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zds#29

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DIE ZEITSCHRIFT<br />

DER STRASSE<br />

Das Bremer Straßenmagazin<br />

nr. 29 – JULI 2015<br />

www.zeitschrift-der-strasse.de<br />

Preis: 2 Euro<br />

Davon 1 Euro für<br />

den verkäufer<br />

GROHNER<br />

DÜNE<br />

DER ERSTE<br />

MIETER<br />

DAS ZWEITE<br />

ZUHAUSE<br />

EIN SONG<br />

FÜR MAMA<br />

KEIN<br />

KUSS<br />

Wie der Traum vom<br />

Leben im vertikalen<br />

Dorf zerplatzte<br />

Fünf Cousins, ein<br />

Jugendclub und der<br />

Fußball<br />

Tonstudio, Shisha-<br />

Bar, Küchenbank. Ein<br />

Abend mit Semo<br />

Ein Bier. Ein Korn.<br />

Kein Kuss. Eine<br />

Nacht bei Walter


EDITORIAL | 3<br />

Hinter der<br />

Fassade<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

als wir in der Redaktion diskutierten, ob wir uns in der aktuellen Ausgabe<br />

mit der Grohner Düne beschäftigen wollen, diesem Koloss mit über<br />

1.500 Mietern, standen viele Fragen im Raum: Werden die Menschen aus<br />

diesem Wohnkomplex mit uns sprechen wollen? Werden sie uns die Türen<br />

öffnen, ihre Geschichten erzählen? Und nicht weniger wichtig: Werden<br />

die Bremer Lust haben, diese Geschichten auch zu lesen?<br />

Schließlich hat die Grohner Düne nicht den besten Ruf. In den Zeitungen<br />

liest man viel von Kriminalität und Drogen, von Polizeieinsätzen<br />

und Gewalt. Jenseits dieser Schlagzeilen aber sind die Grohner Düne<br />

und ihre Bewohner weitgehend unbekannt. Auch aus unserer Redaktion<br />

waren viele vor der Recherche noch nie dort gewsen. Umso wichtiger war<br />

es uns, genauer hinzusehen. Mehrfach waren unsere Reporter vor Ort,<br />

sprachen mit Passanten, Ladenbesitzern, Mietern. Es hat sich gelohnt.<br />

Philipp Jarke etwa traf einen Mann, der als einer der ersten Mieter in<br />

die Düne einzog. Stolz war er damals. Die Bewohner veranstalteten Feste,<br />

feierten zusammen Silvester. Lesen Sie ab Seite 8, wie es weiterging.<br />

Einen ganz anderen Blick hinter die Fassaden der Düne gewann unser<br />

Reporter André Beinke. Er versuchte sich am Couchsurfing. Wer ihn<br />

bei sich übernachten ließ und was dann passierte, lesen Sie in zwei Geschichten<br />

ab Seite 20. Außerdem: die Geschichte von fünf Cousins und<br />

ihrem liebsten Zufluchtsort. Und ein Gedicht.<br />

Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, Sie Kritik haben oder gern<br />

eine Straße vorschlagen wollen, der wir uns widmen sollen, melden Sie<br />

sich unter redaktion@zeitschrift-der-strasse.de. Wir freuen uns.<br />

Viel Vergnügen wünschen<br />

Tanja Krämer, Philipp Jarke<br />

und das ganze Team der Zeitschrift der Straße<br />

Die Zeitschrift der Straße<br />

Foto Titelseite & Seite 2:<br />

André Schmoll<br />

ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt<br />

von Studierenden, JournalistInnen, sozial Engagierten, StreetworkerInnen,<br />

HochschullehrerInnen und von Menschen, die<br />

von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen<br />

sind. Die Zeitschrift der Straße wird auf der Straße verkauft, die<br />

Hälfte des Verkaufserlöses geht an die VerkäuferInnen. Jede<br />

Ausgabe widmet sich einem anderen Ort in Bremen und erzählt<br />

Geschichten von der Straße.


Inhalt<br />

08 Der erste Mieter<br />

Wie der Traum vom Leben im<br />

vertikalen Dorf zerplatzte<br />

12 Das zweite Zuhause<br />

Fünf Cousins, ein Jugendclub<br />

und der Fußball<br />

14 Blickwinkel<br />

Fotostrecke<br />

21<br />

25<br />

Die Liga<br />

der außergewöhnlichen Drucker<br />

12<br />

08<br />

27 Grohner Düne<br />

Ein Gedicht über unverhoffte<br />

Begegnungen<br />

UWE VANDREIER DIETMAR KOLLOSCHÉ ALEXANDRA WILKE UND ANDRÉ APPEL<br />

BERLINDRUCK UND GSG BERLIN PRÄSENTIEREN IN ZUSAMMENARBEIT MIT A1/BREMER KREUZ/A27<br />

OSKAR-SCHULZE-STR. 12 EINE CO-PRODUKTION MIT 28832 ACHIM EINE BERLINDRUCK PRODUKTION<br />

EIN FILM VON REINHARD BERLIN FRANK RÜTER CASTING HEDDA BERLIN ANKE HOLSTE HERSTELLUNGSLEITER WALTER SCHWENN KOSTÜMDESIGNER BJÖRN GERLACH<br />

VOLKER KAHLERT MARCUS LATTERMANN RONALD MICHALAK ANDREAS MINDERMANN MIKE REIMERS JOCHEN RUSTEDT THOMAS VIERKE ERHARD VOSSMEYER<br />

DIRK LELLINGER IN ZUSAMMENARBEIT MIT CHRISTIAN EWERT MARIAN KACYNA MAKE-UP IRIS KAISER-BANDMANN SCHNITT JÖRG WORTMANN PRODUKTIONSDESIGNER<br />

STEPHAN HARMS MELAHAT HALTERMANN THOMAS HARTUNG RANDERS KÄRBER OLE BRÜNS ILKA KÖNIG MONIKA PLOTTKE DENNY QUEDNAU<br />

MARLIES WELLBROCK FOTOGRAFIE-DIREKTOR CARSTEN HEIDMANN AUSFÜHRENDE PRODUZENTEN DAGMAR BAUMGARTEN SONJA CORDES KATRIN HARJES<br />

MARVIN RÖNISCH PRODUKTIONSLEITUNG KATJA LINDEMANN BEST GIRLS/BOYS TESSA WARNECKE CHEVY ORLANDO FRITSCH PRODUZENTEN KIRSTEN HINRICHS<br />

ROLF MAMMEN ANNE SWIERCZYNSKI DREHBUCH HENRIKE OTT NACH EINER IDEE VON PATRICK CALANDRUCCIO PETRA GRASHOFF REGIE ECKARD CHRISTIANI<br />

www.berlindruck.de<br />

21 Ein Song für Mama<br />

Er ist kein Migrant, fühlt sich aber auch nicht<br />

deutsch. Ein Abend mit Semo<br />

25 Kein Kuss<br />

Er trinkt Bier. Und Korn. Er tanzt. Und schweigt.<br />

Eine Nacht bei Walter<br />

28 Unterstützen<br />

29 Neuigkeiten<br />

30 Eine Woche mit … Viorel<br />

31 Impressum & Vorschau<br />

Illustration:<br />

Anna-Lena Klütz ist freie Künstlerin und freut<br />

sich, wenn aus einer scheinbar nichtssagenden<br />

Straße ein Bild voller spannender Einblicke wird.


