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afrika süd 2015-4

Die Fachzeitschrift zum Südlichen Afrika. Afrika Süd liefert kritische Hintergrundanalysen, stellt konkrete Projekte vor und lässt Akteure zu Wort kommen. // THEMEN DER AUSGABE: In einem Gastkommentar zieht Muepu Muamba eine Verbindung zwischen Afrikas Erfahrung mit den Strukturanpassungsprogrammen und Griechenlands Hadern mit den harten Auflagen von EU, IWF und EZB: Hellas Africana. Daneben widmet sie sich u.a. dem Theater: Wir bringen die Eröffnungsrede zum Kongo-Tribunal in Berlin, eine Besprechung des Theaterstücks Coltan-Fieber sowie einen Beitrag des Intendanten des Theater Konstanz über die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Nanzikambe Art Theatre aus Malawi. Die Völkermorddebatte zu Namibia hat neuen Schub erhalten. Dazu ein Aufsatz von Andreas Bohne. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Repression in Angola und Swasiland, mit "Aufschwung oder Ausverkauf" in Mosambik, Rassismus in Namibia und über die Zukunft der Chagos-Inseln und der US-Militärbasis Diego Garcia. // www.afrika-sued.org

Die Fachzeitschrift zum Südlichen Afrika. Afrika Süd liefert kritische Hintergrundanalysen, stellt konkrete Projekte vor und lässt Akteure zu Wort kommen. // THEMEN DER AUSGABE: In einem Gastkommentar zieht Muepu Muamba eine Verbindung zwischen Afrikas Erfahrung mit den Strukturanpassungsprogrammen und Griechenlands Hadern mit den harten Auflagen von EU, IWF und EZB: Hellas Africana. Daneben widmet sie sich u.a. dem Theater: Wir bringen die Eröffnungsrede zum Kongo-Tribunal in Berlin, eine Besprechung des Theaterstücks Coltan-Fieber sowie einen Beitrag des Intendanten des Theater Konstanz über die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Nanzikambe Art Theatre aus Malawi. Die Völkermorddebatte zu Namibia hat neuen Schub erhalten. Dazu ein Aufsatz von Andreas Bohne. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Repression in Angola und Swasiland, mit "Aufschwung oder Ausverkauf" in Mosambik, Rassismus in Namibia und über die Zukunft der Chagos-Inseln und der US-Militärbasis Diego Garcia. // www.afrika-sued.org

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Juli / August <strong>2015</strong><br />

