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DPFA - Diakonie Riesa-Großenhain gGmbH

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Dankeschön!<br />

Wir danken allen MitarbeiterInnen,<br />

ehemaligen MitarbeiterInnen, MitstreiterInnen<br />

und UnterstützerInnen. Ohne das große Engagement<br />

der vielen HelferInnen wäre eine 15-jährige Migrationsarbeit<br />

in unserem Landkreis so nicht möglich gewesen.<br />

Weiterhin danken wir allen Personen,<br />

die uns beim Erstellen dieser Broschüre geholfen haben.<br />

Jahre Migrationsarbeit<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> <strong>gGmbH</strong><br />

Mut<br />

Freude<br />

Sprache<br />

Ausdauer<br />

Kultur<br />

Toleranz


Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

liebe Schwestern und Brüder,<br />

Grußwort<br />

unter den Geboten Gottes gibt es nur wenige, die das Schutzgebot gegenüber<br />

Fremden und Flüchtlingen an Gewicht und Eindeutigkeit übertreffen:<br />

„Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.<br />

Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn<br />

lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.<br />

Ich bin der HERR, euer Gott. (3.Mose 19.33+34)<br />

Fremde stehen unter dem Schutz Gottes und den Einheimischen wird zugemutet,<br />

dass sie mit Fremden so umgehen, wie es recht ist und wie es Gott will.<br />

Die Migrationsberatungsstelle der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> <strong>gGmbH</strong> hilft seit<br />

fünfzehn Jahren Spätaussiedlern, Zuwanderern und Flüchtlingen bei der Aufnahme<br />

und Orientierung im neuen Lebensumfeld. Die Mitarbeiter verfolgen das<br />

Ziel, Migranten zu unterstützen und darin zu bestärken, ihre Situation zu klären<br />

und eigene Entscheidungen hinsichtlich ihres zukünftigen Lebensweges zu treffen.<br />

Jeder einzelne Mensch, der sich auf den Weg macht, bringt seine Prägungen mit<br />

in die neue Heimat. Dort angekommen, müssen sich Zugewanderte in einer für<br />

sie oft sehr fremden Umgebung zurechtfinden. Die Einheimischen erleben das oft<br />

mit gemischten Gefühlen und werden durch die Mitbürger aus anderen Ländern<br />

in ihrer eigenen Lebenswelt verunsichert. Nicht selten prallen dabei unterschiedliche<br />

Lebens- und Wertvorstellungen aufeinander.<br />

Es gehört zu den besonderen Aufgaben unserer Kirchgemeinden, den Zuwanderern<br />

und Spätaussiedlern und ihren Familien freundliche Aufmerksamkeit zu<br />

schenken und ihnen die Erfahrung zu vermitteln, dass sie unter uns willkommen<br />

sind. Die Mitarbeiter der Migrationsberatungsstelle sind dabei wertvolle Brückenbauer<br />

zwischen Einheimischen und Zugewanderten.<br />

Ich danke all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Förderern und<br />

Entscheidungsträgern für diese wertvolle Arbeit und verbinde damit den Wunsch,<br />

dass die <strong>Großenhain</strong>er Beratungsstelle mit ihrer Brücken- und Vermittlungsfunktion<br />

noch lange ihre Wirkung entfalten möge.<br />

Gott segne Sie.<br />

Ihr<br />

Eckhard Klabunde<br />

Superintendent des Kirchenbezirks <strong>Großenhain</strong><br />

2<br />

Liebe Leserinnen, lieber Leser,<br />

als ich vor knapp 2 Jahren meinen Dienst in der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong><br />

antrat, fühlte ich mich aufgrund verschiedener Faktoren gleich wie zu Hause.<br />

Und dies obwohl ich weder ein reines Hochdeutsch noch ein gängiges Sächsisch<br />

spreche bzw. sprach. Von Christian Morgenstern stammt ja der Ausspruch „Nicht<br />

da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern da, wo man verstanden<br />

wird“.<br />

Umso mehr fühlte ich mich dann in <strong>Großenhain</strong> heimisch, als ich merkte, dass<br />

auch in den Beratungszimmern der <strong>Diakonie</strong> in Englisch und Russisch telefoniert<br />

und beraten wurde. Besonders erinnerte ich mich an die Anfangszeiten meines<br />

5-jährigen Tansania-Aufenthaltes und an die Geduld und das überaus große<br />

Verständnis, was mir dort von den Einheimischen – seien es Mitarbeiter,<br />

Vorgesetzte oder Nachbarn – entgegengebracht wurde. Da ich weiß, dass diese<br />

Art von interkultureller Kommunikation nicht immer ganz einfach ist und neben<br />

einer Portion Mut auch viel Kraft verlangt, schätze ich die vorbildliche Arbeit<br />

unserer Migrationsberatung, die nun schon seit 15 Jahren ihren Dienst tut, ganz<br />

besonders. Auch bei der Recherche hinsichtlich dieses 15-jährigen Jubiläums<br />

ist mir bewusst geworden, welche großen Leistungen unter oft schwierigen<br />

Bedingungen die MitarbeiterInnen unserer Migrationsberatung erbrachten, was<br />

hohen Respekt und Anerkennung gebührt und wofür ich auch an dieser Stelle<br />

ganz herzlich danken möchte.<br />

„Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft ist Gesellschaftspolitik,“ formuliert<br />

die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung zutreffend. Ziel einer umfassenden<br />

Integrationspolitik muss es sein, dass Zuwanderinnen und Zuwanderer<br />

gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben und Chancengleichheit<br />

erhalten. Dabei sind alle Bereiche – Arbeitsmarkt, Bildung, Sprache, Kultur, soziale,<br />

rechtliche und politische Integration – einzeln und in ihrer Wechselwirkung<br />

zu fördern. Derzeit leben 14 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund unter<br />

uns in Deutschland.<br />

Das heißt, dass das Angebot der Mitgrationsberatung, die ja Hilfe zur Selbsthilfe<br />

leisten will, auch in Zukunft von großer Bedeutung sein wird. Die <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<br />

<strong>Großenhain</strong> ist bereit, sich auch in Zukunft für Zuwanderinnen und Zuwanderer<br />

kompetent und „anwaltlich“ mit zahlreichen Hilfs- und Beratungsangeboten<br />

– auch in einem größeren Territorium, wie z. B. dem neuen Landkreis Meißen -<br />

einzusetzen. Grundlage dafür ist der biblische Auftrag, sich den Fremden, zu uns<br />

Kommenden hinzuwenden. Die Migrationsarbeit ist also eine originär kirchlichdiakonische<br />

Aufgabe. Dass uns auch in der Zukunft der Mut, die Kraft, die<br />

Ideen sowie die Phantasie nicht ausgehen mögen, wünsche ich unserem Werk.<br />

Besonders unseren MitarbeiterInnen in der Migrationsberatung wünsche ich alles<br />

Gute, Gesundheit, Freude, Geduld, Gottes Segen sowie immer ein gutes liebes<br />

Wort für den Hilfesuchenden. Denn – wie einst Hans Thoma sagte - „Ein gutes<br />

liebes Wort ist immer ein Lichtstrahl, der von Seele zu Seele geht“.<br />

Hans-Georg Müller<br />

Geschäftsführer der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> <strong>gGmbH</strong><br />

31


Deutsche Private Finanzakademie GmbH &Co.KG Sachsen<br />

Bildungsstätte <strong>Großenhain</strong><br />

Auenstraße 1 · 01558 <strong>Großenhain</strong><br />

30<br />

<strong>DPFA</strong><br />

A K A D E M I E G R U P P E<br />

ERFOLG DURCH BILDUNG.<br />

Das 15-jährige Bestehen der Migrationserstberatung (MEB) der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong> -<br />

<strong>Großenhain</strong> <strong>gGmbH</strong> unter der bewährten Leitung von Frau Diplomsozialpädagogin<br />

Franke ist mir Anlass, die Leistungen dieses Teams in besonderer Weise<br />

hervorzuheben und dafür meine Anerkennung auszusprechen.<br />

Die MEB hat es verstanden, Zuwanderinnen und Zuwanderer auf eine<br />

gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen, kulturellen<br />

und wirtschaftlichen Leben in Deutschland vorzubereiten und zu befähigen.<br />

Insbesondere versteht es die MEB in ihrer begleitenden Tätigkeit, unterschiedliche<br />

Integrationsangebote zu koordinieren und zu vernetzen. Stil der Arbeit der MEB<br />

ist, dass es immer um den Einzelfall, um passgenaue Integrationsmaßnahmen<br />

und zugeschnittene Förderpläne, immer jedoch auch um viel menschliche<br />

Zuwendung ging. Hin und wieder konnten wir uns in diese vielfältige Arbeit mit<br />

einbringen, dabei auch all die Sorgen, Probleme und Lösungsvielfalt erkennen.<br />

Ich wünsche dem Team der MEB weiterhin viel Erfolg in einer Arbeit, wo es kein<br />

Ende, aber immer wieder neue gelungene Integrationen gibt.<br />

<strong>Großenhain</strong>, den 13.02.07 Dr.sc.techn. Hans-Peter Fehr<br />

Direktor für Bildung der <strong>DPFA</strong><br />

Bildungsstätte <strong>Großenhain</strong><br />

Postfach 100 109<br />

01553 <strong>Großenhain</strong><br />

Telefon, 03522 505600<br />

Telefax, 03522 505601<br />

Deutsche Private Finanzakademie<br />

GmbH &Co.KG Sachsen<br />

nach AZWV zu-gelassener freier<br />

Träger beruflicher Weiterbildungen<br />

grossenhain.dpfa@dpfa-akademiegruppe.com www.dpla-akademiegruppe.com<br />

Firmensitz/<br />

Geschäftsleitung,<br />

Handelsregister,<br />

Geschäftsführer,<br />

Gutwasserstraße 17, 08056 Zwickau<br />

Amtsgericht Chemnitz HRA3528<br />

Catrin Liebold<br />

Prof. Dr. sc. oec. Clauß Dietz<br />

TÜV<br />

Bankverbindung<br />

Commerzbank<br />

Zwickau<br />

Kto.-Nr, 700 008 600<br />

BLZ, 870 400 00<br />

Ust-ldNr,<br />

DE198829169<br />

Das 15-jährige Jubiläum<br />

ist auch für mich als Leiterin der Migrationsberatungsstelle ein Anlass<br />

zurückzuschauen und Resümee zu ziehen.<br />

Im August 1992 bekam das Diakonische Werk im Kirchenbezirk <strong>Großenhain</strong> e.V.<br />

das Angebot vom Diakonischen Amt Radebeul, das Arbeitsgebiet Aussiedlerarbeit<br />

in ihr Beratungsangebot im Landkreis <strong>Großenhain</strong> aufzunehmen. Damals<br />

rechneten wir mit einem zukünftigen Beratungsbedarf von fünf bis zehn Jahren.<br />