6 | zahlEN<br />

1972<br />

GROHNER<br />

DÜNE<br />

Großwohnanlage im Ortsteil Grohn, gelegen im<br />

Straßendreieck Friedrich-Klippert-Straße,<br />

Hermann-Fortmann-Straße und Bydolekstraße<br />

2015<br />

Recherche & Text: Tanja Krämer, Philipp Jarke<br />

Foto (2015): André Schmoll<br />

Fläche der Großwohnanlage, in Hektar: 4,9<br />

Etagen im ringförmigen Teil: 6 bis 13<br />

Etagen im L-förmigen Teil: 15<br />

Wohnungen im ringförmigen Teil: 422<br />

Wohnungen im L-förmigen Teil: 150<br />

Bewohner in der Grohner Düne: ca. 1.500<br />

„Auffällige Familienmitglieder“ laut Behörden: 120<br />

Bewohner mit Migrationshintergrund,<br />

in Prozent: 87<br />

Vertretene Nationen: ca. 50<br />

Anzahl der Dünenbewohner 2006, die Sozialhilfe<br />

bezogen, in Prozent: 45<br />

Anzahl der Bewohner in Grohn 2006, die Sozialhilfe<br />

bezogen, in Prozent: 3<br />

Miete pro Quadratmeter bei Erstbezug im ersten<br />

Bauabschnitt, 1973, in D-Mark: 3,14<br />

Miete pro Quadratmeter bei Erstbezug im zweiten<br />

Bauabschnitt, 1975, in D-Mark: 8,30<br />

Miete pro Quadratmeter 1985,<br />

in D-Mark: 6,07 bis 8,47<br />

Miete pro Quadratmeter 2015,<br />

in Euro: ca. 5 bis 5,95<br />

Angebotene freie Wohnungen im Mai: 20<br />

Höhe der Prämie in Form eines Ikea- oder<br />

Obi-Gutscheins beim Abschluss eines Mietvertrages<br />

bis Ende Mai, in Euro: 250<br />

Durchschnittliche Wohndauer in der Grohner<br />

Düne, in Jahren: 6<br />

Durchschnittliche Wohndauer in Grohn,<br />

in Jahren: 15,5<br />

Aktive Initiativen und Gruppen im Bewohnertreff<br />

Dünenwind: 15<br />

Zahl der im Kiosk angebotenen Zeitungen: 0<br />

Eröffnung des Einkaufszentrums Haven Höövt:<br />

2003<br />

Mietfläche dort in Quadratmetern: 35.000<br />

Geschäfte damals: 70<br />

Geschäfte heute: 32<br />

Insolvenz eingereicht: 2012<br />

Hundehaufen: 3<br />

„Hier entsteht das Demonstrativbauvorhaben<br />

Grohner Düne“ stand auf den Bauschildern auf<br />

dem ehemaligen Gelände der Norddeutschen<br />

Steingut AG in bester Lage direkt an der Weser.<br />

„Urbanität durch Dichte“ sollte sich hier entwickeln,<br />

in zwei riesigen Gebäudekomplexen, die<br />

als „vertikales Dorf“ gedacht waren. 1972 und 1973<br />

wurde gebaut, kurze Zeit später zogen die ersten<br />

Mieter in die Gebäude ein. Das eine, ringförmig angelegt,<br />

steigt treppenartig an von sechs auf dreizehn<br />

Stockwerke; das andere, in der Form eines hingeworfenen<br />

Ls, ragt 15 Stockwerke in den Himmel.<br />

Darüber thront die Heizungsanlage. Wer auf dem<br />

Platz in der Mitte steht, fühlt sich an einen burgartigen<br />

Innenhof erinnert, so abgeschlossen wirkt die<br />

Architektur.<br />

Heute gilt die Grohner Düne als Mahnmal architektonischer<br />

Fehlleistungen. In den 1970ern<br />

entstand sie als ein moderner Gegenentwurf zu den<br />

überwiegend kleinen Arbeiterhäuschen, die bis dahin<br />

den Stadtteil Grohn im Bremer Norden dominiert<br />

hatten. Etwa 6.300 Menschen leben hier, in<br />

dem ehemaligen Fischerdorf an Lesum und Weser,<br />

das bis in die Neunzigerjahre geprägt war von der<br />

Schifffahrt und dem Arbeitgeber Bremer Vulkan.<br />

572 Wohnungen gibt es in der Grohner Düne,<br />

von der Einzimmerwohung bis hin zum großzügigen<br />

4-Zimmer-Appartment. Tatsächlich waren<br />

die Unterkünfte anfangs sehr beliebt. Die Einrichtung<br />

war modern, die Nähe zu Vegesacker Bahnhof<br />

und Vegesacker Hafen ideal. Mit der Werftenkrise<br />

Mitte der 1980er-Jahre, bei der viele Grohner ihre<br />

Arbeit verloren, ging es jedoch auch mit der Grohner<br />

Düne bergab. Die Insolvenz der Werft 1997<br />

verschlimmerte die Abwärtsspirale. Wer es sich<br />

leisten konnte, zog weg. Anfang 2001 standen 40<br />

Prozent der Wohnungen leer, viele der Mieter waren<br />

von Sozialhilfe abhängig. Wie die Mieter, wechselten<br />

auch die Besitzer der Grohner Düne ständig:<br />

Nach dem Konkurs der Bremer Treuhand kam die<br />

Neue Heimat, dann der Investmentfond Cerberus,<br />

dann weitere fünf Käufer. 2014 hat nun die Immobilienfirma<br />

Grand City Property aus Zypern die<br />

Düne erstanden.<br />

Historisches Foto: Gustav-Heinemann-Bürgerhaus


8 | Portrait<br />

Text: Philipp Jarke<br />

Fotos: André Schmoll<br />

PORTRAIT | 9<br />

Der erste<br />

Mieter<br />

Rolf Bremer zog 1973 in die neu gebaute<br />

Grohner Düne. Das Leben im vertikalen Dorf<br />

war schön. Bis alles auseinanderfiel<br />

Wenn Rolf Bremer heute im Innenhof der Düne steht, kommen die Erinnerungen<br />

von damals zurück, vor allem die schönen.<br />

Rolf Bremer, 77, läuft über den kinderleeren Spielplatz<br />

und sucht einen Weg, der durch die Büsche<br />

zur Grohner Düne führt. Den Weg hat er vor 40<br />

Jahren täglich genommen. „Den Spielplatz gab es<br />

damals noch nicht“, sagt er und steigt einen Sandhügel<br />

hinauf. „Nee, hier auch nicht.“ Er geht an<br />

Klettergerüsten entlang, dann steht er vor einem<br />

Abhang. Bremer schlittert den Hügel hinunter, tief<br />

hängende Zweige greifen nach seiner Mütze. Na<br />

bitte: Hier geht’s lang.<br />

An der Tiefgarage vorbei, einige Treppen hoch,<br />

dann steht Bremer im Innenhof der Grohner<br />

Düne, in der Mitte eine Rutsche, Bäume ringsum,<br />

Bänke. „Als ich hier einzog“, sagt Bremer, „war<br />

hier alles Matsch.“ Der erste Bauabschnitt war gerade<br />

erst fertig geworden, vor den Aufgängen lagen<br />

noch Bretter, um überhaupt ins Haus zu gelangen.<br />

Dort, ganz oben, in der 22, lebte Rolf Bremer für ein<br />

paar Jahre den Traum der Nachkriegsstadtplaner:<br />

modernes Wohnen, günstig und dicht, in fast dörflicher<br />

Gemeinschaft mit seinen Nachbarn.<br />

Bremer war 1973 als einer der Ersten in die<br />

Düne gezogen, der Koloss am Bahnhof Vegesack<br />

war für ihn eine Chance, die er gern ergriff. Sein<br />

altes Haus im südlichen Grohn war seiner jungen<br />

Familie zu klein geworden. „Wir haben uns die<br />

Wohnungen angeschaut“, erinnert sich Bremer,<br />

„die waren wunderschön.“ Sie verkauften das<br />

Haus und zogen in den 13. Stock, vier Zimmer,<br />

Südbalkon. Bremer kaufte sich ein Fernglas und<br />

schaute auf Weser und Lesum, die Vulkan-Werft<br />

und hinüber nach Delmenhorst und ins Oldenburger<br />

Land.<br />

„Damals“, erinnert sich Bremer, „wurden die<br />

Mieter noch sortiert.“ In jedem Hausaufgang wohnen<br />

sozial benachteiligte Familien zusammen mit<br />

Mittelschichtlern wie den Bremers. Das vertikale<br />

Dorf, es funktioniert, aus der Enge wächst Gemeinschaft.<br />

Mit zwei Dutzend anderen gründet<br />

Bremer einen Nachbarschaftsverein, mietet gleich<br />

hinter der Düne die leerstehende Villa eines Bauunternehmers,<br />

für 600 Mark. Im Garten ernten sie<br />

Spargel, Rhabarber, Quitten und Johannisbeeren,<br />

drinnen gibt es Tanztee, Kaffee und Kuchen für<br />

die Alten, Disko für die Jungen. Die Möbel bekommen<br />

sie gespendet, lange Tische, Uhren, passende<br />

Stühle für das holzgetäfelte Jägerzimmer und sogar<br />

zwei Klaviere.<br />

Wir haben uns die<br />

Wohnungen angeschaut,<br />

sie waren wunderschön<br />

Rolf Bremer hat nach der Schule eine Lehre<br />

zum Postassistenten abgeschlossen. Statt Beamter<br />

zu werden, verdingte er sich aber lieber als angelernter<br />

Kupferschmied auf der Lürssen-Werft und<br />

auf dem Bremer Vulkan. Dann rief die Bundeswehr.<br />

Bremer meldete sich bei der Marine. Zum<br />

ersten Mal raus aus Grohn, das klang nach Abenteuer.<br />

Was kam, war wie ein großer Urlaub. Bremer<br />

wurde Funker auf Sylt. Vier Tage Dienst, drei<br />

Tage frei. „Im Sommer! Man muss sich das vorstellen!“,<br />

ruft Bremer. Mit seinen Kameraden zog er<br />

an den Strand oder spielte Minigolf, „um Mädels<br />

aufzureißen“. Das Wort klingt komisch aus dem<br />

Mund eines 77-Jährigen, aber bei seinem Erzähltalent<br />

hat das damals sicher gut funktioniert.