44. Jahrgang | Nr. 4<br />

Zeitschrift zum <strong>süd</strong>lichen Afrika.<br />

MosaMbik<br />

aufschwung oder ausverkauf?<br />

DR koNGo<br />

Das kongo-Tribunal<br />

MaURiTiUs:<br />

Der Chagos-konflikt


INHALT<br />

Fotos: P. Teca, J. Böthling, I. Mess,<br />

14 ANGST UND SCHRECKEN IN LUANDA 17 AUFSCHWUNG ODER AUSVERKAUF 27 DER MENSCH LEBT NICHT VOM BROT<br />

ALLEIN.<br />

In diesem Heft<br />

03 DER STEUERZAHLER UND DER BUCH-<br />

HALTER<br />

Hellas Africana: Die Griechenland auferlegten<br />

Strukturanpassungsmaßnahmen<br />

erinnern an schlimme Erfahrungen<br />

aus Afrika. Ein Kommentar von Muepu<br />

Muamba<br />

04 AKTUELL<br />

NAMIBIA<br />

08 „STETER TROPFEN“<br />

100 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft<br />

über „Deutsch-Südwest<strong>afrika</strong>“<br />

gesteht die Bundesregierung, dass der<br />

Vernichtungskrieg 1904-1908 ein Völkermord<br />

war, wie Andreas Bohne aufzeigt.<br />

10 „HABT IHR NOCH ALLE TASSEN IM<br />

SCHRANK?“<br />

Rassismus in Namibia: Vorurteile und<br />

tief sitzende Ressentiments rückten Ende<br />

Juni wieder ins öffentliche Bewusstsein.<br />

Henning Melber kritisiert die rassistischen<br />

Vorkommnisse in Swakopmund<br />

und beschreibt die anschließenden Kontroversen.<br />

SÜDAFRIKA<br />

12 „JIHAD FOR LOVE”<br />

Birgit Morgenrath war zu Gast beim homosexuellen<br />

Imam von Kapstadt.<br />

ANGOLA<br />

14 ANGST UND SCHRECKEN IN LUANDA<br />

Angolas Öl-Bonanza ist vorbei. Auf die<br />

Haushalts- und Wirtschaftskrise nach<br />

dem Ölpreisverfall reagiert die Regierung<br />

in Luanda mit panikartiger Kreditaufnahme<br />

in China und zunehmender Repression<br />

gegen die Bevölkerung, wie Jon<br />

Schubert kritisiert.<br />

16 FÜNF EINFACHE WEGE, WIE MAN IN<br />

ANGOLA WEGEN STAATSGEFÄHRDUNG<br />

IM GEFÄNGNIS LANDEN KANN<br />

Von Muluka Miti-Drummond.<br />

MOSAMBIK<br />

17 AUFSCHWUNG ODER AUSVERKAUF<br />

Über Jahrzehnte lag die Hafenstadt Beira<br />

nach dem Bürgerkrieg am Boden. Jetzt<br />

verspricht ein Konsortium aus Regierung<br />

und Konzernen einen Neuanfang. Christian<br />

Selbherr hat sich im Entwicklungskorridor<br />

Beira umgeschaut.<br />

19 DIE NEUEN WACHSTUMSPREDIGER<br />

Die Igreja Universal Church do Reino de<br />

Deus ist als größte charismatische Kirche<br />

Brasiliens auch in Mosambik vertreten.<br />

Warum sie das gängige Entwicklungsmodell<br />

anzweifelt, erklärt Linda van de<br />

Kamp.<br />

20 PFINGSTKIRCHEN IN MAPUTO<br />

DR KONGO: THEATER<br />

22 DAS KONGO-TRIBUNAL IN BUKAVO<br />

UND BERLIN<br />

Eröffnungsrede von Milo Rau zu den Berliner<br />

Hearings des Kongo-Tribunals.<br />

24 PRESSESTIMMEN ZUM KONGO-TRIBU-<br />

NAL<br />

25 COLTAN-FIEBER – EIN STÜCK KONGO IN<br />

DER TASCHE<br />

Vom Kampfeinsatz und Minenschacht<br />

auf die Theaterbühne – so zeichnete das<br />

Stück Coltan-Fieber den Weg des Ex-<br />

Kindersoldaten Yves Ndagano nach. Rita<br />

Schäfer geht auf Spurensuche.<br />

MALAWI: THEATER<br />

27 DER MENSCH LEBT NICHT VOM BROT<br />

ALLEIN.<br />

Das malawische Nanzikambe Arts Theatre<br />

und das Theater Konstanz auf dem<br />

Weg zu einem emanzipatorischen Kunstprojekt.<br />

Christoph Nix veranschaulicht<br />

einzelne Etappen.<br />

SWASILAND<br />

29 DUNKE SCHATTEN IM KÖNIGREICH<br />

In Swasiland geht der Staat nicht zimperlich<br />

mit Oppositionellen um. 2014 war<br />

ein besonders dunkles Jahr, wie Caroline<br />

James und Rufus Faggons dokumentieren.<br />

MAURITIUS<br />

31 DER CHAGOS-KONFLIKT<br />