Die ersten Schritte in diesem Bereich waren für mich, geschichtliche Hintergründe<br />

nachzulesen, da in der ehemaligen DDR diese politischen Geschehnisse nicht<br />

veröffentlicht wurden. Weiterhin war es erforderlich, mir die rechtlichen Grundlagen<br />

anzueignen und mich mental auf die Begleitung dieser Personengruppe<br />

vorzubereiten.<br />

Bei der Eröffnung des ersten Übergangswohnheimes konnte ich mich besonders<br />

an die Einwohnerversammlung erinnern und an die Ankunft der ersten Aussiedler<br />

in Kmehlen. Die Debatte in dieser Versammlung machte mir wenig Mut für meine<br />

zukünftige Arbeit.<br />

Die Begegnung mit den ersten Familien dagegen hat mich emotional sehr<br />

berührt. Der Verlauf der Erstkontakte zwischen einigen Einheimischen und den<br />

Neuzugereisten gaben mir Hoffnung, dass die Menschen in Kmehlen bzw. im<br />

Landkreis „Heimat“ finden können.<br />

Schnell stiegen die Anforderungen an mich, da die Aussiedler mich mit allen<br />

Fragen des Lebens konfrontierten im Sinne von „wo muss ich was, wie tun“.<br />

Ich musste mich jedoch erst bei vielen Fragen neu orientieren und gleichzeitig<br />

den Ämtern und anderen Einrichtungen den Leistungsanspruch von Aussiedlern<br />

erklären und zum Teil Gesetzestexte als Beweis vorlegen.<br />

Hinzu kam, dass die Spätaussiedler mit großer Enttäuschung nach Sachsen<br />

übersiedelten. Sie assoziierten Sachsen mit Osten und Rückschritt.<br />

Sie äußerten mir gegenüber, dass sie an den Einwohnern und an uns die<br />

Gastfreundlichkeit schätzten und Dorfbewohner Kontakte suchten, allerdings war<br />

der Wunsch trotzdem noch groß, zu den Verwandten in den Westen zu ziehen.<br />

In Kooperation mit der Gemeinde Priestewitz gelang es uns nach ca. zwei Jahren,<br />

erste Aussiedler zu gewinnen, die in einigen umliegenden Ortschaften rund um<br />

Kmehlen sesshaft wurden. Heute ist es selbstverständlich, dass Spätaussiedler<br />

in unserem Landkreis ihren Lebensmittelpunkt finden.<br />

Anhand des Zeitstrahls können Sie nachlesen, wie rasant und in welcher<br />

3


Dimension sich das Arbeitsgebiet entwickelte. Schnell war klar, dass ich allein<br />

die Arbeit nicht mehr bewältigen konnte, da in der Zeit von 1992 bis 2006 bis zu<br />

sieben Übergangswohnheime mit maximal 700 Personen jährlich zu begleiten<br />

waren.<br />

Beim Erkennen von migrationsspezifischen Problemen, wie z.B. Isolation,<br />

fehlende Sprachkenntnisse, Orientierungslosigkeit, entwickelten wir daher<br />

zusätzlich Projekte, um diesen entgegenzuwirken.<br />

Einen Großteil der Arbeit leisteten später Ehrenamtliche, PraktikantInnen und<br />

vom Arbeitsamt geförderte Personen, die mich stark entlasteten und die Arbeit<br />

qualitativ verbesserten.<br />

Bei diesen Mitarbeitern möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich für ihr<br />

Engagement bedanken.<br />

Gerlinde Franke<br />

<strong>Großenhain</strong>, 23.05.2007<br />

4<br />

Aussiedler an der 1. Mittelschule „Am Kupferberg“<br />

- Bereicherung oder Belastung?<br />

Kinder, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, waren und sind die<br />

Herausforderung für das Kollegium der 1. Mittelschule „Am Kupferberg“. Zuerst<br />

herrschte unter den Kollegen viel Unwissenheit und Unsicherheit über die Situation<br />

dieser Kinder, die nun in unserer Schule lernen sollten.<br />

Am guten Willen mangelte es nicht, so dass wir uns der Aufgabe der Integration<br />

stellten. Durch die Zusammenarbeit mit der <strong>Diakonie</strong> und deren Unterstützung,<br />

speziell durch Frau Franke, konnten wir nach einem Pädagogischen Tag,<br />

mehreren gemeinsamen Projekten und vielen Gesprächen, Zusammenhänge<br />

besser erkennen und gewannen nach und nach Erfahrungen im Umgang mit<br />

Schülern im DaZ-Unterricht und im Regelunterricht. So stellten sich mit der Zeit<br />

erste Erfolge ein.<br />

Jeder „ehemalige“ DaZ-Schüler, der einen Schulabschluss erreichte und so den<br />

Grundstein für die Berufslaufbahn legte, war ein Erfolg. Leider haben das nicht<br />

alle erreicht und die Ursachen waren und sind sehr vielfältig. Wir müssen uns so<br />

immer wieder selbst motivieren, um uns davon nicht entmutigen zu lassen und<br />

um jeden Schüler weiter zu kämpfen.<br />

Erstaunt und erfreut haben uns Schüler, die die deutsche Sprache bald so perfekt<br />

beherrschten, dass sie allen fachlichen Anforderungen gewachsen waren und die<br />

Abschlussprüfungen mit hervorragenden Ergebnissen abschlossen. Abitur und<br />

Studium schlossen sich erfolgreich an. Beste Mittelschüler der Stadt <strong>Großenhain</strong><br />

waren im Jahr 2003 Valentine Jerke und Olga Belendir.<br />

Aber nicht nur die sehr guten und guten Leistungen und persönlichen Erfolge<br />

blieben in Erinnerung, sondern auch die kulturelle Bereicherung durch diese<br />

Schüler. Zu allen schulischen Höhepunkten wird deutlich, dass Aussiedlerkinder<br />

ihre sportlichen, musischen, künstlerischen und tänzerischen Talente gern<br />

präsentieren und das mit großem Erfolg. Zum 40. Geburtstag unserer Schule im<br />

Herbst 2003 wurde dies besonders sichtbar.<br />

Ob Schüleraustausch, Theaterprojekte und Ganztagsangebote - Kinder mit<br />

Migrationshintergrund sind dabei und voll integriert im normalen Schulalltag.<br />

M. Hörster<br />

Schulleiterin der 1. Mittelschule “Am Kupferberg”<br />

<strong>Großenhain</strong><br />

29


Zu Beginn unseres Planes hatten wir zusammen mit Frau Fehrmann<br />

(Bürgermeisterin der Gemeinde Ebersbach) eine Bürgerversammlung einberufen,<br />

um unser Projekt persönlich vorzustellen und für Anfragen zur Verfügung zu<br />

stehen. Wir rechneten ursprünglich mit 10 bis 15 Interessierten, tatsächlich kamen<br />

ca. 50 Personen.<br />

Die Stimmung war sehr aufgeladen und aggressiv, und der Leitfaden der<br />

Diskussion war aus unserer Sicht sehr beschämend. Einige Befürchtungen<br />

konnten wir entkräften, andere Probleme konnten wir verstehen und versprachen<br />

diesen entgegenzuwirken.<br />

Die TeilnehmerInnen der <strong>Diakonie</strong> konnten die kommende Nacht kaum<br />

schlafen und fragten sich, was für eine Einstellung gegenüber Fremden<br />

unter den Versammelten vorherrschte. Unterstützt haben uns während<br />

dieser Sitzung die Bürgermeisterin der Gemeinde, die Schulleiterin der<br />

Mittelschule Ebersbach und der Pfarrer der Kirchgemeinde Radeburg.<br />

Besonders erfreulich ist deshalb, dass erste Annäherungsversuche schon<br />

während der Eröffnungsfeier stattfanden, indem wir unser Haus so offen<br />

wie möglich hielten. Später waren wir immer Ansprechpartner für Probleme<br />

und Beschwerden. Letztendlich brachten uns EinwohnerInnen Spenden ins<br />

Haus oder boten Hilfe an. Es entstanden mit den Kindern Freundschaften<br />

und die Erwachsenen begegneten sich mit Respekt und Höflichkeit.<br />

Dankend möchten wir an dieser Stelle noch erwähnen, dass wir immer auf Pfarrer<br />

Seifert, die MitarbeiterInnen der Sparkasse Ebersbach, die MitarbeiterInnen<br />

der Gemeinde Ebersbach und das Personal des Kindergartens Rödern zählen<br />

konnten. Nun kann man sich vielleicht vorstellen, dass bei so einer großen<br />

Integrationsarbeit die Schließung mit einem lachenden und einem weinenden<br />

Auge von uns vorgenommen wurde.<br />

28<br />

Zeitstrahl<br />

08/1992 - 2002 Beginn der Migrationsarbeit im LK <strong>Großenhain</strong><br />