10 | PORTRAIT<br />

PORTRAIT | 11<br />

Zu dritt sausten sie auf einem Motorroller über<br />

die Insel, keiner hatte einen Führerschein. Egal,<br />

den Dorfpolizisten nahmen sie hintendrauf, „der<br />

hatte ja nur ein Fahrrad“. Bis sie ein Passant fotografierte,<br />

als sie gegen die Fahrtrichtung in eine<br />

Einbahnstraße fuhren. Als Strafe wurde Bremer<br />

versetzt, nach Flensburg. „Nicht weiter schlimm,<br />

war schon November.“<br />

Bremer kehrte nach Grohn zurück, der Freundin<br />

wegen. Eine Bekannte bot ihm einen Verwaltungsjob<br />

beim Wassersportverband an. Das passte.<br />

Bremer heiratete, kaufte ein Haus, sie bekamen<br />

zwei Kinder. Bremer lebte bescheiden, erfreute<br />

sich an einfachen Dingen. Wenn das Leben ihm<br />

aber Chancen bot, packte er zu. Das war schon immer<br />

so. Wie damals bei der Marine, oder später, als<br />

das Haus zu klein wurde. Er verkaufte es für das<br />

Achtfache dessen, was er mal gezahlt hatte.<br />

Als die Bremer Treuhand<br />

Millionen in der Wüste<br />

versenkte, ging es mit der<br />

Düne bergab<br />

Bremer erzählt gern aus seinem Leben, anekdotenreich,<br />

immer mit einer kleinen Pointe. Seine<br />

Geschichten schreibt er auf, alle zwei Wochen trifft<br />

er sich mit einigen Leuten zu einer Schreibwerkstatt<br />

in der Grohner Düne, zwölf Stockwerke unter<br />

seiner damaligen Wohnung.<br />

Ein Jahr nach Bremer ziehen damals auch seine<br />

Eltern in die Düne, zweiter Bauabschnitt, 13.<br />

Stock, später kommt noch seine Schwester. Ein<br />

Phänomen der Düne: Sie wirkt wie ein Magnet, erschafft<br />

Clans, damals wie heute.<br />

„Silvester war hier was los“, sagt Bremer im Innenhof<br />

der Düne und zeigt auf seinen damaligen<br />

Balkon. „Wir hatten Gaspistolen und haben damit<br />

Böller geschossen. Von da“, sein Finger wandert<br />

zur gegenüberliegenden Häuserreihe, „nach da.<br />

Die haben uns beschossen, und wir zurück.“ Bremer<br />

beugt sich hinunter und hält die Hand auf Mitte<br />

Schienbein: „So hoch, alles voller Böllerpapier.“<br />

Und wer hat das weggeräumt? „Wir, die Mieterinitiative.“<br />

Der Hof sollte nicht verkommen, man<br />

schickte die Kinder runter zum Spielen und hatte<br />

sie trotzdem im Blick.<br />

Heute Vormittag ist es ist erstaunlich ruhig im<br />

Hof, von den rund 1.500 Bewohnern ist nicht viel<br />

zu sehen, Vögel zwitschern. In den letzten Jahren<br />

ist es sehr viel ruhiger geworden in der Düne. „Das<br />

kommt auch durch die Videoüberwachung“, sagt<br />

Bremer. Zu seinen Zeiten gab es die noch nicht,<br />

dafür hatten sie eine Polizeidienststelle direkt im<br />

Haus. Da ist es wieder, das vertikale Dorf, mit zwei<br />

Dorfpolizisten ganz unten, wo heute der Gemüsehändler<br />

ist. „Und eine Wohnung war besetzt von<br />

den Fahrstuhlmonteuren“, sagt Bremer, „die sind<br />

gleich dageblieben, war ja immer was zu tun.“<br />

Bremer erzählt, wie sie damals im 13. Stock<br />

über die Balkone kletterten („ein Seil um den<br />

Bauch“), wenn sie sich ausgesperrt hatten, und von<br />

den Hoffesten, die sie organisierten, für die die Bäcker<br />

plattenweise Butterkuchen spendeten. „Die<br />

Kinder waren begeistert“, erzählt Bremer, „hier<br />

gab es ja viele, die nichts hatten, es waren ja Sozialwohnungen.“<br />

Für diese Kinder hat der Mieterverein<br />

jedes Jahr Weihnachtsgeschenke besorgt. „Ich<br />

weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum das damals<br />

so gut lief in der Nachbarschaft“, sagt Bremer.<br />

Ab wann es genau bergab ging in der Düne,<br />

lässt sich heute, vierzig Jahre später, nicht mehr<br />

sagen. Der Auslöser des Niedergangs aber liegt<br />

auf der Hand: 1975, Bremer lebte nun zwei Jahre<br />

in seiner Wohnung, versenkte die Eigentümerin<br />

der Düne, die Bremer Treuhand, mehrere Hundert<br />

Millionen Mark in der algerischen Wüste, wo<br />

sie am Bau Tausender Wohnungen scheiterte. Das<br />

Geld war weg, gespart werden musste daheim, und<br />

bald schlich sich der Verfall in die Grohner Düne.<br />

Reparaturen wurden hinausgezögert, Müll blieb<br />

liegen, Wohnungen wurden wahllos vergeben –<br />

Kleinigkeiten, die sich summierten und das Klima<br />

grundlegend änderten.<br />

1977 ging die Treuhand pleite, die Neue Heimat<br />

übernahm die Düne. Doch die Lage eskalierte.<br />

Die Mieterstruktur war hinüber, im Haus wurde<br />

gesoffen wie verrückt, die Fahrstühle waren<br />

ständig kaputt. Und der Dreck! Die Leute haben<br />

ins Treppenhaus geschissen, keiner machte mehr<br />

richtig sauber, nachts brannten die Keller. Und<br />

dann kamen die Selbstmörder. „Die haben irgendwo<br />

geklingelt, sind hochgegangen und irgendwann<br />

klatschte das“, sagt Bremer. „Nachts merkte man<br />

das nicht so.“<br />

Die Bewohner kürzten die Miete, prozessierten.<br />

Es änderte nichts. Viele zogen weg, die Villa<br />

des Mietervereins wurde abgerissen. Es gab nicht<br />

mehr viel, was Bremer in der Düne hielt.<br />

Die Heizung gab ihm den Rest. Der Heizkessel<br />

für die gesamte Siedlung stand auf dem Dach, genau<br />

über Bremers Wohnung, und vibrierte nach einem<br />

Defekt ununterbrochen. Zuständig war nicht<br />

der Vermieter, sondern eine externe Firma, die das<br />

Dröhnen nicht in den Griff bekam. „Dann haben<br />

wir das Handtuch geschmissen“, sagt Bremer.<br />

Knapp 40 Jahre nach seinem Auszug wohnt Rolf Bremer wieder in Sichtweite<br />

der Grohner Düne.<br />

Er zog mit der Familie in ein Haus in Vegesack,<br />

ließ sich später scheiden. Jahre später lernte Bremer<br />

eine neue Frau kennen, sie heirateten. Mit 56<br />

ging er in Vorruhestand, wieder so eine Chance,<br />

die er sich nicht entgehen ließ. Netto hatte er mehr<br />

raus als vorher.<br />

Heute wohnt Bremer, Ironie des Schicksals, in<br />

einem der Reihenhäuser, für die damals die Villa<br />

seines Mietervereines abgerissen werden musste.<br />

Wenn man so will, ist ein Reihenhaus nicht<br />

großartig anders als ein umgeworfenes Hochhaus.<br />

Genauso dicht, genauso gleichförmig. Aber es gibt<br />

keine Fahrstühle, die streiken, keine Treppenhäuser,<br />

die verdrecken und statt einer dröhnenden<br />

Ölheizung über dem Kopf hat Bremer jetzt einen<br />

Kindergarten nebenan. Das Geschrei der Kinder<br />

schallt beinahe wohltuend in Bremers Vorgarten.<br />

Philipp Jarke ist freier Journalist und Redaktionsleiter<br />

der Zeitschrift der Straße. Bei seinem<br />

ersten Rundgang durch die Grohner Düne<br />

wurde er sofort als Reporter erkannt.


