De:Bug 174
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<strong>174</strong> — netzfotos<br />
Ansicht, dass "mobile Fotografie und das Aufkommen<br />
von amateurhaften Selbstporträts als emanzipatorischer<br />
Prozess der gesteigerten Handlungsfähigkeit und<br />
Selbstdarstellung" gesehen werden sollten. Er will vielmehr<br />
anhand von Bourdieus Kulturtheorie belegen, dass soziale<br />
Netzwerke ein Umschlagplatz von kultureller Produktion<br />
seien und Fotos den Tausch von kulturellem, materiellem<br />
und sozialem Kapital ermöglichten. In sozialen Netzwerken<br />
spiegele die Galerie der Freunde-Selfies den eigenen sozialen<br />
Status wider, durch geschickte Manipulation des eigenen<br />
Selbstporträts beeinflusse man wiederum den eigenen<br />
Status. "Fotos in sozialen Netzwerken zielen darauf ab, aus<br />
Fremden Freunde zu machen; sie werden in eine konsumorientierte<br />
visuelle Repräsentation der Gesellschaft als Katalog<br />
eingegliedert." Die Bilder würden deswegen weniger eine<br />
selbstgewählte Identität einer Person widerspiegeln, als ihre<br />
soziale Position. Die Funktion des Fotos ist also nicht die<br />
Enthüllung, sondern die Präsentation und Manipulation.<br />
Selbstausdruck wäre, sein Inneres verständlich zu machen.<br />
Das Selbstporträt aber soll die Meinung der anderen manipulieren.<br />
"Unter einer bestimmten Gruppe von Teenagern<br />
mit geringem legitimen kulturellen Kapital, deren Ethos<br />
anti-intellektuell und Ruhm-verherrlichend ist, fungieren<br />
Selbstporträts als Währung, die sowohl auf materielles als<br />
auch lokales kulturelles Kapital [innerhalb eines sozialen<br />
Netzwerkes] verweisen und mit sozialem Kapital online und<br />
offline konvertiert werden kann." Das Selfie hat also einen<br />
Wert, der über die Selbstdarstellung hinausreicht. (Übrigens<br />
auch gut an dem Selfie-<strong>De</strong>rivat der bei Facebook verwendeten<br />
Flaggen/Farben/Formen, die eine innere Teilnahme an<br />
Aufständen/Befreiungskämpfen/Meinungen signalisieren<br />
können. Diese Icons sind auch Selfies innerer, schwer abbildbarer<br />
Haltungen).<br />
Das ist freilich wenig überraschend. Dass das Internet<br />
vor allem der Selbstvermarktung und Selbstoptimierung<br />
dient, dass in sozialen Netzwerken letztlich ökonomisches<br />
Kapital oder dessen <strong>De</strong>rivate gezüchtet wird, dass<br />
das Individuum gerade im Netz in strategisch ausspielbare<br />
Personas zerfallen ist, dass soziale Netzwerke auch dem<br />
Netzwerken und nicht nur der Selbstverwirklichung oder<br />
-befreiung dienen, ist Netzkritik-Basiswissen. Das Selfie<br />
ist als Phänomen und Mem aber deshalb so interessant,<br />
weil es ein ästhetischer Ausdruck ist. Es ist Zeitgeist, durch<br />
die Verfügbarkeit der Kameras, Bearbeitungsprogramme<br />
und Verbreitungsdienste für alle umsetzbar - und es funktioniert<br />
nach klaren Regeln: Wie im Selfie Protz, sexuelle<br />
Verfügbarkeit, Gender, Verletzlichkeit dargestellt werden<br />
können, steht fest. Das funktioniert, weil Selfies zwar ein<br />
Ausdruck von Individualität sind, aber trotzdem sehr gleichförmig.<br />
Sie geben einen engen Rahmen vor, in dem man<br />
seiner Individualität Ausdruck verleihen kann. Sie geben<br />
etwas preis, aber nur zu den eigenen Bedingungen. Sie<br />
suggerieren Authentizität, aber sind auschoreografiert. Wer<br />
diesen Widerspruch nicht kennt, sollte einmal nach "Crying<br />
Selfies" suchen: weinende Menschen, die ihre Trauer für<br />
ein Bild instrumentalisieren.<br />
Das Selfie ist eine Anomalie<br />
Nicht Video, nicht Text, schon gar nicht neue technische<br />
Methoden wie Filesharing, Datenhalden und Code zeigen<br />
den Stand des Individuums im (angeblichen) Netzzeitalter,<br />
sondern ein Bild. Das Selfie ist Selbstbeherrschung und<br />
durch seine Stilisiertheit auch eine Möglichkeit zur<br />
»Das Selfie ist Selbstbeherrschung und durch seine<br />
Stilisiertheit auch eine Möglichkeit zur Distanzierung<br />
von sich selbst - es ist eine kokette Strategie.«<br />
Distanzierung von sich selbst - es ist eine kokette Strategie.<br />
<strong>De</strong>r ausgestreckte Arm, die vor der Brust verschränkte<br />
Handy-Hand, der vor dem Gesicht platzierte Spiegel-<br />
Blitz, die Retro-Filter und Photobooth-Effekte verhüllen die<br />
Wirklichkeit. Das Selfie ist ein Bild von einem Bild, eine<br />
Abstraktion und kontrollierte Ambivalenz. Die Übertreibung<br />
(Duck Face, Hackfresse, Gangstergeste) ist deswegen auch<br />
das Stilmittel der Wahl, um Abstand zu sich selbst zu halten:<br />
die Verfremdung durch sich selbst. Was man auf dem<br />
Selfie sieht, bin ich - aber eben doch nicht ich.<br />
Durch seine strategischen Potenziale und<br />
