VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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J ohann H ellwege<br />
Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 347<br />
Mögen die frühen Anarchisten, die sich als solche bewußt waren, auch<br />
geglaubt haben, mit ihren Forderungen nach Autonomie <strong>und</strong> Souveränität<br />
des Munizipiums einem fernen Zukunftsideal zuzustreben, so war den<br />
Theoretikern des spanischen Anarchismus im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert bewußt,<br />
daß sie die Rückkehr in die Vergangenheit postulierten. Puente <strong>und</strong><br />
Pcstana hielten gerade deswegen auch die Durchsetzung des Anarchismus<br />
auf dem Lande <strong>für</strong> völlig problemlos150. Die starken genossenschaftlichen,<br />
z. T. auch sozialistisch-kollektivistischen Züge, wie sie die agrarische<br />
Gesellschaft in Spanien vor dem Anbruch der industriellen Epoche<br />
aufwies, finden in gewisser Weise eine Entsprechung <strong>und</strong> Ergänzung in<br />
den Theorien <strong>und</strong> Lehren einiger Spätscholastiker <strong>und</strong> Arbitristas des 16.<br />
<strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts, <strong>für</strong> die es im übrigen Europa keine Parallelen<br />
gibt. Joaquin Costa, der große Vorkämpfer <strong>für</strong> eine Verbesserung der<br />
Lebensbedingungen der spanischen Landbevölkerung, hat ein wenig überspitzt<br />
von der „spanischen Schule kollektivistischer Wirtschaft“ gesprochen<br />
i:l. Wenn es im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert auch zur Neuauflage ihrer Schriften<br />
gekommen ist, so ist doch sehr wenig wahrscheinlich, daß die Lehren<br />
dieser Schule um 1850 einem breiteren Publikum bekannt gewesen sind.<br />
Sie sollen hier nur als Ausdruck des gleichen geschichtlichen Unterstroms<br />
genannt werden, der in Spanien eine starke genossenschaftliche Tradition<br />
hervorgebracht <strong>und</strong> getragen hat.<br />
iso Vgl. Isaac P uente, El Comunismo Libertario. Sus posibilidades de Realizaeiön<br />
en Espana. Valencia 1933 (Neuaufl. Toulouse 1947), <strong>und</strong> Angel P estana,<br />
Consideraciones y juicios acerca de la Tcrcera Internacional (Seg<strong>und</strong>a parte de<br />
la Memoria presentada el Comitd de la C. N. T.) Barcelona 1922 (Reprint 1970).<br />
111 Vgl. Joaquin C osta, Colectivismo Agrario en Espana, Primera Parte:<br />
Doctrinas (Ausgabe Buenos Aires 1944, S. 11—184). Alle Darstellungen (Brenan,<br />
J ackson, u. a.) folgen mehr oder weniger C osta, dabei wird dann doch<br />
leicht übersehen, daß es gerade im 16. Jh. auch eine starke, auf Auflösung der<br />
Bienes Comunales bzw. auf Einschränkung der Nutzungsrechte der Allgemeinheit<br />
zielende Richtung gegeben hat. Neben Bodadilla sei hier ein m. W. nahezu<br />
unbekannter Arbitrista genannt, den ich in einem kürzeren Aufsatz demnächst<br />
vorstellen möchte. Hernando del Pulgar, ein Enkel des großen Chronisten (vgl.<br />
Memorial, gerichtet an Philipp II., vom 15. 12. 1595, Granada. Archivo General<br />
de Simancas, Camara de Castilla Leg. 2245), führt in seinem „Discurso por el<br />
quäl se declara la caussa de la.carestia que ay en los bastimentos, y otras cosas,<br />
y el medio para reduzir las a moderados precios (Druck. O. O. o. J. (1595?) aus:<br />
Damit das Vieh sich vermehre „que asi la yerva como la vellota sea particular<br />
y no general y comun como aora es, porque asi se guardara el monte y se comera<br />
la yerva y vellota por tan buen Orden, que los ganados multipliquen con grandes<br />
ventajas de lo que aora passa, y aun que esto esta tan puesto en razon que (como<br />