ÜWH in Kmehlen I (38 Plätze)<br />

02/1993 – 05/2001 ÜWH Zabeltitz (88 Plätze)<br />

1993 - 1998 ÜWH <strong>Großenhain</strong><br />

04/1994 – 1999 ÜWH Baselitz (40 Plätze)<br />

11/1994 – 1999 ÜWH Kalkreuth (88 Plätze)<br />

1996 – 1998 ÜWH Zeithain (330 Plätze) insgesamt<br />

wurde dieses Heim 1991 – 1998 betrieben<br />

1997 Beginn des Frauenprojektes<br />

1997 – 2001 ÜWH Kmehlen II (50 Plätze)<br />

1998 Beginn der Jugendmigrationsarbeit<br />

(damals JGW, jetzt JMD)<br />

1999 Beendigung des Frauenprojektes<br />

02/1999 Beginn des Projektes „Kupferberg“<br />

06/1999 – 04/2004 Begleitung der Kosovo-Flüchtlinge<br />

in <strong>Großenhain</strong>/Kmehlen<br />

04/2000 – 04/2004 ÜWH Gröditz (190 Plätze)<br />

04/2001 Beginn des Bundesmodellprojektes „Sesam“<br />

04/2004 Eröffnung des ÜWH Rödern in eigener<br />

Betreibung (80/40 Plätze)<br />

04/2004 Beendigung des Bundesmodellprojektes „Sesam“<br />

07/2004 – 12/2005 Beginn des Projektes „Sesam-Fortführung”<br />

09/2004 Erweiterung des JMD auf den Landkreis<br />

Meißen mit 0,8 Vollzeitäquivalent<br />

10/2006 Beginn des Projektes „Albatros“<br />

5


Frauenprojekt<br />

(Zeitraum: 1997 bis 1999)<br />

6<br />

Querschnitt über unsere Projektarbeit<br />

In den ersten fünf Jahren bestand unsere Arbeit überwiegend aus Einzelberatungen<br />

und Gruppenarbeiten. Hier trafen wir auf Menschen, die unterschiedliche<br />

Fähigkeiten mitbrachten, allerdings keinen Anschluss in der Arbeitswelt bekamen<br />

aufgrund der hohen Arbeitslosensquote im Landkreis. Oder sie hatten Angst, die<br />

neuen Arbeitsanforderungen nicht erfüllen zu können, d.h. Arbeitsstrukturen zu<br />

erfassen, die Umgangssprache verstehen zu müssen. Dies betraf insbesondere<br />

Frauen (etwa 90 % aller Spätaussiedlerinnen). Wir als SozialarbeiterInnen<br />

waren hingegen davon überzeugt, dass die meisten Frauen durch Training und<br />

Begleitung in der Lage wären, die anvisierten Tätigkeiten zu bewältigen. Aus<br />

diesem Hintergrund wurde durch die MitarbeiterInnen der <strong>Diakonie</strong> überlegt, wie<br />

wir die Betroffenen an die Aufgaben heranführen könnten. So entwickelten wir<br />

unser erstes Bundesprojekt als ein „Frauenprojekt“. Aus heutiger Sicht haben<br />

wir damals schon das jetzige Modell der Schaffung von Arbeitsgelegenheiten<br />

praktiziert, um Frauen für künftige Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt<br />

vorzubereiten. Für die teilnehmenden Frauen wurden Firmen und Einrichtungen<br />

gesucht, die ihnen Arbeitsplätze entsprechend ihrer Ausbildung anboten. Es<br />

wurde eine Art Förderplan miteinander vereinbart, in dem festgehalten wurde,<br />

was Lernziel und Inhalt der Tätigkeit sein sollten. Dort konnten sie ihre Fähigkeiten<br />

austesten und anfängliche Ängste auf beiden Seiten konnten abgebaut werden.<br />

Während des gesamten Zeitraums wurden die Teilnehmerinnen von den<br />

MitarbeiterInnen der <strong>Diakonie</strong> begleitet und es erfolgten ebenfalls Rücksprachen<br />

mit den Firmen und Einrichtungen. Ergebnis des zweijährigen Projektes war, dass<br />

Frauen Anstellungen auf dem ersten Arbeitsmarkt fanden.<br />

gingen wir das Risiko ein und mussten zum 01.04.2004 das Heim zur Eröffnung<br />

bewohnbar gemacht haben.<br />

Das bedeutete, dass wir innerhalb von drei Wochen das große Haus<br />

entrümpeln mussten (27 Zimmer plus Wirtschaftsräume, Küche, Büro und<br />

Aufenthaltsraum gefüllt mit Möbeln, deren Inhalt von persönlichen Akten<br />

bis zur Zwirnrolle). Es funktionierte keine Heizung und uns stand keine<br />

Toilette zur Verfügung, so dass wir bei 2º Celsius frohen Mutes mit vielen<br />

fleißigen HelferInnen, darunter 80 % AussiedlerInnen zur Tat schritten.<br />

Nachdem dies geschafft war, stand die Frage, wie wir das Heim mit Inventar füllen<br />

könnten. Wir sprachen viele Menschen in Kirchgemeinden und Gemeindekreisen<br />

an, in der Hoffnung, dass diese uns und unser Vorhaben großzügig unterstützen<br />

würden.<br />

Dankbar sind wir auch heute noch für die vielen Spenden von Geschirr,<br />

Bettwäsche und Kleinstmöbeln. Die Spenden liefen so großzügig ein, dass wir<br />

bis zur Schließung im November 2006 versorgt waren. Natürlich gab es auch<br />

Höhepunkte während der Zeit der Betreibung.<br />

Als erstes fällt uns dabei die langwierige Auseinandersetzung mit dem<br />

Umweltamt des Landkreises um die Klärgrube ein. Hier schwebte immer das<br />

Damoklesschwert der Schließung über uns, obwohl es eine neuwertige und kaum<br />

genutzte Klärgrube war und wir wenig Verständnis für die Sichtweise des Amtes<br />

aufbringen konnten. Aber was lange währt, wird gut – nach einem Jahr erhielten<br />

wir die offizielle Nutzungsgenehmigung für die Klärgrube mit der Auflage einer<br />

begrenzten Heimbewohnerzahl (40 Personen).<br />

Dann waren immer unsere regelmäßig einberufenen „Subbotniks“ ein Erlebnis.<br />

Das große Areal um das Haus musste hin und wieder von Unkraut und anderen<br />

Dingen befreit werden bzw. das Haus selber bedurfte ebenfalls gewisser<br />

Großputzeinsätze. Die Bewohner hatten nicht immer sofort Motivation, für mehr<br />

Ordnung und Sauberkeit zu sorgen, aber die Heimleiterin, Frau Franke, zeigte<br />

kein Erbarmen. Sie war der Meinung, das Übergangswohnheim muss das Vorbild<br />

für die Dorfgemeinde sein und alle halfen unter ihrer Anleitung und Mitwirkung<br />

mit.<br />

Als sich hoher Besuch ankündigte, der damalige sächsische Innenminister Horst<br />

Rasch, waren wir natürlich alle sehr aufgeregt und wieder begann das große<br />

Saubermachen, Kochen und Backen. Die große Überraschung dabei war, dass<br />

Herr Rasch mit dem Fahrrad auf den Hof fuhr. Hierzu muss gesagt werden, dass<br />

wir uns gebrauchte Fahrräder gewünscht hatten, damit die Bewohner in Radeburg<br />

selbstständig ihre Einkäufe tätigen konnten.<br />

27


26<br />

Wohnheim Rödern<br />

Die Ausgangssituation im Landkreis <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> zu Beginn des Jahres<br />

2004 gestaltete sich so, dass von ehemals sieben Übergangswohnheimen nur<br />

noch ein Heim in Gröditz mit 190 Plätzen bestand. Im Februar 2004 erhielten wir<br />

die Nachricht, dass das Landratsamt <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> eine Neuausschreibung<br />

zur Betreibung eines Übergangswohnheimes vornimmt. Schon seit längerem<br />

beschäftigte sich das Diakonische Werk im Kirchenbezirk <strong>Großenhain</strong> e.V. mit<br />

dem Gedanken, sich selbst als Betreiber zu bewerben. Dafür gab es mehrere<br />

Gründe:<br />

1. Wir stellten uns vor, unabhängig mit SpätaussiedlerInnen und deren Familien<br />

sozialpädagogisch arbeiten zu können.<br />

2. Aus wirtschaftlicher Sicht war das Übergangswohnheim-Projekt in dem Sinne<br />

lohnenswert, dass wir dadurch die Eigenanteile für unsere Arbeit erbringen<br />

konnten. Wir erlebten in den letzten Jahren eine starke Reduzierung der<br />

staatlichen Förderung für Migrationsarbeit, so dass der Bedarf an Eigenmitteln<br />

stieg. Wir bewegten uns zum ersten mal im Sektor der freien Marktwirtschaft. Wir<br />

SozialarbeiterInnen lernten, strenge Kalkulationen und Prognosen zu erstellen<br />

sowie unser Handeln unter wirtschaftlichen Aspekten zu betrachten.<br />

3. Wir hatten durch unsere langjährige Arbeit unterschiedliche Heime kennen<br />

gelernt und waren der Meinung, dass es immer Verbesserungen bedarf. Anhand<br />

der eigenen Betreibung war unser Ziel, dem Heim eine besondere Atmosphäre<br />

zu geben, die unserer christlichen Werteorientierung entspricht.<br />

Am 06.02.2004 bewarben wir uns mit einem Antrag - ein Gehöft in Rödern, das<br />

wir bei Zuschlag anmieten würden. Am 06.03.2004 erhielten wir die Zusage des<br />

Landkreises mit umfassenden Auflagen. Noch nie in der Privatwirtschaft tätig,<br />

Kupferbergprojekt<br />

(Zeitraum: 1999 bis 2001)<br />

Die Entwicklung dieses Stadtteilprojektes hatte unmittelbar mit dem starken<br />

