15.04.2016 Aufrufe

EUROPA JOURNAL - HABER AVRUPA APRIL2016

www.europa-journal.net

www.europa-journal.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

13 - INTERVIEW<br />

<strong>HABER</strong><br />

<strong>AVRUPA</strong><br />

APRIL 2016<br />

Frau Yıldız, würden Sie sich<br />

bitte unseren LeserInnen kurz<br />

vorstellen?<br />

Ja, gerne. Ich heiße Bediha Yıldız<br />

und bin 49 Jahre alt. Geboren<br />

wurde ich in der Türkei in<br />

Kaman/Tatık Köyü, einem Dorf in<br />

der zentralanatolischen Provinz<br />

Kirşehir. In Ankara/Gaziosmanpaşa<br />

wuchs ich auf, wo ich auch<br />

die Pflichtschule bis zur letzten<br />

Klasse der Hauptschule besuchte.<br />

Seit meinem 14. Lebensjahr<br />

lebe ich in Innsbruck. Aus<br />

meiner 30-jährigen Ehe mit Ömer<br />

Yıldız, Arbeiter und Dichter,<br />

stammen unsere beiden erwachsenen<br />

Töchter.<br />

Als studierte Juristin und Politikwissenschaftlerin<br />

berate ich im<br />

Zentrum für MigrantInnen in<br />

Tirol (ZeMiT) und unterrichte das<br />

Fach „Die Rechtsgrundlagen zur<br />

Migration“ am Management<br />

Center Innsbruck (MCI) - Studiengang<br />

Soziale Arbeit. Von Zeit<br />

zu Zeit lehre ich an einem privaten<br />

Sprachinstitut Türkisch als<br />

Fremdsprache und übersetze<br />

Texte.<br />

MMag.<br />

Bediha a Dr. in<br />

Yıldız<br />

Lernen fürs Leben<br />

Sein Ziel verfolgenohne<br />

Wenn und AberTEIL 1<br />

Würden Sie uns über Ihre Migrationsgeschichte<br />

bzw. Ihre Erlebnisse<br />

in Österreich erzählen?<br />

Die Familienzusammenführung<br />

war der Grund meiner Migration.<br />

Wie so oft bei den GastarbeiterInnen,<br />

kam auch bei uns zuerst<br />

der Vater, dann die Mutter und<br />

erst Jahre später kamen auch die<br />

Kinder nach Österreich. Unsere<br />

Ankunft stand im Schatten des<br />

schweren Verkehrsunfalls, den<br />

wir auf der Reise nach Österreich<br />

hatten, gefolgt von Wohnungsproblemen.<br />

Bereits vom ersten<br />

Tag an setzten uns allen auch die<br />

mangelnden Sprachkenntnisse<br />

schwer zu. In diesem einen Jahr<br />

mussten wir fünf Mal die Wohnung<br />

wechseln. Immerhin waren<br />

wir eine Großfamilie mit sieben<br />

Kindern, Eltern und der Großmutter.<br />

Unsere Ansiedlung und<br />

Gewöhnung an die neue Umwelt<br />

nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch.<br />

Als Ältestes von sieben<br />

Kindern lernte ich früh Verantwortung<br />

für vieles zu übernehmen.<br />

Ich unterstützte meine<br />

Familie nicht nur bei der Hausarbeit<br />

und Kinderbetreuung,<br />

sondern erledigte schon damals<br />

mit meinem Halbdeutsch und<br />

mithilfe eines Wörterbuchs Behördengänge,<br />

nahm an Elternsprechtagen<br />

teil oder begleitete<br />

die Familienmitglieder zum Arzt.<br />

In Tränen kam ich nach Österreich,<br />

weil ich im Grunde nicht<br />

freiwillig kam. Als Teenager hatte<br />

ich in der Türkei mein Schulleben,<br />

meine festen Freunde und<br />

mit ihnen gemeinsame Träume.<br />

Mein damaliges Ziel war es ins<br />

Realgymnasium zu gehen, um<br />

danach Medizin studieren zu<br />

können. Durch die Auswanderung<br />

sah ich meine Träume den<br />

Bach runtergehen. In meinen<br />

Büchern, die ich mitnahm,<br />

fand ich Trost. Ich las daraus<br />

Geschichten, die sich meine Oma<br />

und meine Geschwister mit großer<br />

Spannung anhörten. Später<br />

entdeckte ich hiesige Büchereien<br />

und bekam auch viele Bücher<br />

geschenkt. Ich las sie ohne den<br />

Anspruch alles zu verstehen.<br />

Feststand, dass mein Wortschatz<br />

von Tag zu Tag wuchs.<br />

Was ist das Geheimnis Ihres<br />

Erfolgs?<br />

Für mich sagt nicht nur das<br />

Ergebnis allein etwas über den<br />

Erfolg aus, sondern auch der<br />

Prozess, der einen dorthin führt.<br />

Es gibt aber kein Erfolgsrezept.<br />

Gerne zähle ich anhand meiner<br />

Anekdoten einige für meinen<br />

Erfolg ausschlaggebende Faktoren<br />

auf:<br />

• Bewusstsein – Wahrnehmen<br />

und Beobachten von Entwicklungen<br />

im Lebensumfeld: z.B.<br />