12 | PORTRAIT<br />

portrait | 13<br />

Das zweite Zuhause<br />

Fünf Cousins wachsen in der Düne auf. Richtig heimisch<br />

fühlen sie sich aber woanders – im Jugendclub und auf<br />

dem Bolzplatz<br />

Die Jugendlichen spielen jeden Tag Fußball, auf einem Bolzplatz mit Metalltoren,<br />

umgeben von meterhohen Zäunen.<br />

Die Grohner Düne ist Walids Zuhause, seit seiner<br />

Geburt vor 14 Jahren lebt er in dem turmhohen<br />

Ring aus Beton. So oft es geht bleibt Walid dieser<br />

Heimat fern. Er langweilt sich dort. „Nachmittags<br />

sind wir selten in der Düne. Was soll man da auch<br />

machen?“, sagt er.<br />

Sein zweites Zuhause liegt keine Hundert Meter<br />

entfernt Richtung Weser. Ein holzverkleideter,<br />

doppelstöckiger Zweckbau: das Jugendcafé Haven<br />

Höövt der Arbeiterwohlfahrt. Hier trifft Walid seine<br />

Freunde, spielt Billard, Tischtennis oder Tischfußball.<br />

Es gibt Brettspiele, ein kleines Musikstudio<br />

und einen Kraftraum. Täglich öffnet der Sozialarbeiter<br />

Mathias Scholz das Café für Jugendliche aus<br />

der Düne und Umgebung. Scholz geht dabei an seine<br />

Grenzen „40 bis 50 von ihnen kommen regelmäßig<br />

vorbei und brauchen viel Aufmerksamkeit.<br />

Das ist sehr anstrengend“, sagt er. Viele Jugendliche<br />

präsentieren sich gern als schwere Jungs. Bei<br />

Scholz wird aber schon mal gemeinsam gekocht,<br />

oder sie flechten zusammen Armbänder.<br />

Fast täglich spielen die Jungs um Walid Fußball.<br />

Den ganzen Nachmittag. „Manchmal aber<br />

auch nur zwei, drei Stunden“, sagt einer seiner<br />

Freunde. Walid ergänzt: „Wir sind eigentlich immer<br />

da.“ Sie kicken auf einem sandigen Bolzplatz<br />

zwischen Düne und Café, mit Metalltoren, von<br />

meterhohen Zäunen umgeben, wie ein Käfig. Es<br />

könnte eine Lehrbuchweisheit sein, aber Fußball<br />

hat einen sozialen Effekt. Man kommt auf andere<br />

Gedanken, er fördert über den Teamgeist die Gemeinschaft.<br />

Etwas, das in der Düne zählt. Deshalb<br />

gründete Scholz mit Kollegen die Liga West, eine<br />

Freizeitliga für Jugendliche bis 15 Jahren. Teams<br />

aus verschiedenen Stadtteilen spielen gegeneinander,<br />

im Kleinfeld, zwei mal acht Minuten.<br />

Der Spaß steht im Vordergrund. Aber für viele<br />

gehört zum Spaß Gewinnen dazu. „Es geht ganz<br />

schön zur Sache, da schont sich keiner“, sagt Scholz.<br />

Aber nach dem Spiel gibt man sich die Hand.<br />

Hamdin, Walids Cousin, erzählt, dass sie in der<br />

Mannschaft alle 14 Jahre alt sind. „Die anderen<br />

sind oft älter, einer hat schon einen Vollbart.“ Auch<br />

Mathias Scholz zweifelt bisweilen am Alter der<br />

Gegner. „Aber was soll man machen, Unterschriften<br />

von Eltern lassen sich fälschen.“<br />

Den Kern des Teams bilden fünf Cousins, Walid,<br />

Ali und Hamdin sowie zwei Brüder, die es heute<br />

nicht ins Café geschafft haben. Wie eine zweite<br />

Text: Joschka Schmitt<br />

Foto: André Schmoll<br />

Familie wirkt diese Mannschaft. Die Cousins haben<br />

libanesische Wurzeln, sie sind zusammen in<br />

der Düne aufgewachsen. Auch wenn sie mal nicht<br />

Fußball spielen, sind sie eine Clique. „Im Team<br />

gibt es keine Probleme“, sagt Walid. „Nur neue Mitspieler<br />

machen manchmal Ärger. Die denken, sie<br />

könnten sich aufspielen, weil sie jetzt dabei sind.“<br />

Die „Neuen“ werden auch für viele Probleme<br />

in der Düne verantwortlich gemacht. Zurzeit kommen<br />

viele Polen, Bulgaren und Roma dazu, die sich<br />

erst einmal an die Gangart hier gewöhnen müssen.<br />

Das sorgt mitunter für Reibung. „Klar, dass es laut<br />

wird, teilweise schlafen da zehn Leute in einer<br />

Es geht um den Spaß,<br />

aber für viele gehört<br />

Gewinnen dazu<br />

Dreizimmerwohnung“, sagt Walid. „Es sind aber<br />

viele dabei, die sich zu hart fühlen. Das war vor ein<br />

paar Jahren noch anders“, ergänzt Ali.<br />

Scholz sagt, dass vieles im Trubel untergeht.<br />

„Beispielsweise, dass sie selbst mal so ähnlich angefangen<br />

haben wie die ‚Neuen‘.“ Völlig verständnislos<br />

scheinen die Jungs aber nicht zu sein. „Die<br />

‚Neuen‘ brauchen auch ein Zuhause. Man kann sie<br />

ja nicht einfach rausschmeißen.“<br />

Zurzeit bestimmt Fußball ihren Alltag, aber<br />

was bringt die Zukunft? Ali möchte Automobilkaufmann<br />

werden und ein Familiengeschäft übernehmen.<br />

Und Hamdin? „Ich will Anwalt werden …<br />

Spaß!“ Dafür reichen die Noten wohl nicht. Stattdessen<br />

vielleicht Automobilmechatroniker. Aber<br />

erst mal stehen die Sommerferien an, und die Liga<br />

West wird zu Ende gespielt. „Wenn wir das Turnier<br />

gewinnen, muss Mathias bei McDonald’s einen<br />

ausgeben“, sagt Walid und lacht. Scholz ist gegen<br />

Fastfood. „Dann fahren wir eben in die Waterfront<br />

und gehen Eis essen.“ Gäbe es denn eine Siegesfeier?<br />

Ali guckt irritiert. „Wozu, ist doch nur Freizeit.“<br />

Joschka Schmitt ist freier Journalist. Er<br />

wünscht dem Jugendcafé viel Erfolg für das<br />

Turnier und ein allzeit faires Miteinander.


Blickwinkel


FOTOSTRECKE | 17


Blickwinkel<br />

Der Blickwinkel offenbart Schönheit, wo andere einen Abgrund<br />

sehen. Die Bildserie zeigt diesen Wechels der Perspektive.<br />

Und verdeutlicht, wie wertvoll neue Sichtweisen in eingefahrenen<br />

und vorurteilsbelasteten Situationen sein können.<br />

Eine veränderte Perspektive und detailgenaues Beobachten<br />

können den Betrachter überzeugen, dass in allem etwas Unentdecktes,<br />

gar Schönes steckt. Die Haltung bestimmt den<br />

Blick – und der genaue Blick verändert die Haltung.<br />

Fotos: Begüm Yücelay<br />

Begüm Yücelay studiert Kommunikationsdesign an der<br />

Kunstschule Wandsbek. In ihren Arbeiten versucht sie,<br />

das Unsichtbare sichtbar zu machen. Bei grafischen Arbeiten<br />

wird ihre Detailverliebtheit besonders sichtbar.


