänisch, wurde aber in der Sowjetzeit<br />
russifiziert, weshalb viele<br />
Bewohner Chişinăus zweisprachig<br />
aufgewachsen sind. Im Gegensatz<br />
zu russisch ist rumänisch keine slawische<br />
Sprache, sondern eine romanische<br />
<strong>und</strong> dem italienischen sehr<br />
ähnlich. In Moldawien gibt es ferner<br />
ukrainische <strong>und</strong> turkstämmige<br />
Minderheiten, die ihre Sprache<br />
sprechen. Dieser kulturelle Reichtum<br />
hilft jedoch über Moldawiens<br />
Situation als „Armenhaus Europas“<br />
nicht hinweg. Die oft abenteuerliche<br />
Flucht vieler Arbeitsuchender<br />
ins Ausland hat dazu geführt, dass<br />
vor allem nicht-erwerbsfähige zurückgeblieben<br />
sind, unter ihnen<br />
viele Kinder. Zurückhaltende Schätzungen<br />
besagen, dass sich mehr als<br />
10% der moldawischen Staatsbürger<br />
im Ausland befinden <strong>und</strong> Umfragen<br />
ergeben, dass 62% der Bürger für<br />
eine Zeit oder für immer das Land<br />
verlassen würden. Die Moldawier<br />
sind sich ihrer Situation bewusst<br />
<strong>und</strong> in den letzten Jahren hat sich<br />
bereits vieles verändert.<br />
// //<br />
Ein großes Problem bereitet jedoch<br />
der im moldawischen Staatsgebiet<br />
liegende, international nicht<br />
anerkannte Staat Transnistrien.<br />
Von dort hat sich ein Teil der Sovjetarmee<br />
nach der Unabhängigkeitserklärung<br />
Moldawiens 1991<br />
nicht entfernt <strong>und</strong> einen Bürgerkrieg<br />
angestiftet, der seit 1993 ruht.<br />
Transnistrien wurde mir gegenüber<br />
einmal als „Land der W<strong>und</strong>er“ bezeichnet:<br />
Es gibt dort noch einen<br />
sozialistischen Diktator, eine eigene<br />
Währung, eine Post mit eigenen<br />
Briefmarken <strong>und</strong> Reisepässe – nichts<br />
davon ist im restlichen Moldawien<br />
oder im Ausland brauchbar.<br />
Wie auch aus anderen Regionen<br />
Osteuropas bekannt, ist die Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />
in Moldawien überwältigend.<br />
In der transnistrischen<br />
Stadt Bender habe ich mit Pflaumenschnaps<br />
auf das Leben „ so wie<br />
die Äpfel <strong>und</strong> Birnen im Frühling“<br />
angestoßen, in Chişinău wurde ich<br />
von der Witwe eines auf jiddisch<br />
schreibenden Schriftstellers zum<br />
Essen mit Mitgliedern der wieder<br />
gewachsenen jüdischen Gemeinde<br />
eingeladen. Im Gegensatz zum Wissen<br />
der Deutschen über Moldawien<br />
ist das Wissen der Moldawier umgekehrt<br />
beeindruckend. Auch kennt<br />
fast jeder jemanden, der schon zum<br />
Arbeiten nach Deutschland gekommen<br />
ist. So ist es im Gegensatz das<br />
Mindeste wenigstens von der Existenz<br />
Chişinăus, der Hauptstadt von<br />
Moldawien, Kenntnis genommen<br />
zu haben.<br />
Europa - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
39<br />
Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />
Flaggen im Osten Deutschlands<br />
// //<br />
40<br />
Interview mit Wolfgang Neskovic<br />
„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische Demokratie“<br />
44<br />
Eine deutsche Steuer<br />
Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />
46<br />
Die Stadt der Zukunft<br />
Vier Fragen and Wolfgang Tiefensee<br />
48<br />
Asylbewerber in Deutschland<br />
Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?
Deutschland<br />
Ausgabe 1/2008<br />
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 8 //
Von Adlern <strong>und</strong> Bären<br />
Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />
Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />
wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Deutschlands<br />
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre1990 kamen im Osten fünf neue B<strong>und</strong>esländer<br />
zur B<strong>und</strong>esrepublik hinzu, <strong>und</strong> natürlich erhielt jedes seine eigene Flagge. Da manche der Länder<br />
zwar als Institution eine große Tradition aufwiesen (vor allem Sachsen, aber auch Thüringen <strong>und</strong><br />
Anhalt) <strong>und</strong> sogar zum Teil schon zu Zeiten des Kaiserreichs existierten, aber geographisch die<br />
Landesgebiete 1990 völlig neu zugeordnet wurden, erhielten alle fünf Länder eine neue Flagge,<br />
auch wenn Farben <strong>und</strong> Motive teilweise bis auf das Mittelalter zurückzuführen sind.<br />
Brandenburg kann auf eine große Tradition zurückblicken. Schließlich war es das Kernland <strong>und</strong><br />
ist das Überbleibsel des einst größten deutschen Landes Preußen. Auch wenn die Alliierten 1947<br />
Preußen als „Träger des Militarismus <strong>und</strong> der Reaktion in Deutschland“ zum Mitschuldigen an<br />
beiden Weltkriegen erklärt <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong> Preußen aufgelöst haben, so ist man sich in<br />
Brandenburg seiner Vergangenheit bewusst. Folglich wählte man den preußischen Adler zum<br />
Wappentier <strong>und</strong> als Hintergr<strong>und</strong> einen roten <strong>und</strong> einen weißen Streifen. Beide Farben waren<br />
in Brandenburg sogar schon vor der Entstehung Preußens in Gebrauch <strong>und</strong> stammen aus dem<br />
zwölften Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Die neuen B<strong>und</strong>esländer erhielten 1990 alle neue Flaggen<br />
Nicht so eindeutig ist das Erbe Mecklenburg-Vorpommerns, aus dem man 1990 eine neue Landesdienstflagge<br />
zusammenstellte. Das B<strong>und</strong>esland vereinigt das früher von der Hanse geprägte<br />
im Westen liegende Mecklenburg mit dem in der B<strong>und</strong>esrepublik verbliebenen Rumpf desjenigen<br />
Landes, das einst riesige Flächen im heutigen Polen bedeckte: Pommern. Diese zwei Elemente<br />
sollen auch in der Fahne zum Ausdruck kommen. Blau <strong>und</strong> Weiß sind die traditionellen Farben<br />
Pommerns, während Gelb <strong>und</strong> Rot Mecklenburg kennzeichnen. Rot <strong>und</strong> Weiß wiederum sind alte<br />
Farben der Hanse. Die Farben haben auch noch symbolische Bedeutung: Blau steht für Meer <strong>und</strong><br />
Himmel, Gelb für Kornfelder <strong>und</strong> Rot für Backsteine, das Material, aus dem traditionellerweise<br />
viele Häuser in der Region errichtet werden. Der Stier (für Mecklenburg) <strong>und</strong> der Greif (für Vorpommern)<br />
schließlich sind altbekannte Embleme, die als Wappentiere schon seit langem in Gebrauch<br />
sind.<br />
Sonderstatus Berlin<br />
Einen Sonderstatus nimmt Berlin ein: Eigentlich ist es kein „neues“ B<strong>und</strong>esland, denn West-Berlin<br />
war mit einigen Einschränkungen schon seit 1949 Teil der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> deren elftes B<strong>und</strong>esland.<br />
Dennoch wollen wir Berlin in diese Betrachtung mit aufnehmen, da das Land 1990 erheblich<br />
an Fläche hinzugewann, indem man ihm den ehemaligen Sowjetischen Sektor der Stadt <strong>und</strong><br />
damit das Gebiet Ostberlins einverleibte. An seiner Flagge hat sich dadurch nichts geändert, <strong>und</strong><br />
bei ihr handelt es sich wahrscheinlich um die bekannteste der neuen Länder: Zwei wagerechte<br />
rote Streifen am oberen beziehungsweise unteren Ende der Fahne flankieren eine weiße Fläche,<br />
auf der leicht versetzt zum Fahnenstock hin ein Bär zu sehen ist, der in die gleiche Richtung zu<br />
paradieren scheint. Weniger bekannt ist, dass der Bär schon im Mittelalter tatsächlich als Wortspiel<br />
mit dem Namen der Stadt gewählt wurde, <strong>und</strong> dass er zunächst große Mühe hatte, im Kampf<br />
mit dem traditionellen Wappentier Preußens zu bestehen – dem Adler. Gerade weil sich in dieser<br />
Frage aber das preußische Element nicht durchsetzen konnte, wollte man bei der Schaffung der<br />
Fahne im Jahre 1911 Berlins Stellung als Herz <strong>und</strong> Kapitale Preußens ebenso wie seine Verb<strong>und</strong>enheit<br />
mit dessen Kernprovinz Brandenburg auf andere Weise betonen. Daher entschied man sich,<br />
die brandenburgischen Farben rot <strong>und</strong> weiß auch auf der Berliner Landesfahne zu verwenden.<br />
// //<br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
SPD-Mitglied, Grüner, jetzt parteilos<br />
für Die Linke im B<strong>und</strong>estag. Jurastudium<br />
in Hamburg, Richter am<br />
Landgericht Lübeck, Lehrauftrag<br />
an der Universität Hamburg, BGH-<br />
Richter.<br />
Wolfgang Nešković‘ Karriere ist steil<br />
<strong>und</strong> ungewöhnlich. Bekannt wurde<br />
der Jurist, Jahrgang 1948, durch ein<br />
Aufsehen erregendes Urteil zur Legalisierung<br />
von Cannabis, dem Urteil<br />
zu den so genannten „geringen<br />
Mengen“ von 1994.<br />
Derzeit ist er stellvertretender Vorsitzender<br />
des Rechtsausschusses des<br />
deutschen B<strong>und</strong>estages <strong>und</strong> Mitglied<br />
des parlamentarischen Kontrollgremiums<br />
zur Überwachung<br />
der deutschen Nachrichtendienste.<br />
Anlässlich seines Vortrages an der<br />
Bucerius Law School hat die <strong>Politik</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> mit ihm über <strong>Politik</strong>,<br />
Ideale <strong>und</strong> sein Leben gesprochen.<br />
Das Interview führten Lukas Mezger<br />
<strong>und</strong> Konstantin Kleine<br />
P&G: Herr Nešković, einige meinen, der<br />
Wortlaut eines Gesetzes gibt in Wirklichkeit<br />
höchstens Hinweise für die<br />
Rechtsfindung, letztlich aber entscheiden<br />
vor allem oberste Gerichte nach<br />
ihrem Gerechtigkeitsempfinden im Einzelfall.<br />
Wie ist da Ihre Einschätzung?<br />
Wolfgang Nešković: Im Kern treffen<br />
Richter bei der Auslegung des<br />
Rechtes <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Wertungsentscheidungen auch<br />
Willensentscheidungen. Das sehen<br />
Sie etwa an den unterschiedlichen<br />
Urteilen zur Rechtschreibreform.<br />
Schon Goethe sagte ja im Faust: „Im<br />
Auslegen seid frisch <strong>und</strong> munter!<br />
Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“<br />
Ein weiter Spielraum bei der<br />
Auslegung wäre auch überhaupt<br />
kein Problem, wenn eine Pluralität<br />
unter der Richterschaft für den<br />
// 0 //<br />
Interview mit Wolfgang Neškovic<br />
„Der Fraktionszwang tötet die parlamentarische<br />
Demokratie“<br />
nötigen Ausgleich im Gesamtbild<br />
sorgen würde. An dieser Pluralität<br />
fehlt es aber mit Blick auf die soziale<br />
Herkunft der Richter. Obwohl sie<br />
ihre Urteile im Namen des Volkes<br />
sprechen, repräsentieren sie in ihren<br />
Wertehorizonten nicht dessen<br />
Gesamtspektrum, sondern nur einen<br />
Ausschnitt der Bevölkerung.<br />
P&G: Wie war die Umstellung von Ihrer<br />
Arbeit als oberster B<strong>und</strong>esrichter zum<br />
Oppositionspolitiker im B<strong>und</strong>estag?<br />
Nešković: Sehr gewöhnungsbedürftig.<br />
Man tauscht die Akten gegen<br />
Menschen ein. Die am B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />
gewohnte Tiefe <strong>und</strong> Breite<br />
des intellektuellen Diskurses hat<br />
am B<strong>und</strong>estag Seltenheitswert. Das<br />
vermisse ich schon. Am B<strong>und</strong>estag<br />
ist oft mehr die Empathie als der Intellekt<br />
gefragt. Das kann man aber<br />
auch gut finden. Es ist die Nähe zu<br />
den Menschen, nicht zuletzt auch<br />
zu meinen klugen <strong>und</strong> engagierten<br />
Mitarbeitern, die mir viel bedeutet.<br />
„Man tauscht die Akten<br />
gegen Menschen ein“<br />
P&G: Sie sind über die Brandenburger<br />
Landesliste der Linkspartei in den B<strong>und</strong>estag<br />
eingezogen. Wie haben Sie sich<br />
Ihren Wahlkreis ausgesucht?<br />
Nešković: Ursprünglich sollte es<br />
für mich gar keinen Wahlkreis geben.<br />
Dann bot man mir wahlweise<br />
Potsdam oder Cottbus an. Für<br />
Potsdam sprach zunächst viel; die<br />
Stadt liegt vor der Haustür Berlins<br />
<strong>und</strong> sie ist die Landeshauptstadt<br />
Brandenburgs. Ein kluger Landesvorsitzender<br />
hatte dann aber interveniert.<br />
Er verdeutlichte mir, dass<br />
es in Cottbus in Der Linken viele<br />
junge Leute mit reichlich Elan <strong>und</strong><br />
einem Bedarf nach Erfahrung gibt.<br />
Auch die politischen Aufgaben, die<br />
sich mit Cottbus verbinden, waren<br />
verlockend. Cottbus ist praktisch<br />
die Gerichtshauptstadt Branden-<br />
burgs. Dort erwartete mich zudem<br />
– wegen des Vattenfall-Sitzes – die<br />
spannende Energiepolitik. Auch leben<br />
in Cottbus viele Sorben, deren<br />
Rechte als kulturelle Minderheit<br />
mir (auch wegen meiner eigenen<br />
Herkunft) ein Anliegen sind. Zudem<br />
