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VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

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310<br />

J ohann H ellwege<br />

Genossenschaft!. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 311<br />

Es ist hier insbesondere an d i e Z ü n f t e , Gilden, Bruderschaften <strong>und</strong> Hilfsorganisationen<br />

wie die Getreidemagazine oder die Hospitaler an die<br />

Feld- Flur- <strong>und</strong> Waldgemcinschaftcn sowie an das spanische Mumzipium,<br />

den „pueblo“, zu denken, der als Lebensgemeinschaft <strong>und</strong> Erwartungshorizont<br />

der Menschen bis zum Anbruch der industriellen Epoche<br />

eine kaum zu überschätzende Rolle als Bezugs- <strong>und</strong> Ordnungssystem<br />

gespielt hat. Daneben darf insbesondere auch nicht die Lehre der spanischen<br />

Spätscholastiker <strong>und</strong> Arbitristas vom Eigentum — vornehmlich<br />

vom Bodeneigentum <strong>und</strong> seiner sozialen Verpflichtung — außer acht<br />

gelassen werden. Legt man z. B. die von Hans Freyer aufgestellten „Gesetze<br />

des utopistischen Denkens“ » als Maßstäbe an den frühen spanischen<br />

Anarchismus an <strong>und</strong> schließt aus der überraschend weitgehenden Übereinstimmung<br />

auf eine von den Zielvorstellungen her in die Zukunft gerichtete<br />

geistige Projektion des spanischen Anarchismus, wie sie den<br />

Utopien der Neuzeit eigen zu sein scheint, so würde man wohl einem<br />

Irrtum erliegen. Es hat vielmehr den Anschein, daß insbesondere die ländlichen<br />

anarchistischen Revolten in Spanien den unbewußten Versuch darstellen,<br />

die Vergangenheit—vornehmlich verkörpert in den ursprünglichen<br />

agrarischen Bedingungen vielfach kollektivistischer Art — wiederherzustellen.<br />

Die Dorfrevolutionen ähneln dem immer wieder unternommenen<br />

Versuch, die Primär-Institutionalisierung rückgängig zu machen, wie er<br />

sich etwa auch in der Geschichte der Kirche in immer neuen Anläufen<br />

zur Wiederherstellung der Ur- bzw. Brüdergemeinde beobachten la ß t10 *2021.<br />

Es ist gerade dieser atavistische Zug, die Sehnsucht nach der vorindustriellen<br />

Epoche, nach der noch nicht von der Sklaverei des modernen Kapitalismus<br />

befleckten Vergangenheit, die den Anarchismus in Spanien dem<br />

extrem traditionalistischen Karlismus in vielem so ähnlich macht, so<br />

daß es nicht verw<strong>und</strong>ert, wenn sich Regionen, die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

noch karlistische Bastionen waren, beim Ausbruch des Bürgerkrieges im<br />

Jahre 1936 als Hochburgen des Anarchismus erwiesen10. Im Anarchist<br />

s Vgl. H. F r e y e r , Die Gesetze des utopistischen Denkens, in: Amhelm Neusüss<br />

(Hg.), Utopie. Begriff <strong>und</strong> Phänomen des Utopischen. Neuwied <strong>und</strong> Berlin<br />

1968 S. 299_312.<br />

is Vgl. Friedrich F ürstenderg, Kirchenform <strong>und</strong> Gesellschaftsstruktur, in:<br />

* Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses Jg. 41 (1961), S. 290—301.<br />

« Vgl. die bei B r e n a n , a. a. O ., S. X X f. wiedergegebenen Landkarten zur<br />

Verbreitung des Anardiismus bzw. des Karlismus. Gabriel Jackson kommt zu<br />

der gleichen Feststellung. „Anarchism (frequently replacing Carlism) became an<br />

important force in the Levant, and in portions of Aragon and rural Catalonia,<br />

between 1900—30.“ Gabriel J a c k s o n , The Origins of Spanish Anarchism, in:<br />