Zuzug von SpätaussiedlerInnen auf den Kupferberg, eine Wohngegend in<br />

<strong>Großenhain</strong>, bestehend aus Neubaublöcken zu tun. SpätaussiedlerInnen<br />

sahen in diesem Wohngebiet eine Erfüllung ihres Wohnwunsches, dem im<br />

Herkunftsgebiet so nicht entsprochen werden konnte. Desweiteren war das<br />

Bestreben der Neuzugewanderten, ihre Großfamilien in unmittelbarer Nähe<br />

anzusiedeln. Hierzu muss gesagt werden, dass SpätaussiedlerInnen meist<br />

in großen Familienverbänden einreisten. Nach ersten Zuzügen von diesen<br />

Großfamilien wurden in der Wohngegend relativ schnell die Probleme sichtbar:<br />

u.a. keine Einhaltung der Hausordnung, hoher Lärmpegel, geringe Toleranz<br />

gegenüber Fremden. Daraufhin setzten sich die Vertreter der <strong>Großenhain</strong>er<br />

Wohnungsgesellschaft als Vermieter und der <strong>Diakonie</strong> zusammen, um dem<br />

entgegenzuwirken. Wir erarbeiteten zusammen Regeln und Strukturen und<br />

vereinbarten einen regelmäßigen Austausch. Zum Beispiel ist es günstig, nur<br />

eine bestimmte Anzahl an MigrantInnen in einem Eingang anzusiedeln, weiteren<br />

MigrantInnen andere Wohngegenden anzubieten. Später beteiligten sich auch<br />

Vertreter der Wohnungsgenossenschaft <strong>Großenhain</strong> an diesem Netzwerk. Beide<br />

Vermieter machten uns darauf aufmerksam, dass einheimische Mieter ebenfalls<br />

ähnlich gelagerte Probleme aufweisen. Sie fragten uns an, diese zu beraten und<br />

boten uns dafür Unterstützung in Form der Bereitstellung einer Wohneinheit im<br />

Stadtteil an.<br />

Die MitarbeiterInnen der <strong>Diakonie</strong> entwickelten daraus ein zweijähriges Projekt.<br />

Dessen Ziele waren:<br />

- Begegnung für Einheimische und MigrantInnen schaffen<br />

- Konfliktmanagement betreiben<br />

- MigrantInnen Grundregeln des Zusammenlebens in einem Wohngebiet<br />

aufzeigen und erklären<br />

Aus heutiger Sicht können wir als Ergebnis benennen, dass die Regeln innerhalb<br />

des Netzwerkes immer noch eingehalten werden, dass größere Konflikte bis jetzt<br />

verhindert werden konnten und dass eine Ansiedlung von MigrantInnen in der<br />

gesamten Stadt erfolgt.<br />

Bundesmodellprojekt „Sesam“<br />

(Zeitraum: 2001 bis 2004)<br />

Fortführungsprojekt „Sesam“<br />

(2004 bis 2005)<br />

Ab 1999 kamen zunehmend Menschen aus Staaten außerhalb<br />

der ehemaligen Sowjetunion in unsere Beratungsstelle.<br />

7


Bisher durften wir ausschließlich Personen mit Spätaussiedlerstatus und<br />

deren Familien beraten. Für uns als BeraterInnen wurde die Situation immer<br />

konfliktreicher in dem Sinne, dass wir dieser Personengruppe aus unserer<br />

christlichen Wertevorstellung heraus ebenfalls Unterstützung gewähren wollten.<br />

Wir mussten diese allerdings in unserer Freizeit leisten. Zusätzlich zeigte sich, dass<br />

der Beratungsbedarf dieser KlientInnen steigen würde. Deshalb trafen sich bei<br />

uns Personen verschiedener Nationen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus.<br />

Erste Anfragen beim Ausländerbeauftragten Sachsens, ob er sich überhaupt<br />

vorstellen könnte, in einer Beratungsstelle beide Personengruppen zu beraten,<br />

wurden positiv beantwortet. Daraufhin beschrieben die MitarbeiterInnen der <strong>Diakonie</strong><br />

ein Projekt, angelehnt an das niederländische Modell mit Zielvereinbarung und<br />

Förderplan. Zielgruppe des Projektes sollten alle bleibeberechtigten MigrantInnen<br />

sein, deren Prozess der Integration zielgerichtet für einen bestimmten Zeitraum<br />

von uns begleitet werden sollte.<br />

Deutschlandweit wurden wir mit weiteren acht Bewerbern ausgewählt, um<br />

Fördern und Fordern während eines Integrationsprozesses mit unterschiedlichen<br />

Instrumenten modellhaft zu erproben. Die Instrumente der Anamnese, Zielplanung<br />

und Zielvereinbarung wurden in diesen Projekten neu eingeführt und gleichzeitig<br />

durch eine unabhängige Firma evaluiert.<br />

Dieser Weg wurde in ganz Deutschland in unserem Fachbereich sehr kritisch<br />

hinterfragt und bewertet. Mit den Ergebnissen, die wir erzielt haben, konnten<br />

wir überzeugen und wie man heute erkennen kann, neue Richtlinien in der<br />

Migrationsarbeit einführen.<br />

Als ein weiteres Ergebnis können wir benennen, dass das Land Sachsen unseren<br />

Projekterfolg würdigte, indem es die Landesförderung für weitere 1,5 Jahre<br />

fortsetzte, um die gewachsenen Strukturen zu festigen.<br />

8<br />

Projekt „Albatros“<br />

(Zeitraum: Oktober 2006 bis Oktober 2009)<br />

Liebe LeserInnen, bitte wundern Sie sich nicht, dass Projekte<br />

so verschiedener Inhalte in den letzten 10 Jahren entstanden<br />

sind. Aber wir als MitarbeiterInnen der Beratungsstelle<br />

bemühten uns immer, unseren Dienst dem aktuellen Bedarf<br />

bezüglich Migrationsarbeit anzupassen. Wir sehen darin eine Qualität unserer<br />

Arbeit, flexibel und adäquat zu handeln. Deshalb wird auch zukünftig Projektarbeit<br />

immer ein Bestandteil unserer Beratung sein, um dieses Niveau halten und neue<br />

Wege einschlagen zu können.<br />

A L B A T R O S<br />

Humoriges oder kulturelle Fallen<br />

Ein junges Spätaussiedlerpaar geht kurz<br />

nach der Übersiedlung nach Deutschland<br />

ins Café Faust. Da kommt die Kellnerin:<br />

„Sie wünschen bitte?“ „Zwei Taschen<br />

Kaffee, bitte.“ bestellt der Ehemann.<br />

Die junge Vietnamesin ist vor kurzem<br />

nach Deutschland gekommen. Es ist<br />

ziemlich ruhig in <strong>Großenhain</strong>, kaum<br />

Einkaufsmöglichkeiten. Ihre Freundin<br />

wohnt schon lange hier und unterstützt<br />

sie gern. „Komm wir fahren nach Dresden.<br />

Das wird ein Abenteuer!“ „Wieso ist es am<br />

Abend teuer?“ staunt die junge Frau.<br />

Im einem amtlichen Brief der Arge<br />

<strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> wird erfragt, ob eine<br />

bestimmte Mitteilung persönlich, schriftlich<br />

oder fernmündlich gegeben wurde. Der<br />

befragte Spätaussiedler antwortet ganz<br />

selbstverständlich: „Fernmündlich. Ich<br />

bin weit aus Gröditz nach <strong>Großenhain</strong><br />

gefahren und habe mündlich bei Ihnen<br />

vorgesprochen.“<br />

Die Sprachkursleiterin besuchte mit ihrer Gruppe zu Übungszwecken ein Café. Dort<br />

bestand die Aufgabe, nach eigener Wahl zu bestellen. Angedacht waren in etwa pro Person<br />

ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee, die auch selber bezahlt werden mussten. Die<br />

Kursleiterin wunderte sich, als sie beobachtete, dass zwei Personen immer wieder Kaffee<br />

und Kuchen nachbestellten, während die übrige Klasse langsam ihre Bestellung genoss<br />

oder einfach nur im Gespräch war. Am Ende des Besuches bezahlten alle TeilnehmerInnen<br />

ihre Rechnung und verließen das Lokal. Erst ein paar Tage später erfuhr die Kursleiterin,<br />

dass etwas Unmut unter den zwei Personen herrschte, die entsprechend ihres Verzehrs<br />

eine größere Rechnung begleichen mussten. Durch Nachfragen erklärten sie dann, dass<br />

es in ihrer Herkunftskultur unhöflich ist, wenn man in einem Restaurant vor einer leeren<br />

Tasse und einem leeren Teller sitzt. Um diese „peinliche“ Situation zu vermeiden bestellte<br />

das Ehepaar immer wieder nach.<br />

25


Kopf und das Essen auf dem Tisch haben.<br />

In Deutschland kamen wir letztendlich nach <strong>Großenhain</strong>. Hier durfte ich eine<br />

Sprachschule für Schulkinder besuchen. Hier hatte ich auch meine ersten<br />

sozialen Kontakte geknüpft. Recht bald kam ich in eine Realschulklasse auf<br />

einer richtigen Schule. In der Zeit hatte ich gemerkt, dass das Wichtigste, um hier<br />

weiterzukommen, die Aneignung der deutschen Sprache ist. Hier passierte auch<br />

das lustigste Erlebnis aus meiner Schulzeit. Ein Junge fragte mich, ob ich mit ihm<br />

gehen wolle. Die Wörter in der deutschen Sprache hatte ich vorher nie in solchem<br />

Kontext gehört. Auf seine Frage antwortete ich automatisch, wohin es denn gehen<br />

soll. Der musste sich damals kaputtgelacht haben. Außerschulisch war wenig los.<br />

Dank der <strong>Diakonie</strong> hatten wir einen Jugendclub gründen können. Dies wurde<br />

unser Zufluchtsort, Treffpunkt und die Beschäftigungsmöglichkeit. Dank der<br />

<strong>Diakonie</strong> hatten wir viele Reisen in Deutschland unternommen. Die halfen uns,<br />