bietet die Region eine kulturell<br />
vielfältige Szene <strong>und</strong> viele soziale<br />
Brennpunkte.<br />
Ich entschied mich also für Cottbus<br />
<strong>und</strong> bin sehr froh über meine Entscheidung.<br />
Das liegt vor allem an<br />
den Menschen der Stadt. Die Cottbuser<br />
gehen mit den Härten der<br />
Wiedervereinigung bemerkenswert<br />
wesensstark um. Das kann man<br />
schlecht erzählen, man muss es erleben.<br />
P&G: Welche Fähigkeiten brauchen Sie<br />
als B<strong>und</strong>estagsabgeordneter, die Sie in<br />
Ihrem Richteramt nicht so stark benötigt<br />
haben?<br />
Nešković: Wenn man die Frage auf<br />
den BGH begrenzt, dann geht es im<br />
B<strong>und</strong>estag wohl vermehrt um Kommunikationsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> Empathie.<br />
Darum ging es jedoch auch in<br />
den Jahren, in denen ich als Richter<br />
in der Tatsacheninstanz tätig war.<br />
Als Abgeordneter müssen Sie komprimieren<br />
können. Es fehlt Ihnen<br />
oft die Zeit zu langem Nachdenken.<br />
Dann kommt es darauf an zu improvisieren<br />
<strong>und</strong> für die Improvisation<br />
auch den nötigen politischen Mut<br />
aufzubringen.<br />
P&G: Inwiefern hilft Ihnen Ihr juristisches<br />
Wissen trotzdem bei Ihrem<br />
Arbeitsalltag?<br />
Nešković: Es hilft mir sehr. Im<br />
Rechtsausschuss sitzen im Regelfall<br />
zwei Vertretern meiner Fraktion<br />
jeweils elf Rechtspolitiker der SPD<br />
<strong>und</strong> der CDU/CSU gegenüber. Wenn<br />
Sie für dieses Zahlenverhältnis die<br />
Fülle der Vorgänge bedenken <strong>und</strong><br />
auch den Umstand, dass man in der<br />
Koalition auf die Bearbeitungen der
Ministerien zurückgreifen kann,<br />
dann schadet es nicht, wenn Sie als<br />
Oppositionsabgeordneter ein umfangreiches<br />
juristisches Wissen bereits<br />
mitbringen.<br />
„Im B<strong>und</strong>estag ist Kommunikationsfähigkeit<br />
<strong>und</strong><br />
Empathie gefragt“<br />
P&G: <strong>Politik</strong>er müssen täglich Stellung<br />
beziehen - im B<strong>und</strong>estag gibt es sehrhäufig<br />
Abstimmungen zu sehr verschiedenen<br />
Themen: Wie oft vertrauen<br />
Sie anderen (etwa Fraktionen) <strong>und</strong> wie<br />
stark kann man es leisten, sich selbst<br />
eine Meinung zu bilden? Wie eignen Sie<br />
sich das für Ihre Arbeit nötige Fachwissen<br />
an?<br />
Nešković: Der Rechtsausschuss ist<br />
bei fast allen Gesetzesvorhaben<br />
beteiligt <strong>und</strong> in sehr vielen Fällen<br />
federführend. Wenn man in einer<br />
Woche dreißig bis vierzig Vorlagen<br />
bedenken <strong>und</strong> beraten will, dann ist<br />
man gezwungen, sich auch auf die<br />
Kenntnisse <strong>und</strong> Meinungen anderer<br />
zu verlassen. Ich tue das, wenn<br />
auch nicht gerade begeistert. Ich<br />
habe hervorragende Mitarbeiter,<br />
die mich informieren <strong>und</strong> auch zu<br />
tiefschürfenden Nachfragen meist<br />
eine Antwort haben oder doch<br />
schnell entwickeln können. Für sie<br />
<strong>und</strong> mich verläuft die Aneignung<br />
von Fachwissen über die Konsumtion<br />
von unglaublich viel Papier-<br />
<strong>und</strong> Bildschirmtexten.<br />
P&G: Sie haben die deutsche Parteienlandschaft<br />
aus verschiedenen Blickwinkeln<br />
kennen gelernt - wie stehen Sie zu<br />
Fraktionszwang <strong>und</strong> parteiinternem<br />
Diskurs?<br />
Nešković: Der Fraktionszwang tötet<br />
die parlamentarische Demokratie.<br />
Wertvolles Diskurspotential geht<br />
// 1 //<br />
durch ihn verloren. So etabliert<br />
sich gerade in der Großen Koalition<br />
die Herrschaft der Wenigen für die<br />
Wenigen. Als Oppositionspolitiker<br />
weiß man natürlich, dass man keine<br />
gesetzgeberischen Entscheidungen<br />
treffen kann, weil es dafür an den<br />
nötigen Mehrheiten fehlt. Damit<br />
kann man schon leben. Schlimmer<br />
aber ist es für die Abgeordneten der<br />
Koalitionsparteien. Sie müssen regelmäßig<br />
die Illusion pflegen, dass<br />
sie Einfluss auf die Gesetzgebung<br />
nehmen könnten. Dabei verfügen<br />
sie über einen solchen Einfluss<br />
nicht. Sie beschließen lediglich, was<br />
das Küchenkabinett der Kanzlerin<br />
beschließt. Wozu der B<strong>und</strong>estag<br />
überhaupt fähig wäre, kann er so<br />
nicht unter Beweis stellen.<br />
„Die Große Koalition ist<br />
eine Herrschaft der Wenigen<br />
für die Wenigen“<br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
P&G: Wie unabhängig ist man als parteiloser<br />
Fraktionssprecher der Linken?<br />
Nešković: Man ist immer so unabhängig,<br />
wie man es erstrebt. Ich<br />
bin bisher noch nie unter Frak-<br />
tionszwang gestellt worden. Das ist<br />
nicht üblich. Wichtig ist uns, dass<br />
die abweichende Meinung vorher<br />
in der Fraktionssitzung mitgeteilt<br />
wird. Die Linke ist insgesamt in<br />
der Meinungsbildung signifikant<br />
toleranter als andere Fraktionen.<br />
Die Pluralität an Meinungen ist erwünscht<br />
<strong>und</strong> der Umgang damit<br />
souverän. Ich fühle mich sehr frei<br />
in meiner Fraktion.<br />
P&G: Wo sehen Sie die Kernaufgaben<br />
der deutschen Geheimdienste?<br />
Nešković: Die Kernaufgabe liegt natürlich<br />
in der Informationsbeschaffung<br />
als Gr<strong>und</strong>lage für politische<br />
Entscheidungen. Für den BND als<br />
Auslandsnachrichtendienst geht<br />
es darum, Informationen für die<br />
Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik zu<br />
gewinnen. Der Verfassungsschutz<br />
ist angehalten, Informationen zum<br />
Schutz der Verfassung zu besorgen.<br />
Thematisch hat die Terrorismusbekämpfung<br />
- zumindest in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung - einen<br />
unverhältnismäßig hohen Stellenwert<br />
angenommen. Das Risiko, von<br />
einem Laster vor der eigenen Haustür<br />
überfahren zu werden, ist wesentlich<br />
größer, als die Gefahr, Opfer<br />
eines terroristischen Anschlages<br />
zu werden. Hier wird viel Hysterie<br />
<strong>und</strong> Problembehauptung betrieben,<br />
die mit den erfragten Kernaufgaben<br />
der Geheimdienste wenig zu<br />
tun haben.<br />
P&G: Sie sind unter anderem wegen<br />
Joschka Fischers Zustimmung zum Kosovokrieg<br />
aus der Partei der Grünen<br />
ausgetreten. Wie gehen Sie mit dem<br />
Zwiespalt zwischen Idealismus <strong>und</strong> Realpolitik<br />
um?<br />
Nešković: Gar nicht. Für mich gibt<br />
es nur <strong>Politik</strong>, die sich an idealen<br />
Werten orientieren muss. Diejenigen,<br />
die stets vom Primat des Machbaren<br />
reden, weigern sich damit,<br />
das machbar zu machen, was ihren<br />
Werten entspricht. Wenn sie Recht<br />
hätten, würden wir noch immer<br />
// 2 //<br />
im gesellschaftlichen Zustand der<br />
Sklaverei verharren.<br />
Es ist natürlich notwendig, die Möglichkeiten<br />
auszuloten, die dem Ideal<br />
den Boden bereiten können. Wer<br />
so verfährt, ist Idealist <strong>und</strong> Realist<br />
in einem. Es ist aber völlig falsch,<br />
dem Ideal den Boden zu entziehen,<br />
indem man – im Gr<strong>und</strong>e dankbar –<br />
auf die mangelnden Möglichkeiten<br />
verweist. Wer so verfährt, ist ein<br />
politischer Feigling.<br />
„Kriege sind das Versagen<br />
der <strong>Politik</strong> mit anderen<br />
Mitteln“<br />
P&G: Sie stimmen regelmäßig gegen<br />
Auslandseinsätze der B<strong>und</strong>eswehr. Wie<br />
stehen Sie zur Verantwortung Deutschlands<br />
im Zusammenhang mit internationalen<br />
Konflikten?<br />
Nešković: Das ist ein schwieriges<br />
Thema. Eine geeignete Antwort<br />
müsste Seiten füllen. Ich will es<br />
aber relativ kurz versuchen.<br />
Zunächst einmal besteht Deutschlands<br />
Verantwortung vorrangig<br />
darin, im Inland für das Wohl der<br />
Menschen zu sorgen.<br />
Was unsere Verantwortung nach<br />
außen betrifft, so gibt es hier viel<br />
Selbstbetrug <strong>und</strong> auch Heuchelei.<br />
Kriege sind das Versagen der <strong>Politik</strong><br />
mit anderen Mitteln. Konflikte<br />
haben Ursachen. Viele der heutigen<br />
Konflikte reichen zurück bis<br />
zu den Verbrechen der westlichen<br />
Kolonialpolitik; andere Konflikte<br />
sind weiterwirkende Spannungen<br />
auf den alten Nebenschauplätzen<br />
des Kalten Krieges. Die allermeisten<br />
Konflikte haben zudem eine<br />
tiefere Ursache in einer blockierten<br />
gesellschaftlichen Entwicklung, für<br />
die der Westen eine erhebliche Mitverantwortung<br />
trägt. Wer etwa einer<br />
schmalen Oberschicht in einem<br />
früh-feudalen Regime Diamanten<br />
oder Öl abkauft, der kann sich<br />
nicht darüber w<strong>und</strong>ern, dass dort<br />
die Demokratie nicht vorankommt<br />
<strong>und</strong> soziale Missstände regelmäßig<br />
Kriege entfachen.<br />
Unsere Außenpolitik sollte also<br />
zu allererst darin bestehen, den<br />
Menschen in anderen Staaten eine<br />
Chance für wirtschaftliche Entwick-
lung <strong>und</strong> allgemeine Prosperität zu<br />
ermöglichen. Tatsächlich aber tun<br />
wir das nur im ganz geringen Maße,<br />
während wir in viel höherem Maße<br />
unsere außenwirtschaftlichen Egoismen<br />
<strong>und</strong> die unserer so genannten<br />
Bündnispartner verfolgen. Wir<br />
tun das oft genug zulasten der Entwicklungschancen<br />
anderer.<br />
Was unsere Auslandeinsätze angeht,<br />
möchte ich also zusammenfassen:<br />
Es überzeugt mich nicht, ständig<br />
die teure Feuerwehr zu schicken,<br />
wenn man stattdessen mit den dafür<br />
aufgewandten finanziellen Mitteln<br />
wirkungsvoll gegen die Brandursachen<br />
vorgehen könnte.<br />
P&G: Der Linken wird oft vorgeworfen,<br />
das Gedankengut der SED weiterzutragen.<br />
Nešković: Der Vorwurf ist reine<br />
Demagogie. Für diesen Vorwurf<br />
gibt es keine ernst zu nehmenden<br />
Belege. Vielmehr wird mit solch<br />
haltlosen Unterstellungen versucht,<br />
dem Engagement der Linken<br />
für soziale Gerechtigkeit den moralischen<br />
Boden zu entziehen.<br />
„Staatliche Fürsorge ist<br />
die Gr<strong>und</strong>lage für die Ermöglichung<br />
von Freiheit“<br />
P&G: Wie würden Sie heute die SED in<br />
wenigen Worten beschreiben?<br />
Nešković: Auch hier sind „wenige<br />
Worte“ eine hohe Hürde für das Bemühen<br />
um Richtigkeit.<br />
Es gibt heute eine Reihe von Überlegungen,<br />
wonach zum Beispiel<br />
der „real existierende Sozialismus“<br />
eigentlich staatskapitalistisch verfasst<br />
war. Wenn Sie ein Land mit<br />
einem Superkonzern gleichsetzen<br />
<strong>und</strong> sich einen Eigentümer vorstellen,<br />
der ein ausgeprägtes soziales<br />
Bewusstsein, aber keine Wertschätzung<br />
für Freiheit <strong>und</strong> Individualität<br />
hat – dann haben Sie vielleicht die<br />
SED vor sich.<br />
Es ist allerdings leicht, mit den Erkenntnissen<br />
der Gegenwart die<br />
Vergangenheit zu bewerten. Viel<br />
schwieriger ist es, in der jeweiligen<br />
Gegenwart die Gegenwart zu erkennen.<br />
Vor der Aufgabe stehen wir<br />
heute auch wieder. Wenn wir für<br />
unsere Gegenwart annehmen, dass<br />
jeder Sozialismus falsch sein muss,<br />
dann verkennen wir mit Sicherheit<br />
unsere Gegenwart.<br />
P&G: Wie bewerten Sie das Spannungsfeld<br />
zwischen persönlicher Freiheit <strong>und</strong><br />
staatlicher Fürsorge?<br />
Nešković: An <strong>und</strong> für sich sollte jeder<br />
problemlos einsehen können,<br />
dass Freiheit eine materielle Gr<strong>und</strong>lage<br />
benötigt, um sinnvoll ausgeübt<br />
werden zu können. Was nützt mir<br />
die Freiheit, wenn ich der Mittel<br />
entbehre sie wahrzunehmen? Dann<br />
kann ich frei verhungern oder frei<br />
erfrieren. Staatliche Fürsorge ist<br />
also nicht das Gegenteil, sondern<br />
die Gr<strong>und</strong>lage für die Ermöglichung<br />
von Freiheit für sehr viele Menschen.<br />
Es ist die Lebenslüge unserer so<br />
genannten Leistungsgesellschaft,<br />
dass es vorwiegend vom eigenen<br />
Einsatz abhinge, ob sich die Freiheit<br />
für einen lohnt oder nicht. Wer aus<br />
Armut unfrei ist, ist selten selbst<br />
schuld daran. Das können Sie – im<br />
Umkehrschluss – an der sozialen<br />
Herkunft der heutigen Studentenschaft<br />
ablesen, deren Kinder später<br />
wieder einmal mit höherer Tendenz<br />
studieren <strong>und</strong> besser verdienen<br />
werden als der Querschnitt der<br />
Bevölkerung.<br />
Solange diese Muster bestehen,<br />
ist staatliche Fürsorge ein nötiger<br />
Schicksalskorrektor <strong>und</strong> ihre Beschneidung<br />
nicht nur ein ungerechter,<br />
