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2016-04

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Tatort Siegufer<br />

Tatort Siegufer<br />

Was macht man, wenn man jung ist, an solch herrlichen<br />

Spätsommerabenden wie im vergangenen<br />

September? Man trifft sich mit Freunden, z.B.<br />

am wunderbar neu gestalteten Siegufer und verbringt einen<br />

schönen Abend. So einfach kann das heute sein.<br />

Im September 1961, also vor 55 Jahren, gab es auch diese<br />

schönen Abende und junge Leute trafen sich, wie am 21.<br />

September, z.B. im damals sehr beliebten Laternchen. Wir<br />

waren eine Clique von sechs Freunden plus einem Banjo.<br />

Das Wetter war zu schön, um in einer - wenn auch noch so<br />

gemütlichen – Kneipe zu sitzen. Wir wollten ans Wasser,<br />

gerne zur Lister Talsperre oder zum Heisterberger Weiher.<br />

Daraus wurde nichts, wir konnten keine Autos auftreiben.<br />

Also hier zum Wasser, nach dem Motto: Wenn man schon<br />

einen Fluss in der Stadt hat, sollte man ihn auch nutzen.<br />

Die Ufer der Sieg waren damals völlig unzugänglich und<br />

so blieb uns nur ein Strick – zum Abseilen von der Brücke<br />

auf eine Sandbank im Flussbett. Das war problemlos möglich,<br />

weil es 1961 im Bereich der Siegbrücke noch keinerlei Überbauungen,<br />

d.h. keine hässliche Parkplatte und auch kein monströses<br />

Geschäftshaus über der Sieg gab, im Gegenteil, man<br />

hatte von überall einen schönen, freien Blick auf den Fluss.<br />

Ein Feuerchen – von wegen „Scheiterhaufen“, wie später<br />

in der Zeitung stand – war schnell entzündet, das Banjo wurde<br />

gestimmt und es konnte losgehen.<br />

Der erste Song ergab sich wie von selbst: Down by the<br />

riverside. Durch die Musik und das Feuer waren Passanten<br />

auf uns aufmerksam geworden, einige blieben stehen und applaudierten,<br />

andere äußerten Wünsche, die wir gerne erfüllten,<br />

soweit unser Repertoire das hergab. Jedenfalls waren es keine<br />

„Hymnen“, wie in der Zeitung zu lesen war, sondern Lieder<br />

wie: River Kwai Marsch, La Paloma, Michael row the boat,<br />

Flussfest Anno 1961<br />

Foto: Archiv Flender<br />

Banks of the Ohio, Kalkutta liegt am Ganges und so etwas.<br />

Die Stimmung war gut, alle hatten ihren Spaß. Als dann im<br />

Apollo der Film zu Ende war und die Besucher das Kino verließen,<br />

kamen plötzlich viele Menschen ans Brückengeländer,<br />

um zu sehen, was da ablief. Die Stimmung stieg. Da die<br />

Bahnhofstraße damals eine stark befahrene Straße war, mag<br />

es sein, dass einige der dicht gedrängten Zuschauer den Verkehr<br />

behinderten und so kam, was kommen musste: Polizei!<br />

Die hatte zunächst leichtes Spiel, wir konnten ja nicht<br />

weg. Vielleicht glaubten die Beamten, der „Spuk“ würde<br />

sich durch ihre bloße Anwesenheit auflösen , aber nein:<br />

Den Zuschauern gefiel, was sie sahen und hörten. So mussten<br />

die Beamte reagieren. Weitere Polizeiwagen wurden angefordert<br />

und ein Megaphon kam zum Einsatz:<br />

„Feuer sofort löschen und nach oben kommen!“ Dann<br />

hieß es tatsächlich: „Die Feuerwehr ist unterwegs und wird<br />

euch mit Schlauchbooten holen!“<br />

Die Leute waren begeistert! Ein Zuschauer bat prompt<br />

um das Lied Ein Schiff wird kommen, andere machten keinen<br />

Hehl mehr aus ihren Sympathien für uns – wir wurden durch<br />

entsprechende Zurufe zum Bleiben ermuntert: „Durchhalten,<br />

Weitermachen, Nicht aufgeben !“ Das tat uns zwar gut, half<br />

aber nicht weiter, denn wir hatten weder Interesse an einem<br />

Kräftemessen mit der Polizei noch wollten wir in Handschellen<br />

abgeführt werden.<br />

Also geordneter Rückzug: Feuerchen aus, zum Abschied<br />

When the saints go marching in und am Seil nach oben, wo wir<br />

eher irdisch empfangen und „in die Polizeiwagen verfrachtet“<br />

wurden. Hier war der Zeitungsbericht atmosphärisch stimmig.<br />

Auf der Wache entlud sich ein Donnerwetter und unsere<br />

nähere Zukunft wurde in den dunkelsten Farben gemalt: „Dicke<br />

Anzeige, Teuer zu stehen kommen, Wird Konsequenzen<br />

haben, Kann böse enden, In eurer Haut“ etc. Doch trotz aller<br />

finsteren Prophezeiungen hatten wir unser Gespür für Komik<br />

nicht verloren: Als der letzte von uns mit der Angabe der<br />

Personalien an der Reihe war – er hatte sich bewusst hinten<br />

angestellt – wussten wir, was kam: Auf die Frage nach seinem<br />

Geburtsort antwortete er wahrheitsgemäß: „Eiershausen“.<br />

Der Beamte reagierte professionell, er wollte wissen,<br />

wo das ist. „In Hessen, bei der Sackpfeife.“ Daraufhin sah er<br />

uns an, atmete tief durch und schrieb es so auf.<br />

Nach Aufnahme der Personalien und des Protokolls konnten<br />

wir die Wache verlassen. Zurück im Laternchen dauerte es<br />

nicht lange und wir hatten die passende Überschrift für unsere<br />

Aktion gefunden: UNTERNEHMEN MORSCHER STRICK.<br />

Ein Strick, der zwar morsch, aber nicht gerissen war.<br />

Schließlich: Das Verfahren gegen uns wurde eingestellt,<br />

auch dank der geschickten Mediation eines uns wohl gesonnenen<br />

Ratsmitglieds. Das entsprach völlig unserem Rechtsempfinden:<br />

Was an der ganzen Sache war denn so schlimm?<br />

Und hätte uns damals jemand gefragt, warum wir das<br />

gemacht haben, wäre die Antwort gewesen: „Ein wenig<br />

Übermut, der Rest pure Lebensfreude!“ Vielleicht ein erster<br />

Schritt in Richtung Provinz voller Leben.<br />

Heute ist die Situation entspannter. Die Stadt hat ihren<br />

Fluss wiederentdeckt und mit der Öffnung und Gestaltung des<br />

Ufers eine Attraktion geschaffen, die ihn endlich wieder in das<br />

öffentliche Leben einbezieht.<br />

Raimar Bruch.<br />

Mit herzlichem Dank an Wolfgang Dehnen, Volker Lubich, und<br />

Ulf Speicher für ihre Unterstützung bei dem Bemühen,<br />

Erinnerungslücken zu schließen.<br />

Dokument: Archiv Bruch<br />

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