Deutschland in seiner Schönheit, Natur und der Ländervielfalt besser kennen zu<br />

lernen. Nach dem Schulabschluss schloss ich das Abitur und meine Ausbildung ab.<br />

Jetzt bin ich verheiratet, arbeite seit 3 Jahren in einer deutsch-russischen Firma<br />

in Hamburg. Wir besuchen sehr oft meinen Bruder und meine Eltern. Der einzige<br />

Punkt, den ich gern noch ändern würde ist der, dass wir meine Schwester, die in<br />

Kasachstan geblieben ist, öfter sehen könnten.<br />

Elena Schwabauer<br />

Sommer 2006<br />

24<br />

links: E.Schwabauer<br />

Begleitung der Flüchtlinge aus dem Kosovo<br />

Zu Beginn des Jahres 1999 zeichnete sich ab, dass Flüchtlingsströme aus dem<br />

ehemaligen Jugoslawien nach Westeuropa kommen werden. Die dortige politische<br />

Situation spitzte sich weiter zu, so dass die <strong>Diakonie</strong> damit rechnete, dass der<br />

Landkreis <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> Flüchtlinge aus diesem Gebiet aufnehmen werden<br />

muss. Weder der Landkreis noch die <strong>Diakonie</strong> hatten genaue Informationen,<br />

wann sie ankommen würden und unter welchen Bedingungen sie begleitet<br />

werden sollen. Ende April / Anfang Mai 1999 erhielt der Landkreis die Nachricht,<br />

dass am nächsten Tag unsere Region ca. 40 Personen aus dem ehemaligen<br />

Kosovo aufnehmen soll. Ab diesem Zeitpunkt arbeiteten das Sozialdezernat des<br />

Landkreises und die <strong>Diakonie</strong> zusammen, allerdings waren außer der Tatsache, wo<br />

sie wohnen werden, alle Fragen offen. Da sie als Kontingentflüchtlinge einreisten,<br />

waren wir als Beratungsstelle bei psychologischer Begleitung (Traumata),<br />

Sprache, rechtlichem Status, sozialer Leistungsansprüche (Lebensunterhalt,<br />

Arzt, Schule, Kindergarten) überfordert. Bei Ankunft der Flüchtlinge bekamen wir<br />

erschütternde Eindrücke: Menschen hatten am Körper eine Identifikationskarte<br />

hängen, sie trugen zerschlissene Kleidung bis hin zu Schuhen, die nicht mehr als<br />

solche zu erkennen waren und Kinder litten unter durchgetretenen Füßen. Am<br />

schlimmsten empfanden wir unsere Hilflosigkeit. Wir konnten unsere Emotionen<br />

und unser Mitgefühl sprachlich nicht ausdrücken.<br />

Zu Beginn unserer Arbeit mit den Flüchtlingen waren wir hauptsächlich damit<br />

beschäftigt, die Grundversorgung auf ein menschenwürdiges Niveau zu heben.<br />

Genau hieß das, die Zimmer im Asylbewerberheim <strong>Großenhain</strong> zu beziehen,<br />

eventuell medizinische Notfälle zu versorgen und die Kinder zu betreuen.<br />

9


Hier begann der erste Konflikt zwischen den Flüchtlingen und der Behörde.<br />

Die Flüchtlinge beschuldigten uns in der Annahme, wir wären verantwortlich,<br />

Quartiere in solch schlechtem Zustand zur Verfügung gestellt zu haben. Die<br />

unzufriedene Stimmung steigerte sich in kurzer Zeit in ein aggressives Verhalten<br />

gegenüber uns MitarbeiterInnen. Es kam zu Protesten und zur Ablehnung der<br />

Unterkunft bis hin zur Androhung eines Hungerstreikes. Wir SozialarbeiterInnen<br />

waren überhaupt nicht darauf vorbereitet, traumatisierte Kriegsflüchtlinge<br />

entsprechend zu begleiten. Erschwerend kam hinzu, dass wir uns über Nacht<br />

in einer aus unserer Sicht rückständigen, sehr patriarchaischen Kultur bewegen<br />

mussten, was natürlich Regelverletzungen unsererseits hervorbrachte. Um<br />

qualitativ gut zu arbeiten, mussten wir daraufhin schnellstmöglich Hilfe holen. Wir<br />

bildeten eine Art „Runden Tisch“ mit drei Vertretern der Flüchtlinge, mit Vertretern<br />

des Landratsamtes und uns. Zur Hilfe organisierte die <strong>Diakonie</strong> Sachsen einen<br />

Dolmetscher. In diesen Gesprächen wurden uns kulturelle Hintergründe erklärt,<br />

von der Gesprächsführung bis zu einfachen Verhaltensregeln gegenüber<br />

Menschen mit fremder Kultur. Nach diesen klärenden Aussprachen näherten wir<br />

uns aneinander an.<br />

Wir erfuhren, dass einige Personen überhaupt nicht aus ihrer Heimat ausgeflogen<br />

werden wollten, sondern der Flug wurde autoritär und unter Druck organisiert.<br />

Familien wurden zerrissen, ihre jetzige Lebenssituation erfüllte nicht im mindesten<br />

ihre Erwartungen und die Gedanken waren zum Teil im Kosovo bei der Restfamilie<br />

verblieben. Das Ergebnis unseres „Runden-Tisch-Gespräches“ können wir<br />

rückblickend als sehr positiv beschreiben. Innerhalb von drei Tagen gelang es, mit<br />

allen Verantwortlichen ein Übergangswohnheim für Spätaussiedler so zu<br />

10<br />

Lebensweg einer jungen Migrantin<br />

Geboren bin ich in Kasachstan in einem Dorf mit wunderschöner Naturlandschaft.<br />

Wir hatten ein kleines eigenes Einfamilienhaus. Man kann wirklich sagen, dass<br />

meine Kindheit eine glückliche Zeit in dem geregelten und bewachten Russlandstaat<br />

war. Meine Eltern hatten Arbeit mit einem geregelten Einkommen.<br />

Ich hatte meine Freundinnen, Klassenkameraden, meine Geschwister und die<br />

Verwandten, die uns ständig besucht haben und eine angenehme Abwechslung<br />

in unser Dasein hereinbrachten. Zu Hause deutsch zu sprechen, ging mit<br />

dem Tod meiner Oma sehr zurück. Aber als in der Schule die Frage aufkam,<br />

welche Fremdsprache man lerne wolle, wählte ich, gemäß meiner Nationalität,<br />

natürlich Deutsch aus. Ich bin, wie alle in unserer Familie, zwar getauft, hatte<br />

aber die deutsche Kirche in unserem Dorf nicht besucht. Dies war in dem damals<br />

kommunistisch geprägten Land nicht üblich.<br />

Foto: www.bukhara-carpets.com<br />

Später, Mitte der 90er Jahre, brach eine Wirtschaftskrise in den ehemaligen<br />

UdSSR-Ländern aus. Die Menschen bekamen monatelang keine Rente und<br />

kein Gehalt mehr. Einige meiner Verwandten waren schon nach Deutschland<br />

weggezogen. Da war die Entscheidung, im Angesicht der damaligen Situation,<br />

den anderen zu folgen, leichter gefallen.<br />

Nach einem 3-jährigen Warten auf die Erlaubnis nach Deutschland einreisen zu<br />

dürfen, verkauften wir unser ganzes Hab und Gut und brachen 1995 in unsere<br />

neue Heimat auf. Man hatte ja damals schon vieles von Deutschland gehört und<br />

das alles hatte sich nach einem Märchen angehört. Der sehr große Pluspunkt<br />

gegenüber Kasachstan ist das soziale Netz. Ob man zur Zeit keine Arbeit hat<br />

oder gesundheitlich eingeschränkt ist, man würde immer ein Dach über dem<br />

23


22<br />

Freizeitpädagogische Angebote des JMD - Sportgruppe Gröditz<br />

Die Frage der Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen ist immer aktuell,<br />

unabhängig von Zeit, Ort, Nationalität und Alter der Jugendlichen. Eine Möglichkeit,<br />

die jungen Leute zu beschäftigen ist, diesen etwas anzubieten, was sie gern<br />

machen wollen. Genau deswegen kriegen die Jugendlichen in Gröditz durch die<br />

<strong>Diakonie</strong> ein paar Stunden in der Woche den Besuch der Sporthalle angeboten.<br />

Die Möglichkeit sich sportlich zu betätigen haben die Jugendlichen schon seit<br />

einigen Jahren. Am Anfang (2000-2001) wurde versucht, alle möglichen Sportarten<br />

zu treiben. Dazu gehört auch Leichtathletik. Aber mit der Zeit wurde festgestellt,<br />

dass die jungen Leute, die diese Sporthalle besuchten, viel lieber die Ballspielarten<br />

betreiben. Dazu gehören vor allem Volleyball, Basketball und Fußball. Es waren<br />

ganz viele, die Lust auf das Spielen hatten. Es waren Jugendliche zwischen 14<br />

und 27 Jahren, sowohl Jungs, als auch Mädchen.<br />

Anfangs haben sie sich mehr auf Fußball und Basketball konzentriert. An<br />

einem Abend sind oft mehr als 25 Jungen gekommen. In solchen Fällen muss<br />

man besonders auf Disziplin achten, denn Ordnung muss immer erhalten bleiben.<br />

Nur mit guter Disziplin kommt man weiter und macht man Fortschritte. Als Beweis<br />

der Disziplin dienen viele Pokale und Urkunden, die man in verschiedenen<br />

Sportarten gewonnen hat. Fast jedes Jahr nehmen diese jugendlichen Teilnehmer<br />

an verschiedensten Turnieren teil. Inzwischen wurden viele Preise in Basketball,<br />

Fußball und Volleyball gewonnen. Volleyball ist in letzter Zeit sehr beliebt. Man<br />

hat natürlich wenig Zeit für Training (1,5 h/Woche), aber die Fortschritte in dieser<br />