sondern auch ein freiheitsfeindlicher<br />
Akt.<br />
P&G: Auf welcher Seite des Dammtors<br />
würden Sie heute studieren <strong>und</strong> was<br />
halten Sie von privaten Bildungseinrichtungen?<br />
Nešković: Ich bin zumindest für den<br />
kleinen Grenzverkehr zwischen<br />
beiden Einrichtungen <strong>und</strong> lasse die<br />
Richtung völlig offen. Ich wünschte<br />
mir, dass die öffentlichen Einrichtungen<br />
eine ähnliche Ausstattung<br />
aufwiesen <strong>und</strong> eine ähnliche Bildungsqualität<br />
zu offerieren hätten,<br />
wie es vermutlich die Ihrige Einrichtung<br />
vermag.<br />
P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />
// //<br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Birgit Weitemeyer<br />
Ausgangsfall<br />
Ein Ehepaar hatte sich gegen die<br />
Festsetzung des Solidaritätszuschlags<br />
in ihrem Einkommensteuerbescheid<br />
für das Jahr 2002 erfolglos<br />
mit Einspruch <strong>und</strong> Klage gewandt.<br />
Sowohl das FG Münster (EFG 2006,<br />
371) als auch der BFH (BStBl. II<br />
2006, 692) hielten das Solidaritätsgesetz<br />
1995 vom 23.6.1993 für verfassungsgemäß.<br />
Gegen den Nichtzulassungsbeschluss<br />
des BFH erhob<br />
das Ehepaar mit Unterstützung<br />
durch den B<strong>und</strong> der Steuerzahler<br />
Verfassungsbeschwerde. Die Frage<br />
ist beim BVerfG seit dem 28.6.2006<br />
anhängig (2 BvR 1708/06). Es bestehen<br />
insbesondere Zweifel<br />
daran, ob der Solidaritätszuschlag<br />
als Ergänzungsabgabe<br />
zeitlich unbegrenzt<br />
erhoben<br />
werden darf. Mit<br />
Unterbrechungen<br />
gibt es den „Soli“ immerhin<br />
seit 17 Jahren.<br />
Der Solidaritätszuschlag 1991<br />
Die Zuschlagsteuer wurde durch das<br />
Solidaritätszuschlagsgesetz 1991<br />
(BGBl. I 1318) kurz nach der Wiedervereinigung<br />
zur Finanzierung der<br />
daraus folgenden Kosten in Höhe<br />
von 3,75 % auf die Einkommen- <strong>und</strong><br />
Körperschaftsteuer zunächst für<br />
zwei Jahre befristet eingefügt. Bereits<br />
kurz nach der Einführung des<br />
Soli hatte ein Rechtsanwalt Verfassungsbeschwerde<br />
erhoben, die das<br />
BVerfG (NJW 2000, 797) nicht zur<br />
Entscheidung angenommen <strong>und</strong><br />
die Einführung des Solidaritätszuschlags<br />
für rechtens erklärt hatte.<br />
Die Besonderheit des deutschen<br />
Finanzsystems besteht darin, dass<br />
die in der Finanzverfassung der Art.<br />
106 ff. GG genannten Steuern wegen<br />
der diffizilen Regelung der Verteilung<br />
der Gesetzgebungs-, Verwaltungs-<br />
<strong>und</strong> vor allem Ertragshoheit<br />
// //<br />
Eine deutsche Steuer<br />
Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig?<br />
auf B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Gemeinden<br />
abschließend sind <strong>und</strong> der Staat<br />
nur solche Steuern erheben darf,<br />
die von ihrem Charakter den dort<br />
genannten Steuerarten entsprechen.<br />
Nach Art. 106<br />
Abs. 1 Nr. 6 GG darf eine<br />
Ergänzungsabgabe zur<br />
Einkommens- <strong>und</strong> zur<br />
Körperschaftssteuer erhoben<br />
werden, deren Ertrag<br />
dem B<strong>und</strong> zusteht. Die<br />
Vorschrift hat den Zweck, die Vorrangigkeit<br />
der Einkommen- <strong>und</strong><br />
Körperschaftsteuer für die Finanzierung<br />
des öffentlichen Haushalts<br />
sicherzustellen, gleichwohl aber die<br />
Erträge ausschließlich dem B<strong>und</strong><br />
zukommen zu lassen, während er<br />
sich die Erträge aus einer Erhöhung<br />
der Einkommen- <strong>und</strong> Körperschaftsteuer<br />
nach Art. 106 Abs. 3 GG mit<br />
den Ländern teilen müsste (BVerfG<br />
NJW 2000, 797, 798). Für die Jahre<br />
1991 <strong>und</strong> 1992 stellte das BVerfG<br />
keinen Verfassungsverstoß fest.<br />
Der Solidaritätszuschlag sei eine<br />
Ergänzungsabgabe im Sinne der<br />
Finanzverfassung. Seine Höhe sei<br />
verhältnismäßig <strong>und</strong> belaste den<br />
Kläger nicht übermäßig.<br />
Der Solidaritätszuschlag 1995<br />
Das Solidaritätszuschlagsgesetz<br />
1995 vom 23.6.1993 (BGBl. I 1993,<br />
944, 975 f.) führte die Abgabe seit<br />
1995 wieder ein, erhöhte den Steuersatz<br />
auf 5,5 % der Einkommen-<br />
<strong>und</strong> Körperschaftsteuer<br />
<strong>und</strong> gilt seitdem<br />
unbefristet im Jahre<br />
2008 im 13. Jahr.<br />
Der BFH verweist in<br />
einer knappen Begründung<br />
auf eine<br />
ältere Entscheidung<br />
des BVerfG zu einer Ergänzungsabgabe<br />
in Höhe<br />
von 3 % auf die Einkommen-<br />
<strong>und</strong> Körperschaftsteuer aus dem<br />
Jahr 1967 (BVerfGE 32, 333, 340), in<br />
der das Gericht ausdrücklich festgestellt<br />
hatte, aus dem Begriff der<br />
Ergänzungsabgabe sei nicht herzuleiten,<br />
dass diese von vornherein<br />
befristet eingeführt werden müsse,<br />
sowie auf weitere Verfassungsbeschwerden,<br />
die das Verfassungsgericht<br />
in der Zwischenzeit ohne<br />
eine Begründung nicht zur Entscheidung<br />
angenommen hatte<br />
(Beschluss vom 26.11.1997<br />
– 1 BvR 2372/92 <strong>und</strong> vom<br />
2.5.1997 – 1 BvR 2373/95). Der<br />
Begriff der Ergänzungsabgabe<br />
besage lediglich, so der BFH,<br />
dass die Abgabe die Einkommen-<br />
<strong>und</strong> Körperschaftsteuer ergänzt.<br />
Das bedeute aber lediglich, dass<br />
der Zuschlag in einer Akzessorietät<br />
zu diesen Steuern stehen müsse.<br />
Dieses Erfordernis ist erfüllt, weil<br />
sich die Höhe des Zuschlags nach<br />
einem festen Prozentsatz der Einkommen-<br />
oder Körperschaftsteuerschuld<br />
bemisst.<br />
Ausblick<br />
Wie das BVerfG für das Streitjahr<br />
2002 <strong>und</strong> damit für das 7. Jahr des<br />
Soli entscheiden wird, ist ungewiss.<br />
Da das Verfassungsgericht allerdings<br />
in keinem seiner Beschlüsse<br />
die zeitliche Dauer als ein maßgebendes<br />
Kriterium gesehen hat, ist<br />
wohl eher zu erwarten, dass auch<br />
die aktuelle Verfassungsbeschwerde<br />
nicht zur Entscheidung angenommen<br />
wird. Auch wenn der Soli<br />
den Begriff der Ergänzungsabgabe<br />
erfüllen mag, in anderer Hinsicht<br />
ist das Gesetz ein Etikettenschwindel.<br />
Da die Steuer sowohl im Westen<br />
als auch im Osten erhoben wird<br />
<strong>und</strong> die zusätzlichen Einnahmen<br />
keinerlei Zweckbindung<br />
unterliegen, damit<br />
also nicht besonders<br />
den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />
zugute kommen, handelt<br />
es sich eigentlich nicht um<br />
einen Solidaritätszuschlag<br />
für den Osten, sondern um eine<br />
allgemeine Steuererhöhung.<br />
Die Autorin, Frau Prof. Dr. Birgit<br />
Weitemeyer ist seit 2007 Professorin<br />
der Bucerius Law School am<br />
Lehrstuhl für Steuerrecht.
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Der B<strong>und</strong>esminister für Verkehr,<br />
Bau- <strong>und</strong> Stadtenwicklung ist<br />
ein vielbeschäftigter Mann. Bahnprivatisierung,<br />
Wohngeld, LKW-<br />
Maut, Aufbau Ost – alles muss er<br />
koordinieren.<br />
Trotzdem fand der gebürtige Geraer,<br />
der nach seinem Ingenieursstudium<br />
auch schon Leipziger Oberbürgermeister<br />
war, Zeit, der <strong>Politik</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> einige Fragen zur Stadt<br />
der Zukunft zu beantworten.<br />
Das Interview führten Aline Kalb<br />
<strong>und</strong> Konstantin Kleine<br />
P&G: Die deutsche Stadt von heute:<br />
Leerstehende Wohnblocks, wenig Grünfläche,<br />
starke Diskrepanzen zwischen<br />
Stadtteilen. Wie sieht die Stadt der Zukunft<br />
aus?<br />
Wolfgang Tiefensee: Meine Wahrnehmung<br />
der deutschen Städte von<br />
heute ist eine andere: überwiegend<br />
gute Wohnverhältnisse, viel Stadtgrün<br />
– allerdings vor allem in den<br />
großen Städten auch starke Segregation.<br />
Die Vielfalt der deutschen<br />
Städte bringt auch eine Vielfalt an<br />
zukunftsfähigen Modellen hervor,<br />
die „Stadt der Zukunft“ wird also<br />
verschiedene Gesichter haben.<br />
Hier wird jede Stadt ihren ureigenen<br />
Weg suchen <strong>und</strong> finden. Städte<br />
sind dynamisch. Sie wachsen <strong>und</strong><br />
sie schrumpfen. Sie müssen sich<br />
immer neuen Bedürfnissen <strong>und</strong><br />
Anforderungen anpassen. Je besser<br />
es gelingt, möglicherweise gegenläufige<br />
Interessen zu vereinen,<br />
desto erfolgreicher wird die Stadt<br />
sein. Wichtig ist, dass dabei eine<br />
neue Qualität entsteht <strong>und</strong> alle Bewohner<br />
mitgenommen werden. Die<br />
Stadt der Zukunft muss für alle da<br />
sein.<br />
P&G: In Ihrem Vortrag an der Bucerius<br />
Law School nannten Sie das Zusammenspiel<br />
der Generationen (zum Beispiel in<br />
Mehrgenerationenhäusern) als einen<br />
Lösungsansatz für die Probleme, die<br />
durch den demographischen Wandel in<br />
// //<br />
Die Stadt der Zukunft<br />
Vier Fragen an Wolfgang Tiefensee<br />
den Städten geschaffen werden. Zurzeit<br />
verlassen aber viele, vor allem hochqualifizierte,<br />
junge Menschen Deutschland.<br />
Verschärft das zusätzlich die demographische<br />
Problematik? Funktionieren<br />
Mehrgenerationenhäuser auch ohne<br />
die heutige Teenagergeneration?<br />
„Innenstädte müssen lebendig<br />
gestaltet werden“<br />
Tiefensee: Es ist heute normal, einen<br />
Teil des Arbeitslebens im Ausland<br />
zu verbringen. Übrigens kommen<br />
auch viele hochqualifizierte Menschen<br />
nach Deutschland. Aber Sie<br />
haben Recht, der demographische<br />
Wandel ist ein sehr wichtiges Thema.<br />
Die Förderung des Zusammenlebens<br />
mehrerer Generationen ist<br />
ein wichtiger <strong>Politik</strong>ansatz vor diesem<br />
Hintergr<strong>und</strong>. Dabei geht es vor<br />
allem darum, Innenstädte lebendig<br />
zu gestalten, zum Beispiel durch attraktive<br />
Aufenthaltmöglichkeiten<br />
für Jung <strong>und</strong> Alt sowie Treffpunkte<br />
in Gemeinschaftseinrichtungen wie<br />
in Nachbarschaftszentren. Dazu<br />
gehören auch neue Wohnformen<br />
wie Mehrgenerationenhäuser. Der<br />
Stadtraum muss so gestaltet sein,<br />
dass junge wie ältere Menschen<br />
sich wohl fühlen, dort bleiben wollen<br />
oder dorthin zurückkehren.<br />
Um neue Impulse in den Städten<br />
auszulösen, haben wir im Rahmen<br />
der Nationalen Stadtentwicklungspolitik<br />
eine Vielzahl von Initiativen<br />
ergriffen. Mein Ministerium lässt<br />
beispielsweise derzeit anhand von<br />
31 Modellvorhaben untersuchen,<br />
welche Innovationen für familien-<br />
<strong>und</strong> altengerechte Stadtquartiere<br />
notwendig sind, um attraktive städtische<br />
Lebenswelten für alle Generationen<br />
zu stärken. Dafür stellt die<br />
B<strong>und</strong>esregierung 20 Millionen Euro<br />
bereit.<br />
Die Projekte reichen vom Mehrgenerationenwohnen,<br />
zum Beispiel in<br />
Schwerin, über die generationsübergreifende<br />
Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung<br />
von Freiflächen, wie den Sport- <strong>und</strong><br />
Begegnungsparks in Kiel, bis hin zu<br />
Stadtteil- <strong>und</strong> Familienzentren, die
zur Unterstützung der Kommunikation<br />
neue Technologien nutzen,<br />
beispielsweise in Offenburg.<br />
P&G: Entsteht durch so genannte<br />
„Leuchttürme“ – Konzentration von<br />
Fördergeldern auf wenige „Innova-<br />
tionszentren“ – ein Konkurrenzkampf<br />
zwischen den Städten? Schadet dieser<br />
bereits gut entwickelten Regionen?<br />
Tiefensee: Die Städtebauförderung<br />
unterstützt eine Vielzahl von Städten<br />
<strong>und</strong> Gemeinden in allen Regionen<br />
Deutschlands. Seit 1971 hat<br />
der B<strong>und</strong> r<strong>und</strong> zwölf Milliarden<br />
Euro bereitgestellt. Derzeit wird die<br />
Städtebauförderung in über 2100<br />
Stadtquartieren eingesetzt. Das belegt,<br />
dass wir gerade nicht nur die<br />
Metropolen als „Leuchttürme“ fördern,<br />
sondern auch die Klein- <strong>und</strong><br />
Mittelstädte im ländlichen Raum.<br />
Die Städtebauförderung konzentriert<br />
sich in den Städten auf die<br />
Gebiete mit städtebaulichen Missständen<br />
<strong>und</strong> besonderem Entwicklungsbedarf.<br />
In diesem Jahr startet<br />
ein spezielles Programm für die<br />
Entwicklung der Innenstädte, mit<br />
dem die Stadt- <strong>und</strong> Ortsteilzentren<br />
als Standorte für Wirtschaft, Kultur<br />
sowie als Orte zum Wohnen, Arbeiten<br />
<strong>und</strong> Leben erhalten werden<br />
sollen.<br />
P&G: Kann uns ein vereintes Europa<br />
helfen, die Probleme in den Städten, vor<br />
die uns der demographische Wandel<br />