Semih Gürlük, genannt Semo, ließ unseren Reporter nicht nur in die<br />

Küche, sondern auch in sein Leben.<br />

reportage | 21<br />

Ein Song<br />

für Mama<br />

Er ist kein Migrant, fühlt sich aber auch nicht<br />

als Deutscher. Ein Abend mit Semo<br />

Text: André Beinke<br />

Fotos: André Schmoll<br />

„Darf ich bei dir schlafen?“<br />

Bei jemandem Fremden zu klingeln, um zu fragen, ob eine<br />

Übernachtung auf der Couch klargeht, gehört zu den Dingen,<br />

die mir anfangs so harmlos erschienen. Couchsurfing macht<br />

ja inzwischen jeder. Und in der Grohner Düne wohnen etwa<br />

1.500 Menschen. In einem Wohnkomplex! Da werden sich doch<br />

einige Leute finden, die einem ihr Sofa anbieten? Tatsächlich<br />

war es anders. Türen blieben verschlossen oder wurden zugeworfen,<br />

manchmal wurde ich auch schlicht nicht verstanden.<br />

Zwei Männer aber ließen mich letztlich doch hinein – nicht<br />

nur in ihre Wohnung, sondern auch in ihr Leben. Ich durfte<br />

mit ihnen reden, sie begleiten. Und bei ihnen übernachten. Es<br />

waren Einblicke in zwei ganz eigene Welten. Die Geschichten<br />

dazu lesen Sie auf den folgenden Seiten.<br />

André Beinke<br />

„Ich bin nicht integriert, ich bin nicht assimiliert.<br />

Ich bin, wer ich bin.“ Es könnte eine Zeile aus einem<br />

seiner Songs sein. Doch es klingt, als hätte er<br />

diesen Satz schon oft gesagt; wie ein Gedicht, das<br />

ein wenig an Bedeutung verloren hat. Semo sitzt<br />

in der Küche der Dreizimmerwohnung, die er sich<br />

mit seiner Mutter teilt. Geraffte Gardinen, eine<br />

Eckbank aus Holz, auf dem Küchentisch steht eine<br />

Pepsi-Cola. Wer die Wohnung betritt, muss die<br />

Schuhe ausziehen.<br />

An einer der Küchenwände hängt das islamische<br />

Gegenstück zu den christlichen Zehn Geboten.<br />

Semo hat schon länger nicht mehr auf den<br />

Text geschaut. Doch sein Glaube ist ihm wichtig,<br />

sagt er. Kein Alkohol „und keine Hangover-Partys“.<br />

Um Semos Augen haben sich dunkle Ringe<br />

gelegt, er wirke älter als 23, findet er. Ein Bauch<br />

wölbt sich unter seinem roten Coca-Cola-Pulli.<br />

Semo heißt eigentlich Semih Gürlük. Semo ist<br />

sein Künstlername. Er macht Musik. Orientalisch<br />

geprägten Soul mit deutschen Texten. Wenn er<br />

Lieder schreibt, geht es oft um die großen Gefühle.<br />

Eingängige Klavierbegleitung leidet zusammen<br />

mit Semo, wenn er über die Liebe singt.<br />

Am liebsten würde er professionell als Sänger<br />

arbeiten. In den vergangenen Jahren hat er sich<br />

zusammengesucht, was man dafür braucht: Manager,<br />

Pressesprecher, Webdesigner. Wer mit Semo<br />

reden möchte, redet zuerst mit seinem Team. Fami<br />

Amin betreut eines der Studios, in denen Semo<br />

sich auslebt. Dynamic Soul Room. Das Studio befindet<br />

sich eine halbe Stunde entfernt von Semos<br />

Küche, in dem Gemeindehaus der evangelischen<br />

Immanuel-Gemeinde in Walle. Auch hier heißt es<br />

Schuhe ausziehen. Semo stellt seine Nikes vor die<br />

Tür. Er raucht viel, wenn er nervös ist. Vielleicht<br />

eine Schachtel am Tag, vielleicht etwas mehr. Als<br />

er eines seiner eher melancholischen Lieder einsingen<br />

möchte, muss er laut husten. Die Melodie<br />

stirbt so plötzlich wie eine im Aschenbecher ausgedrückte<br />

Zigarette.<br />

Die halbe Stunde zurück zur Grohner Düne<br />

wird er von Freunden im Auto mitgenommen. Es<br />

ist eng, aber schneller als die Bahn. Im Auto sprechen<br />

sie Türkisch miteinander. Zuhause angekommen,<br />

wird Semo politisch. Das passiert schnell. Oft<br />

stößt er mit seinen Ansichten auf Unverständnis.<br />

Er schwärmt vom Osmanischen Reich, dem Vorgänger<br />

der Türkei. Damals hatte jede Glaubensrichtung<br />

ihre eigene Rechtsprechung. „Jeder muss<br />

sein Gericht haben: die Juden, die Christen, die<br />

Muslime.“ Semo findet das nur fair.


eportage | 23<br />

Eine Gardine mit Spitze soll die Küche heimelig machen (oben). Gemütlich hatte es<br />

auch unser Autor: Auf dem Sofa in Semos Zimmer durfte er übernachten (rechts).<br />