Sportart sind trotzdem zu sehen. Teilnahme an verschiedensten Turnieren<br />

kann man auch als Möglichkeit sehen, sich möglichst schnell in die heimische<br />

Gesellschaft zu integrieren, denn da ist man gezwungen, mit den Leuten<br />

(Organisatoren und Mannschaften) zu kommunizieren.<br />

Zur Zeit findet das Training montags 20.00 Uhr und dienstags 17.30 Uhr statt.<br />

Die Jugendlichen spielen Fußball und Volleyball. In Volleyball und Fußball sind<br />

feste Mannschaften entstanden. Sie haben vor kurzer Zeit den 1. Platz bei einem<br />

Turnier in <strong>Großenhain</strong> und den 3. Platz in Priestewitz gewonnen. Am Street-<br />

Fußballturnier in <strong>Riesa</strong> hat unsere Fußballmannschaft auch teilgenommen.<br />

Kathrin Hananov<br />

Gröditz, 30.04.2007<br />

gestalten, dass es die Gruppe der Kontingentflüchtlinge als ihr neues Zuhause<br />

annehmen konnte. Kaum war dieses Problem gelöst, erkannten wir, dass in einer<br />

Familie offenbar eine Herzerkrankung des Kindes vorlag. Das Kind litt unter akuter<br />

Atemnot. Um die Diagnose abzuklären, mussten wir die Eltern des Kindes als erstes<br />

überzeugen, dass ihr Sohn einem Kinderarzt vorgestellt werden musste. Dort wurde<br />

festgestellt, dass der Junge tatsächlich an einer schweren Herzerkrankung litt und in<br />

eine Spezialklinik nach Dresden verlegt werden sollte. Dies verweigerten die Eltern<br />

anfangs.<br />

Bei dem Gespräch mit den Eltern offenbarte sich die gesamte Lebensgeschichte<br />

der Familie. Die Eltern erklärten uns, dass von insgesamt acht geborenen Kindern<br />

nur noch dieser Junge lebte. Die Geschwister überlebten nicht aufgrund von<br />

Krankheit und Kriegsgeschehnissen. Auf keinen Fall würden sie ihr Kind allein im<br />

Krankenhaus ohne elterliche Fürsorge lassen. Die Mutter litt unter psychischen<br />

Wahnvorstellungen, vor allem unter einer Art Waschzwang, indem sie alle ihr<br />

zur Verfügung stehenden Behälter mit Wasser füllte und diese auf dem Gang<br />

des Krankenhauses entleerte. Nach zwei Tagen meldete sich ein Mitarbeiter der<br />

Klinik mit der Mitteilung bei uns, dass ihre Geduld am Ende sei und die Frau mit<br />

ihrem Kind nach Kmehlen zu holen wäre.<br />

Damit standen wir vor dem Problem, dem Kind helfen zu müssen und die Eltern<br />

dabei einzubeziehen. Der Vater verstand, dass eine Rettung des Kindes nur<br />

möglich war, wenn es schnellstmöglich im Krankenhaus Dresden behandelt<br />

werden würde. Die MitarbeiterInnen leiteten den Transport nach Dresden ein<br />

und begannen, ein Netzwerk zu knüpfen, deren Mitglieder die Eltern aller zwei<br />

Tage nach Dresden ins Krankenhaus zum Besuch fuhren, so dass sie Kontakt<br />

zum Kind halten konnten. Noch heute sind wir der Kirchgemeinde Kmehlen sehr<br />

dankbar, die diese regelmäßigen Besuche zum größten Teil organisierte und<br />

durchführte. Dazu muss gesagt werden, dass jeder Besuch ein Abenteuer war.<br />

Die Fahrt gestaltete sich schon sehr schwierig, da die Mutter sich mit uns nicht<br />

verständigen konnte, ihr aber während der Fahrt immer sehr schlecht wurde.<br />

Nicht immer erahnten wir den richtigen Zeitpunkt zum Anhalten...<br />

Weiterhin mussten auf der Intensivstation alle Schläuche und Apparate gesichert<br />

werden, da die Mutter an allen Gerätschaften drehte und sie verstellte. Im<br />

nachhinein sind wir sehr glücklich, dass der Junge nach der zweijährigen<br />

Behandlung spielen und Fahrrad fahren konnte. Er lernte wieder, wie alle Kinder<br />

in seinem Alter zu leben und zur Schule zu gehen. Seit ungefähr drei Jahren lebt<br />

er als junger Mann mit seiner Familie in seiner Heimat. Abschließend kann gesagt<br />

werden, dass alle im Zuge dieser Maßnahme eingereisten Personen wieder in ihr<br />

Heimatland zurückgekehrt sind. Es bestehen jetzt noch einige Kontakte zwischen<br />

Einwohnern aus Kmehlen und ehemaligen Flüchtlingen.<br />

11


12<br />

Erfahrungsbericht von Otto Wagner<br />

Ich heiße Otto Wagner und bin am 15. März 1926 in Rosenfeld, Gebiet Krasnodar<br />

in Russland geboren. Ab dem fünften Lebensjahr hat mich meine Mutter allein<br />

ohne Vater großgezogen. Ich habe in einer deutschen Schule gelernt. Als ich in<br />

die sechste Klasse ging, fingen die Repressalien an. Das war im Jahr 1937. Alle<br />

Lehrer Männer unserer Schule, darunter auch der Schuldirektor, waren verhaftet<br />

und ins Gefängnis gebracht worden. Auch mein Großvater Jakob Wagner und<br />

vier seiner Söhne, mein Onkel Paul Wagner, Jakob, Gustav und Arthur wurden<br />

verhaftet und eingesperrt.<br />

Im Laufe einiger Wochen wurden fast alle Männer unseres Dorfes Rosenfeld<br />

verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Keiner von ihnen kehrte nach Hause<br />

zurück. Die Kirche wurde geschlossen und in der Schule wurde nur in russischer<br />

Sprache unterrichtet. In der sechsten Klasse lernte ich schon in der russischen<br />

Schule. Dann habe ich im Kolchos bis zum Kriegsanfang gearbeitet. Im Juni<br />

1941 fing der Krieg an und unser Schicksal wurde von vornherein bestimmt:<br />

Wir Deutsche wurden beschuldigt, dass Hitler die Sowjetunion überfiel.<br />

Am 28. August 1941 wurde der Erlass „Über die zwangsmäßige Deportation der<br />

deutschen Bevölkerung“ herausgegeben.<br />

Im September 1941 hat man mit Deportationen in unserem Dorf angefangen. Wir<br />

mussten Häuser, die wir mit großen Schwierigkeiten gebaut hatten, verlassen.<br />

In einem Moment haben wir alles verloren: das Rindvieh und das Geflügel, den<br />

Vorrat an Weizen und Mehl, an Gemüse und Obst. Alles, was wir für den Winter<br />

vorbereitet hatten, haben wir verloren. Wir wurden in Viehwaggons transportiert<br />

und waren fast einen Monat unterwegs, bis wir endlich nach Sibirien gebracht<br />

Alles in allem kann man sagen, dass sich die Spätaussiedler gut einlebten und<br />

von der einheimischen Bevölkerung angenommen wurden.<br />

2. An welche Besonderheiten aus dieser Zeit erinnern Sie sich heute noch?<br />

Den Höhepunkt in der Integrationsarbeit stellte aus unserer Sicht der jährliche<br />

„Aussiedlertag“ dar. Gespräche mit den Aussiedlern haben Einblicke in das<br />

Leben in ihrem Herkunftsland gegeben. Ebenso hat sich gezeigt, wie sie sich in<br />

ihre neuen Heimat integriert haben. Das Verständnis füreinander und das Leben<br />

miteinander hat sich entwickelt.<br />

ARGE<br />

Arbeitsagentur<br />

AOK<br />

Schule<br />

3. Mit Ihren Erfahrungen in dieser Arbeit können Sie aus Ihrer Sicht schildern,<br />

was können andere Einrichtungen/Verbände zur Integration von Migranten jetzt<br />

und zukünftig beitragen?<br />

Bewährt hat sich nach wie vor die Integrationsarbeit der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<br />

<strong>Großenhain</strong> <strong>gGmbH</strong> und des Arbeitersamariterbundes Gröditz. Unterstützend<br />

dabei waren die entstandenen Netzwerke, wo Vertreter von Vereinen, Schulen,<br />

Kommunen usw. vertreten waren. Die Migrationserstberatung der <strong>Diakonie</strong> ist<br />

ein wesentlicher Bestandteil der Integrationsarbeit nicht nur für Spätaussiedler,<br />

sondern auch für Ausländer. Die Erfolge in der Integrationsarbeit wie z. B. mit den<br />

Zielvereinbarungen haben gezeigt, dass die Arbeit wichtig und notwendig ist und<br />

unbedingt fortgesetzt werden sollte.<br />

BIZ<br />

21


20<br />

Interviews<br />

Frau Dörschel, Mitarbeiterin des Landratsamtes<br />

<strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong> (früher Sozialhilfe, jetzt Grundsicherung)<br />

1. Wenn Sie heute an die Anfänge Ihrer Arbeit mit Spätaussiedlern, später<br />

Migranten innerhalb Ihrer Abteilung zurückdenken, was fällt Ihnen dazu ein?<br />

Welche Gedanken kommen Ihnen zuerst in den Sinn?<br />

„Oh, meine Güte, meine Schulkenntnisse in Russisch brauche ich auch noch!“<br />

2. Mit Ihren Erfahrungen in dieser Arbeit können Sie aus Ihrer Sicht schildern,<br />

was können andere Einrichtungen/Verbände zur Integration von Migranten jetzt<br />

und zukünftig beitragen?<br />

Es ist zu empfehlen sich mit der Geschichte der deutschen Aussiedler zu<br />

befassen, um die Situation der Notwendigkeit der Eingliederung zu verstehen.<br />

