georg kreisler - Volkstheater Rostock
georg kreisler - Volkstheater Rostock
georg kreisler - Volkstheater Rostock
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DAS<br />
t r a g i k o m i s c h e o p e r v o n<br />
<strong>georg</strong> <strong>kreisler</strong><br />
AQUARIUM<br />
ODeR DIe StIMMe DeR veRnUnft<br />
U R A U F F Ü H R U N G
2<br />
D a s a b s u r D e m i t g e s c h m a c k D a r g e s t e l lt,<br />
erregt WiDerWillen unD beWunDerung.<br />
Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen<br />
Hans Kinder, Komposition, Kunsthalle <strong>Rostock</strong>
Georg Kreisler<br />
Das aquarium oder Die stimme Der vernunft<br />
Tragikomische Oper · URAUFFÜHRUNG<br />
Auf Wunsch des Komponisten wird das Libretto auf der Übertitelungsanlage eingeblendet.<br />
premiere 14. November 2009, 19:30 Uhr · Großes Haus<br />
Musikalische Leitung Peter Leonard<br />
Inszenierung Corny Littmann<br />
Ausstattung Falk von Wangelin<br />
Choreinstudierung Ursula Stigloher<br />
Dramaturgie Bernd Hobe<br />
Studienleitung Hans-Christoph Borck<br />
Musikalische Einstudierung Teodora Belu, Petra Leupold-Elert<br />
Regieassistentin Renate Nitsch<br />
Inspizientin Anke Lüder<br />
Souffleuse Christiane Blumeier-Braun<br />
Anton Olaf Lemme<br />
Bruno Mark Bowman-Hester<br />
Camilla Lucie Cervalová / Andrea Höcht<br />
Dominik Michael Scarcelle<br />
Emilie Ines Wilhelm<br />
Franziska Lisa Mostin<br />
Doppelbesetzung in alphabetischer Reihenfolge<br />
Herren des Opernchors des <strong>Volkstheater</strong>s <strong>Rostock</strong><br />
Norddeutsche Philharmonie <strong>Rostock</strong><br />
Technischer Leiter: Peter Martins · Werkstattleiter: Dirk Reincke · Bühneninspektor: Holger Fleischer · Bühnenmeister: Jürgen Laube · Leiterin der<br />
Kostümabteilung: Jenny-Ellen Fischer · Kostümanfertigung: Kornelia Junge, Erika Scheufler · Chefmaskenbildnerin: Beatrice Rauch · Maske: Kathrin<br />
Hartung, Michaela Schroeckh · Leiter der Beleuchtung: Andreas Lichtenstein · Beleuchtung: Ronald Marr · Leiter der Tonabteilung: Michael Martin · Ton:<br />
Jörg Adam · Leiter der Requisite: Klaus Radziwill · Requisite: Claus-Peter Arfert · Herstellung der Dekoration in den Werkstätten des <strong>Volkstheater</strong>s<br />
<strong>Rostock</strong><br />
Das Fotografieren sowie Film- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.<br />
Photographing, video recording and sound recording during the performance are prohibited.<br />
3
4<br />
Entsprechend dem Wesen der extravertierten Einstellung sind die Wirkungen und Äußerungen<br />
dieser Persönlichkeiten um so günstiger oder besser, je weiter außen sie liegen.<br />
Ihr bester Aspekt findet sich an der Peripherie ihrer Wirkungssphäre. Je tiefer<br />
man in ihren Machtbereich eindringt, desto mehr machen sich ungünstige Folgen<br />
ihrer Tyrannei bemerkbar. An der Peripherie pulsiert noch anderes Leben, das<br />
die Wahrheit der Formel als schätzenswerte Zugabe zum übrigen empfindet.<br />
Je tiefer man aber in den Machtbereich der Formel eintritt, desto mehr stirbt<br />
alles Leben ab, das der Formel nicht entspricht.<br />
Anton<br />
Am meisten bekommen die eigenen Angehörigen<br />
die üblen Folgen einer extravertierten Formel<br />
zu kosten, denn sie sind die ersten, die unerbittlich<br />
damit beglückt werden... In erster<br />
Linie werden es bei diesem Typus alle vom<br />
Gefühl abhängigen Lebensformen sein,<br />
welche der Unterdrückung verfallen,<br />
also zum Beispiel ästhetische Betätigungen,<br />
der Geschmack, der Kunst-<br />
sinn, die Pflege der Freundschaft<br />
usw.<br />
Irrationale Formen, wie religiöse<br />
Erfahrungen, Leidenschaften<br />
und dergleichen<br />
sind oft bis zur völligen<br />
Unbewußtheit ausge-<br />
tilgt... C. G. Jung<br />
alles<br />
im leben<br />
ist Zufall.<br />
h i n t e r g a r n i c h t s<br />
steckt eine absicht.<br />
aber Der Zufall<br />
Dieses Zufalls ist,<br />
D a s s W i r n i c h t W i s s e n ,<br />
Wann er stattfinDet.<br />
nichts<br />
im leben ist Zufall.<br />
hinter allem steckt<br />
eine absicht.<br />
aber Die absicht Dieser absicht<br />
ist, Dass Wir sie nicht kennen.<br />
Wir müssen forschen.