In eine Partei würde er nicht eintreten. Grüne,<br />

SPD, CDU – die machen sowieso alle nur dasselbe,<br />

sagt er. Er sucht sich zusammen, was ihm gefällt:<br />

Zehn Euro Mindestlohn etwa fordern die Linken,<br />

Semo fände 13 Euro okay. Trotzdem beschreibt er<br />

sich als konservativ; als überzeugter Anhänger des<br />

türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.<br />

Für die „Union of European Turkish Democrats“<br />

spielt er manchmal Konzerte, ohne Gage zu nehmen.<br />

Der Verein setzt sich für Demokratie und<br />

Meinungspluralismus ein. Das Osmanische Reich<br />

war eine Monarchie.<br />

Mit den Leuten aus der Grohner Düne hängt<br />

Semo schon lange nicht mehr ab. Er hat andere<br />

Freunde. „Einkanakisiert“ – das Wort hat Semo<br />

erfunden. So nennt er seine deutschen Kumpels,<br />

Tabakrauch quillt aus den<br />

Lungen, wie Schallwellen<br />

bei einem Lachen<br />

die sich mit ihrer Sprache an die Menschen mit<br />

Migrationshintergrund angepasst haben. Semo ist<br />

kein Migrant. Er hat schon immer in der Grohner<br />

Düne gewohnt. Das Hochhaus ist fast doppelt so alt<br />

wie er. Schon sein Vater wurde damals in demselben<br />

Jugendclub von demselben Sozialpädagogen<br />

betreut wie Semo später. Zweimal ist er innerhalb<br />

des Hochhauses umgezogen. Mit seinem Vater hat<br />

er nur manchmal Kontakt. Scheidungskind.<br />

Semo schlendert zum Vegesacker Bahnhof. Es<br />

ist Freitagabend. Vor einigen Monaten hat die Matrix<br />

Lounge nahe der Grohner Düne aufgemacht.<br />

Am Wochenende ist sie immer gut besucht. Semo<br />

zieht an der Wasserpfeife eines Kumpels, den er<br />

zufällig dort trifft. Sie sprechen über Frauen. Süßer<br />

Tabakrauch quillt aus den Lungen der jungen<br />

Gäste, wie Schallwellen bei einem Lachen.<br />

Seine letzte Beziehung ist schon eine Weile<br />

her. Damals hat er lange getrauert. Das macht er<br />

anders als die Deutschen, findet er. „Mit dem besten<br />

Freund heulen“ und Raki trinken, dazu alte<br />

türkische Musik hören. Da sei viel mehr Leiden<br />

angesagt. „Trauer hält bei uns länger an als in der<br />

westlichen Kultur.“<br />

Eine neue Frau hat er noch nicht im Auge.<br />

Aber genaue Vorstellungen. Kopftuch muss sie<br />

nicht unbedingt tragen. Nur wenn sie will. Mit einer<br />

unverheirateten Frau allein in einem Raum<br />

sein: „Du kannst mir nicht erzählen, dass da<br />

nichts passiert.“<br />

Es ist spät, als Semo nach Hause kommt. Er<br />

setzt sich wieder in die kleine Küche. Seine Mutter<br />

hat das Abendessen bereitgestellt, bevor sie<br />

sich ins Wohnzimmer zurückgezogen hat: Suppe,<br />

Frikadellen und Pizza. Semo spricht nicht nur<br />

Deutsch, manchmal lebt er auch so, auch wenn er<br />

das vielleicht nicht von sich sagen würde. „Einkanakisiert“<br />

fühlt sich Semo nicht – Semo ist Semo.<br />

„Ich rede Deutsch, aber denke Türkisch“, sagt er.<br />

Trotzdem: „Nach 40 bis 50 Jahren gibt es eine<br />

deutsche Eigenschaft, die sich die Türken angeeignet<br />

haben: Disziplin.“<br />

Disziplin hieß für Semo bis vor ein paar Tagen,<br />

die Ausbildung zum Verkäufer im Telekommunikationsbereich<br />

abzuschließen. Semo ist stolz, dass<br />

er das geschafft hat. Seine Mutter war es, die ihm<br />

klarmachte, wie wichtig eine Ausbildung sei. Früher<br />

war Semo mal gewalttätig, musste die Schule<br />

wechseln. Doch er hat sich gefangen. Machte seinen<br />

erweiterten Hauptschulabschluss und bekam<br />

seine Ausbildungsstelle bei Vodafone. Arbeiten<br />

hat ihm Spaß gemacht. Und irgendwie muss er ja<br />

auch Geld für seine spätere Familie verdienen. Mit<br />

Musik ist es nicht so leicht.<br />

Ausziehen will Semo nicht. Noch nicht. Erst<br />

wenn er eine Frau gefunden hat. Oder er 30 wird.<br />

Nachts im Bett schaut er sich manchmal Nachrichten<br />

auf Facebook an. Ein weiblicher Fan möchte<br />

ihn kennenlernen; ist aber nicht sein Typ. Vorm<br />

Einschlafen lässt er den Fernseher noch eine Weile<br />

laufen. So lange, bis nur noch Quatsch kommt.<br />

Wenn er könnte, würde er die Grohner Düne<br />

gegen ein Haus in der Türkei tauschen. Vielleicht<br />

mit einer eigenen Familie. Vielleicht in Istanbul.<br />

In einem Vorort der Stadt macht er regelmäßig Urlaub,<br />

besucht dort seine Cousins. Demnächst will<br />

er sich dort für mehrere Monate eine Auszeit nehmen.<br />

Womöglich findet er dann auch eine Frau.<br />

Familie ist ihm wichtig. „Die einzige Frau, der ich<br />

einen Song widmen würde, wäre meine Mutter.<br />

Oder meine zukünftige Ehefrau.“<br />

André Beinke studiert Journalistik an der<br />

Hochschule Bremen. Er begibt sich für seine<br />

Recherchen gern in ungewohnte Situationen.<br />

Studieren? Ja! Aber was und wo?<br />

Viele Fragen schwirrten mir vor meinem Studium im Kopf herum.<br />

Ich habe mir jemanden gewünscht, der schon<br />

studiert und mir alles darüber erzählen kann.<br />

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portrait | 25<br />

Kein Kuss<br />

Er trinkt Korn. Und Bier. Er tanzt. Und schweigt.<br />

Eine Nacht bei Walter<br />

Text: André Beinke<br />

Illustration: Lennart Hoes<br />

Walter hat die Fenster seiner Einzimmerwohnung<br />

mit zwei Decken verhängt. Tagsüber sitzt er auf<br />

dem Balkon. Arbeiten tut er nicht. Hat er noch nie.<br />

An diesem Nachmittag ist von fern eine Sirene<br />

zu hören. Walter wird nervös. Seine Mutter musste<br />

vor zwei Jahren plötzlich ins Krankenhaus. Sie<br />

bekam einen Bypass gelegt. Seitdem hat er Angst,<br />

dass sie sie wieder abholen. Ein Krankenwagen<br />

kommt vorbei. Walter fährt mit dem Fahrstuhl ein<br />

paar Etagen höher. Er will schauen, ob seine Mutter<br />

wieder einen Herzinfarkt hatte. Es geht ihr gut.<br />

Die Mutter gibt ihm wie immer zwei Brotscheiben<br />

und fünf Euro mit auf den Weg. Mit dem Geld<br />

kauft er meistens Korn.<br />

Wie alt Walter wohl sein mag? Verraten will er<br />

es nicht. Ein bisschen eitel ist er schon. Oder paranoid?<br />

Der Schreibblock, auf dem dieses Portrait<br />

entsteht, macht ihn nervös. Der Block soll vorgelesen<br />

werden. Walter ist unzufrieden. Streich das<br />

alles weg, sagt er. Walter wird in dieser Nacht geboren.<br />

Seine wahre Identität möchte er nicht preisgeben.<br />

Walter hat Angst, dass ihn die Leute vom<br />

Kiosk auslachen, wenn sie das hier über ihn lesen.<br />

Am späten Nachmittag kommt Walters Freundin<br />

vorbei. Eigentlich ist sie nicht seine Freundin.<br />

Trotzdem nennt Walter sie so. Geküsst haben sie<br />

sich noch nie. Ranlassen tut sie ihn auch nicht.<br />

Aber auf seiner Schlafcouch haben sie schon mal<br />

beisammengeschlafen. Das war an dem Tag, als<br />

bei ihr eine große Ratte in der Wohnung auftauchte.<br />

Walters Freundin hat Angst vor Ratten. Früher<br />

lebte sie ein Jahr lang auf der Straße. Viel getrunken<br />

hat sie schon immer. Auch, weil es draußen<br />

nachts so kalt war. Jetzt trinkt sie wieder. Manchmal<br />

zusammen mit ihrer Tochter. Die ist 15. Als es<br />

Abend wird, verabschiedet sie sich. Walter fragt<br />

nach einem Kuss. Sie küsst ihn nicht. Walter fragt,<br />

ob sie später wiederkommt. Sie weiß es nicht. Später<br />

sagt Walter, dass sie viel lügt.<br />

Walter legt eine DVD in den Player ein. Wenn<br />

der Gitarrist von Peter Maffay sein Solo spielt,<br />

nimmt sich Walter seine Sonnenbrille, setzt sie auf<br />

und tanzt. Walter kann nach einer Flasche Korn<br />

immer noch stehen. Er dreht die Lautstärke auf.<br />

Walters Nachbar kommt zu Besuch. Frank sitzt<br />

im Rollstuhl, vor Wochen hat er sich seinen Arm<br />

gebrochen. Er tut immer noch weh. Als die DVD<br />

zum nächsten Song übergeht, lässt der Nachbar<br />

sein angefangenes Bier stehen und rollt zurück<br />

in seine Wohnung. Walter hat das oft erlebt. Das<br />

war das Lied von Frank und seiner Frau. Jetzt ist<br />

Frank Witwer und muss weinen, wenn Peter Maffay<br />

über Liebe singt. Seine Frau hatte Krebs.<br />

Seit sieben Jahren wohnt Walter in der Grohner<br />

Düne. Sie hält ihn gefangen, sagt er. Raus aus<br />

Bremen – das wünscht er sich. Wenn er wählen<br />

könnte, wüsste er nicht, wohin.<br />

Um Punkt acht Uhr sagt Walter, dass er sich<br />

jetzt zum Schlafen fertig macht. Im Bad gibt es nur<br />

einen Nassrasierer. Keine Zahnbürste. Walter legt<br />

sich auf die Schlafcouch. Dann steht er wieder auf.<br />

Er raucht eine dunkelbraune Zigarillo. Der Tabak<br />

riecht nach Schweiß. Die ganze Wohnung riecht<br />

nach Schweiß. Walter raucht ein Viertel seiner Zigarillo<br />

auf. Die Züge sind tief und lang. Dann hustet<br />

er. Zigaretten kosten das Doppelte. Der günstige<br />

Korn vom Kiosk macht Kopfschmerzen, sagt er. Er<br />

schüttelt sich und trinkt noch einen Schluck. Dann<br />

legt er den Stummel in den vollen Aschenbecher.<br />

Er lässt den Fernseher an. Der Fernseher ist<br />

von Mutter. Er ist schon zehn Jahre alt. Ein Geschenk.<br />

Walter passt gut auf den Flatscreen auf.<br />

Manchmal schaut er darauf Tennis. Tennis hat<br />

er früher gerne gespielt. So mit 17. Heute tut ihm<br />

sein Knie weh. Er war schon im Krankenhaus,<br />

um es zu operieren. Die Physiotherapeutin machte<br />

Übungen mit ihm. Walter gefällt, dass sie keinen<br />

BH getragen hat. Er lacht. Das passiert selten.<br />

Nachts möchte Walter nicht allein sein. Er legt<br />

sich hin, steht wieder auf. Setzt sich in seinen Sessel,<br />

trinkt und raucht. Er ruft seine Freundin an.<br />

Die Freundin sagt, dass sie nicht kommt. Es ist drei<br />

Uhr. Sonst nervt es Walter, wenn sie so spät noch<br />

anruft. Heute hat er es getan.<br />

Irgendwann schläft Walter ein. Er schnarcht.<br />

Neben seiner Couch steht eine leere Flasche Bier.<br />

Als es Morgen wird, läuft im Fernseher Tennis.<br />

André Beinke studiert Journalistik an der<br />

Hochschule Bremen. Er schläft gern und viel,<br />

am liebsten im eigenen Bett.<br />

Lennart Hoes studiert Design an der Hochschule<br />

für Künste in Bremen und steckt Herz<br />

und Seele in auffällige grafische Gestaltung.


