VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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J ohann H ellwege<br />
außergewöhnlichen Stärke <strong>und</strong> Verbreitung des Anarchismus <strong>und</strong>spe«ell<br />
d e s Anarchosyndikalismus die größte Besonderheit in der gesdttchthchen<br />
Entwicklung Spaniens seit etwa der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sehen<br />
S * In Spanien, insbesondere in Andalusien <strong>und</strong> Katalonien, scheint die<br />
Utopie <strong>für</strong> kurze Zeit doch immer wieder einen O rt gef<strong>und</strong>en zu haben.<br />
Seit etwa der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ist es in den genannten Regionen<br />
<strong>und</strong> dann insbesondere während des Bürgerkrieges von 1936 bis 1939<br />
auch in anderen Gegenden Spaniens zu Begründungen zahlreicher anarchistischer<br />
Gemeinwesen <strong>und</strong> Gemeinschaften gekommen®. Die Polizei<br />
<strong>und</strong> das Militär der verschiedenen Regierungen, die Truppen Francos,<br />
aber ebenso auch die Gegenmaßnahmen der Moskau hörigen Kommunistischen<br />
Partei Spaniens« haben verhindert, daß die Frage nach der<br />
Lebensfähigkeit anarchistischer Gemeinwesen im ungestörten Experiment<br />
beantwortet wurde. Der Anarchismus in Spanien als Produkt der spanischen<br />
Bedingungen <strong>und</strong> Verhältnisse ist von eben diesen immer wieder<br />
überwältigt worden. Zwar ist damit der Anarchismus als Theorie <strong>und</strong> m<br />
der Praxis noch nicht widerlegt worden7, aber man wird sich Eric J.<br />
Hobsbawm anschließen müssen, wenn er von einer Verschwendung revolutionärer<br />
Energie in Gestalt des Agraranarchismus in Spanien, insbe-<br />
« Vgl. Ccfsar M. Lorenzo, Lcs anarchistcs espagnols et le pouvoir, 1868—1969.<br />
Pls D ^ o h l tiefsten Einblick in Wesen <strong>und</strong> Geschichte d« sPanis* e" ^ '<br />
chismus bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges gibt immer noch Gerald ®R^ N’<br />
The Spanish Labyrinth. An Account of the Social d Polmcal Badsg ou<br />
of the Civil War. 2. Aufl., Cambridge 1950. (1. Aufl. 1943 - Die ^zwischen<br />
klassische Schilderung des Verlaufs dorfanarchistischer Rebellionen vor 1936<br />
liegt vor in Juan Df AZ del Moral, Historia de las ag.taciones campesmas<br />
andaluzas. Madrid 1929. (Eine Taschenbuch-Ausgabe erschien als Nr: 6“ ^<br />
Reihe „El libro del bolsillo“, Madrid 1967). Die Darstellungen von Jos6 Pe RATS<br />
(La CNT en la revolueiön espanola. 3 Bde. Toulouse 1951—1953) <strong>und</strong> Edu<br />
ComIn Colomer (La Historia del Anarquismo. 2 Bde. 2 Aufl. Barcelona 19 )<br />
sind durch das Werk von Cisar M. Lorenzo (vgl. Anm. 4) ubertrotten, tm<br />
populäres, aber nützliches Oberblickswerk ist Jean B£carud <strong>und</strong> Gilles L apouge,<br />
Anarchistes d’Espagne. Paris 1970. _ .. ,<br />
0 Als Ergänzung zur Darstellung Cesar M. Lorenzos über die Auseinandersetzung<br />
zwischen Anarchisten <strong>und</strong> Kommunisten während des Bürgerkrieges se<br />
hingewiesen auf Burnett Bolloten, The Grand Camouflage. The Communist<br />
Conspiracy in the Spanish Civil War. New York 1961. B. gibt einen guten<br />
Oberblick über Begründungen anarchistischer Kollektive in Stadt <strong>und</strong> Lan •<br />
1 Es ist nicht die Aufgabe dieses Artikels, anarchistische Theorie <strong>und</strong> Praxis in<br />
Spanien zu untersuchen <strong>und</strong> zu beurteilen. Ebensowenig ist beabsichtigt, ie<br />