Doktor Caspary machte eine Pause, rieb den klobigen Siegelring in<br />
der Hüfte, nachdenklich, als wollte er eine Staubschicht der Erinne-<br />
rung fortwischen, dann legte er Freytag eine Hand auf die Schulter... »Er<br />
ist verrückt«, dachte Freytag, »er ist einer von denen, die man zu heiß ge-<br />
badet hat. Das ist genau einer von diesen Burschen, denen das Leben nicht<br />
ausreicht, weil sie nicht eine einzige Sache zustande kriegen...« »Sehen Sie«,<br />
sagte Doktor Caspary – und er hob seine Stimme, um sich besser verständlich zu<br />
machen –, »so fand ich einen Ansatzpunkt für das, was ich vorhatte: ich legte mir<br />
drei Leben zu. Eins fiel mir gewissermaßen in den Schoß, oder es wurde mir wie eine<br />
Speise gebracht, die ich zwar nicht bestellt hatte, die aber so gut aussah, daß ich mich<br />
dennoch entschloß, sie zu essen: das Leben meines Zwillingsbruders Ralph. Ich nahm<br />
es an, nachdem wir zusammen mit unserm Segelboot in der Elbmündung gekentert wa-<br />
ren. Da ich unsicher war, wieviel ich mir als Schwimmer zutrauen durfte – Sie wissen, daß<br />
Ertrinkende mit Vorliebe klammern –, wagte ich nicht, meine wenigen Kräfte bei einer Hil-<br />
feleistung zu verschwenden, die wahrscheinlich doch umsonst gewesen wäre. Ich rettete mich<br />
mit Ach und Krach ans Ufer, mein Bruder ertrank. Ich übernahm seine Anwaltspraxis, ließ mich<br />
selbst für tot erklären und fand ein Leben als hamburgischer Rechtsanwalt... Hören Sie? Ich bin<br />
noch nicht fertig...« Siegfried Lenz, Das Feuerschiff<br />
5
6<br />
Der introvertierte Denktypus wird, wie der Extravertierte, seinen<br />
Ideen folgen, aber in umgekehrter Richtung, nicht nach außen,<br />
sondern nach innen. Er strebt nach Vertiefung und nicht nach<br />
Verbreiterung. Durch diese Grundlage unterscheidet er sich von<br />
seinem extravertierten Parallelfall in ganz erheblichem Maße und in<br />
unverkennbarer Weise. Was den anderen<br />
auszeichnet, nämlich seine intensive<br />
Bezogenheit auf das Objekt,<br />
fehlt ihm gelegentlich fast völlig,<br />
wie übrigens jedem introvertierten<br />
Typus. Ist das Objekt ein Mensch,<br />
so fühlt dieser Mensch deutlich, daß<br />
er eigentlich nur negativ in Frage<br />
kommt, das heißt in milderen Fällen<br />
wird er sich seiner Überflüssigkeit<br />
bewußt, in schlimmeren fühlt er sich<br />
als störend direkt abgelehnt. Diese<br />
negative Beziehung zum Objekt,<br />
Indifferenz bis Ablehnung, charakterisiert<br />
jeden Introvertierten und<br />
macht die Beschreibung des introvertierten<br />
Typus überhaupt<br />
äußerst schwierig. Es tendiert<br />
in ihm alles zum<br />
Verschwinden und<br />
zur Verborgenheit.<br />
C. G. Jung
Bruno<br />
Brunos erste Erinnerung stammte aus seinem vierten Lebensjahr; es war die Erinnerung<br />
man kann<br />
freunDe verlieren,<br />
man kann Zeit<br />
verlieren, man kann,<br />
Wenn man es hat, auch<br />
gelD verlieren, aber Der<br />
schlimmste verlust ist,<br />
Wenn man nicht Weiss,<br />
Was man verloren hat.<br />
an eine Demütigung. Er ging damals in den Kindergarten im Parc Laperlier in Algier.<br />
An einem Herbstnachmittag hatte die Kindergärtnerin den Jungen erklärt, wie man<br />
aus Blättern Girlanden herstellt. Die kleinen Mädchen saßen wartend am Fuß ei-<br />