dizen los ciegos lo veran) se puede reforzar con la cspiriencia que ay en estremadura,<br />
que por ser sus dehessas de particulares se sustenta tanta copia de<br />
Nach den Beziehungen, die sich zwischen genossenschaftlicher Tradition<br />
<strong>und</strong> den Anfängen des Anarchismus bei einem nur ersten groben Abstecken<br />
des Untcrsuchungsfeldcs erkennen lassen, scheint die Vermutung<br />
erlaubt zu sein, daß ein enger räumlicher <strong>und</strong> zeitlicher Zusammenhang l<br />
zwischen dem Auftreten des Anarchismus <strong>und</strong> dem Niedergang genossenschaftlicher<br />
Gesellungseinheiten <strong>und</strong> Besitzformen besteht, der im wesentlichen<br />
durch die Desamortisation <strong>und</strong> deren Begleiterscheinungen ausgelöst,<br />
z. T. aber auch nur verschärft wurden. Wo genossenschaftliche<br />
Traditionen <strong>und</strong> Freiheiten bewahrt werden konnten, trat der Anarchismus<br />
in Gestalt von Bauernrebellionen nicht auf, weil anarchistische Ziele<br />
hier zu einem nicht geringen Teil bereits erreicht waren12S. Wo umgekehrt<br />
genossenschaftliche Traditionen weitgehend ausgehöhlt <strong>und</strong> zerstört<br />
wurden <strong>und</strong> eine Proletarisierung der zuvor durch das genossenschaftliche<br />
Erbe geschützten Landbevölkerung die Folge war, trat der<br />
Anarchismus mit Zielsetzungen ans Licht, die nicht zuletzt die Wieder-1<br />
herstellung der alten, stark genossenschaftlich geprägten Zustände be- )<br />
deutet hätten. Der Anarchismus hatte, wie Brenan sich treffend ausgedrückt<br />
hat, sein inneres Auge auf die Vergangenheit gerichtet, <strong>und</strong> diese<br />
Vergangenheit bestand <strong>für</strong> den ländlichen Anarchismus ganz wesentlich<br />
in der genossenschaftlich, oft sogar kollektivistisch geprägten Dorfge- '<br />
meinschaft, in der alle Autorität wurzelte 1M. Durch nicht aufzuhaltende I<br />
wirtschaftliche <strong>und</strong> gesellschaftliche Wandlungen war dieses Idealbild<br />
insbesondere mit der Einführung der kapitalistischen <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> Wirtganado,<br />
que si fueran comunes no pudieran mantener el medio, porque acudiera<br />
tanto que en pocos dias estragara la yerva y vellota, y en la ciudad de Loxa se<br />
a hecho la misma esperiencia, porque quando era la vellota del comun no se<br />
podia hazer un puerco, y aora que su Magestad la tiene vendida a particulares<br />
se haze tanto ganado que ay para el Pueblo y para otras partes, y sera adelante<br />
mudio mas, porque se va criando gran encinar nuevo, y aun que para esto cuesta<br />
dinero la vellota, anda la came a muy menor precio que solia... . Ganz modem<br />
muten seine Ausführungen an, wenn er beredinet, daß „en Estremadura ay<br />
vezes que una oveja pasta por quatro reales, y un puerco por diez, y no vale<br />
mas cara la lana y la carne que en el Andaluzia, y es por criarse alli mas ganado<br />
en una legua de termino cerrado, que en tres leguas de baldios . . . . Selbst die<br />
Flüsse will P. privatisieren, was einer Revolution im Eigentumsrecht gleichgekommen<br />
wäre! (Archivo General de Simancas, Cdmara de Castilla Leg. 2245).<br />
Gerade hier zeigt sich eine starke Parallelität im Krisenverlauf zwischen dem<br />
16. Jh., besonders der Epoche Philipps, <strong>und</strong> der ersten beiden Drittel des 19. Jh.<br />
1=2 Hier spitze ich bewußt thesenhaft zu. Keineswegs sollen komplementäre<br />
Vorgänge oder mögliche Animositäten gegen Kastilien geleugnet werden. Zugleich<br />
darf das Phänomen des Latif<strong>und</strong>ismus in Andalusien mit all seinen Begleiterscheinungen<br />
nicht außer acht gelassen werden.<br />
155 Brenan, a. a. O., S. 195.