Es bedarf immer der<br />

- Toleranz<br />

- Akzeptanz<br />

- Differenzierung.<br />

Frau Schubert, Sachgebietsleiterin Ausländerangelegenheiten<br />

des Landratsamtes <strong>Riesa</strong>-<strong>Großenhain</strong><br />

1. Wenn Sie heute an die Anfänge Ihrer Arbeit mit Spätaussiedlern, später<br />

Migranten innerhalb Ihrer Abteilung zurückdenken, was fällt Ihnen dazu ein?<br />

Welche Gedanken kommen Ihnen zuerst in den Sinn?<br />

Zurückdenkend an die Anfänge der Arbeit mit Spätaussiedlern war zunächst<br />

im Vordergrund, entsprechende geeignete Gemeinschaftsunterkünfte für die<br />

Unterbringung von Spätaussiedlern im Landkreis zu finden. Dabei musste auch<br />

die Betreibung bzw. Bewirtschaftung der Objekte geklärt werden. Nachdem<br />

die Gemeinschaftsunterkünfte mit der entsprechenden Betreibung zum Einzug<br />

der Spätaussiedler bereit standen, kamen oftmals Fragen auf. Wie würden die<br />

Spätaussiedler in ihrem Umfeld angenommen, werden sie sich einleben, werden<br />

wir uns verständigen können, gibt es sprachliche Barrieren? Als die ersten<br />

Spätaussiedler eintrafen, stellten wir erstaunlicherweise fest, dass die Mehrzahl<br />

der Spätaussiedler die deutsche Sprache recht gut beherrschten. Trotzdem fiel<br />

ihnen der Gang zu den Behörden schwer. Dank der Hilfe der <strong>Diakonie</strong> <strong>Riesa</strong>-<br />

<strong>Großenhain</strong> und des Arbeitersamariterbundes Gröditz wurde auch dieses<br />

gemeistert. Darauf aufbauend entwickelten beide Institutionen Projekte zur<br />

Betreuungs- und Integrationsarbeit der Spätaussiedler.<br />

wurden. Die Lebensmittel, die wir noch mitnehmen konnten, waren schon lange<br />

alle. Ich musste im Kolchos arbeiten, damit ich und meine Mutter ein Stückchen<br />

Brot und eine kleine Schüssel schwarzes Mehl zum Essen hatten.<br />

Am 15. März 1942 wurde ich sechzehn Jahre alt und bekam einen Personalausweis.<br />

Im Herbst wurde ich vom Kriegskommissariat zur Trudarmee einberufen. Ich habe<br />

in der dichten Taiga im Ural in der Baracke gewohnt. Unsere Baracken waren mit<br />

hohem Zaun aus Stacheldraht eingezäumt und an vier Ecken standen Schützen.<br />

Wir haben im Wald Bäume gefällt. Jeder musste 3,6 Kubikmeter pro Tag fällen.<br />

Wer diese Tagesnorm nicht schaffte, kriegte weniger Brot. Die Menschen starben<br />

an Hunger, an der Kälte und an der schweren Arbeit.<br />

Ab 1943 habe ich am Bau einer Grube als Zimmermann gearbeitet. Am 9. Mai<br />

1945 wurde das Kriegsende verkündet und alle freuten sich und hofften auf baldige<br />

Befreiung. Aber unsere Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Wir wohnten nach<br />

wie vor wie in einem Gefängnis.<br />

Ab Juni 1946 waren alle Deutschen unter der Sonderkommandantur der<br />

NKWD. Wir mussten uns jeden Monat bei der Kommandantur melden. Wir<br />

durften nicht ohne Erlaubnis unseren Wohnort verlassen. 1948 wurde ein Erlass<br />

herausgegeben. Laut dessen durften die Deutschen nicht ihren Wohnort ohne<br />

Sondererlaubnis verlassen. Der Verstoß gegen diese Verordnung wurde mit<br />

zwanzigjähriger Zwangsarbeit bestraft. Uns wurde gesagt, wir müssen unsere<br />

Familien holen, Häuser bauen und uns hier einleben. Ich habe 22 Jahre als<br />

Zimmermann gearbeitet. Ab September 1964 habe ich als Baumeister an einer<br />

Baustelle gearbeitet. Mein Dienstalter ist 52 Jahre.<br />

Seit dem 16. Februar 1995 lebe ich in Deutschland. Ich und meine Familie kamen<br />

in Bramsche an, später kamen wir nach Bärenstein. Am 3. März 1995 hatte ich den<br />

ersten Kontakt mit der <strong>Diakonie</strong>. Das war im Übergangswohnheim in Kmehlen.<br />

Ich habe die Mitarbeiter der <strong>Diakonie</strong> Frau Franke, Frau Tröger, Frau Drobisch<br />

kennen gelernt. Diese Mitarbeiter der <strong>Diakonie</strong> haben uns immer mit Rat und Tat<br />

geholfen.<br />

Seit 1. April 1996 wohne ich in <strong>Großenhain</strong>. Ich gehe jeden Sonntag zum<br />

Gottesdienst in die Marienkirche. Ich habe in der Kirche viele neue und interessante<br />

Menschen kennen gelernt. Frau und Herr Zenker, Frau und Herr Korth sind meine<br />

ersten Bekannten von den Einheimischen, die ich 1996 kennen gelernt habe und<br />

mit denen ich bis heute befreundet bin.<br />

In <strong>Großenhain</strong> bin ich zu Hause.<br />

Otto Wagner<br />

12.03.2007<br />

13


14<br />

Seniorenarbeit<br />

Nachdem die ersten Aussiedlerfamilien 1994/95 die Übergangswohnheime<br />

verlassen und in und um <strong>Großenhain</strong> eine Wohnung bezogen hatten, wurden<br />

sie auch weiterhin durch MitarbeiterInnen der Aussiedlerberatung betreut. Dabei<br />

wurde der Wunsch laut, sich doch auch mal zu treffen und in Gedankenaustausch<br />

zu treten.<br />

Außerdem bestand bei den älteren Menschen der Wunsch, Liedgut der Vorfahren<br />

zu bewahren und zu pflegen. Konnten sie das in Russland bzw. Kasachstan doch<br />

nur heimlich in Zusammenkünften der Familien tun.<br />

Daraus ergaben sich monatliche Treffen unter dem Thema „Reden und Singen“.<br />

Diese Treffen stehen für alle offen, sind nicht an eine Konfession gebunden.<br />

Die Zusammenkünfte nutze ich auch, um den monatlichen Geburtstagskindern<br />

zu gratulieren. Bei besonderen Jubiläen oder Krankheit suche ich die<br />

Betroffenen persönlich zu Hause auf.<br />

Weiterhin besuchten wir schon mehrmals das Heimatmuseum und lernten die<br />

Stadt <strong>Großenhain</strong> mit Stadtführer Herrn Förster kennen.<br />

Wir nutzten thematische Angebote im Amt für Landwirtschaft und erkundeten die<br />

nähere Umgebung bei Exkursionen z.B. nach Zabeltitz, Schönfeld, Meißen und<br />

Moritzburg.<br />

Weitere Ziele waren unsere Landeshauptstadt Dresden mit Gemäldegalerie/<br />

Grünes Gewölbe jeweils verbunden mit einer Stadtrundfahrt. Aber auch ein<br />

Besuch der Bastei inklusive einer Schifffahrt auf der Elbe war für die Senioren ein<br />

Erlebnis. Reisen nach Leipzig mit Zoobesuch, nach Potsdam mit Besichtigung<br />

des Schlosses Sanssouci und Berlin mit Reichstag und Stadtrundfahrt wurden<br />

organisiert, damit die SpätaussiedlerInnen ihre neue Heimat kennen lernen<br />

konnten.<br />

Um die Senioren noch besser in die Gesellschaft zu integrieren, forcierten wir den<br />

Kontakt mit dem Rentnerkreis der Einheimischen. Viele von ihnen haben Kontakte<br />

geknüpft und schon gute Freunde gefunden. Sie sind heimisch geworden.<br />

Siegrid Tröger<br />

und auch selbst mit der Sprache, die man sechzig Jahre gesprochen hat, nicht<br />

mehr sprechen kann. Ob es uns in Baden-Württemberg oder auch in Berlin<br />

besser ginge, lässt sich nur raten. Hier in Kmehlen sind wir am 8. Dezember 1992<br />

angekommen, haben viele Menschen getroffen, die uns mit Rat und Tat geholfen<br />

haben, die erste kleine Wohnung, die Möbel und den Kleingarten zu beschaffen,<br />

der unsere Zuflucht und Trost war und bis heute geblieben ist.<br />

Einen herzlichen Dank an alle, die uns seit dem ersten Tag in unserer Not<br />

unterstützt und geholfen haben: an Frau Franke und alle Mitarbeiter der <strong>Diakonie</strong>,<br />

an den Herrn Rendke, den Bürgermeister von Priestewitz, an den Herrn Andreas<br />

Oelmann, den Schuldirektor und an die Familie Ferbert, die 1947 denselben<br />

Leidensweg gegangen ist und uns verstanden und auch die Freundschaft<br />

angeboten hat. Und an viele, viele Priestewitzer, besonders noch an die Frau<br />

Naumann. Gott segne euch alle.<br />

Und dann kamen auch nach und nach unsere Kinder: 1993 unsere Tochter Maria<br />

mit Kindern Maxim und Nikolai, 1994 der Sohn Alexander mit seiner Frau Larissa<br />

Klein, im Sommer 1997 dann auch die jüngste Tochter mit ihrer Familie.<br />

Mit viel Unterstützung gelang es uns auch, das Enkelkind Alexej auf dem Wege<br />

der Familienzusammenführung nach Deutschland zu holen. Alle haben sich<br />

eingelebt, alle haben Arbeit, die Kinder, unsere Enkelkinder, lernen nach und<br />

nach aus und kommen auf die eigenen Beine. Was richtig und was falsch ist,<br />

lässt sich im Bezug auf solche Entscheidungen schwer sagen.<br />

Aber ich denke, die richtige Antwort hat vor vielen, vielen Jahren meine<br />

Schwiegermutter gegeben. Die Schwester meiner Frau Jekaterina, Maria<br />

Klein, hat ihre Mutter mal gefragt: „Mutter, viele reisen nach Deutschland aus.<br />