ner Anhöhe und stellten bereits die ersten Anzeichen einer dummen weiblichen<br />
Ergebenheit zur Schau; die meisten von ihnen trugen weiße Kleider. Der Boden<br />
war mit goldgelben Blättern übersät; es gab vor allem Kastanien und Plata-<br />
nen. Seine Kameraden wurden einer nach dem anderen mit ihrer Girlande<br />
fertig und standen auf, um sie ihrer kleinen Liebsten um den Hals zu le-<br />
gen. Er kam nicht voran, die Blätter zerbröselten, alles ging in seinen<br />
Händen kaputt. Wie sollte er ihnen erklären, dass er Liebe brauchte?<br />
Wie sollte er ihnen das ohne die Blättergirlande erklären? Er begann<br />
vor Wut zu weinen; die Kindergärtnerin kam ihm nicht zu Hilfe.<br />
Es war bereits zu spät, die Kinder standen auf, um den Park zu<br />
verlassen. Kurz darauf wurde der Kindergarten geschlossen.<br />
Nur wenn man<br />
allein ist,<br />
ist man<br />
frei.<br />
Schopenhauer<br />
Michel Houellebecq, Elementarteilchen<br />
7
8<br />
Camilla<br />
Dein<br />
leben musst<br />
Du selber<br />
frequentieren.<br />
Du kannst es töten<br />
oDer – oDer unterWegs<br />
verlieren. Du kannst es<br />
stärken, stopfen, strafen<br />
oDer stutZen,<br />
Du kannst es säubern oDer<br />
täglich neu beschmutZen.<br />
Obschon stets eine Bereitschaft<br />
zu einem ruhigen und harmonischenNebeneinandergehen<br />
vorhanden ist, so zeigt<br />
sich dem fremden Objekt gegenüber keine Liebenswürdigkeit, kein warmes Entgegenkommen, sondern eine indifferent<br />
erscheinende, kühle bis abweisende Art. Man bekommt gelegentlich die Überflüssigkeit der eigenen Existenz zu fühlen.<br />
Gegen etwas Mitreißendes, Enthusiastisches beobachtet dieser Typus zunächst eine wohlwollende Neutralität, bisweilen<br />
mit einem leisen Zug von Überlegenheit und Kritik, der einem empfindsamen Objekt leicht den Wind aus den Segeln nimmt.<br />
Eine anstürmende Emotion aber kann mit mörderischer Kraft schroff niedergeschlagen werden, wenn sie nicht zufälligerweise<br />
das Individuum vom Unbewußten her erfaßt, das heißt mit anderen Worten irgend ein urtümliches Gefühlsbild belebt und damit<br />
das Fühlen dieses Typs gefangennimmt. C. G. Jung
Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mit-<br />
telgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen<br />
gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu<br />
dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas<br />
vorgeschobenen Kopfes zum äußersten Tische links, der senkrecht zur Verandatür stand, dem »Guten<br />
Russentisch« nämlich, wobei sie die eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die andere<br />
aber, das Haar stützend und ordnend, zum Hinterkopf führte... Mit einem Kopfnicken begrüßte die Nach-<br />
züglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rücken gegen<br />
den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie noch immer die Hand am Haar,<br />
den Kopf über die Schulter und überblickte das Publikum, – wobei Hans Castorp flüchtig bemerkte, daß<br />
sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte... Natürlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Cas-<br />
torp, und wieder murmelte er es ausdrücklich vor sich hin, so daß die Lehrerin, Fräulein Engelhart,<br />