The Southwestern Social Science Quarterly Vol. 36, Nr. 2 (September 1955),<br />

mus als die Besinnung auf die entscheidende Ebene des personalen Verhaltens<br />

liegen wohl auch die ausgeprägt moralischen <strong>und</strong> asketischen Züge<br />

<strong>und</strong> das unbedingte Beharren darauf begründet, daß Gerechtigkeit geschehe,<br />

Momente, die — wie man sehr treffend beobachtet hat — den<br />

Anarchismus in Spanien in einem solchen Maße bestimmt haben, daß man<br />

z. B. den reichen Großgr<strong>und</strong>besitzer nicht wegen seines Reichtums haßte<br />

<strong>und</strong> erschlug, sondern weil man ihm ein lasterhaftes Leben vorwarf, das<br />

in einer luxuriösen Lebensführung bestand 20. In dieser Eigenart des spanischen<br />

Anarchismus ist wohl auch die Erklärung da<strong>für</strong>”zu suchen, daß<br />

sich das Weiterwirken vieler Mythologeme beobachten läßt, die hier<br />

nicht näher erörtert werden können, <strong>und</strong> daß eine anarchistische Dorfreyplution<br />

in vielem einer „eschatologischen Aktion“ gleicht, wie sie von<br />

Mühlmann beschrieben worden ist81. Es ist bezeichnend <strong>für</strong> eine mehr<br />

kollektive Natur, daß der spanische Anarchismus keine großen Theoretiker<br />

hervorgebracht hat <strong>und</strong> daß es nicht ein akademisches Proletariat<br />

gewesen ist, wie es Bakunin aus der Beobachtung russischer Verhältnisse<br />

als treibende Kraft des Anarchismus vorschwebte, das die anarchistische<br />

Bewegung in Spanien geprägt h a t88.<br />

Der Historiker, der die sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnisse in<br />

Spanien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> die Wirksamkeit<br />

genossenschaftlicher Tradition betrachten möchte, um diese in<br />

Beziehung zu setzen mit den Anfängen des Anarchismus, kann leider<br />

nicht auf nennenswerte Vorarbeiten in größerer Zahl zurückgreifen. Das<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert weist in der Forschung zur spanischen Geschichte „nicht<br />

nur Wissenslücken, sondern ganze Seen <strong>und</strong> Meere von Nichtwissen“ auf,<br />

wie sich ein spanischer Historiker vor gar nicht langer Zeit — im Jahre<br />

S. 144. Wie weit die Erfolge der Anarchisten im ländlichen Aragön während des<br />

spanischen Bürgerkrieges auf Terror <strong>und</strong> Gewalt beruhen, ist eine umstrittene<br />

Frage. Vgl. dazu Pierre B r o u ü <strong>und</strong> Emile T £ m im e , Revolution <strong>und</strong> Krieg in<br />

Spanien. Frankfurt 1968, S. 189 f. (Franz. Originalausgabe: La Revolution et la<br />

Guerre d’Espagne. Paris 1961).<br />

20 Vgl. B r e n a n , a. a. O., S. 192 f. <strong>und</strong> Franz B o r k e n a u , The Spanish Cockpit.<br />

An Eye-Witness Account of the Political and Social Conflicts of the Spanish<br />

Civil War. Ann Arbor, Michigan 1963 (zuerst London 1937), S. 166 f.<br />

21 Vgl. W. E. M ü h l m a n n , Chiliasmus <strong>und</strong> Nativismus. . . , S. 290 ff. <strong>und</strong><br />

/ Norman C o h n , Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus<br />

im Mittelalter <strong>und</strong> sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen.<br />

Bern <strong>und</strong> München 1961, S. 269 ff. (Engl. Originalausgabe: The Persuit<br />

of the Millennium. London 1957).<br />

28 Vgl. H o d s d a w m , a. a. O., S. 115 <strong>und</strong> Joll, a. a. O., S. 97 ff.

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