stellt, zu lösen?<br />
Tiefensee: Da die Probleme des demographischen<br />
Wandels in den<br />
meisten europäischen Staaten sehr<br />
ähnlich gelagert sind, ist das Thema<br />
selbstverständlich auch auf der<br />
europäischen Tagesordnung. Die<br />
für die Stadt- <strong>und</strong> Raumentwicklung<br />
zuständigen Ministerinnen<br />
<strong>und</strong> Minister der EU haben unter<br />
unserer Präsidentschaft in ihrer<br />
„Leipzig-Charta“ ein Zeichen gesetzt.<br />
Wir können viel voneinander<br />
lernen <strong>und</strong> uns untereinander<br />
abstimmen. Die Probleme müssen<br />
wir aber vor Ort lösen. In Städten<br />
mit Bevölkerungsrückgang müssen<br />
wir eine konsequente <strong>Politik</strong> für die<br />
Konsolidierung der Städte verfolgen.<br />
Das bedeutet: Konsolidierung<br />
der Wohnungsmärkte, Konzentra-<br />
// 7 //<br />
tion auf die Innenstädte mit Einzelhandel<br />
<strong>und</strong> Gewerbe, aber auch die<br />
Städte als Wohnstandorte wieder<br />
attraktiver machen. Wir verfolgen<br />
dieses Ziel im Rahmen der Städtebauförderung<br />
mit dem Programm<br />
„Stadtumbau“. In fast allen Städten<br />
müssen die Weichen für eine altersgerechte<br />
Wohnungs- <strong>und</strong> Stadtentwicklungspolitik<br />
gestellt werden,<br />
die das Zusammenleben der Generationen<br />
stärkt.<br />
„Es müssen die Weichen<br />
für eine altersgerechte<br />
Stadtentwicklungspolitik<br />
gestellt werden“<br />
Weiterhin richten wir unser besonderes<br />
Augenmerk auf die Verbesserung<br />
der Integration zugewanderter<br />
Bevölkerungsgruppen. Das<br />
Programm „Soziale Stadt“ <strong>und</strong> das<br />
Modellvorhaben „Innovationen<br />
für Familien- <strong>und</strong> altengerechte<br />
Stadtquartiere“ bieten einen Referenzrahmen<br />
für zukunftsweisende<br />
Strategien. In einer Entwicklungsphase,<br />
in der in vielen europäischen<br />
Städten die Einwohnerzahlen<br />
zurückgehen <strong>und</strong> der Anteil<br />
älterer Einwohner stark zunimmt,<br />
muss ein Schwergewicht der Stadt-<br />
entwicklungspolitik insbesondere<br />
auch darin liegen, die jüngeren<br />
Generationen als zukünftige Leistungsträger<br />
in den Produktions-<br />
<strong>und</strong> Wissensprozess dauerhaft<br />
einzubeziehen. Das gilt für benachteiligte<br />
Stadtteile mit vergleichsweise<br />
hohen Anteilen an Kindern<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen, insbesondere mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong>, in besonderem<br />
Maße. Aus diesen Gründen<br />
können die Mittel des europäischen<br />
Strukturfonds <strong>und</strong> des europäischen<br />
Sozialfonds zunehmend<br />
auch für diese Aufgabenstellungen<br />
eingesetzt werden. Sie unterstützen<br />
damit wirksam die nationalen<br />
Anstrengungen.<br />
P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />
Weitere Informationen zu dem bis Ende<br />
2009 laufenden Forschungsfeld im Rahmen<br />
der nationalen Stadtentwicklung<br />
können über das Internet abgerufen<br />
werden unter www.stadtquartiere.de.<br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Quintin Mahlow<br />
Trotz hoher Zäune <strong>und</strong> gefährlicher<br />
Fluchtbedingungen probieren<br />
verzweifelte Afrikaner Europa<br />
zu erreichen. Sobald sie auf europäischen<br />
Boden gelangen, steht ihnen<br />
das Asylverfahren der EU-Staaten<br />
zu, unabhängig davon, ob sie hilfsbedürftige<br />
Flüchtlinge sind oder als<br />
Wirtschaftsmigranten der Armut<br />
entrinnen wollen. Auch Deutschland<br />
gehört, neben Frankreich,<br />
Großbritannien <strong>und</strong> Schweden, zu<br />
einem der Hauptzufluchtsorte für<br />
Asylbewerber.<br />
Im Gr<strong>und</strong>gesetz steht im ersten Absatz<br />
des Artikels 16a schlicht, dass<br />
politisch Verfolgte Asylrecht<br />
genießen. Das Recht auf Asyl<br />
wird ergänzt durch den<br />
Abschiebeschutz des<br />
Aufenthaltsgesetzes.<br />
Dort heißt es in §<br />
60 Abs. 1, dass ein<br />
Ausländer nicht<br />
in einen Staat<br />
abgeschoben<br />
werden darf,<br />
in dem sein<br />
Leben oder seine<br />
Freiheit wegen<br />
seiner Rasse, Religion,<br />
Staatsangehörigkeit, seiner<br />
Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />
sozialen Gruppe oder wegen seiner<br />
politischen Überzeugung bedroht<br />
ist.<br />
Die Asylbewerbezahlen<br />
haben sich seit 2001 halbiert<br />
Hervorzuheben ist bei dieser Definition,<br />
dass allgemeine Notsituationen<br />
– wie Armut, Bürgerkriege,<br />
Naturkatastrophen oder Arbeitslosigkeit<br />
– als Gründe für eine Asylgewährung<br />
ausgeschlossen sind.<br />
Dies ist historisch bedingt. Der § 60<br />
des Aufenthaltsgesetzes basiert auf<br />
der internationalen Definition der<br />
1951 verfassten Genfer Flüchtlingskonvention.<br />
Die Genfer Formulie-<br />
// 8 //<br />
Asylbewerber in Deutschland<br />
Bedeuten sinkende Antragszahlen auch sinkende Probleme?<br />
rung wurde im Kontext des Kalten<br />
Krieges gefasst <strong>und</strong> richtete sich<br />
primär an die vorhandenen europäischen<br />
Flüchtlinge.<br />
Vor fünfzehn Jahren<br />
wurden in Deutschland,<br />
zu Zeiten des<br />
Balkankonflikts,<br />
über 400.000<br />
Asylanträge<br />
gestellt.<br />
Diese<br />
Antragszahl<br />
bleibt bis heute<br />
unübertroffen.<br />
Seitdem sank die Zahl<br />
der Asylgesuche stetig. Die<br />
letztjährigen Antragszahlen lagen<br />
laut B<strong>und</strong>esamt für Migration<br />
<strong>und</strong> Flüchtlinge bei 30.000. Dieser<br />
Rückgang spiegelt eine globale Tendenz<br />
wider. Asylbewerberzahlen<br />
in Industriestaaten haben sich seit<br />
2001 halbiert <strong>und</strong> damit den niedrigsten<br />
Stand seit zwei Jahrzehnten<br />
erreicht.<br />
Nach Ansicht des Hohen Flüchtlingskommissars<br />
der Vereinten Nationen<br />
(UNHCR) ist der Rückgang<br />
der Asylanträge in erster Linie auf<br />
die restriktive Asylpolitik in den<br />
westlichen Industriestaaten zurückzuführen.<br />
Weltweit gibt es<br />
weiterhin über 30 Millionen<br />
Flüchtlinge.<br />
Wenn wenig<br />
e r<br />
v o n<br />
i h n e n<br />
wo h l h a b e n d e<br />
Industriestaaten<br />
erreichen, bedeutet dies,<br />
dass bereits überstrapazierte<br />
Entwicklungsländer den Großteil<br />
der Flüchtlinge aufnehmen.<br />
Die Erfolgsquote der Asylanträge<br />
ist in den letzten Jahren auf r<strong>und</strong><br />
sieben Prozent gesunken. Mehr als
90 Prozent der Anträge werden abgelehnt.<br />
Kann man hieraus folgern,<br />
dass Asylbewerber überwiegend<br />
das System missbrauchen <strong>und</strong> gar<br />
keine „ echten“ Flüchtlinge sind?<br />
Verglichen mit anderen Ländern<br />
besitzt Deutschland sehr begrenzte<br />
legale Einwanderungsmöglichkeiten.<br />
Andere Länder, wie die USA,<br />
Kanada oder Australien, bieten<br />
beispielsweise ein Punktesystem;<br />
Bewerber erhalten dabei „Pluspunkte“<br />
für Fachqualifikationen<br />
oder Sprachkenntnisse. Um doch<br />
eine Aufenthaltsgenehmigung zu<br />
erlangen, entwickelte sich das Asylrecht<br />
zum Schlupfloch. Viele Menschen<br />
beantragten Asyl, obwohl<br />
sie nicht die gesetzlichen<br />
Kriterien erfüllten.<br />
Z u -<br />
d e m<br />
werden<br />
fast ein<br />
Drittel der<br />
Asylanträge<br />
aus rein formellen<br />
Gründen<br />
abgelehnt. Formelle<br />
Gründe sind<br />
zum Beispiel, dass ein<br />
anderer EU-Mitgliedstaat<br />
für den Asylbewerber<br />
zuständig ist.<br />
Schließlich müssen die engen<br />
Kriterien des Asylrechts im Verhältnis<br />
zur humanitären Bedürftig-<br />
keit der Asylbewerber bedacht werden.<br />
Jemand, der die Asylkriterien<br />
nicht erfüllt, ist keineswegs weniger<br />
hilfsbedürftig. So kann jemand,<br />
der seine Religion im Herkunftsland<br />
nicht ausüben darf, erfolgreich Asyl<br />
beantragen, während ein Opfer allgemeiner<br />
Gewaltsituationen, z.B.<br />
eines Bürgerkriegs, keine Chance<br />
auf Asyl hat (es fehlt an individualisierter<br />
staatlicher Verfolgung).<br />
Mehr als 90 Prozent der<br />
Anträge werden abgelehnt<br />
Unabhängig davon, wie nachvollziehbar<br />
die Fluchtgründe sind,<br />
haben eine Menge Asylbewerber<br />
keine Aussicht auf den Erfolg ihres<br />
Antrags. Es vergeht viel Zeit, bis ein<br />
Verfahren nach Erschöpfung aller<br />
rechtsstaatlichen Einspruchsmöglichkeiten<br />
abgeschlossen ist<br />
<strong>und</strong> die abgelehnten Asylbewerber<br />
Deutschland<br />
verlassen. Bei Asylbewerbern,<br />
deren Antrag im<br />
Jahr 2006 letztinstanzlich<br />
abgeschlossen wurde, betrug<br />
die durchschnittliche<br />
Gesamtverfahrensdauer<br />
fast zwei Jahre. Bei knapp<br />
einem Zehntel der Asylbewerber<br />
betrug die Gesamtverfahrensdauer<br />
mehr als<br />
fünf Jahre.<br />
Diese Wartezeit ist mit zermürbender<br />
Ungewissheit für die<br />
Asylbewerber <strong>und</strong> schwierigen<br />
politischen Fragen für den Staat<br />
verb<strong>und</strong>en. Einerseits ergibt es<br />
Sinn, Asylbewerbern nicht gleich<br />
eine Arbeitserlaubnis zu erteilen,<br />
um so Asylmissbrauch aus rein wirtschaftlichen<br />
Gründen entgegenzuwirken;<br />
andererseits wird dadurch<br />
in der Öffentlichkeit der Eindruck<br />
von Abhängigkeit verstärkt. Zudem<br />
resultiert aus der Arbeitslosigkeit<br />
selbst eine Vielzahl von Problemen.<br />
Besonders für jene Menschen,<br />
die es gewohnt sind, in ihrem Herkunftsland<br />
zu arbeiten <strong>und</strong> für ihre<br />
Familie zu sorgen.<br />
Ferner sind in Asylbewerberunterkünften<br />
auf engstem Raum viele<br />
desillusionierte Menschen zusam-<br />
// //<br />
mengepfercht. Es ist also nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />
dass die Heime soziale<br />
Spannungen mit sich bringen.<br />
Ein weiteres Problem ist das Thema<br />
Integration. Gerade bei Asylbewerbern<br />
führt es zu einer besonders<br />
komplizierten Frage. Bis zu welchem<br />
Grad sollen Asylbewerber integriert<br />
werden, wenn sie möglicherweise<br />
schon bald wieder abgeschoben<br />
werden? Ist es zu verantworten,<br />
dass Kinder sich an ein Schulsystem<br />
gewöhnen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften bilden,<br />
um dann wieder entwurzelt zu<br />
werden? Kann man von den Eltern<br />
erwarten, dass sie Deutsch lernen,<br />
wenn sie ohnehin hauptsächlich<br />
nur im Asylbewerberheim leben,<br />
nicht arbeiten <strong>und</strong> vielleicht schon<br />
bald wieder weg müssen?<br />
Sollen Asylbewerber integriert<br />
werden?<br />
Ferner sind laut dem UNHCR viele<br />
Asylbewerber ungenügend über die<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Erfolgsaussichten<br />
des Asylverfahrens informiert. Es<br />
findet in der Regel keine Beratung<br />
über Alternativen zum Asylverfahren<br />
oder die Möglichkeit einer freiwilligen<br />
Rückkehr statt. Meist kann<br />
nur durch Flüchtlingshilfsorganisationen<br />
eine Rechtsberatung finanziert<br />
werden.<br />
Genauso wie das Schicksal der einzelnen<br />
Asylbewerber ist die Zukunft<br />
der Asylpolitik ungewiss. Die<br />
Gr<strong>und</strong>fragen werden auch zukünftig<br />
weitgehend auf EU-Ebene geformt.<br />
Während die Antragszahlen sinken,<br />
schlagen einzelne Mitgliedsstaaten<br />
vor, das Asylverfahren auf Gebiete<br />
außerhalb der EU-Grenzen zu verlagern.<br />
Die Hürden für Asylbewerber,<br />
in die Festung Europa zu gelangen,<br />
werden wohl immer höher. So kommentiert<br />
die Flüchtlingsorganisation<br />
„Pro Asyl“: „Es entsteht der<br />
Eindruck, die EU strebe nicht den<br />
Schutz von Flüchtlingen, sondern<br />
den Schutz Europas vor Flüchtlingen<br />
an.“<br />
Deutschland - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
53<br />
Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />
Flaggen im Osten Hamburgs<br />
// 0 //<br />
54<br />
Grenzwanderung<br />
Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher
Hamburg<br />
Ausgabe 1/2008<br />
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 2 //
Von Bothen <strong>und</strong> Kampfschwänen<br />
Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele<br />
Flaggen. Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten<br />
wirft unser Autor Daniel Schneider einen Blick auf die Flaggen im Osten Hamburgs<br />
Eigene Flaggen führen die sieben Hamburger Bezirke nicht, doch einige von ihnen haben sich<br />
– inoffizielle – Wappen erhalten. Spätestens mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, das dem<br />