verstand, was er sagte. Die dürftige alte Jungfer lächelte gerührt. »Das ist Madame Chauchat«, sagte<br />
sie. »Sie ist so lässig. Eine entzückende Frau.« Thomas Mann, Der Zauberberg<br />
9
10<br />
h a lt ! e s g i b t D o c h<br />
a u c h m e n s c h l i c h e<br />
a u s n a h m e n .<br />
Z u m b e i s p i e l D e n<br />
schubert franZl!<br />
stossen Wir n i c h t<br />
bauen Wir nicht<br />
a b e r h i n t e r D e m g l a s<br />
u n e r r e i c h b a r ,<br />
hoffungslos
überall auf g l a s W ä n D e ?<br />
allerorten luftschlösser?<br />
– Dort ist Die Welt.<br />
unvergleichlich,<br />
ahnen Wir sie.<br />
...<br />
a b e r u n s e r<br />
s Z e n a r i u m<br />
b l e i b t D a s<br />
aquarium.<br />
11
12<br />
Dominik<br />
Wir müss e n<br />
e i n a n D e r<br />
auffressen,<br />
D a s i s t D e r b e s t e<br />
beWeis,Dass Wir<br />
menschen sinD.<br />
Die menschen<br />
seh‘n alle aus,<br />
als Wären sie meine freunDe.<br />
aber ich habe gemerkt:<br />
Wenn ich Die augen schliesse<br />
unD sie nur reDen höre, Dann höre ich,<br />
Wie sie lügen.<br />
Wenn das Unbewußte nur um etwas<br />
verstärkt ist, so wird der subjektive<br />
Empfindungsanteil dermaßen lebendig,<br />
daß er die Objekteinwirkung<br />
fast gänzlich überdeckt. Daraus ent-<br />
steht einerseits für das Objekt das<br />
Gefühl einer völligen Entwertung,<br />
anderseits für das Subjekt eine illusionäre<br />
Auffassung der Wirklichkeit,<br />
die allerdings nur in krankhaften<br />
Fällen soweit geht, daß das Individuum<br />
nicht mehr imstande wäre,<br />
zwischen dem wirklichen Objekt<br />
und der subjektiven Wahrnehmung zu<br />
unterscheiden. Obschon eine so wichtige<br />
Unterscheidung erst in einem nahezu psychotischen<br />
Zustand gänzlich verschwindet, so kann<br />
doch längst zuvor die subjektive Wahrnehmung das<br />
Denken, Fühlen und Handeln in höchstem Maße beeinflussen,<br />
obschon das Objekt in seiner ganzen Wirklichkeit<br />
klar gesehen wird. C. G. Jung
»Gemeinsamkeit«, sagte Demian, »ist eine schöne Sache.<br />
Aber was wir da überall sehen, ist gar keine. Sie wird neu<br />
entstehen, aus dem Voneinanderwissen der Einzelnen, und sie<br />
wird für eine Weile die Welt umformen. Was jetzt an Gemein-<br />
samkeit da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zu-<br />
einander, weil sie voreinander Angst haben – die Herren für sich,<br />
die Arbeiter für sich, die Gelehrten für sich! Und warum haben sie<br />
Angst? Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist. Sie<br />
haben Angst, weil sie sich nie zu sich selber bekannt haben. Eine Gemein-<br />
schaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selber Angst<br />
haben! Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie<br />
nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts<br />
von allem ist dem angemessen, was wir brauchen. Hundert und mehr Jahre lang<br />
hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel<br />
Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie<br />
man zu Gott betet, sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergnügt sein<br />
kann.« Hermann Hesse, Demian<br />
Ich hab hier nur<br />
ein Amt und keine<br />
Meinung.<br />
Schiller,<br />
Wallensteins<br />
Tod<br />
13
14<br />
E milie<br />