Wandlungen der Bedingungen aufzuzcigen, die sich in Spanien vollziehen mu<br />
ten, wenn eine anarchistische Revolution Erfolg haben sollte.<br />
Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 307<br />
sondere Andalusien, sprichtfl. In der wcitcrschwelendcn psychischen Bereitschaft,<br />
die die Flamme des Anarchismus nach jedem historischen Eclat<br />
weiterglühen ließ, läßt sich in der Tat die „erstaunliche, in der Welt<br />
| einzigartige Vitalität“« des spanischen Anarchismus erblicken, jedoch<br />
rückt diese Vitalität leicht in die Nähe der charismatischen Qualität der<br />
„reinen Torheit“, wenn man nach den <strong>für</strong> die Bauern <strong>und</strong> Landarbeiter<br />
in Andalusien durch den Anarchismus erreichten sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />
Fortschritten fragt«».<br />
Die Beobachtung, daß Spanien dem Anarchismus einen offenbar besonders<br />
günstigen Nährboden bot, <strong>und</strong> die dann naheliegende Verwechslung<br />
einer im Unterschied zu anderen Völkern offenbar festzustellenden<br />
Besonderheit der Spanier — nämlich ihre mutmaßliche Praedisposition<br />
<strong>für</strong> den Anarchismus — mit dem Individualismus, sowie schließlich auch<br />
das Gleichsetzen der Taten fanatischer, Bomben werfender bzw. zum<br />
Revolver greifender einzelner Anarchisten mit dem Anarchismus haben<br />
das ohnehin schon einseitig geprägte Bild der Öffentlichkeit von Spanien<br />
wesentlich mitbestimmt. Dies geht zu großen Teilen auf eine idealisierende<br />
Reiseberichterstattung über eine Landschaft zurück, nämlich das angeblich<br />
so „romantische“10 Andalusien, das zugleich auch noch Kerngebiet<br />
des spanischen Anarchismus war. Der Individualismus des Spaniers gilt<br />
, 8 Eric J. Hodsdawm, <strong>Sozial</strong>rebellen. Archaische <strong>Sozial</strong>bewegungen im 19. <strong>und</strong><br />
20. Jh. Neuwied 1962, S. 124 ff. (Engl. Originalausgabe: Primitive Rebels. Studies<br />
in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries. Manchester<br />
1959).<br />
9 Cesar M. Lorenzo, a. a. O., S. 7.<br />
oa Nach der Lektüre von Pascual Carriön, Los Latif<strong>und</strong>ios de Espafia.<br />
Madrid 1932, kann man Marcelin Defourneaux (Le probl&me de la terre en<br />
Andalousie au XVIII' si&cle et les projets de rifforme agraire, in: Revue Historique<br />
Jg. 81, Bd. 217 (1957), S. 42—57 nur zustimmen, wenn er feststellt,<br />
1 daß die Agrarprobleme in Andalusien seit dem 18. Jh. bis heute dieselben <strong>und</strong><br />
) ungelöst geblieben sind. Vgl. dazu auch J. Caro Baroja, a. a. O., S. 100 f., der<br />
i darauf hinweist, daß es sich beim Latif<strong>und</strong>ismus in Andalusien um eine typisch<br />
mediterrane, aus den Zeiten der Römer überkommene Struktur handelt. Vgl.<br />
auch ders., En la campina de Cirdoba (Observaciones de 1949), in: Revista de<br />
Dialectologla y Tradiciones Populäres Bd. XII (1956), Heft 3, S. 270—299.<br />
/ Wiederabgedruckt in: Razas, Pueblos y Linajes. Madrid (1957), S. 233—259.<br />
10 Zur „Andalucfa de pandereta“ vgl. z. B. J. Caro Baroja, Pueblos andaluces,<br />
in: Clavileno Nr. 26 (März—April 1954), S. 63—75. Wiederabgedruckt<br />
in: Razas, Pueblos y Linajes. Madrid (1957), S. 181—204. Am Beispiel des<br />
„romantischen“ Andalusien hätte Carl SAmitt seine Freude gehabt bei der Erörterung<br />
des Begriffs des RomantisAen. Vgl. das Vorwort zu Carl Schmitt,<br />
PolitisAe Romantik. 2. Aufl. MünAen <strong>und</strong> Leipzig 1925, S. 3—28.<br />
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