Hamburger Stadtgebiet seine heutige Form verlieh, haben alle Wappen <strong>und</strong> Hoheitszeichen auf<br />
Bezirks- <strong>und</strong> Stadtteilebene ihren offiziellen Charakter zugunsten des Hamburger Stadtwappens<br />
verloren. Dennoch werden auch die Traditionen der Bezirke – <strong>und</strong> mit ihnen ihre Wappen – hochgehalten,<br />
von Bürgerinitiativen, Kulturvereinen oder Geschichtskontoren, zum Teil sogar unterstützt<br />
von den Bezirksämtern.<br />
Besonders ausgiebig wird die Traditionspflege in Bergedorf betrieben. Ob dies wirklich daran<br />
liegt, dass die Bergedorfer so weit außerhalb des Hamburger Kerngebiets liegen, dass sie sich nur<br />
eingeschränkt mit Hamburg selbst identifizieren, oder ob die Ursache nicht vielmehr darin besteht,<br />
dass Bergedorf topographisch von den umliegenden Bezirken klar abgrenzbar ist <strong>und</strong> sich<br />
daher seine eigene Identität in ganz anderem Maße erhalten hat als zum Beispiel Eimsbüttel, mag<br />
dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist man stolz, Bergedorfer zu sein, <strong>und</strong> präsentiert beim geselligen<br />
Beisammensein an der Liedertafel, im Bürgerverein, in der genealogischen <strong>Gesellschaft</strong> oder<br />
im Kultur- & Geschichtskontor auch gerne sein Wappen. Letzteres wurde erst 1927 im Auftrag des<br />
Magistrats der damaligen Stadt Bergedorf neu gestaltet, auch wenn erste Vorläufer schon auf das<br />
Jahr 1275 datiert werden. Es besteht aus drei Laub tragenden, nebeneinander stehenden grünen<br />
Eichen vor weißem Hintergr<strong>und</strong>. Die Eichen stehen jede für sich auf einem kleinen Hügel, heraldisch<br />
als „grüner Dreiberg“ bezeichnet.<br />
Man ist stolz, Bergedorfer zu sein<br />
Das Wandsbeker Wappen ist weniger naturnah gestaltet. Es stammt von 1870 <strong>und</strong> zeigt im Vordergr<strong>und</strong><br />
einen Hut, eine Tasche <strong>und</strong> einen Schirm, alles in Silber, vor blauem Hintergr<strong>und</strong>. Dies<br />
sind die Insignien eines berühmten Redakteurs des Wandsbecker Bothen, einer im späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
im Ort herausgegebene Zeitung, die vor allem für ihren literarischen Teil bekannt wurde.<br />
Es handelt sich um den bekannten Dichter Matthias Claudius, noch heute vielen als Autor des<br />
Gedichts „Der Mond ist aufgegangen“ bekannt. Im heraldisch rechten oberen Teil des Wandsbeker<br />
Wappens ist wiederum ein kleines Wappen abgebildet, <strong>und</strong> zwar das des heutigen schleswig-holsteinischen<br />
Kreises Stomarn. Er grenzt unmittelbar an Wandsbek. Mit der Berücksichtigung im<br />
Wappen soll die enge Verb<strong>und</strong>enheit beider Gebiete zum Ausdruck gebracht werden. Das Stomarner<br />
Wappen zeigt vor rotem Gr<strong>und</strong> einen kunstvoll gezeichneten silbernen Schwan in Kampfstellung<br />
mit erhobenem rechten Bein <strong>und</strong> einer goldenen Krone um den rechten Hals.<br />
Stellvertretend für den ebenfalls einen Teil des Hamburger Ostens abdeckenden Bezirk Hamburg-<br />
Mitte, der als Kernbezirk von Groß-Hamburg kein eigenes Wappen führt, wollen wir uns noch<br />
kurz dem Hamburger Stadtwappen widmen. Seine Farben sind der Vergangenheit Hamburgs als<br />
Hansestadt geschuldet: Rot <strong>und</strong> Weiß sind die traditionellen Farben der Hanse. Drei Türme ragen<br />
in den Himmel, von denen die äußeren beiden für die Wehrhaftigkeit <strong>und</strong> die Verb<strong>und</strong>enheit der<br />
Stadt mit der Hanse stehen, während der mittlere den mittelalterlichen Dom <strong>und</strong> damit Hamburgs<br />
Beziehung zur Kirche repräsentiert. Über den beiden äußeren Türmen schweben die beiden<br />
„Mariensterne“, die ihren Namen von der Schutzpatronin Hamburgs erhalten haben.<br />
// //<br />
Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Von Astrid Schnabel<br />
Die Landesgrenze ist unscheinbar,<br />
markiert durch ein verbeultes, mit<br />
Graffiti-Tags verziertes Schild auf<br />
einem Grünstreifen, halb verdeckt<br />
durch Gestrüpp. Auf der einen Seite<br />
liegt das Tor zur Welt, auf der<br />
anderen Seite ein Agrarland. Hier<br />
beginnen die feinen Unterschiede<br />
zwischen Stadtstaat <strong>und</strong> dem nördlichsten<br />
deutschen B<strong>und</strong>esland.<br />
Und wer an der Grenze wohnt, kann<br />
das Beste aus beiden Ländern mitnehmen.<br />
// //<br />
Grenzwanderung<br />
Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen sich immer näher<br />
Morgens beginnt die Arbeitsmigration:<br />
Ein Berufstätiger nach<br />
dem anderen macht sich auf den<br />
Weg nach Hamburg. Gut ein Drittel<br />
der in Hamburg Beschäftigten sind<br />
Pendler aus dem Speckgürtel, alleine<br />
33.000 Personen kommen aus<br />
dem Kreis Stormarn, vier von fünf<br />
dort lebenden Berufstätigen. Während<br />
sich auf A1, A7 <strong>und</strong> den zahlreichen<br />
B<strong>und</strong>esstraßen morgens<br />
Autos der Kennzeichen OD, PI, SE<br />
<strong>und</strong> HL neben den „echten“ Hamburgern<br />
stauen, wünscht man sich<br />
tagsüber ein wenig mehr Leben im<br />
Kreis – viele Orte sind mittags ausgestorbene<br />
Schlafstätten, die nur<br />
noch wenig mit den Bauerndörfern<br />
<strong>und</strong> Kleinstädten von früher zu tun<br />
haben. Tagsüber halten kleine Kinder,<br />
Eltern in Erziehungszeit <strong>und</strong><br />
Rentner die Stellung, bis sich am<br />
Abend die Welle an Pendlern wieder<br />
Richtung Wohnort bewegt. Hier endet<br />
der HVV <strong>und</strong> beginnt der VHH,<br />
der neben immer weiter gekürzten<br />
Busverbindungen in der Adventszeit<br />
Shuttlebusse zum Weihnachtsmarkt<br />
auf Gut Basthorst anbietet.<br />
Je nach Sicht der Dinge liegen die<br />
Prioritäten etwas anders als in der<br />
unmittelbaren Nachbarschaft.<br />
Hier endet der HVV <strong>und</strong><br />
beginnt der VHH<br />
Es lässt sich nicht verhehlen:<br />
Schleswig-Holstein ist immer noch<br />
von der Landwirtschaft geprägt,<br />
auch wenn insbesondere die Milchwirtschaft<br />
seit Jahren kontinuierlich<br />
abnimmt. Gut 1,1 Mio. Hektar<br />
w e r d e n für
die Landwirtschaft genutzt, das<br />
sind gut 70 Prozent der Gesamtfläche.<br />
Während die Westküste fast<br />
ausschließlich von Landwirtschaft<br />
<strong>und</strong> Tourismus lebt, sind um die<br />
größeren Städte Produktion <strong>und</strong><br />
Tertiärsektor angesiedelt. Der<br />
größte Arbeitgeber ist die Uniklinik<br />
Schleswig-Holstein, weitere namhafte<br />
Arbeitgeber sind die Drägerwerke<br />
oder Ethicon. Wer abseits der<br />
Ballungszentren lebt, hat jedoch<br />
schlechte Karten; es mangelt an<br />
Infrastruktur <strong>und</strong> Ausbildungsplätzen,<br />
<strong>und</strong> vielerorts an Perspektiven.<br />
Desolate Dörfer, nur ein paar Minuten<br />
von der Linie des Schleswig-<br />
Holstein-Express entfernt, bieten<br />
wenig Ausblick <strong>und</strong> werfen die Frage<br />
auf, wie es dort weitergehen soll.<br />
Resthöfe <strong>und</strong> Bauland sind günstig,<br />
<strong>und</strong> wer nicht vor Ort in den wenigen<br />
Geschäften oder Ansiedlungen<br />
wie Reha-Einrichtungen arbeiten<br />
kann, pendelt, vielfach über 100 km<br />
auf dem einfachen Weg.<br />
Schleswig-Holstein ist<br />
PISA-Gewinner<br />
Während Hamburg wirtschaftlich<br />
die Nase vorn hat, ist Schleswig-Holstein<br />
der PISA-Gewinner des Nordens.<br />
Schleswig-Holstein liegt im<br />
OECD-Durchschnitt – ein Ergebnis,<br />
das sich so manches B<strong>und</strong>esland nur<br />
wünschen kann. Bildung ist Ländersache,<br />
<strong>und</strong> wer an der Grenze lebt,<br />
kann davon profitieren. Schwächere<br />
Schüler, die in Schleswig-Holstein<br />
scheitern, wandern gerne nach<br />
Hamburg ab. Umgekehrt funktioniert<br />
dieser Trick nur schleppend<br />
– in den letzten zwei Jahren meist,<br />
um noch knapp dem Zentralabitur<br />
zu entgehen. Ab 2008 gibt es auch<br />
in Schleswig-Holstein ein teilweises<br />
Zentralabitur in Kernfächern wie<br />
Englisch, Mathematik, Dänisch oder<br />
Chemie; Hamburg startete schon<br />
2005 das Experiment. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
bestimmt zwar der Hauptwohnsitz,<br />
in welchem B<strong>und</strong>esland eingeschult<br />
wird, allerdings gibt es auch dafür<br />
zahlreiche Ausnahmen. Letztendlich<br />
zahlt das jeweilige B<strong>und</strong>esland<br />
für den Schulplatz im Nachbarland<br />
Schleswig-Holstein an Hamburg im<br />
Rahmen des Gastschulabkommens<br />
gut acht Millionen Euro, um die<br />
Wanderung der schleswig-holsteinischen<br />
Schüler<br />
im Budget auszugleichen.<br />
Um der<br />
Realität<br />
des sich<br />
i m m e r<br />
// //<br />
näher kommenden Schulalltags<br />
gerecht zu werden, sollen im Zuge<br />
weiterer Schulreformen gemeinsame<br />
Oberstufenprofile geschaffen<br />
werden, die zum einen Lehrerst<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> zum anderen den Kurspoker<br />
sparen <strong>und</strong> – das könnte Hamburg<br />
angesichts der gravierenden<br />
Unterschiede bei den PISA-Ergebnissen<br />
ganz gelegen kommen – das<br />
Bildungsniveau angleichen. Damit<br />
fallen idealerweise auch die Hürden<br />
beim Schulwechsel, <strong>und</strong> ein weiterer<br />
Schritt zum sowohl kritisierten<br />
als auch willkommenen Nordstaat<br />
ist gemacht.<br />
Ob in zehn, zwanzig oder dreißig<br />
Jahren Hamburg <strong>und</strong> Schleswig-<br />
Holstein immer noch „nur“ Nachbarn<br />
sind oder Teil eines großen<br />
Nordstaates, ist bisher ungewiss.<br />
Mit gemeinsamen Aussagen halten<br />
sich die Regierungschefs der nördlichen<br />
B<strong>und</strong>esländer eher bedeckt,<br />
doch eines ist gewiss, ob mit oder<br />
ohne Gesamt-Nordstaat: Hamburg<br />
<strong>und</strong> Schleswig-Hols<br />
t e i n<br />
kommen<br />
sich immernäher.<br />
Hamburg - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
59<br />
Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />
Das Logo der Bucerius Law School<br />
60<br />
Go East<br />
Karsten Thorn lehrt in China<br />
62<br />
Go West<br />
Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />
64<br />
Das Französisch der Zukunft<br />
Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden
Campus<br />
Ausgabe 1/2008<br />
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
// 8 //
Von Justitia <strong>und</strong> botanischem Institut<br />
Über 200 Staaten, unzählige Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Kantone <strong>und</strong> Regionen – <strong>und</strong> fast so viele Flaggen.<br />
Doch wofür stehen die Farben, die Formen <strong>und</strong> Symbole? Auf unserem Weg in den Osten wirft unser<br />
Autor Daniel Schneider zuletzt einen Blick auf das Law-School-Logo – nicht im Osten, aber egal<br />
Eine eigene Flagge oder ein eigenes Wappen hat der „Osten“ der Bucerius Law School nicht – doch immerhin<br />
verfügt die Hochschule insgesamt über ein eigenes Logo, das den Studierenden, Mitarbeitern<br />
<strong>und</strong> Gästen der Hochschule an vielen Stellen ins Auge springt. Die Law School legt großen Wert auf<br />
ihr Corporate Design, dessen zentraler Bestandteil das Logo ist.<br />
Das Logo enthält zwei Teile, einen Bildteil <strong>und</strong> einen Wortteil. Der Bildteil besteht aus drei nebeneinander<br />
stehenden Rechtecken, von denen die beiden äußeren exakt gleich geformt sind. Es handelt<br />
sich jeweils um längliche Rechtecke, die wagerecht links <strong>und</strong> rechts vom mittleren Rechteck liegen<br />
<strong>und</strong> dieses einrahmen. Dabei wird die Symmetrie streng gewahrt. Das mittlere Rechteck dagegen ist<br />
kompakter <strong>und</strong> „kürzer“, wenn auch kein Quadrat. Zudem sind die beiden längeren Seiten vertikal<br />
angeordnet. Verglichen mit den beiden äußeren Rechtecken steht das mittlere folglich gewissermaßen<br />
auf der Seite.<br />
Die Anordnung der drei Rechtecke symbolisiert das Hauptgebäude der Hochschule, das ehemalige<br />
Botanische Staatsinstitut. Die beiden äußeren Rechtecke repräsentieren den Süd- <strong>und</strong> den Ostflügel,<br />
wobei auf eine Darstellung des Knicks, der dem Ostflügel zueigen ist, verzichtet wurde. Weniger bekannt<br />
ist allerdings, dass dem Bildteil eine weitere Bedeutung zukommt. Er symbolisiert zugleich die<br />
Waage der Justitia, der römischen Göttin des Rechtswesens <strong>und</strong> der Gerechtigkeit. Die Waage ist vor<br />
allem ein Sinnbild dafür, dass der Richter die Sachlage sorgfältig abwägen wird, ehe er sein Urteil fällt.<br />