Obschon es nicht ganz auf der Linie des introvertierten Intuitionstypus liegt, die<br />
Wahrnehmung zu einem moralischen Problem zu machen, indem dazu eine gewisse<br />
Verstärkung der urteilenden Funktionen nötig ist, so genügt doch schon<br />
eine relativ geringe Differenzierung des Urteils, um die Anschauung aus dem rein<br />
Ästhetischen ins Moralische überzuführen. Dadurch entsteht eine Spielart dieses<br />
Typus, welche von seiner ästhetischen Form wesentlich verschieden, für den introvertierten<br />
Intuitiven aber trotzdem charakteristisch ist. Das moralische Problem<br />
entsteht dann, wenn der Intuitive sich zu seiner Vision in Beziehung setzt, wenn er<br />
sich nicht mehr mit der bloßen Anschauung und ihrer ästhetischen Bewertung und<br />
Gestaltung begnügt, sondern zu der Frage gelangt: Was heißt das für mich oder für<br />
die Welt? C. G. Jung
Es war Frau Else Schweigestill, die den Besuchern im Haustor stattlich entgegentrat, sie freundlich<br />
anhörte und ihnen in hohen Gläsern mit langgestielten Löffeln die Limonade mischte... Sie habe<br />
die Künstler gern, sagte sie in ihrer mit »halt« und »fei« und »Gellen‘s ja?« dialekthaft gefärbten,<br />
aber doch recht geläuterten Sprechweise, denn sie seien Leute von Verständnis und Verständ-<br />
nis sei im Leben das Allerbeste und Wichtigste, – die Lustigkeit der Kunstmaler beruhe im<br />
Grunde wohl auch darauf, es gebe eben eine lustige und eine ernste Art des Verständnisses,<br />
und noch nicht heraus sei, welcher der Vorzug gebühre. Vielleicht sei das Passendste etwas<br />
Drittes: ein ruhiges Verständnis. Künstler müßten natürlich in der Stadt leben, weil dort<br />
die Kultur statthabe, mit der sie es zu tun hätten; eigentlich aber gehörten sie mit Bau-<br />
ersleuten, die in der Natur und darum dem Verständnis näher lebten, viel richtiger<br />
zusammen, als mit den Stadtbürgern, deren Verständnis entweder verkümmert sei,<br />
oder die es um der bürgerlichen Ordnung willen unterdrücken müßten, was aber<br />
eben auf Verkümmerung hinauslaufe... Hierauf bot sie ihren Gästen Kaffee und<br />
Pfundskuchen an... Thomas Mann, Doktor Faustus<br />
i h r<br />
m ü s s t<br />
v e r Z e i h e n<br />
l e r n e n , D e n n<br />
D u r c h v e r Z e i h u n g<br />
WirD Der mensch<br />
Z u r f r e u D e s e i n e r<br />
mitmenschen. unD Die<br />
m i t m e n s c h e n W e r D e n f r e u n D e ,<br />
unD alles WirD WieDer gut.<br />
15
16<br />
Insofern das Gefühl unbestreitbar<br />
eine sichtbarere Eigentümlichkeit<br />
der weiblichen Psychologie ist als<br />
das Denken, so finden sich auch die<br />
ausgesprochensten Fühltypen beim<br />
weiblichen Geschlecht. Wenn das<br />
extravertierte Fühlen das Primat<br />
besitzt, so sprechen wir von einem<br />
extravertierten Fühltypus. Die Beispiele,<br />
die mir bei diesem Typus vorschweben,<br />
betreffen fast ohne Ausnahme<br />
Frauen. Diese Art Frau lebt<br />
nach der Richtschnur ihres Gefühls.<br />
Ihr Gefühl hat sich infolge der Erziehung<br />
zu einer eingepaßten und der<br />
Bewußtseinskontrolle unterworfenen<br />
Funktion entwickelt. In Fällen, die<br />
nicht extrem liegen, hat das Gefühl<br />
persönlichen Charakter, obschon das<br />
Subjektive bereits in höherem Maße<br />
unterdrückt wurde. Die Persönlichkeit<br />