wie wichtig Sprache ist, wurde<br />

mir von unserer Ankunft an<br />

bewusst. Dass die Mutter bzw.<br />

der Vater immer eine/n Dolmetscher/in<br />

brauchten, um gewisse<br />

Dinge zu erledigen oder<br />

dass ich die Filme nicht verstand,<br />

die im Fernsehen liefen, oder<br />

dass ich mit meinen Schulkameraden<br />

oder Lehrern nicht ausreichend<br />

kommunizieren konnte,<br />

weil ich mich auf Deutsch nicht<br />

ausdrücken konnte, ließ mich in<br />

den Himmel schreien. Auf der anderen<br />

Seite erkannte ich an den<br />

sehr gut deutschsprechenden<br />

„AusländerInnen“, die ich sehr<br />

beneidete, dass es sehr wohl<br />

möglich ist, Deutsch so zu lernen,<br />

dass man sich fast wie in<br />

der eigenen Muttersprache ausdrücken<br />

kann. Dieses Bewusstsein<br />

veranlasste mich, Deutsch<br />

aus unterschiedlichen Quellen<br />

und durch unterschiedliche<br />

Methoden intensiv zu lernen.<br />

Ö<br />

S<br />

<strong>EUROPA</strong><br />

T<br />

E<br />

R R<br />

<strong>JOURNAL</strong><br />

Diese Vorgehensweise nütze ich<br />

in den letzten Jahren auch, um<br />

Englisch auf einem hohen Level<br />

zu beherrschen.<br />

• Kämpfen – Mein Kampfgeist ist<br />

ohne Frage einer meiner Erfolgsfaktoren.<br />

Trotz aller Schwierigkeiten<br />

und Hürden auf meinem<br />

Weg, gab ich das Lernen und<br />

Studieren nie auf. Dank dieser<br />

Einstellung befinde ich mich<br />

dort wo ich jetzt bin. Da ich<br />

von meiner Bildung nichts einbüßen<br />

wollte, bemühte ich mich<br />

von meinem ersten Tag an in<br />

Österreich:<br />

Obwohl ich bereits in der Türkei<br />

in der dritten Klasse der<br />

Hauptschule war, wurde ich hier<br />

wegen mangelnder Sprachkenntnisse<br />

in die erste Klasse Hauptschule<br />

zurückgestuft. Daraufhin<br />

suchte ich sofort das Gespräch<br />

mit der Schuldirektorin und bat<br />

eine gut deutschsprechende<br />

Schulkameradin für mich zu dolmetschen.<br />

Sowohl die Direktorin<br />

als auch meine Klassenlehrerin<br />

waren davon sehr berührt<br />

und versprachen mir, dass,<br />

wenn ich bis Ende des Halbjahres<br />

gute Schulleistungen erbringen<br />

würde, sie mich aufstufen<br />

würden. Das taten sie auch, weil<br />

ich bis auf das Fach Deutsch,<br />

dank meiner guten Vorbildung<br />

in der Türkei, gute Leistungen<br />

erbrachte.<br />

Am Ende der vierten Klasse<br />

stellte sich die Frage, in welche<br />

Schule ich kommen sollte. Als<br />

ich meinen Wunsch äußerte,<br />

die Handelsschule zu besuchen,<br />

wurde mir klar gemacht, dass<br />

meine Sprachkenntnisse dafür<br />

noch nicht ausreichend seien.<br />

Deshalb wurde mir empfohlen,<br />

die Polytechnische Schule zu<br />

besuchen. Ich folgte diesem<br />

Ratschlag und besuchte dort<br />

noch zusätzlich alle möglichen<br />

Wahlfächer, um optimal auf die<br />

Handelsschule vorbereitet zu<br />

sein. Nach dem Bestehen der<br />

Aufnahmeprüfung wurde ich<br />

in die Handelsschule aufgenommen.<br />

Nach dem Abschluss fing<br />

ich als Kassiererin in einer<br />

Lebensmittelkette zu arbeiten<br />

an und heiratete. Um meinen<br />

eigentlichen Traum zu realisieren,<br />

führte ich meine Bildungskarriere<br />

in der Handelsakademie<br />

für Berufstätige fort. Als ich die<br />

Handelsakademie nach vielem<br />

Auf und Ab abschloss und<br />

I<br />

E<br />

C H<br />

als Buchhalterin meine Berufskarriere<br />

fortsetzte, war unsere<br />

erste Tochter vier Jahre alt. Nach<br />

der Geburt unserer zweiten<br />

Tochter nutzte ich die Möglichkeit<br />

des Selbsterhalterstipendiums<br />

und immatrikulierte mich<br />

für das Studium der Rechtswissenschaften<br />

an der LFU Innsbruck.<br />

Nach einem Semester<br />

Jusstudium begann ich auch mit<br />

dem Studium der Politikwissenschaft,<br />

das ich allerdings<br />

berufsbegleitend, gemeinsam<br />

mit meinem Doktoratsstudium in<br />

JUS, über Jahre hinweg studierte<br />

und abschloss.<br />

• Neugier – Frau/Man sollte<br />

nicht nur wegen der Berufsausbildung<br />