Auf diese Weise wird die Aussage des unteren Schriftzugs „Hochschule für Rechtswissenschaft“ noch<br />
einmal unterstrichen. Ebenso wie dieser ist auch der gesamte Bildteil im Dunkelrot der Hochschule<br />
gehalten. Dieser Farbgebung kommt ebenso wie dem gesamten Logo ein hoher Wiedererkennungswert<br />
zu.<br />
Drei Rechtecke<br />
Der Wortteil wiederum beinhaltet zwei übereinander stehende Schriftzüge, zum einen den Namen<br />
der Hochschule „Bucerius Law School“, zum anderen den Untertitel „Hochschule für Rechtswissenschaft“.<br />
Dabei ist der Name oben immer in Schwarz gehalten, während der untere Schriftzug stets im<br />
charakteristischen dunklen Rot der Law School erscheint. Die Hochschule legt großen Wert darauf,<br />
dass das Logo stets vollständig abgebildet wird, also auch beide Schriftzüge zusammen erscheinen.<br />
Auf diese Weise wird der Terminus „Bucerius Law School Hochschule für Rechtswissenschaft“ in der<br />
Öffentlichkeit als feststehender <strong>und</strong> einheitlicher Begriff für die Institution gefestigt.<br />
// //<br />
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Go East<br />
Karsten Thorn lehrt in China<br />
Professor Dr. Karsten Thorn, LL.M.,<br />
ist Professor an der Bucerius Law<br />
School für Bürgerliches Recht, Internationales<br />
Privat- <strong>und</strong> Handelsrecht<br />
<strong>und</strong> Rechtsvergleichung. Im<br />
Rahmen seiner Lehrtätigkeit reist<br />
er regelmäßig nach China, um dort<br />
chinesischen Studenten sowie Postgraduates<br />
<strong>und</strong> Anwälte zu unterrichten.<br />
Stephan Kuntner <strong>und</strong><br />
Martin Hejma sprachen mit Karsten<br />
Thorn über seine Erfahrungen<br />
in China.<br />
P&G: Herr Professor Thorn, Sie reisen<br />
beruflich regelmäßig nach China. Welche<br />
Lehrtätigkeiten nehmen Sie dort<br />
wahr?<br />
Prof. Karsten Thorn: Es gibt bisher<br />
drei Programme der Bucerius<br />
Law School in China, an denen ich<br />
beteiligt bin. Begonnen hat mein<br />
Engagement in China vor vier Jahren<br />
mit dem Summer Law Institute<br />
in Suzhou, einem dreiwöchigen<br />
Kursprogramm zum Internationalen<br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> Handelsrecht,<br />
an dem Studierende aus den USA,<br />
Europa <strong>und</strong> China teilnehmen. Seit<br />
zwei Jahren unterrichte ich zudem<br />
Module im Internationalen Handelsrecht<br />
für Masterstudenten <strong>und</strong><br />
Postgraduates an der CEIBS, der<br />
China Europe International Business<br />
School in Shanghai. Neu für<br />
mich war im letzten Jahr ein zweiwöchiger<br />
Kurs an der CASS, der<br />
Chinese Academy of Social Science<br />
in Beijing, der für chinesische Anwälte<br />
angeboten wurde. Ab diesem<br />
Jahr werde ich darüber hinaus an<br />
einem neuen Kursprogramm für<br />
Führungskräfte in Kooperation mit<br />
der European School of Management<br />
and Technology in China mitwirken.<br />
P&G: Handelt es sich bei Ihren Lehrtätigkeiten<br />
eher um einen einseitigen<br />
Bildungsexport von Deutschland nach<br />
China oder wird ein wissenschaftlicher<br />
Austausch ermöglicht, von dem auch<br />
Sie für Ihre Arbeit profitieren können?<br />
// 0 //<br />
Thorn: Dies ist sehr unterschiedlich.<br />
An der CEIBS ist es für mich sehr<br />
wertvoll, von den Ökonomen zu erfahren,<br />
was in der Vertragspraxis<br />
tatsächlich passiert. Die haben eine<br />
viel praktischere Sicht auf die Themen,<br />
die ich theoretisch vermittle.<br />
Das ist für mich ganz wesentlich,<br />
denn die Inhalte, die ich unterrichte,<br />
sollen keinesfalls im leeren<br />
akademischen Raum schweben. Bei<br />
der Summer Law School in Suzhou<br />
ist der akademische Austausch mit<br />
den amerikanischen Kollegen sehr<br />
intensiv <strong>und</strong> produktiv. Mit den<br />
chinesischen Kollegen entsteht inzwischen<br />
ein ähnlicher Austausch,<br />
aber am Anfang dauert es natürlich<br />
ein wenig, bis man zueinander findet.<br />
„Keinesfalls im leeren<br />
akademischen Raum<br />
schweben“<br />
P&G: Als Sie mit der Lehrtätigkeit in<br />
China begonnen haben, was waren die<br />
deutlichsten Unterschiede zu Ihren Erfahrungen<br />
aus Deutschland?<br />
Thorn: Chinesische Studierende<br />
sind nicht die sokratische Lehrmethode<br />
gewöhnt, wie wir sie auch<br />
an der Law School pflegen. Dass sie<br />
selbst aktiv zum Unterricht beitragen<br />
sollen, ist für die Studierenden<br />
eine neue Erfahrung. Das ist aber<br />
gar nicht so außergewöhnlich, denn<br />
wenn Sie nach Frankreich gehen,<br />
machen Sie ähnliche Erfahrungen.<br />
In China tritt in dieser Hinsicht sogar<br />
langsam eine Veränderung ein.<br />
Wie überall sind es dabei die Frauen,<br />
die schneller anfangen, sich aktiv<br />
zu beteiligen. Sie tun sich einfach<br />
leichter mit den Fremdsprachen<br />
<strong>und</strong> scheinen weniger Angst zu haben,<br />
ihr Gesicht zu verlieren.
P&G: In den westlichen Medien wird<br />
häufig der Eindruck vermittelt, dass<br />
in China das Konkurrenzdenken schon<br />
recht früh ausgeprägt ist. Entspricht<br />
dies auch Ihren Erfahrungen?<br />
Thorn: Der Wettbewerbsgedanke<br />
ist in China durchaus ausgeprägt.<br />
Ich kann aber nicht für ganz China<br />
sprechen. Eine Besonderheit in<br />
Südchina mag zum Teil auch darin<br />
liegen, dass gerade der Shanghaier<br />
Raum in dem Ruf steht, aufgr<strong>und</strong><br />
der Handelstradition eine extreme<br />
Wettbewerbsgesellschaft zu sein.<br />
Außerhalb der Familien scheinen<br />
darunter manchmal Werte wie soziale<br />
Verantwortung oder Loyalität<br />
gegenüber den Arbeitgebern zu leiden.<br />
„Die chinesischen Frauen<br />
fangen schneller an, sich<br />
aktiv zu beteiligen“<br />
P&G: Ein anderes typisches China-Bild<br />
ist das der pausenlos arbeitenden Menschen.<br />
Entspricht dies Ihrem Eindruck<br />
von den chinesischen Studierenden?<br />
Thorn: Die chinesischen Studierenden<br />
arbeiten hart <strong>und</strong> investieren<br />
viel Zeit für das Lernen. In Suzhou<br />
konnte dies dann mitunter zu Meinungsverschiedenheiten<br />
mit den<br />
amerikanischen <strong>und</strong> europäischen<br />
Studierenden führen, wenn sich die<br />
Chinesen spät abends noch zum gemeinsamen<br />
Lernen zusammensetzen<br />
wollten. Wenn sie ein konkretes<br />
Ziel vor Augen haben, arbeiten die<br />
Chinesen, glaube ich, wirklich bis<br />
zum Umfallen. Ob das immer effizient<br />
geschieht, ist dabei natürlich<br />
eine andere Frage. Dennoch ist es<br />
keineswegs eine <strong>Gesellschaft</strong>, die<br />
nur für die Arbeit lebt, sondern im<br />
Gr<strong>und</strong>e feiern auch die Chinesen<br />
wirklich gerne <strong>und</strong> genießen ihre<br />
Freizeit.<br />
P&G: Hat die rasante wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Entwicklung in<br />
China Auswirkungen auf Ihre Kurse<br />
<strong>und</strong> die Studierenden?<br />
// 1 //<br />
Thorn: Für das Programm in Suzhou<br />
verzeichnen wir einen stetigen Anstieg<br />
an Bewerbern, deren Qualität<br />
immer besser wird. Gerade in Bezug<br />
auf die Englischkenntnisse gab es<br />
über die Jahre einen beachtlichen<br />
Fortschritt. Eine andere Beobachtung<br />
ist der Nationalstolz, mit dem<br />
die Chinesen in Diskussionen für ihr<br />
Land einstehen. Der scheint durch<br />
die wirtschaftlichen Entwicklungen<br />
deutlich belebt zu sein.<br />
„Die Chinesen haben keine<br />
Zukunftsängste“<br />
P&G: Wenn Sie deutschen Studenten einen<br />
Rat geben sollten, gibt es etwas, das<br />
wir von den Chinesen lernen sollten?<br />
Thorn: Zunächst müssen sie lernen,<br />
mit anderen sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Strukturen umzugehen<br />
<strong>und</strong> den anderen so zu akzeptieren,<br />
wie er ist. Dabei haben die Chinesen<br />
sehr sympathische Seiten, denn sie<br />
sind ein sehr familienfre<strong>und</strong>liches<br />
<strong>und</strong> fröhliches Volk, in dem viel<br />
gelacht wird. Vielleicht können wir<br />
uns davon etwas abschauen. Die Chinesen<br />
haben auch – anders als wir<br />
– keine entsprechenden Zukunftsängste.<br />
Während bei uns alles, was<br />
neu ist, mit großem Misstrauen beäugt<br />
wird, gilt in China das andere<br />
Extrem: Das Neue scheint immer<br />
besser zu sein als das Alte. Ob man<br />
dieses Klischee, dass wir so fleißig<br />
werden müssen wie die Chinesen,<br />
übernehmen muss, dazu würde ich<br />
sagen, dass es – wie überall – Fleißige<br />
<strong>und</strong> weniger Fleißige gibt. Die<br />
Chinesen haben jedoch ihre eigene<br />
Kultur, <strong>und</strong> damit muss man lernen<br />
umzugehen. Wir sollten <strong>und</strong><br />
werden die Chinesen nicht ändern,<br />
aber wir sollten auch uns nicht derart<br />
verändern, um sie schließlich zu<br />
imitieren. Denn ich glaube, dass das<br />
bei den Chinesen auf wenig Respekt<br />
stoßen würde.<br />
P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
An Interview by Stephan Kuntner<br />
P&G: Why is studying abroad attractive<br />
to Chinese students?<br />
Runyu Wang: Even though the economy<br />
is growing rapidly, China still<br />
is a developing country. Taking a<br />
different perspective and gaining<br />
new knowledge and ideas provides<br />
inspiration for our policy at home.<br />
Individually, studying abroad can<br />
also increase my chances to find an<br />
interesting job and have a fulfilling<br />
career.<br />
Dongzhen Yu: Particularly for law<br />
students who want to work for an<br />
international law firm or specialize<br />
in international law, studying<br />
abroad is an essential requirement.<br />
Of course, Germany’s reputation for<br />
studying law is not yet comparable<br />
with England or the US. Nevertheless,<br />
as the popularity of Bucerius is<br />
growing so fast, I am sure that this<br />
will change in the future.<br />
P&G: What are typical difficulties Chinese<br />
Students have to face if they want<br />
to study abroad?<br />
Yu: Many Chinese students wish<br />
to study abroad but their main<br />
concern is to finance their studies.<br />
Depending on how excellent the<br />
student is, he might be awarded a<br />
scholarship, although the competition<br />
for this is very strong.<br />
Wang: Even some of the best Chinese<br />
students never have the opportunity<br />
to study abroad. The decision<br />
whether one can afford the expensive<br />
fees and higher cost of living<br />
depends on the financial support<br />
of the families. With an income of<br />
most Chinese families between only<br />
EUR 150,- and 500,- per month, this<br />
is quite a burden for the families.<br />
Therefore I am very grateful that I<br />
receive a partial scholarship.<br />
P&G: Why did you choose Germany as<br />
the country for your studies abroad?<br />
// 2 //<br />
Go West<br />
Chinesische Studenten erk<strong>und</strong>en Deutschland<br />
Yu: When I decided to participate in<br />
the Bucerius International Program<br />
in 2004, I was influenced by the very<br />
positive public opinion the Chinese<br />
have about Germany. Especially the<br />
way how Germany dealt with its liability<br />
for the Second World War is<br />
highly respected in China, as we are<br />
still very sensitive about the Japanese<br />
attitude towards the Anti-Japanese<br />
War from 1937 to 1945. Furthermore,<br />
Germany of course is the<br />
origin of Communism and home<br />
of Karl Marx and Friedrich Engels.<br />
When I returned to Germany in<br />
2006, I was attracted by the unique<br />
Master’s Program at Bucerius. During<br />
an Internship at an international<br />
law firm in Shanghai, I realized<br />
that I<br />
“ G e r m a n y<br />
is a developed,<br />
tidy and well-ordered<br />
country”<br />
had to improve my professional<br />
knowledge and legal English skills.<br />
Wang: Besides the good relationship<br />
between my University and Bucerius<br />
Law School, in my opinion, Germany<br />
is the western country that is<br />
most friendly to China. In China, we<br />
think that Germany is a developed,<br />
tidy and well-ordered country with<br />
a very good legal system. And, of<br />
course – Germany is known for having<br />
the best beer in the World. Living<br />
here for the past four months<br />
now, I have to say that Germany is<br />
more beautiful than I had expected<br />
and that I really like the nice, friendly<br />
people in Germany.<br />
P&G: What are differences between<br />
China and Germany in regard<br />
to the style of lectures at University?