erscheint daher als in die objektiven<br />
Verhältnisse eingepaßt. Die<br />
Gefühle entsprechen den objektiven<br />
Situationen und den allgemein gültigen<br />
Werten. Dies zeigt sich nirgends<br />
deutlicher als in der sogenannten<br />
Liebeswahl. Der „passende“ Mann<br />
wird geliebt, nicht irgend ein anderer;<br />
er ist passend, nicht etwa, weil er<br />
dem subjektiven verborgenen Wesen<br />
der Frau durchaus zusagte – das weiß<br />
sie meistens gar nicht –, sondern weil<br />
er in puncto Stand, Alter, Vermögen,<br />
Größe und Respektabilität seiner<br />
Familie allen vernünftigen Anforderungen<br />
entspricht. C. G. Jung
Die stimme<br />
D e r v e r n u n f t<br />
b e s a g t :<br />
seiD vernünftig!<br />
es geht nicht.<br />
Darum ist es vernünftig,<br />
unvernünftig Zu sein.<br />
unD es ist unvernünftig,<br />
vernünftig Zu sein. Franziska<br />
Der Tag war mit allerlei angenehmen Beschäftigungen ausgefüllt gewesen. Pippi war zeitig aufgestanden<br />
und hatte Herrn Nilsson Saftwasser und Brötchen ans Bett gebracht. Er sah so niedlich aus, wie er in<br />
seinem hellblauen Nachthemd dasaß und das Glas mit beiden Händen festhielt. Dann hatte sie das<br />
Pferd gefüttert und gestriegelt und ihm eine lange Geschichte von ihren Reisen auf dem Meer erzählt.<br />
Danach war sie ins Wohnzimmer gegangen und hatte ein großes Bild auf die Tapete gemalt. Das Bild<br />
stellte eine dicke Dame in rotem Kleid und schwarzem Hut dar. In der einen Hand hielt sie eine<br />
gelbe Blume und in der anderen eine tote Ratte. Pippi fand, daß es ein sehr schönes Bild war. Es<br />
schmückte das ganze Zimmer... Danach hatte sie versucht, Herrn Nilsson Schottisch tanzen zu<br />
lehren, aber er hatte nicht gewollt. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, es mit dem Pferd<br />
zu versuchen, aber dann war sie lieber in den Holzkasten gekrochen und hatte den Deckel<br />
über sich zugemacht... Da fiel ihr ein, daß sie schon seit ein paar Tagen nicht geritten war, und<br />
sie entschloß sich, jetzt gleich einen Ritt zu machen. Das würde ein netter Abschluß für einen<br />
angenehmen Sonntag sein. Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf<br />
17
18<br />
b e r n d h o b e<br />
gehen sie abenDs gerne aus? – opernfiguren im persönlichkeitstest<br />
Es sei, als ob Salome nicht tanzen wolle, bemerkt Bruno im 2. Akt, nachdem er nach der Handlung dieser<br />
Oper gefragt hat. Immer wieder wird Kreislers »Aquarium« selbstreferentiell und thematisiert die<br />
fehlende oder zumindest bruchstückhafte Handlung. So auch Camilla, wenn sie im 1. Akt erklärt: »Und<br />
es gibt auch keine Oper ohne Handlung. Daher hat auch diese Oper eine Handlung. Wenn ich sie nur<br />
wüsste! Jetzt sind wir bald im zweiten Akt und eine Handlung ist nirgends zu sehen.«<br />
Bei unseren Vorbereitungen rückten schnell die einzelnen Figuren der Oper, losgelöst von einer etwaigen<br />
Eingebundenheit in einen dramatischen Kontext, in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Mit welchen<br />
Charakteren haben wir es hier zu tun? In Gesprächen mit Regisseur und Ausstatter versuchten wir bei<br />
dieser Frage Licht ins Dunkel zu bringen. Hauptkriterium dabei war, was die Figuren äußern und wie sie<br />