Sollen wir das auch tun, oder was wäre für uns das Richtige?“ Darauf hat meine<br />

Schwiegermutter geantwortet: „Mach, was das Volk macht, und das ist auch das<br />

Richtige“. Klüger konnte man das wohl kaum formulieren.<br />

Jede deutsche Familie hatte den gleichen Leidensweg, jede Familie kann Bände<br />

darüber schreiben. Auch die Geschichte unserer Familie ist damit bei weitem noch<br />

nicht zu Ende. Aber das ist dann die Aufgabe unserer Kinder und Enkelkinder.<br />

Familie Schäfer<br />

<strong>Großenhain</strong>, 2007<br />

19


1991 haben wir uns mit unseren Kindern zusammengesetzt, um zu besprechen,<br />

ob auch sie mit nach Deutschland kommen wollen. Ohne Kinder wollten wir unter<br />

keinen Umständen fahren. Und wie wir dann all die Bürokratiehürden nehmen<br />

können. Es waren Fragen über Fragen - nach den Antworten musste man<br />

suchen.<br />

Im Juni 1991 haben wir unsere Anträge und auch Anträge unserer Kinder nach<br />

Moskau in die Botschaft gebracht, abgegeben und schon Ende Februar 1992<br />

haben wir den Aufnahmebescheid bekommen.<br />

Und so sind wir am 15. November 1992 aus Moskau nach München gekommen,<br />

von dort mit den Reisebussen nach Empfingen. Behördengänge, die ersten<br />

Freuden und die ersten Rückschläge. In Baden-Württemberg haben wir uns<br />

mühelos verständigen können, wir sprachen mit kleinen Ausnahmen denselben<br />

Dialekt, das hat uns ein Gefühl der Geborgenheit gegeben.<br />

Unseren Antrag, in Baden-Württemberg auch bleiben zu dürfen, hat man abgelehnt,<br />

nach Berlin zu kommen - genauso, obwohl wir in diesen beiden Ländern enge<br />

Verwandte haben. Dann mussten wir uns einfach hinfahren lassen, wohin es die<br />

Behörden für richtig hielten.<br />

So hat man uns nach neun Tagen im Empfingen wieder mit den Bussen nach<br />

Bärenstein gebracht und nach weiteren dreizehn Tagen nach Kmehlen. In<br />

Sachsen kam es uns die erste Zeit so vor, als ob man gar nicht verstanden wird<br />

18<br />

Erinnerungen von damals bis heute<br />

In diesem Jahr werden es fünfzehn Jahre, das wir, Jekaterina und Johannes<br />

Schäfer in Deutschland angekommen sind.<br />

Und immer wieder kommt die Frage, was war denn der Grund, so eine harte<br />

Entscheidung treffen zu müssen, um das Land, in dem man geboren ist und gut<br />

oder schlecht den größten Teil des Lebens gelebt hat, die Gräber der Vorfahren,<br />

der Eltern, der Brüder und Schwester verlassen zu müssen.<br />

Es ist die Aussichtslosigkeit. Die Aussichtslosigkeit in diesem Lande weiter als<br />

Deutsche mit deutscher Sprache und deutscher Kultur leben zu können, so wie<br />

es bis 1941 - gut oder schlecht - doch möglich war.<br />

Wir Russlanddeutschen stellten im Jahre 1989 an die Sowjetregierung einen<br />

letzten Apell, uns in die Gebiete an der Wolga zurück gehen zu lassen, uns die<br />

früheren deutschen Kolonien wieder aufbauen zu lassen. Diese liegen ja heute<br />

noch - besonders auf der Wiesenseite der Wolga - wie auch vor 200 Jahren<br />

brach und verlassen. Das Land fruchtbar zu machen, uns leben und arbeiten<br />

zu lassen, hat die damalige Regierung der Sowjetunion eindeutig und hart mit<br />

„nein“ beantwortet. Für uns war der zweite Weltkrieg auch fast fünfzig Jahre<br />

später immer noch nicht aus.<br />

Der Erlass der sowjetischen Regierung vom 28. August 1941 führte zur<br />

vollständigen Auflösung der Republik der Wolgadeutschen und am 6. September<br />

1941 hat man uns alle, aus Neu-Boaro, Lilienfeld und aus Fresental nach Urbach, die<br />

Eisenbahnstation, gebracht und am 7. September gegen Abend in die Viehwaggons<br />

je 40 Menschen samt Gepäck gesteckt und es ging los in die Verbannung, in<br />

die Ungewissheit, für viele in den Tod. Es gab keine Schlafmöglichkeiten, keine<br />

Toiletten, nichts. Die Toten wurden entlang der langen Strecke einfach liegen<br />

gelassen, man durfte sie weder beerdigen, noch sich von ihnen verabschieden.<br />

Am 22. September, nach über zwei qualvollen Wochen, sind wir in Tscherepanowo,<br />

Gebiet Nowosibirsk, angekommen und sind ausgeladen worden. Am nächsten<br />

Tag hat man uns in den Kolchosen willkürlich verteilt. Es durften nicht mehr als<br />

3 bis 6 Familien in einem Dorf leben. Am nächsten Tag mussten die Eltern und<br />

älteren Kinder sofort auf die Arbeit.<br />

In unserer Familie lebten fünf Kinder und das sechste Kind war unterwegs. Es ist<br />

am 22. November 1941 zur Welt gekommen. Und alles, was man hatte, war das,<br />

was man am Leibe hatte und das, was aus dem Gepäck noch übrig geblieben<br />

war.<br />

Am 28. März 1942 war es dann auch für unseren Vater soweit: man zog ihn in die<br />

Trudarmee ein und die Mutter, Marie-Kathrine Schäfer, geborene Koch, blieb<br />

15


alleine mit sechs Kindern.<br />

Von früh bis spät waren wir auf der Arbeit. Die Kinder mussten, um durchzukommen,<br />

um Milch für den Kleinen und um Kartoffelschalen betteln, Getreideähren auf<br />

den Feldern sammeln oder auch das erste Grün im Wald suchen. Sauerampfer,<br />

Brennnesseln - gegessen wurde alles. Erst als man selber Kartoffeln gesteckt<br />

und geerntet hatte, ist man ein wenig der Hungersnot entkommen.<br />

Im Herbst 1943 wurde auch die ältere Schwester Emma in die Trudarmee<br />

eingezogen, in die Kohlengrube. Unsere Mutter hatte Glück im Unglück. Ihr letztes<br />

Kind wurde 1941 geboren. Man wurde aber erst in die Trudarmee eingezogen,<br />

wenn das letzte Kind 3 Jahre alt war. So blieb wenigstens sie bei den Kindern.<br />

Viele Familien sind regelrecht ausgestorben, weil beide Eltern und die älteren<br />

Kinder in die Trudarmee eingezogen worden sind, und die jüngeren starben.<br />

Keiner konnte die Last aufnehmen, fremde Kinder durchzufüttern.<br />

Am 28. April 1944 kam unser Vater aus der Trudarmee zurück. Diejenigen, die<br />

abgemagert, krank und kraftlos waren, hat man heimgehen lassen mit dem<br />

Spruch: „Ihr sterbt ja sowieso, so sparen wir uns wenigstens die Arbeit, euch zu<br />

beerdigen“.<br />

Meine Mutter hat den Vater erst ganz wenig essen und trinken lassen, ihn nach<br />

und nach auf die Beine kommen lassen. Das hat ihn gerettet. Sein Kamerad,<br />

mit dem er den langen Weg nach Hause durchgemacht hatte, hat sich gleich<br />

am ersten Tag satt gegessen und ist daran noch am selben Tag gestorben.<br />

16<br />

Nachdem der Vater 3 - 4 Tage daheim war, musste er auch auf die Arbeit - in die<br />

MTS, Maschinen- und Traktorenstation. Das war für uns ein großes Glück - er hat<br />

jeden Tag ein Pfund Brot bekommen. Wir als Kinder (fünf!) haben nur 200 g pro<br />

Tag bekommen. In dem Jahr haben wir uns auch eine Erdhütte gebaut, reichlich<br />

Kartoffeln gesteckt und die Kartoffelernte war gut. Damit wir gar nicht auf den<br />

Gedanken kommen zu fliehen, waren wir unter Kommandanturaufsicht gestellt<br />

und mussten uns jeden Monat melden.<br />

Im Jahre 1951, am 10. Juni heiratete ich Jekaterina Grasmück, auch zwangsumgesiedelt<br />

aus der Stadt Balzer an der Wolga, heute die Stadt Krasnoarmeijsk.<br />

In demselben Jahr am 25. November verunglückte mein Vater und nur die Mutter<br />

ist den zwei Kleinen - Heinrich und Alexander - geblieben. Bei uns war das erste<br />

Kind unterwegs.<br />

Es kam im August 1952 zur Welt. Im Jahre 1953 ist Stalin gestorben. Aber<br />

für uns hat sich ganz und gar nichts geändert. Wir blieben weiter unter<br />

Kommandanturaufsicht. Im April 1956 hat man zwar diese aufgehoben, aber<br />

ansonsten blieb alles unverändert. Dass wir Pässe, beziehungsweise Ausweise<br />

kriegen durften - bis dahin war es noch ein langer Weg.<br />

Auch die Rehabilitierung von 1964 unter Chruschtschow brachte nicht viel für uns<br />

Deutsche. Fast keiner hat damals was davon erfahren - es ist nicht an die große<br />

Öffentlichkeit durchgedrungen. Die Regierungschefs kamen und gingen, bis der<br />

Gorbatschow an die Macht gekommen ist. Wir durften zwar nicht an die Wolga<br />

zurück, wir bekamen aber die Möglichkeit nach Deutschland auszuwandern. So<br />

hat sich der Kreis geschlossen.<br />

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