Wang: In Germany, students are<br />
more active and involved in the<br />
classes than in China. At my Chinese<br />
University, we have more than 200<br />
students in one class and there is<br />
no interaction with the Professors.<br />
Master Programs in China mainly<br />
rely on the students studying by<br />
themselves. In addition, the curriculum<br />
is not as structured and well<br />
guided as the Bucerius Program.<br />
Yu: Professors in Germany are very<br />
experienced and very professional.<br />
During their lectures, they focus<br />
on the law and teach us to analyse<br />
and work with the law. In China on<br />
the other hand, the rule of law has<br />
not been the legal tradition and for<br />
over twenty years, until the end of<br />
the Cultural Revolution, there was<br />
no legal education at all. As a result<br />
the Chinese Professors still do not<br />
always focus on analysing and working<br />
with the law but rather rely on<br />
general principles.<br />
P&G: Have you noticed any differences<br />
between Chinese and German students?<br />
Wang: Chinese students are also<br />
very friendly and seem to have similar<br />
interests to German students.<br />
However, student life in China is<br />
mainly influenced by studying very<br />
hard to achieve a good degree at<br />
University. The competition is very<br />
strong and students are confronted<br />
with huge pressure to make a successful<br />
career.<br />
Yu: German students seem to be<br />
more independent and very selfdisciplined,<br />
whereas Chinese students<br />
are strongly influenced and<br />
guided by authorities.<br />
“I got used to eating<br />
bread”<br />
P&G: Is there anything that you consider<br />
typically German and now realize<br />
that you have adopted those “German<br />
characteristics”?<br />
Yu: One aspect is the German food.<br />
I actually got used to eating bread,<br />
which was uncommon to me before.<br />
In China, we also like to eat<br />
warm meals three times a day but<br />
during my time in Germany I began<br />
to forget about having hot food all<br />
the time.<br />
For the second aspect, I am not really<br />
sure if it is typical German or<br />
not – but as it is very important<br />
for Chinese people that everyone<br />
“keeps his face”, meaning to have<br />
an honourable reputation I have<br />
noticed that this is quite different<br />
in Germany. It seems that people<br />
don’t give the whole concept about<br />
“keeping the face” much thought<br />
and especially after a night at the<br />
bars, people enjoy spreading stories<br />
about rather embarrassing things<br />
the others said or did. Therefore it<br />
seems as if one always has to cherish<br />
his reputation very much.<br />
Wang: I think there are many positive<br />
characteristics that I would like<br />
to learn from the Germans, especially<br />
thoroughness and efficiency.<br />
P&G: How can the studies in Germany<br />
influence your future?<br />
Wang: I am sure that this experience<br />
in Germany will strongly influence<br />
my future, as I am acquiring so<br />
many new ideas and different methods<br />
to resolve problems. Getting<br />
to know so many people from different<br />
countries and making friends<br />
from all over the world is another<br />
aspect that will permanently enrich<br />
my life.<br />
Yu: I would like to act as a “bridge”<br />
between China and Germany and<br />
enhance the cooperation between<br />
Runyu Wang grew up in Bading,<br />
Hebei Province and is an LL.M Graduate<br />
from the Chinese Academy of<br />
Social Sciences in Beijing. She takes<br />
part in the Bucerius/WHU Master<br />
of Law and Business-Program<br />
2007/2008.<br />
Dongzhen Yu grew up in Dezhou,<br />
Shandong Province and is an LL.M<br />
Graduate of Legal History from Fudan<br />
University School of Law. He<br />
participated in the Bucerius International<br />
Programm 2004 and graduated<br />
2007 as a Bucerius/WHU Master<br />
of Law and Business.<br />
// //<br />
our countries. As German people<br />
and companies are exploring the<br />
East, we Chinese will eventually do<br />
the same and explore Europe. As we<br />
do this, we have to respect that the<br />
European countries have their own<br />
history, culture and values, which<br />
are quite different from Chinese<br />
culture. Unless we respect these<br />
differences, it may lead to fear or<br />
scepticism of the Europeans and<br />
cause conflicts between China and<br />
Europe.<br />
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Chinesisch wird eine immer beliebtere<br />
Sprache <strong>und</strong> die Anzahl<br />
der Menschen, die Chinesisch als<br />
Fremdsprache lernen wollen, steigt.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> sprach Stephan<br />
Kuntner mit Hong Li-Ziemer <strong>und</strong><br />
Dr. Ruth Cremerius über die Geschichte<br />
der chinesischen Sprache,<br />
ihre zunehmende Verbreitung <strong>und</strong><br />
die Schwierigkeiten, die mit ihrem<br />
Erlernen verb<strong>und</strong>en sind<br />
P&G: Frau Li-Ziemer, wenn Sie es in nur<br />
wenigen Worten beschreiben müssten:<br />
Was würden Sie sagen, ist der wesentliche<br />
Unterschied zwischen der chinesischen<br />
Sprache <strong>und</strong> den indogermanischen<br />
Sprachen?<br />
Li-Ziemer: In der chinesischen Sprache<br />
gibt es kein Alphabet, aus dem<br />
die Wörter zusammengesetzt werden,<br />
sondern die Sprache besteht<br />
aus Schriftzeichen. Die Schwierigkeit<br />
liegt insbesondere darin, dass<br />
aus dem Schriftzeichen selbst kein<br />
Rückschluss auf die Aussprache<br />
des Wortes gezogen werden kann.<br />
Sieht man ein Schriftzeichen zum<br />
ersten Mal, steht man diesem erst<br />
einmal sprachlos gegenüber. Um<br />
Chinesisch zu lernen, muss deshalb<br />
jedes Wort doppelt gelernt werden.<br />
Zum einen die Schreibweise <strong>und</strong><br />
zum anderen die Aussprache des<br />
Schriftzeichens. Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
wurde extra dafür das Pinyin<br />
entwickelt, eine lateinische Lautschrift,<br />
die die Aussprache der chinesischen<br />
Schriftzeichen wiedergibt.<br />
Erschwert wird die Aussprache<br />
allerdings wiederum dadurch, dass<br />
jedes Wort im Hochchinesischen in<br />
vier unterschiedlichen Tonhöhen<br />
ausgesprochen werden kann <strong>und</strong><br />
dass es je nach Tonhöhe eine andere<br />
Bedeutung hat.<br />
P&G: Sie sprechen von „Hochchinesisch“,<br />
welche Sprachenvielfalt besteht<br />
innerhalb Chinas?<br />
Li-Ziemer: In China bestehen große<br />
sprachliche Unterschiede zwischen<br />
// //<br />
Das Französisch der Zukunft<br />
Ein Gespräch mit zwei Chinesischlehrenden<br />
den einzelnen Regionen. Anders als<br />
in Deutschland weicht die Sprache<br />
der Menschen im Süden so stark<br />
von der Sprache der Nordchinesen<br />
ab, dass es für diese zum Teil wie<br />
eine fremde Sprache klingt.<br />
Cremerius: In China können verschiedene<br />
Regionalsprachen unterschieden<br />
werden, die sich wieder in<br />
verschiedene Untergruppen gliedern.<br />
Dadurch wird die mündliche<br />
Verständigung innerhalb Chinas<br />
enorm erschwert, was immer eines<br />
der ganz großen Probleme des<br />
Landes war. Durch die Bemühungen<br />
der chinesischen Regierung seit<br />
1949, in den Schulen <strong>und</strong> Medien<br />
hochchinesische Sprecher einzusetzen,<br />
wurde inzwischen aber<br />
erreicht, dass im Gr<strong>und</strong>e jedes chinesisches<br />
Kind Hochchinesisch versteht,<br />
selbst wenn es zu Hause eine<br />
Regionalsprache spricht.<br />
P&G: Häufig wird auch „Mandarin“ als<br />
Bezeichnung für die chinesische Sprache<br />
verwendet, ist das nur ein anderer<br />
Begriff für Hochchinesisch?<br />
Cremerius: Mandarin ist ein Lehnwort,<br />
das nur außerhalb Chinas<br />
verwendet wird. Ursprünglich bezeichnete<br />
Mandarin einen hohen<br />
Beamten. Als Peking Regierungshauptstadt<br />
wurde [Anm. d. Red.:<br />
1421 n. Chr.], kamen Beamte aus<br />
dem ganzen Reich in die Hauptstadt,<br />
die sich zwar schriftlich durch<br />
die einheitlichen Schriftzeichen<br />
problemlos verständigen konnten,<br />
aber deren mündlicher Austausch<br />
ungeheure Probleme bereitet hat.<br />
Unter den Beamten hat sich deshalb<br />
eine Sprache entwickelt, die<br />
auf den Lautungen der im Raum Peking<br />
gesprochenen Regionalsprache<br />
basierte. So entstand die Lingua<br />
Franca der Beamtenschaft. Abgeleitet<br />
von dem portugiesischen Wort<br />
mandarim, welches Ratgeber <strong>und</strong><br />
Minister bedeutet, nahmen die<br />
Briten dieses Wort später auch als<br />
Bezeichnung für die chinesische<br />
Sprache auf. Dieser angelsächsische<br />
Ausdruck Mandarin schmuggelt sich
nun allmählich auch ins Deutsche<br />
ein.<br />
„Mandarin ist ein Lehnwort,<br />
das nur außerhalb<br />
Chinas verwendet wird“<br />
Streng genommen sind Mandarin<br />
<strong>und</strong> Hochchinesisch jedoch zu trennen.<br />
Hochchinesisch ist im Gr<strong>und</strong>e<br />
aber auch eine Kunstsprache, die<br />
nach dem Niedergang des Kaiserreichs<br />
Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
entstanden ist. Auf einer eigens<br />
einberufenen Konferenz zur Festlegung<br />
einer einheitlichen Nationalsprache<br />
kam es zu starken Auseinandersetzungen<br />
zwischen den<br />
Vertretern der Nord- <strong>und</strong> Südchinesen<br />
darüber, welche Regionalsprache<br />
als Gr<strong>und</strong>lage der einheitlichen<br />
Sprache dienen sollte. Die Fraktion<br />
aus Nordchina konnte sich dabei<br />
letztendlich durchsetzen, weshalb<br />
das heutige Hochchinesisch auf der<br />
Sprache beruht, die in <strong>und</strong> um Peking<br />
gesprochen wird.<br />
P&G: Neben den Schwierigkeiten, die<br />
Sie eingangs beschrieben haben – was<br />
macht Chinesisch zu einer so anspruchsvollen<br />
Sprache?<br />
Cremerius: Die Schriftzeichen bereiten<br />
den Lernenden eindeutig am<br />
meisten Schwierigkeiten.<br />
Li-Ziemer: Die Grammatik hingegen<br />
ist für die Umgangssprache sehr<br />
einfach zu erlernen, denn es gibt<br />
weder Konjugationen noch Deklinationen.<br />
Auch die Aussprache erlernen<br />
viele Schüler recht schnell,<br />
wohingegen das Training des Hör-<br />
verständnisses deutlich schwieriger<br />
ist <strong>und</strong> viel Zeit beansprucht.<br />
P&G: Konnten Sie beobachten, inwiefern<br />
das Erlernen dieser so gr<strong>und</strong>legend<br />
anderen Sprache zu Veränderungen<br />
beim Lernverhalten Ihren Sprachschülern<br />
führt?<br />
Cremerius: Hirnforscher in den<br />
USA haben sich mit der Frage beschäftigt,<br />
wie sich das Erlernen der<br />