Gernot Lennert zur Frage: Wie weiter<br />

mit den Chagos-Inseln und der US-Militärbasis<br />

Diego Garcia?<br />

SIMBABWE: LITERATUR<br />

34 TOD IM EXIL: CHENJERAI HOVE (1956-<br />

<strong>2015</strong>)<br />

Peter Ripken erinnert in einem Nachruf<br />

an das Leben und Werk des bedeutenden<br />

simbabwischen Schriftstellers.<br />

SÜDLICHES AFRIKA<br />

36 VON KAPSTADT NACH KAIRO<br />

Afrikas Aufstieg mit dem neuen Freihandelsabkommen.<br />

Odomaro Mubangizi<br />

über das Anfang Juni unterzeichnete Abkommen<br />

zur Tripartite Fee Trade Area.<br />

SERVICE<br />

38 REZENSIONEN<br />

2 <strong>afrika</strong> <strong>süd</strong> 4|<strong>2015</strong>


EDITORIAL<br />

Der Steuerzahler und der Buchhalter<br />

HELLAS AFRICANA: Nun sehen wir, wie jetzt die Arbeiterschaft des<br />

Nordens ihrerseits auch „angepasst“ wird. „Anpassung“ nannten es<br />

die Afrikaner in den 1980er- und 90er-Jahren. Wenn jemand z.B. im<br />

Kongo halbverhungert aussah, bezeichnete man ihn als „konjunkturiert“!<br />

Soll heißen, er wurde von innen grundlegend durch die<br />

Strukturanpassungsmaßnahmen „bearbeitet“, die vom IWF und der<br />

Weltbank durchgesetzt wurden. Das war zu Beginn des Neoliberalismus,<br />

den man bereits Ende der 70er-Jahre aufkeimen sah. Afrika<br />

und Lateinamerika bildeten dafür die ersten Versuchslabore. Aber<br />

niemand diesseits der Ozeane hatte erwartet, dass diese neoliberalen<br />

Maßnahmen wie ein Bumerang zurückkommen würden, um<br />

die Länder des Nordens zu drangsalieren. Eine dramatische Ironie<br />

der Geschichte! Die Afrikaner könnten inzwischen den Europäern<br />

ihre „technische Hilfe“ anbieten, wie man die Strukturanpassungsmaßnahmen<br />

überlebt. Schließlich sind sie Spezialisten geworden<br />

auf diesem Gebiet des Überlebens!<br />

Das Wort „Steuerzahler“ genießt heutzutage sehr hohes Ansehen,<br />

das kann man wohl behaupten. Wird es unbewusst als Gegensatz<br />

zum „Nicht-Steuerzahler“, zum Arbeitslosen, verwendet, der wohl<br />

nicht rentabel ist, weil er keine Steuern zahlt? Ein „Klassen-Gedanke“<br />

par excellence, der darauf zielt, dass nur diejenigen Rechte besitzen,<br />

die in der Lage sind, Steuern zu entrichten. Dies erinnert uns an<br />

die Vorstellung von nicht sehr weit zurückliegenden Jahrhunderten<br />

der Unterdrückung! Diese Idee im Hintergrund ist aber wesentlich<br />

verantwortlich für die vergiftete Atmosphäre, die gegenwärtig spürbar<br />

ist. Ist das vielleicht die Bestätigung eines totalen Paradigmenwechsels?<br />

Was ist passiert mit einer internationalen Gemeinschaft, die auf<br />

die menschlichen Werte bauen wollte, auf das politische Bewusstsein<br />

und auf soziale Gerechtigkeit; die sich der internationalen Demokratie<br />

verschrieb, der Förderung der kollektiven Verantwortung<br />

und dem Respekt der Menschenrechte; die sich vornahm, bei Gefahr<br />

gemeinsam zu handeln, um in der Zukunft ähnliche Katastrophen<br />

zu vermeiden, wie sie im letzten Jahrhundert Mensch und Natur<br />

zerstörten? Wie mutierte eine solche Gemeinschaft zu einer Gesellschaft,<br />

die nur auf Geld basiert und von Buchhaltern dominiert wird?<br />

Diese jetzige Entwicklung – war sie wirklich nicht vorhersehbar,<br />

wie uns zurzeit einige Herren weismachen wollen? Diese Rhetorik<br />

mit dem Gesicht des tausendköpfigen Handels, zum Nachteil der<br />

Menschen – gehört diese Rhetorik wirklich nur zu diesem Jahrhundert,<br />

derartig ausgetrocknet, emotionslos und ohne Mitgefühl?<br />

Als ich mich Ende 1970, Anfang 1980 auf Einladung des Peter Hammer-Verlages<br />