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Text: Gabriele Stein,<br />

Schreibwerkstatt Grohner Düne<br />

Ach, wie kreativ wir Nord-Bremer sind,<br />

so viele Vereine für Erwachsene, fürs Kind.<br />

Doch müssen sich diese ständig fragen,<br />

wo sollen wir denn bloß mal tagen?<br />

Uns blieb erspart das Klinkenputzen:<br />

„Klar dürft ihre unsre Räume nutzen,<br />

und das sogar auch kostenlos!“<br />

Wo gibt es das denn heute bloß?<br />

Sie meint es ehrlich, verzieht keine Miene,<br />

die Dame aus der Grohner Düne.<br />

Nun trifft sich dort die Schreibwerkstatt<br />

und schreibt in Hochdeutsch und in Platt.<br />

Von meinem Auto bis zur Eingangstür,<br />

begegnen viele Menschen mir.<br />

Einer der Herren fragt: „Warum lächeln sie so?“<br />

„Ihr Anblick macht mich einfach froh.“<br />

Manchmal gesellt sich ein Fremder hinzu,<br />

wir wechseln viele Worte im Nu.<br />

Man glaubt nicht, welch gute Gespräche entstehen<br />

zwischen Menschen, die sich nie wiedersehen.<br />

Nun ist die Grohner Düne verschrien,<br />

denn oft muss die Polizei dort hin.<br />

Viele Nationalitäten sind dort vertreten,<br />

nicht jeder Nachbar ist willkommen, erbeten.<br />

Doch ist diese Düne, dies hohe Gebäude,<br />

nicht auch eine Chance zu gemeinsamer Freude?<br />

Ein Kennenlernen von umfassender Art?<br />

Die Grohner Düne: ein neuer Start?<br />

Menschen von Neugier und Freude geprägt,<br />

der Ast des Fremdenhasses: abgesägt.<br />

Frohsinn und Lachen zwischen allen Nationen<br />

würde jeden beglücken, würde sich lohnen.<br />

Ach wäre doch die Grohner Düne<br />

wirklich eine solche Bühne.<br />

Dünenlyrik<br />

Fast 15 Jahre gibt es die Schreibwerkstatt<br />

Bremen-Nord, seit 2004 treffen sich die derzeit<br />

zehn Autorinnen und Autoren in der<br />

Grohner Düne. Hin und wieder veranstalten<br />

sie Lesungen, auch ein Buch haben sie<br />

veröffentlicht: „Dünenwind“. Gabriele Stein<br />

ist seit 2003 dabei. Sie schreibt Lyrik, in der<br />

sich ihre eigenen Gefühle widerspiegeln.


