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VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

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314<br />

J ohann H ellwegb<br />

Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 315<br />

des Abgesandten Bakunins, gerade in Andalusien auf fruchtbaren Boden<br />

fallen <strong>und</strong> anarchistische Strömungen auslbsen konnte, so daß die Lehren<br />

Bakunins als das erlösende Wort empf<strong>und</strong>en wurden, mit dem man bisher<br />

nicht zu Benennendes ausdrücken konnte.<br />

Welches sind nun die sozialen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> rechtlichen Hintergründe<br />

<strong>und</strong> Veränderungen gewesen, die nach der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu Ursachen <strong>und</strong> Anlaß <strong>für</strong> anarchistische Revolten wurden.<br />

Gibt es Zusammenhänge mit einer weiterwirkenden bzw. im Verlauf der<br />

sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Wandlungen beeinträchtigten oder gar zerstörten<br />

genossenschaftlichen Tradition? Aus der Fragestellung folgt, daß<br />

die Ausführungen über die genossenschaftliche Tradition nicht beanspruchen,<br />

das außerordentlich komplexe Phänomen des spanischen Anarchismus<br />

monokausal erklären zu können.<br />

Ein erster flüchtiger Blick auf die spanische Wirtschaft der Jahre 1850<br />

_1868, in denen der Anarchismus sichtbar wird <strong>und</strong> sich als politische<br />

Kraft zu erkennen gibt, zeigt einen allgemeinen Optimismus. Der<br />

Außenhandel verdoppelte sich, neue Industrien waren im Entstehen begriffen.<br />

Ausländisches Kapital vornehmlich französischer <strong>und</strong> englischer<br />

Herkunft strömte ins Land <strong>und</strong> betätigte sich in der Begründung von<br />

Bergwerksunternehmen, Eisenbahngesellschaften <strong>und</strong> Banken. Man hoffte,<br />

den Industrialisierungsvorsprung Frankreichs <strong>und</strong> der germanischen,<br />

europäischen Staaten noch bis zum Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts wettmachen zu<br />

können. Tatsächlich jedoch — <strong>und</strong> diese Zusammenhänge sieht man erst<br />

heute — hat die Art der ausländischen Kapitalhilfe <strong>und</strong> Investitionen<br />

den Aufbau einer eigenen Schwerindustrie verzögert <strong>und</strong> Spanien in die<br />

Rolle eines Rohstofflieferanten gedrängt. Der Vorsprung der klassischen<br />

Industrienationen wurde größer. Zwar wurde Spanien in die internationale<br />

Wirtschaft integriert, jedoch nicht als gleichberechtigter starker Partner.<br />

Es erscheint nicht abwegig, wenn man wie Nicoläs Sdnchez-Albornoz<br />

die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens während der ersten beiden<br />

Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts als einen Wandel von einer Wirtschaft der<br />

vorindustriellen, „alten“ Epoche in die eines unterentwickelten Landes<br />

im heutigen Sinne beschreibt30.<br />

Die in Spanien mit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzende, im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

europäische Durchschnittswerte weit übersteigende demographische<br />

Explosion, die die Bevölkerung von 10 Millionen am Ende des 18. Jahrso<br />

Der Überblick beruht auf Raymond C arr, Spain 1808—1939. Oxford<br />

1966, <strong>und</strong> Josä Luis C omellas, Los Moderados en el Poder, 1844—1854. Madrid<br />

1970, sowie der Aufsatzsammlung Nicoläs SAnchez-A lbornoz, Espana hace<br />

un siglo: una economfa dual. Barcelona 1968.<br />

h<strong>und</strong>er|s_jiuf_16JMillionen um 1860 hatte anwachscn lassen34, konnte<br />

durch die gerade erst cinsetzende, zaghafte industrielle Expansion allein<br />

nicht gebändigt werden. Das Textilindustriezentrum Barcelona war um<br />

diese Zeit gerade erst konsolidiert <strong>und</strong> nahm erst in den achtziger Jahren<br />

große Arbeitermassen aus Andalusien <strong>und</strong> Murcia au f3:. Eine Auswanderung<br />

nach Lateinamerika, dem klassischen Überdruckventil, begann<br />

erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in größerem Maße <strong>und</strong><br />

erreichte kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt 33<br />

Ebensowenig konnte der Bevölkerungsdruck über eine Intensivierung<br />

der Landwirtschaft unter Kontrolle gebracht werden, da die zur Aufgabe<br />

der rudimentären Anbautechniken erforderlichen Kapitalien in der<br />

bäuerlichen Bevölkerung nicht vorhanden waren <strong>und</strong> die natürliche Armut<br />

großer Teile des spanischen Bodens solche Bestrebungen stark behinderte.<br />

Die spanische Antwort auf das Emährungsproblem war eine schon<br />

im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzende, im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert verblüffende Ausmaße<br />

annehmende Steigerung des extensiven Brotgetreideanbaus durch die<br />

Ausdehnung der Anbauflächen, so daß man geradezu von einer Getreidemanie<br />

gesprochen h a t34. Die optimistischen Berichte ausländischer Fachleute<br />

<strong>und</strong> nicht zuletzt auch die Exporterfolge, die die spanische Getreidewirtschaft<br />

in der Versorgung der englischen <strong>und</strong> französischen Truppen<br />

während des Krimkrieges mit Weizen erzielte, ließen die Hoffnung aufkommen,<br />

daß Spanien sich zur Kornkammer Europas entwickeln könne35.<br />

31 Vgl. C arr, a. a. O., S. 197. Einzelheiten <strong>und</strong> insbesondere die Einordnung<br />

der spanischen Entwicklung in den europäischen Rahmen bei Jorge N adal, La<br />

poblacidn espanola (siglos XVI a XX). Barcelona 1966, S. 127 ff.<br />

32 Vgl. Jaime Vicens Vives, Jorge N adal <strong>und</strong> Rosa Ortega Canadell, Los<br />

siglos XIX—XX (Historia Social y Econämica de Espana y America, hg. v.<br />

Jaime Vicens Vives, Bd. IV, Teil 2). Barcelona 1959, S. 252 ff. Vgl. auch N adal,<br />

a. a. O., S. 188 f. Daß die Landarbeiter aus Andalusien <strong>und</strong> Murcia ein den<br />

Anarchismus in Katalonien förderndes <strong>und</strong> mit dem Anarchismus im Süden<br />

verbindendes Element waren, liegt auf der Hand. Vgl. auch Brenan, a. a. O.,<br />

S. 124.<br />

33 Vgl. Nadal, a. a. O., S. 128 f. <strong>und</strong> 156 ff.<br />

34 Vgl. C arr, a. a. O., S. 29 <strong>und</strong> N. SAnchez-Albornoz, a. a. O., S. 18 f.<br />

35 Vgl. N. SAnchez-A lbornoz, La crisis de subsistencias de 1857, in: Espana<br />

hace un siglo: una economfa dual. Barcelona 1968, S. 62 ff. In Abwandlung des<br />

von Göndomar Karl V. zugeschriebenen<br />

»Guerra con toda la tierra“ (Gdndomar-Ciriza,<br />

„y Paz con Inglaterra", 18. Nov. 1618, Madrid)<br />

reimten die Getreideexporteure:<br />

“Agua y Sol“<br />

„y guerra en Sebastopol*. (N. SAnchez-Albornoz, ebda., S. 64)

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