in verschiedenen Städten der Bundesrepublik aufhielt,<br />

habe ich bei Diskussionen diese Fragen oft angeschnitten. So geschah<br />

es 1977 während einer Debatte in Wuppertal beim Präsidium<br />

der SPD, dass ich die desaströse Politik des IWF und der Weltbank in<br />

unseren Ländern des Südens angeprangert habe. Warnend habe ich<br />

hinzugefügt, dass wir vielleicht nur die Versuchslabore sind für die<br />

Zukunft. Ich habe auch die berühmte Politik der „Entwicklungshilfe“<br />

bemängelt, so wie sie durchgeführt wird, die ich schon damals als<br />

eine der schönsten Hochstapeleien der Weltgeschichte angesehen<br />

habe. Viele Jahre später, 2005, haben Emanuel Matondo und ich bei<br />

einem Treffen von Attac in Essen ebenfalls auf die verheerende Wirkung<br />

der neoliberalen Politik weltweit hingewiesen, die sich jetzt<br />

nun auch in Europa auswirkt.<br />

Die Gewalt, mit der die internationalen Finanzinstitutionen Griechenland<br />

behandeln, all das, was sich momentan auf diesem Kontinent<br />

abspielt, scheint doch für den Großteil der europäischen Bevölkerung<br />

hinnehmbar und notwendig zu sein, so wie damals, vor<br />

vielen Jahren, als wir die Opfer dieser „Strukturanpassungen“ waren.<br />

Auch heute wird dem griechischen Volk nicht viel Solidarität entgegengebracht,<br />

genauso wie damals kaum jemand sich darum scherte,<br />

was sich in den Ländern der Dritten Welt abspielte. Der Mehrheit in<br />

Europa war das vollkommen egal.<br />

Es geht darum, nachzudenken und unsere Welt anders zu gestalten;<br />

und die richtigen Worte zu gebrauchen! Hilfe und Solidarität<br />

sind keine Slogans des Kommerzes oder der Werbung, sie sind auch<br />

keine Bankschalter, zu denen man geht, um Geld auszuleihen zu<br />

überhöhten Zinsen! Deshalb über Solidarität und Hilfe im Zusammenhang<br />

mit der Krise in Griechenland zu sprechen – wo doch die<br />

internationalen Finanzinstitutionen dem Land Geld leihen, damit<br />

es die Banken ausbezahlen kann –, ist mehr als ein Missbrauch der<br />

Sprache; es ist eine Obszönität!<br />

Viele Frauen und Männer sind manipulierbar. Glücklicherweise<br />

gibt es, über den ganzen Planeten verteilt, Widerstandsinseln gegen<br />

diese wahrhaft illegitimen Schulden. Deshalb überlebt die Hoffnung<br />

an diesen humanen Orten. Doch das Rätsel bleibt: Wie entsteht diese<br />

Fähigkeit zum Widerstand, diese Weigerung, sich den Ungerechtigkeiten<br />

und Demütigungen zu unterwerfen, im Bewusstsein mancher<br />

Menschen?<br />

Wir durchleben in diesem Moment eine Zeit der überwunden geglaubten<br />

Knechtschaft – und zwar ganz präsent.<br />

>> Muepu Muamba<br />

Schriftsteller aus der DR Kongo<br />

Frankfurt am Main, 22.07.<strong>2015</strong><br />

Übersetzung aus dem Französischen: Maria Kohlert-Németh<br />

4|<strong>2015</strong> <strong>afrika</strong> <strong>süd</strong> 3


NAMIBIA<br />

„Steter Tropfen...“<br />

100 JAHRE NACH DEM ENDE DER KOLONIALHERRSCHAFT ÜBER „DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA“ gibt die Bundesregierung<br />

dem wachsenden Druck aus der Zivilgesellschaft in Namibia und Deutschland nach. Sie gesteht so überraschend<br />

wie kleinlaut endlich ein, „dass der Vernichtungskrieg in Namibia 1904-08 ein Kriegsverbrechen und<br />

Völkermord war“. Dabei hatte es zu Beginn des ausschlaggebenden Berlin-Besuches einer hochrangigen OvaHerero-<br />

und Nama-Delegation Anfang Juli <strong>2015</strong> kaum danach ausgesehen: Eine Rück- und Ausschau.<br />