Ambivalenzen eignet sich das Selfie deswegen zur<br />
Auflösung des Konflikts zwischen Nähe und Ferne,<br />
Bekanntheit und Fremdheit in sozialen Netzwerken. Es<br />
muss für Freunde und Fremde, als Freund und als Fremder<br />
funktionieren. Es soll wertvolle Freunde locken, darf sich<br />
aber nicht zu sehr von denen der Netzwerk-Peers unterscheiden.<br />
Es soll preisgeben und verhüllen, locken und<br />
distanzieren, Mainstream-Normen entsprechen und<br />
Individualismus signalisieren, emotional wirken, aber<br />
nicht entblößen - wenigstens erscheint es in würdefreier<br />
Umgebung: Im Selfie ist alles möglich (was möglich<br />
ist). Das Selfie ist damit ein neuer Umgang mit den<br />
Problemen des Internets, die realweltlichen Grenzen zwischen<br />
Privatsphäre und Öffentlichkeit zu überwinden.<br />
Dass gerade die Grenze zwischen Authentisch und<br />
Künstlich so verwaschen ist, zeigt sich im Vergleich zu<br />
sozialen Netzwerken etwa in Osteuropa/Russland, in früheren<br />
Flirt-Diensten, bei Geocities oder in "erwachseneren"<br />
Netzwerken wie Wer-kennt-Wen. Dort scheint die<br />
Unterscheidung härter: extrem stilisierte, Modell-hafte<br />
Bilder auf der einen, banal ungeschönte, langweilige<br />
auf der anderen Seite. Die "natürliche" Pose ist dort die<br />
(zur Schau getragene?) Unberührtheit von ästhetischen<br />
Möglichkeiten, das Herausgeputzte, Gebuffte wird klar<br />
signalisiert. Ich glaube nicht, dass das an einem reiferen<br />
Selbstbild und der Akzeptanz von etwaigen Makeln<br />
liegt, zumindest nicht nur. Vielmehr sehe ich darin einen<br />
Druck zur optimierten Selbstdarstellung, also zur strategischen<br />
Entfremdung von sich selbst, als ein neues<br />
Phänomen, das in westlich-neokapitalistischen, konsumistisch<br />
orientierten Gesellschaften stärker ausgeprägt<br />
ist. Das Selfie ist eben auch immer Arbeit an der eigenen<br />
Arbeitskraft - oder der Arbeit am eigenen sozialen Status,<br />
siehe Ort Schwartz.<br />
Selfie als Seismograph des Internets<br />
Ich behaupte, dass das moderne Selfie deswegen beim alten<br />
MySpace geboren wurde, das viel öffentlicher war als<br />
Facebook und das einen direkten Bezug etwa zwischen<br />
Stars und Fans herstellte (ein gutes Selfie versprach, vom<br />
Star bemerkt zu werden). Bei MySpace lohnte es sich, sich<br />
preiszugeben. Wie viel Privatheit und wie viel unpersönliche<br />
Stilisiertheit dafür nötig ist, musste aber erst noch herausgefunden<br />
werden.<br />
Heute gibt es die Trennung von privat, beruflich und<br />
öffentlich beim Selfie nicht mehr - es erfüllt viele Zwecke,<br />
weil die sozialen Netzwerke auch viele Zwecke erfüllen. Die<br />
Pose ist in ihm immer auch Authentizitätssignal - gerade,<br />
wenn es in vertrauter Umgebung, dem Club, Klo oder im<br />
Park aufgenommen wurde. Trotzdem zeigt es kein Selbst<br />
- weil es das eine Selbst eh nicht mehr gibt und weil es<br />
eben nur eine gezielt ausgesuchte Schnittaufnahme eines<br />
komplexen Charakters ist. Das typische Selfie ist ästhetisch<br />
und psychologisch flach - es kann und soll sofort verstanden<br />
und sofort vergessen werden. Ein neues Leben,<br />
ein neues Selfie.<br />
Vielleicht ist es noch zu früh, an einer Geschichtsschreibung<br />
des Selfies zu arbeiten. Aber womöglich wird in<br />
Zukunft anhand der Entwicklung des Selfies die Entwicklung<br />
unseres Verhältnisses zum Internet ablesbar werden. Noch<br />
jedenfalls kann ich mir keinen Ersatz für das Selfie vorstellen.<br />
Und ich glaube, dass es noch einiges an Eroberungspotenzial<br />
in sich hat: als erotisches Selfie, derzeit etwa im höchst erfolgreichen<br />
GoneWild-Subreddit, als Emoticon-Ersatz, mithilfe<br />
von Gesichts- und Grimassenerkennung als Auslöser.<br />
Und was ist eigentlich mit Liveblog-Selfies beim Sport, auf<br />
Arbeit, in Gedanken?<br />
Am bezeichnendsten aber ist, dass Selfie-Videos in genau<br />
der Weise nicht funktionieren, in der Selfies hervorragend<br />
funktionieren. Sie entblößen die Posen, werten das<br />
fotografierte Objekt herab und diskreditieren das filmende<br />
Subjekt. Vielleicht ist der Film als Medium ästhetisch noch<br />
nicht so gut verstanden wie das Bild. Vielleicht aber hat<br />
eben nur Fotografie diese seltsame Ambivalenz, dass sie<br />
den Anschein erwecken kann, etwas auszudrücken, ohne<br />
es aber tatsächlich zu tun. Das Foto ist aktiv, es passt sich<br />
dem Zusammenhang an. <strong>De</strong>r Film ist strikt und passiv und<br />
bevormundet den Zuschauer. Das Foto, am besten am Selfie<br />
- oder dem seltsamen Erfolg der animierten Gifs - zu sehen,<br />
ist die derzeit persönlichste Ausdrucksform des Internets.<br />
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