studieren bzw. lernen.<br />

Wissbegierde und Lust am Lernen<br />

sind treibende Kräfte. Das<br />

Lernen – was ja auf mehreren<br />

Ebenen passiert – hilft einem die<br />

eigenen Grenzen zu übersteigen<br />

und zu reifen. Allein einen Lernstoff<br />

zu beherrschen, macht<br />

einen noch lange nicht zum<br />

gebildeten Menschen, das ist<br />

man erst, wenn man das aus den<br />

Quellen geschöpfte Wissen mit<br />

eigenen Erfahrungen verwoben,<br />

zu neuem Wissen transformiert<br />

und umgesetzt hat.<br />

• Aus unterschiedlichen Bereichen<br />

schöpfen – Um seinen<br />

eigenen Horizont zu erweitern,<br />

sollte das Wissen nicht immer<br />

nur aus der eigenen Branche,<br />

sondern auch aus anderen Fachbereichen<br />

bzw. Bereichen des<br />

Lebens stammen. Um mich weiterzubilden,<br />

studierte ich einige<br />

Semester Islamische Religionspädagogik<br />

und Erziehungswissenschaft.<br />

Auf diese Weise lernte<br />

ich über den Menschen und das<br />

gesellschaftliche Leben, über den<br />

Islam und überhaupt über die<br />

Weltreligionen vieles dazu, was<br />

für meine Weltanschauung und<br />

meinen Weltbezug sehr bereichernd<br />

waren. Darüber hinaus<br />

nahm und nehme ich an zahlreichen<br />

Seminaren, Workshops,<br />

Vorträgen und dgl. teil, um aus<br />

den wertvollen Angeboten das<br />

Beste für mich mitzunehmen.<br />

Das Lesen einer Qualitätszeitung,<br />

einer Fachzeitschrift, neben den<br />

Klassikern auch die neuerschienenen<br />

Bücher, nicht zuletzt auch<br />

die zahlreichen Veröffentlichungen<br />

von Papers im Internet, sind<br />

einige Möglichkeiten von vielen,<br />

durch die wir nicht nur zu Informationen<br />

gelangen, sondern<br />

auch Wissen in unterschiedlichen<br />

Sprachen erwerben können.<br />

Diese Möglichkeiten sollten wir<br />

gut ausschöpfen. Unser heutiges<br />

Problem ist nicht, dass es einen<br />

Quellenmangel gibt, sondern das<br />

Problem besteht darin, diese<br />

Quellen gut auszuwählen.<br />

• Um Hilfe bitten bzw. delegieren<br />

– Immer wenn ich mich<br />

irgendwo schwer tat, bat ich um<br />

Hilfe. Egal wie interessiert und<br />

fleißig du bist, oder über wie viel<br />

Wissen du schon verfügst, du<br />

kannst nicht alles alleine schaffen.<br />

Gerade weil Menschen<br />

soziale Wesen sind, lernen sie<br />

voneinander. Ein türkisches<br />

Sprichwort sagt: „Auch wenn du<br />

tausend Dinge weißt, frag den,<br />

der es noch besser weiß.“ In<br />

welchem Bereich auch immer -<br />

angefangen von der Betreuung<br />

der Kinder, über den Haushalt bis<br />

hin zu den Fächern, in denen ich<br />

einfach schlecht war - suchte<br />

ich Unterstützung, sei es in der<br />

Familie bzw. von Freunden oder<br />

gegen Bezahlung.<br />

• Nicht die Hoffnung verlieren –<br />

Unterstützung hilft bis zu einem<br />

bestimmten Grad oder sie<br />

kommt vielleicht gar nicht im<br />

richtigen Moment. In solchen<br />

Situationen darf man nicht gleich<br />

das Handtuch werfen, sondern<br />

muss einfach diszipliniert weiterarbeiten.<br />

Ich hatte Tage, wo<br />

ich niemanden für die Kinderbetreuung<br />

auftreiben konnte.<br />

Im Haushalt hatte ich mit<br />

einigen Ausnahmen keine<br />

Unterstützung. Diese Situationen<br />

konnten für mich keine Ausrede<br />

sein, denn der Abschluss war<br />

mein Ziel. Das Durchhaltevermögen<br />

ist bestimmt eines der<br />

wichtigsten Elemente des<br />

Erfolgs, selbst wenn der erwartete<br />

Erfolg erst einmal ausbleibt.<br />

• Vorhandensein einer Motivationsquelle<br />

– Ein Schutzmantel<br />

gegen alle Schwierigkeiten ist<br />

die Motivation und die Unterstützung,<br />

die ein Mensch von<br />

seinen unmittelbaren Bezugspersonen<br />

bekommt. Der Anteil<br />

meines Ehemannes an meiner<br />

Bildung ist sehr groß. Ohne<br />

seine beharrliche Unterstützung<br />

und seinen Glauben an die<br />

Bildung überhaupt, wäre meine<br />

Begeisterung für meine Studien<br />

über die Jahre wahrscheinlich<br />

versiegt.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!