Foto: Andreas Bohne<br />

Freitag, 10.7.<strong>2015</strong>, Regierungspressekonferenz.<br />

Frage: „Herr Schäfer, ich habe es noch<br />

nicht ganz verstanden. Die Haltung, die Meinung<br />

der Bundesregierung ist: Ja, das war<br />

Völkermord.“<br />

Sprecher des Auswärtigen Amtes: „Ich<br />

habe es Ihnen doch gerade so vorgelesen; in<br />

der Tat.“<br />

Zusatzfrage: „Die Bundesregierung sagt:<br />

Das war Völkermord. – Das wäre ja jetzt eine<br />

Meldung.“<br />

Sprecher des AA: „Dann melden Sie es.“<br />

Frage: „Ist eine Entschuldigung geplant?“<br />

Was führte zu diesem Dialog einer überfälligen<br />

Anerkennung zwischen einer Journalistin<br />

und Dr. Martin Schäfer, Sprecher<br />

des Auswärtigen Amt? Dazu einige Schritte<br />

zurück.<br />

„Völkermord ist Völkermord!“<br />

Am Mittag des 5. Juli <strong>2015</strong> landete eine<br />

kleine, aber hochkarätige, OvaHerero und<br />

Nama-Delegation in Berlin. Auf dem Weg<br />

nach London legte sie einen Zwischenstopp<br />

in Deutschland ein: Anlass war die geplante<br />

Übergabe des Appells „Völkermord ist Völkermord!“<br />

– initiiert durch das NRO-Bündnis<br />

„Völkermord verjährt nicht!“ und von mehr<br />

als 150 Prominenten aus Politik und Wissenschaft,<br />

Kunst und Kultur erstunterzeichnet –<br />

an den Bundespräsidenten. Innerhalb eines<br />

Monats haben sich über 50 NRO und Initiativen<br />

sowie mehr als 2.500 Einzelpersonen<br />

dem Appell angeschlossen. 100 Jahre nach<br />

dem Ende des deutschen Kolonialregimes<br />

fordern sie die Anerkennung des Genozids,<br />

eine offizielle Entschuldigung, die Rückgabe<br />

aller aus Afrika geraubten menschlichen Gebeine<br />

und direkte Verhandlungen der deutschen<br />

Regierung mit den vom Völkermord<br />

bis heute betroffenen Nachfahren.<br />

Bei der Übergabe des Appells spielt das<br />

Bundespräsidialamt keine glückliche Rolle:<br />

Statt Mitglieder der deutsch-namibischen<br />

Delegation hereinzubitten, nimmt es die<br />

Unterschriftenlisten auf der Straße vor dem<br />

Tor entgegen. Als OvaHerero Paramount<br />

Chief Rukoro und die Nama-Vertreterin Ida<br />

Hoffmann, Mitglied des namibischen Parlaments,<br />

eine kurze Ansprache an den abgesandten<br />

Mitarbeiter halten wollen, geht<br />

dieser so wortlos wie er gekommen war. Die<br />

Nachfahren der Genozidopfer empfanden<br />

dies als Affront, zumal der online-Kalender<br />

des Bundespräsidenten und die Deutschlandfahne<br />

auf dem Schloss Bellevue darauf<br />

schließen ließen, dass sich Bundespräsident<br />

Gauck im Hause befand. Die Anwesenden<br />

fühlten sich an den Eklat im September<br />

2011 erinnert, als die Staatssekretärin des<br />

Auswärtigen Amtes, Cornelia Pieper, bei<br />

der zeremoniellen Übergabe menschlicher<br />

Überreste von Genozidopfern an die Ova-<br />

Herero- und Nama-Nachfahren in der Berliner<br />