28 | UNTERSTÜTZEN<br />

Frühstück der<br />

Straße, die zweite<br />

Mitarbeiter des Monats<br />

Seit 22 Jahren ist Rüdiger Mantei,<br />

45 Jahre, bei der Inneren<br />

Mission angestellt. Heute leitet<br />

er, zusammen mit dem Ehrenamtlichen<br />

Reinhard Spöring, genannt<br />

Cäsar, das Vertriebsbüro<br />

der Zeitschrift der Straße. Außerdem<br />

leitet er das Café Papagei<br />

nebenan, wo bedürftige Menschen<br />

günstig Kaffee trinken<br />

und etwas Essen können. Und<br />

als wäre das nicht schon genug,<br />

macht Mantei mit einer halben<br />

Stelle noch eine Arbeitsberatung<br />

für Wohnungslose.<br />

Rüdiger Mantei steht ständig unter<br />

Strom, organisiert und koordiniert,<br />

kommuniziert. Und hat<br />

oft einen lockeren Spruch parat.<br />

„Mich reizt bei der Zeitschrift der<br />

Straße die Kooperation zwischen<br />

so vielen unterschiedlichen<br />

Menschen“, sagt er. „Studierende,<br />

Verkäufer, Freiwillige und<br />

Profis arbeiten Hand in Hand,<br />

das ist genial.“ Es sei faszinierend,<br />

wie viele kreative Ideen<br />

auf diese Weise entstünden. Und<br />

wie viele engagierte Menschen<br />

es gebe, die einfach etwas zurückgeben<br />

wollten. „Das inspiriert<br />

mich“, sagt er.<br />

tak<br />

Vor einigen Wochen gab es ein zweites Frühstück<br />

der Straße, wieder organisiert von den Studentinnen<br />

Lisa Hummel, Katharina Brasch und Marissa<br />

Käßhöfer von der Hochschule Bremerhaven.<br />

Sie sind bis zum Sommer die Marketing-Truppe<br />

der Zeitschrift der Straße. In dieser Funktion hatten<br />

sie bereits im Januar ein erstes Frühstück für<br />

Bedürftige und Obdachlose auf die Beine gestellt,<br />

finanziert mit Spenden auf der Online-Plattform<br />

betterplace.org (wir berichteten). Weil beim ersten<br />

Mal mehr Spenden eingegangen waren, als für das<br />

Frühstück benötigt wurden, versprachen sie, mit<br />

dem Restgeld ein weiteres Essen zu bestreiten. 200<br />

Euro waren noch übrig, weitere 180 Euro kamen<br />

über einen erneuten Spendenaufruf im Internet<br />

zusammen – innerhalb nur eines Tages. „Es war<br />

toll zu sehen, wie schnell das Geld beisammen<br />

war“, sagt Marissa Käßhöfer.<br />

Den Termin für das Frühstück gaben die Studentinnen<br />

über Karten und Plakate in der Bahnhofsmission,<br />

dem Café Papagei und der Teestube der<br />

Hoppenbank bekannt. Der Andrang am 17. Mai<br />

war dann groß: Ab elf Uhr war die Tafel zwischen<br />

Hauptbahnhof und Übersee-Museum gedeckt, bereits<br />

eine Stunde später waren die 300 Brötchenhälften,<br />

der Kaffee und die Säfte aus. Hier darum<br />

noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle<br />

unsere Spender! Das Frühstück der Straße ist eine<br />

der zahlreichen Aktionen unserer engagierten<br />

Freiwilligen, bedürftige Menschen auch jenseits<br />

der Zeitschrift der Straße zu unterstützen. Weitere<br />

Veranstaltungen sind in Planung. Wir freuen uns<br />

deshalb über jede Spende – ob es Geld sei, Zeit oder<br />

Sachleistungen. Was bei uns aktuell passiert, erfahren<br />

Sie übrigens auch auf unserer Facebook-Seite.<br />

Schauen Sie doch einmal vorbei!<br />

tak<br />

Fotos: A. Schmoll (oben), B. Yücelay (unten)<br />

Fotograf<br />

Die Artikel in dieser Ausgabe<br />

wurden von André Schmoll<br />

bebildert. Die Fotografie ist<br />

ein Bestandteil seines Kommunikationsdesignstudiums<br />

an der Kunstschule Wandsbek<br />

in Bremen. Er versucht in<br />

seinen Arbeiten Lösungen zu<br />

finden, die innovatives Design<br />

mit Elementen der Kunst verbinden.<br />

So arbeitet er an neuen<br />

Wegen in Kommunikation und<br />

Design. Bei seinen Arbeiten<br />

ist ihm wichtig, Klarheit und<br />

Ausdrucksstärke zu vermitteln<br />

und die Disziplinen Design und<br />

Kunst zu vereinen.<br />

Für die Mitarbeit in dieser<br />

Ausgabe waren aber auch andere<br />

Aspekte wichtig – etwa<br />

die Interaktion mit den Protagonisten.<br />

„Bei der Zeitschrift<br />

der Straße habe ich die Chance<br />

bekommen, spannenden Geschichten<br />

ein Gesicht zu geben“,<br />

sagt er. „Das war eine interessante<br />

Erfahrung.“ Ende dieses<br />

Jahres beginnt er sein Masterstudium<br />

in England. tak<br />

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30 | Protokoll<br />

Protokoll: Philipp Jarke<br />

Foto: André Schmoll<br />

Eine Woche<br />

mit Viorel<br />

Er kam aus Rumänien, muss<br />

auf der Straße leben und<br />

genießt dennoch jeden Tag<br />

Dienstag: In Rumänien habe ich 25 Jahre als Elektriker<br />

gearbeitet, hatte sogar meinen Meisterbrief.<br />

Mir ging es gut damals. Aber dann kam 1989 die<br />

Revolution, die Wirtschaft brach zusammen und<br />

irgendwann verlor ich meine Arbeit. Die Revolution<br />

war nötig, aber für mich persönlich war sie<br />

schlecht. Über Jahre konnte ich keine Stelle finden.<br />

Ich stamme aus einer kleinen Stadt, Râmnicu<br />

Sărat. Dort gab es wenige Möglichkeiten. Ich<br />

habe dann in den großen Städten wie Bukarest<br />

versucht, Arbeit zu finden, leider vergeblich. Und<br />

zu Hause waren Frau und Kinder, hungrig und<br />

ohne Geld. Das war schlimm. Meine Frau und ich<br />

haben uns mittlerweile getrennt, unsere Kinder<br />

sind erwachsen. Meine Tochter arbeitet seit sieben<br />

Jahren in Italien, mein Sohn ist mit der NATO in<br />

Afghanistan. Wir telefonieren manchmal. Zuletzt<br />

gesehen haben wir uns vergangenes Jahr zu Weihnachten<br />

und Silvester. Da kam in Rumänien die<br />

ganze Familie zusammen.<br />

Donnerstag: Heute Morgen hat mir mein rechtes<br />

Auge wieder sehr zu schaffen gemacht. Es tränt<br />

stark und ich habe Schmerzen. Ich kann auf dem<br />

Auge auch nicht scharf sehen. Die Verletzung<br />

stammt von einem Arbeitsunfall, den ich vor vielen<br />

Jahren hatte, als ich noch in Rumänien lebte.<br />

Bei einer Explosion erlitt ich schwere Verbrennungen.<br />

Die Spuren sieht man noch heute, in meinem<br />

Gesicht und an meinen Armen. Aber viel schlimmer<br />

ist die Sache mit dem Auge. Ich werde das<br />

wohl mal einem Arzt zeigen müssen. Vielleicht<br />

kann man noch etwas tun.<br />

Viorel Vilcu, 60, kam über Dortmund, Osnabrück<br />

und Hamburg nach Bremen. Hier gefällt es ihm<br />

am besten, der Menschen, der Ruhe und der Weser<br />

wegen. Die Zeitschrift der Straße verkauft er vor<br />

Rossmann in der Pappelstraße.<br />

Freitag: Ich schaue regelmäßig am Lucie-Flechtmann-Platz<br />

vorbei, wo meine gute Bekannte Alicia<br />

in Hochbeeten und einem Gewächshaus Gemüse<br />

anbaut. Ich helfe ihr beim Pflanzen und Wässern.<br />

Wenn ich nicht verkaufe, lese ich gern. Ich mag<br />

eigentlich alle Bücher, Klassiker wie den Ring<br />

der Nibelungen, aber auch Science-Fiction. Und<br />

ich liebe Musik, Klassik wie Mozart, Strauss und<br />

Bach, aber auch modernere Sachen wie AC/DC<br />

und Queen. Aber Musik zu hören, das ist als Wohnungsloser<br />

leider schwierig.<br />

Montag: Ich vermisse Rumänien, ein sehr schönes<br />

Land. Aber für mich ist das derzeit nichts. Ich<br />

könnte dort nichts tun. In einigen Jahren, wenn ich<br />

meine Rente beantragen kann, gehe ich vielleicht<br />

zurück. Geld ist nicht wichtig, aber es ist notwendig.<br />

Ein klein wenig davon braucht jeder. Mit dem<br />

Verkauf der Zeitschrift der Straße verdiene ich ein<br />

paar Euro am Tag, mal fünf, mal sind es zehn. Davon<br />

kaufe ich mir dann etwas zu essen. Viel mehr<br />

brauche ich nicht. Ich genieße jeden Tag, ich freue<br />

mich über Blumen, die Sonne, sogar den Regen.<br />

Ich habe einen Schlafsack und eine Isomatte, damit<br />

schlafe ich auf der Parkbank. Man nennt mich<br />

auch den „Big Banker“! Ich komme gut klar.<br />

Philipp Jarke ist freier Journalist, leitet die Redaktion<br />

der Zeitschrift der Straße und sollte dringend<br />

seine kargen Rumänischkenntnisse aufbessern.<br />

Impressum<br />

Herausgeber Verein für Innere Mission in Bremen,<br />

Blumenthalstraße 10, 28209 Bremen<br />

Partner<br />

Hochschule Bremerhaven<br />

Büro<br />

Auf der Brake 10–12, 28195 Bremen,<br />

Mo – Fr 10–13 Uhr sowie Di 16–18 Uhr,<br />

Tel. 0421/175 216 27<br />

Kontakt post@zeitschrift-der-strasse.de<br />

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Anzeigen Preisliste 05, gültig seit 1.12.2014<br />

Kontakt: Michael Vogel,<br />

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nur für Firmen, Institutionen und<br />

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Spendenkonto Verein für Innere Mission,<br />

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Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01,<br />

Verwendungszweck (wichtig!): Zeitschrift der Straße<br />

Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />

Redaktion<br />

Fotografie<br />

Marketing<br />

Vertrieb<br />

Gesamtleitung<br />

André Beinke, Lennart Hoes, Anna-Lena Klütz,<br />

Andreas Kuhlmann, Joschka Schmitt, Gabriele<br />

Stein<br />

Leitung: Philipp Jarke (pj), Tanja Krämer (tak),<br />

redaktion@zeitschrift-der-strasse.de<br />

André Schmoll, Begüm Yücelay,<br />

Kunstschule Wandsbek, Bremen<br />

Katharina Brasch, Lisa Hummel, Marissa Käßhöfer<br />

Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lukas<br />

marketing@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Lisa Bäuml, Angelika Biet, Tabbo Hankel, Nils<br />

Heckmann, Eike Kowalewski, Georg Kruppa,<br />

Lenert Loch, Dorle Martischewsky,<br />

Pawel Mehring, Eva Schade, Eva Schönberger<br />

sowie viele engagierte VerkäuferInnen<br />

Leitung: Rüdiger Mantei, Reinhard „Cäsar“ Spöring<br />

vertrieb@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Bertold Reetz, Prof. Dr. Dr. Michael Vogel<br />

Gestaltung Paula Fülleborn (Werbeagentur Brandfisher),<br />

Janina Freistedt, Ottavo Oblimar, Glen Swart<br />

Lektorat Textgärtnerei, Am Dobben 51, 28203 Bremen<br />

V. i. S. d. P. Tanja Krämer / Anzeigen: Michael Vogel<br />

Druck<br />

BerlinDruck GmbH + Co KG, Achim<br />

Papier<br />

Circleoffset White, hergestellt von Arjowiggins,<br />

vertrieben durch Hansa-Papier GmbH & Co. KG,<br />

Bremen, ausgezeichnet mit dem Blauen Umweltengel<br />

und dem EU-Ecolabel<br />

Erscheint zehnmal jährlich<br />

Auflage 5.000<br />

Gerichtsstand<br />

& Erfüllungsort Bremen<br />

ISSN 2192-7324<br />

Mitglied im International Network of Street Papers (INSP).<br />

Gefördert durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.<br />

Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte<br />

Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die Zeitschrift der Straße und<br />

alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit<br />

Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne<br />

Einwilligung des Verlages strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos<br />

und Illustrationen stimmen der Nutzung in den Ausgaben der<br />

Zeitschrift der Straße im Internet, auf DVD sowie in Datenbanken zu.<br />

Wir hören den Ball.<br />

Wir essen wie<br />

Spieler. Und treffen<br />

Ab 03.08. beim<br />

Straßenverkäufer<br />

Ihres Vertrauens.<br />

zwei Gegner.<br />

WESERSTADION


„ICH ENGAGIERE MICH<br />

FÜR DIE ZEITSCHRIFT DER STRASSE, WEIL<br />

SIE SICH FÜR ANDERE<br />

ENGAGIERT”<br />

NATHALIE SANDER, 42 JAHRE,<br />

IST ALS PRESSECHEFIN DER ARBEITNEHMERKAMMER<br />

ABONNENTIN UND ANZEIGENKUNDIN DER ZEITSCHRIFT DER<br />

STRASSE. SIE WILL ZEHN KILOMETER IN 60 MINUTEN LAUFEN.<br />

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Empfänger: Verein für Innere Mission<br />

Verwendungszweck (wichtig): Zeitschrift der Straße<br />

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