chinesischen Sprache auf die Hirnfunktionen<br />
auswirkt. Sie haben dabei<br />
festgestellt, dass beim Sprechen<br />
von Hochchinesisch oder Kantonesisch<br />
beide Gehirnhälften aktiv<br />
sind. Diese Forschungen werden<br />
noch fortgesetzt <strong>und</strong> davon versprechen<br />
auch wir uns spannende<br />
Erkenntnisse für die Ausbildung<br />
von Chinesischlernenden. Aus meinen<br />
eigenen Beobachtungen kann<br />
ich sagen, dass sich die Gedächtnisfähigkeiten<br />
von Chinesischlernenden<br />
deutlich verbessern.<br />
„Die Gedächtnisfähigkeit<br />
von Chinesischlernenden<br />
verbessert sich deutlich“<br />
Li-Ziemer: Ich merke bei meinen<br />
Kindern, die beide Chinesisch spre-<br />
chen <strong>und</strong> mit denen ich bis zum<br />
Kindergartenalter überhaupt kein<br />
Deutsch gesprochen habe, dass beide<br />
ungeheuer schnell auswendig<br />
lernen können <strong>und</strong> ein sehr gutes<br />
Gedächtnis haben, was ihnen unheimlich<br />
beim Erlernen weiterer<br />
Sprachen hilft.<br />
P&G: Was ist nach Ihrer Erfahrung die<br />
Motivation der meisten Studierenden<br />
// //<br />
<strong>und</strong> Sprachschüler, sich dem Chinesischen<br />
zu widmen?<br />
Cremerius: Bei unseren Sinologiestudenten<br />
spielen ein großes Interesse<br />
an der chinesischen Kultur<br />
<strong>und</strong> der Wunsch, durch den Schrifterwerb<br />
auch Texte im Original zu<br />
lesen, eine entscheidende Rolle.<br />
Viele unserer Studierenden haben<br />
auch in der Schule schon drei bis<br />
vier Fremdsprachen gelernt <strong>und</strong><br />
möchten nun eine nicht-indogermanische<br />
Sprache lernen. Andere<br />
wiederum haben schon mehr oder<br />
weniger konkrete Berufsvorstellungen,<br />
etwa als Kulturvermittler<br />
zwischen China <strong>und</strong> Deutschland<br />
oder in der Wirtschaft zu arbeiten.<br />
Das Interesse kann sich aber natürlich<br />
während des Studiums ändern,<br />
etwa die Hälfte der Studierenden<br />
arbeitet später in der Wirtschaft,<br />
andere sind in den unterschiedlichsten<br />
Bereichen tätig.<br />
Li-Ziemer: Bei meinen Sprachschülern<br />
ist die Motivation auch sehr<br />
unterschiedlich. Als ich vor zwanzig<br />
Jahren mit dem Unterricht begonnen<br />
habe, waren überwiegend<br />
das Interesse an der Kultur oder die<br />
Vorbereitung einer privaten Chi-<br />
nareise ausschlaggebend. Aufgr<strong>und</strong><br />
der aufstrebenden wirtschaftlichen<br />
Rolle Chinas haben inzwischen immer<br />
mehr Sprachschüler den Eindruck,<br />
sie müssten die Sprache lernen,<br />
um langfristig den Anschluss<br />
nicht zu verpassen. So möchten<br />
viele Geschäftsleute <strong>und</strong> Manager<br />
Gr<strong>und</strong>kenntnisse in der Sprache<br />
erwerben, um diese im Zuge ihrer<br />
Geschäftskontakte zu Chinesen an-<br />
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>
Campus - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
wenden zu können. Es gibt nur ganz<br />
wenige Schüler, die sich gezielt<br />
auf die HSK-Prüfung vorbereiten.<br />
Der Hanyu Shuiping Kaoshi ist ein<br />
standardisierter <strong>und</strong> international<br />
anerkannter chinesischer Sprachfähigkeitstest,<br />
der etwa Voraussetzung<br />
für ein chinesischsprachiges<br />
Studium an einer chinesischen<br />
Universität ist oder auch als Einstellungsvoraussetzung<br />
bei einigen<br />
Unternehmen gilt. Diese Sprachschüler<br />
lernen natürlich auf einem<br />
ganz anderen Niveau.<br />
P&G: Haben diese Veränderungen bei<br />
der Motivation auch Auswirkungen auf<br />
die Nachfrage nach Chinesischkursen<br />
<strong>und</strong> Studienplätzen der Sinologie?<br />
Li-Ziemer: Ich kann seit geraumer<br />
Zeit einen ganz starken Anstieg der<br />
Nachfrage verzeichnen.<br />
Cremerius: Die Zahl der Interessenten,<br />
die die Sprache lernen<br />
möchten, hat insgesamt zugenommen.<br />
Als diese Entwicklung in den<br />
80er Jahren begonnen hatte, bestand<br />
zum Erlernen der Sprache<br />
nur die Möglichkeit eines Sinologiestudiums,<br />
was zu einer enormen<br />
Zunahme der Studienanfänger<br />
führte. Inzwischen erleben wir aber<br />
die sehr schöne Entwicklung, dass<br />
sich das große Thema China <strong>und</strong><br />
die chinesische Sprache in anderen<br />
Fakultäten ausbreiten. In Hamburg<br />
konzipieren wir momentan zusammen<br />
mit den Wirtschaftswissenschaftlern<br />
einen neuen BA-Studiengang,<br />
der Sinologie <strong>und</strong> Wirtschaft<br />
verbindet.<br />
P&G: Wenn Sie einen Ausblick in die<br />
Zukunft wagen, welche Bedeutung wird<br />
die chinesische Sprache in zwanzig,<br />
dreißig Jahren weltweit haben?<br />
Li-Ziemer: Die Verbreitung der chinesischen<br />
Sprache in Südostasien<br />
erfolgt rasend schnell, egal, ob man<br />
nach Thailand, Vietnam oder Indien<br />
schaut. Doch auch in England<br />
wird an immer mehr Gr<strong>und</strong>schulen<br />
Chinesischunterricht angeboten.<br />
Die Entwicklung in Hamburg<br />
zeigt, dass immer mehr Gymnasien<br />
Chinesisch als AG anbieten <strong>und</strong><br />
auf eine große Nachfrage stoßen.<br />
In einem Hamburger Gymnasium<br />
// //<br />
wird Chinesisch inzwischen sogar<br />
schon als Leistungskurs angeboten.<br />
Ich könnte mir deshalb vorstellen,<br />
dass Chinesisch bereits in zehn Jahren<br />
in den Schulen den Stellenwert<br />
erlangt, den heute Spanisch oder<br />
Französisch haben.<br />
„Chinesisch wird sich in<br />
den kommenden Jahren<br />
wirklich etablieren“<br />
Cremerius: Man kann sagen, dass<br />
Chinesisch allmählich Russisch von<br />
den Schulen verdrängt. Die Ressourcen<br />
werden neu verteilt. Ob<br />
das ein Boom ist, der irgendwann<br />
vorbei ist, wird sich zeigen, aber ich<br />
denke, dass sich Chinesisch in den<br />
kommenden Jahren wirklich etablieren<br />
wird.<br />
P&G: Wie viele Schriftzeichen muss man<br />
gelernt haben, bis man Chinesisch „beherrscht“?<br />
Cremerius: Es hängt stark davon ab,<br />
mit welchem Ziel man die Sprache<br />
lernt <strong>und</strong> was man mit ihr machen<br />
möchte. Je nachdem, in welchem<br />
Bereich man die Sprache nutzen<br />
möchte, braucht man ein unterschiedliches<br />
Vokabular, so dass pauschale<br />
Antworten schwierig sind.<br />
Li-Ziemer: Im Alltag kann man sich<br />
mit 2500 bis 3000 Schriftzeichen gut<br />
bewegen <strong>und</strong> eine chinesische Zeitung<br />
lesen.<br />
P&G: Und wie lange dauert es, bis man<br />
ein gutes Sprachniveau erreicht hat?<br />
Li-Ziemer: Das kommt natürlich auf<br />
den einzelnen Studenten an, wie<br />
viel Ehrgeiz, Zeit <strong>und</strong> Energie er in<br />
das Erlernen der Sprache investiert.<br />
Die Schüler etwa, die sich auf die<br />
HSK-Prüfung vorbereiten, haben<br />
konkrete Ziele <strong>und</strong> arbeiten sehr<br />
ehrgeizig darauf hin.<br />
Cremerius: Liegt das entsprechende<br />
Engagement vor, so ist es unseren<br />
guten <strong>und</strong> sehr guten Studenten<br />
in der Regel möglich, nach einem<br />
zweijährigen Studium an der Uni-<br />
versität <strong>und</strong> einem halbjährigen<br />
Aufenthalt in China die HSK-Prüfung<br />
auf Stufe sechs zu bestehen,<br />
welches die Zugangsvoraussetzung<br />
für die Universität ist.<br />
P&G: Vielen Dank für das Gespräch!<br />
Hong Li-Ziemer ist in Beijing aufgewachsen<br />
<strong>und</strong> hat dort Germanistik,<br />
Literatur <strong>und</strong> Geschichte studiert.<br />
Seit 1986 lebt sie in Deutschland <strong>und</strong><br />
lehrt seit über 15 Jahren als freie Dozentin<br />
an verschiedenen Hochschulen<br />
die chinesische Sprache. Zudem<br />
ist sie Direktorin der „Hanhua-Chinesischschule“<br />
in Hamburg. 2007<br />
wurde sie von der chinesischen Regierung<br />
offiziell als „Herausragende<br />
Chinesischlehrerin im Ausland“<br />
ausgezeichnet.<br />
Dr. Ruth Cremerius ist promovierte<br />
Sinologin. Sie unterrichtet chinesische<br />
Sprache <strong>und</strong> zeitgenössische<br />
Literatur am Asien-Afrika-Institut<br />
der Universität Hamburg.
<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> 1/2008<br />
Chefredaktion<br />
Lara Friederichs, Martin Hejma (V.i.S.d.P.)<br />
Kaufmännische Leitung<br />
Eva Schreiber<br />
Grafik, Layout <strong>und</strong> Fotos<br />
Konstantin Kleine - www.konsi.net<br />
Schlussredaktion<br />
Lukas Mezger<br />
Jacob Roggon<br />
Katharina Minski<br />
Redaktion<br />
Welt<br />
Konrad Erzberger<br />
Alexander Iken<br />
Marvin Nimoh<br />
Europ<br />
Astrid Schnabel<br />
Marlene Ruf<br />
Melanie Buhk<br />
Deutschland<br />
Katharina Mohr<br />
Lukas Inhoffen<br />
Wiebke Thurm<br />
Hamburg<br />
Rabea Herbener<br />
Lola Nick<br />
Campus<br />
Aline Kalb<br />
Gesamtredaktion<br />
Daniel Schneider<br />
Lukas Mezger<br />
Fabian Klemme<br />
Stephan Kuntner<br />
Entwicklung<br />
Hanna Schridde<br />
Konrad Erzberger<br />
Herausgeber<br />
Die Redaktion<br />
Dank gilt…<br />
der Hochschulleitung der Bucerius Law<br />
School:<br />
Herrn Dr. Hariolf Wenzler, Herrn Professor<br />
Dr. Karsten Schmidt <strong>und</strong>Herrn Dr. Markus<br />
Baumanns<br />
für die wohlwollende Unterstützung dieser<br />
studentischen Initiative;<br />
den Mitarbeitern des Studiums Generale<br />
für tatkräftige Unterstützung;<br />
Dr. Götze Land & Karte,<br />
für die fre<strong>und</strong>liche Leihgabe der Titelbild-<br />
Utensilien;<br />
dem Hammonia Verlag, insbesondere Herrn<br />
Römer für die sehr gute Zusammenarbeit<br />
// 7 //<br />
ISSN 18 2 - 021<br />
Kontakt<br />
politik-gesellschaft@law-school.de<br />
www.politik-gesellschaft.de<br />
Alle Beiträge erscheinen exklusiv in <strong>Politik</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Die dabei vertretenen Ansichten<br />
sind solche der Autoren; sie spiegeln<br />
weder die Ansichten der Redaktion noch die<br />
der Bucerius Law School wider.<br />
Bildverzeichnis<br />
Titel, S. 3, 4, 14, 34, 36, 37, 41, 42, 43, 44, 45,<br />
46, 47, 48, 52, 53, 56, 57, 58, 60, 61, 64, 65, 66,<br />
67: Konstantin Kleine/konsi.net<br />
S. 6: Oliver Spuhl/ospuhl.de<br />
S. 11 Fragenus/PIXELIO<br />
S. 12: CC-BY-NC-SA 2.0-US Premshree Pillai<br />
S. 16/17: CC-BY-SA 2.0-US David Axe<br />
S. 18/19: Fabian Klemme<br />
S. 21: Torun Basu<br />
S. 22/23: CC-BY-NC-SA 2.0-US hampshiregirl<br />
S. 26/27: Yaroslav Ushakov<br />
S. 29: Ove Tøpfer<br />
S. 32: Sybille Mader/PIXELIO<br />
S. 33: CC-BY-SA Meph 666<br />
S. 35: Felix Jaeger<br />
S. 45: CC-BY-SA RvM, CC-BY-NC-SA Dave<br />
Dunne<br />
S. 50/51: Sir Toby/photocase.de<br />
S. 54/55: blickEnd/photocase.de<br />
S. 59: Bucerius Law School gGmbH<br />
S. 63: privat<br />
Impressum - Ausgabe 1/2008 - <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>