Charité nach ihrer enttäuschenden Rede<br />

fluchtartig den Raum verließ.<br />

Am nächsten Tag versammelten sich die<br />

Delegierten, Sympathisanten und Bundestagsabgeordnete<br />

von Linken, Grünen und<br />

SPD am sogenannten Namibia-Stein auf<br />

dem Garnisonsfriedhof in Berlin-Neukölln.<br />

Paramount Chief Rukoro hielt eine Ansprache,<br />

in der er die Entschlossenheit der Ova-<br />

Herero und Nama zur Intensivierung ihres<br />

Kampfes um Anerkennung und Wiedergutmachung<br />

für den Genozid betonte. Eine Diskussionsveranstaltung<br />

in der Werkstatt der<br />

Kulturen schloss den Besuch ab, hier wurde<br />

abermals die Entschlossenheit betont.<br />

Kehrtwende in der Regierungspolitik?<br />

Am 9. Juli <strong>2015</strong> – nach Abreise der namibischen<br />

Delegation – schrieb Bundestagspräsident<br />

Lammert (CDU) überraschenderweise<br />

in einem Artikel in „Die Zeit“: „An<br />

den heutigen Maßstäben des Völkerrechts<br />

gemessen war die Niederschlagung des<br />

Herero-Aufstands ein Völkermord.“ Ebenso<br />

nannte er den Völkermord einen „Rassenkrieg“.<br />

Erreichte Lammerts Aussage noch<br />

größeres mediales Interesse, ging die Meldung<br />

über die neue offizielle Sichtweise von<br />

Bundesaußenminister Steinmeier und der<br />

Bundesregierung am folgenden Tag deutlich<br />

unter und wurde nur beiläufig wahrgenommen.<br />

Auf der eingangs geschilderten Regierungspressekonferenz<br />

wurde auf Nachfrage<br />

erläutert, dass für den Außenminister der<br />

im März 2012 gemeinsam mit Bündnis 90/<br />

Grüne eingebrachte Antrag „Leitlinie“ und<br />

„Haltung“ sei. Darin ist von einem „Kriegsverbrechen<br />

und Völkermord“ die Rede.<br />

8 <strong>afrika</strong> <strong>süd</strong> 4|<strong>2015</strong>


NAMIBIA<br />

Was letztlich der entscheidende Faktor für diese<br />

Aussagen war, kann schwerlich beantwortet werden.<br />

Sicherlich spielte die Debatte um den Völkermord<br />

an den Armenierinnen und Armeniern eine nicht zu<br />

unterschätzende Rolle, um das Thema wieder in das<br />

Bewusstsein von Politikern und Journalisten zu holen.<br />

Zudem haben politischer und zivilgesellschaftlicher<br />

Druck – aus dem Globalen Süden und Norden – in<br />

den letzten Jahren in Form von Kampagnen, Veranstaltungen<br />

und Protest die Bundesregierung immer<br />

wieder zu leichten diskursiven Schritten vorwärts gedrängt.<br />

So sprach Berlin in jüngsten Äußerungen von<br />

einem „grausamen Kolonialkrieg“. Jetzt wurde endlich<br />

das Kind beim Namen genannt. Viele Kommentare<br />

in den Medien haben die jüngsten Aussagen als<br />

Kehrtwende und Durchbruch begrüßt, zugleich aber<br />

auch überwiegend als längst überfällig kritisiert und<br />

eingefordert.<br />

In dem Zusammenhang ist sicherlich auch die Äußerung<br />

von Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz, interessant. In einem<br />

Interview sprach er sich für die Rückführung unrechtmäßig<br />

erworbener Gebeine aus Kolonialgebieten aus.<br />

Reparationen als neue Gretchenfrage?<br />

Mit den Äußerungen sind die Stimmen nicht verstummt,<br />

welche die juristische bzw. völkerrechtliche<br />

Dimension des Völkermordes diskutieren. Werden<br />

diese Meinungen oftmals sachlich ausgetauscht, tauchen<br />

insbesondere bei Fragen der Reparationen und<br />

Wiedergutmachung immer wieder Stereotype und<br />

Vorurteile auf, oftmals mittels Leserbriefen und Kommentaren<br />

zu Artikeln. Die Reparationsforderung enthülle<br />

solchen Äußerungen zufolge den einzig wahren<br />

Grund des Engagements der Opfergruppen – es gehe<br />

nämlich mehr um deutsches Geld und weniger um<br />

Moral oder Vergebung. Hier wird mit Klischees und<br />

Eurozentrismus gespielt und es werden Opferverbände<br />

entmündigt. Dem gilt es, aus den Reihen der Zivilgesellschaft<br />

gegenzuhalten.<br />

Im gleichen (eurozentristischen) Atemzug wird vor<br />

„Tribalismus“ gewarnt, der spaltend statt versöhnlich<br />

wirken würde. Ester Muinjangue, Vorsitzende der<br />

Ovaherero and Ovambanderu Genocide Foundation,<br />

sagte in Berlin bezugnehmend auf diese Kritiken: „Außerdem<br />

denken diese Stimmen nur an Geld. Wir sagen<br />

aber: Lasst uns zusammensitzen und diskutieren.<br />

In bestimmten namibischen Gegenden leben jeweilige<br />

namibische Ethnien, wie im Süden von Namibia<br />

die Nama. Dort könnte man eine Universität bauen<br />

oder Gesundheitszentren errichten. Denken die Kritiker<br />

etwa, dass diese nur für die Nama und nicht für<br />

alle Namibianer wären?“<br />

Erst 30 von 100 Metern geschafft!<br />

Zwar ist die Anerkennung des Völkermordes durch<br />

Bundestagspräsident Lammert und Außenminister<br />

Steinmeier zu begrüßen. Aber sie geht nicht weit genug.<br />

Eine formelle Entschuldigung durch den deutschen<br />

Bundestag gegenüber dem namibischen Staat<br />

und den Opfergruppen steht immer noch aus. Hier<br />

hält sich die deutsche Regierung weiterhin bedeckt<br />

und verweist auf laufende regierungsseitige Diskussionen.<br />

Zumindest die Aussage von Lammert kann<br />

ebenso wie die der damaligen Bundesministerin für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

Heidemarie Wieczorek-Zeul als Privatmeinung abgetan<br />

werden. Dass jedoch eine Entschuldigung nicht<br />

von einzelnen Politikern erwartet wird, das machten<br />

Vertreterinnen und Vertreter von Opferverbänden in<br />

der Vergangenheit mehrfach deutlich. Daher dürfte<br />

die angekündigte gemeinsame Erklärung nach Abschluss<br />

der namibisch-deutschen Gespräche interessant<br />

sein.<br />

Die offizielle deutsche Seite hat bisher auch noch<br />

keine Stellung genommen zur geforderten Bestandsaufnahme<br />

aller Gebeine, die während der Kolonialzeit<br />

für rassistische Untersuchung nach Deutschland gesendet<br />

wurden und deren würdevolle Rückführung<br />

noch aussteht. Ebenso unklar ist die geforderte Einrichtung<br />

einer gemeinsamen Schulbuchkommission<br />

und die Darstellung des Völkermordes in Museen.<br />

Daneben zeigte die Pressekonferenz deutlich: Ein<br />

Trialog unter Einbeziehung der namibischen Opferverbände<br />

liegt immer noch außerhalb der Vorstellungskraft<br />

der deutschen und namibischen Politikvertreter.<br />

Die oftmals erwähnte „gemeinsame<br />

Bewertung“ und der „politische Dialogprozess“ sollen<br />

allein auf Regierungsebene stattfinden. Diese Ausgrenzung<br />

der Opfergruppen würde die gewünschte<br />

Überwindung der spürbaren Folgen – die nicht nur<br />

wirtschaftlich und sozial, sondern auch politisch sind<br />

– ad absurdum führen. Alle Interessengruppen sollten<br />

sich an einen Tisch zu setzen und Themen wie (ideelle<br />

und finanzielle) Wiedergutmachung als moralische<br />

Verpflichtung besprechen.<br />

Die nächsten Zeitpunkte zur Korrektur früherer<br />

Aussagen und die längst fällige Entschuldigung durch<br />

die Bundesregierung stehen bevor: Sowohl die Fraktion<br />

der Linken als auch die Fraktion Bündnis 90/die<br />

Grünen haben kürzlich Anträge in den Bundestag<br />

eingebracht. Durch die beiden Anfragen und durch<br />

das Datum des 2. Oktober <strong>2015</strong>, dem 111. Jahrestag<br />

des ersten Vernichtungsbefehls, müsste spätestens<br />

eine Entschuldigung folgen – oder wird diese im nationalen<br />

Überschwang der 25-jährigen deutschen Einheitsfeier<br />

untergehen?<br />

>> Andreas Bohne<br />

APPELL „VÖLKERMORD<br />

IST VÖLKERMORD!“<br />

Der Appell wurde am<br />

7.Juni <strong>2015</strong> gestartet.<br />

Mehr als 150 Erstunterzeichner<br />

– darunter die<br />

issa –, 50 weitere NRO<br />

und Initiativen sowie<br />

mehr als 2.500 Personen<br />

unterstützen den Appell<br />

bisher. Da zum 7.Juli <strong>2015</strong><br />

die Forderungen nicht<br />

erfüllt wurden, hat sich<br />

das Bündnis „Völkermord<br />

verjährt nicht!“ entschlossen,<br />

die Kampagne<br />

bis zum 2. Oktober <strong>2015</strong><br />

fortzuführen.<br />

Der Autor engagiert sich<br />

in dem Kampagnenbündnis<br />

„Völkermord verjährt<br />

nicht!“<br />

4|<strong>2015</strong> <strong>afrika</strong> <strong>süd</strong> 9


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