handeln. Bald kam die Idee eines Persönlichkeitstestes auf, den die Sänger – ganz im Denken und Fühlen<br />
ihrer Figur – doch ausfüllen könnten. Der Versuch versprach interessant zu werden, denn das Ensemble<br />
studiert über Monate hinweg Text und Musik ihrer Figuren und setzt sich im mehrwöchigen Probenprozess<br />
intensiv mit den darzustellenden Charakteren auseinander. Als Untersuchungsinstrument wurde<br />
das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) herangezogen. 138 Aussagen wie zum Beispiel »Ich pflege<br />
schnell und sicher zu handeln« oder »Ich schließe nur langsam Freundschaften« sind mit »stimmt« oder<br />
»stimmt nicht« zu bewerten. Das FPI liefert für jede Testperson jeweils einen Wert auf einer neunstufigen<br />
Skala in den Rubriken: 1. Lebenszufriedenheit, 2. Soziale Orientierung (zwischen sozial verantwortlich<br />
und unsolidarisch), 3. Leistungsorientierung, 4. Gehemmtheit, 5. Erregbarkeit, 6. Aggressivität,<br />
7. Beanspruchung (zwischen angespannt/überfordert und wenig beansprucht/belastbar), 8. körperliche<br />
Beschwerden, 9. Gesundheitssorgen (zwischen gesundheitsbewusst und gesundheitlich unbekümmert)<br />
und 10. Offenheit. Hinzu kommen die Zusatzskalen Extraversion (zwischen extravertiert-impulsiv und<br />
introvertiert-zurückhaltend) und Emotionalität (zwischen labil-ängstlich und stabil-selbstsicher). Für<br />
die bereitwillige Bearbeitung sei den Sängerinnen und Sängern gedankt. Wenngleich dem Ergebnis natürlich<br />
nicht zuviel Gewicht beigemessen werden sollte, waren einige Aspekte der Auswertung aufschlussreich,<br />
so zum Beispiel der Vergleich der beiden Zusatzskalen, Extraversion und Emotionalität,<br />
bei dem Gegensatzpaar Anton und Bruno.<br />
Anton<br />
Bruno
Erreicht Anton den positiven Höchstwert bei Extraversion, so Bruno bei emotionaler Labilität. Hat Anton<br />
einen schwachen Positivwert bei emotionaler Stabilität, so Bruno einen schwachen Positivwert bei<br />
Introversion. Die Persönlichkeitsstrukturen der beiden erscheinen wie aneinander gespiegelt.<br />
In gleich vier Kategorien erreicht Anton Höchstwerte: negative bei Soziale Orientierung (selbstbezogen,<br />
unsolidarisch) und Gehemmtheit (ungezwungen, selbstsicher), positive bei Erregbarkeit (erregbar, unbeherrscht)<br />
und Aggressivität (aktiv, sich durchsetzend). Von Franziska angestachelt erschießt Anton im<br />
2. Akt sein fünfköpfiges Bühnenkollegium. Wie Anton hat Bruno einen positiven Höchstwert bei Erregbarkeit,<br />
darüberhinaus aber auch bei Körperliche Beschwerden (psychosomatisch gestört) und Gesundheitssorgen<br />
(Furcht vor Erkrankungen), wo Anton nur sehr schwach positive Werte einfährt.<br />
Das Mütterliche und Fürsorgliche der Figur Emilie schien bereits deutlich in den Vorgesprächen auf. Wenig<br />
überraschend, dass Emilie im Test einen positiven Höchstwert bei Soziale Orientierung (hilfsbereit,<br />
mitmenschlich) und einen negativen bei Gehemmtheit (kontaktbereit, selbstsicher) aufweist. Franziska<br />
nimmt eine Sonderrolle ein. Dies scheint auch der Test zu belegen. Als die Schillerndste, die Wandlungsfähigste<br />
und die Eigenständigste wurde sie von Anfang an aufgefasst. Das Testergebnis unterstreicht<br />
ihre Unabhängigkeit mit einem sehr hohen Negativwert bei Soziale Orientierung (Eigenverantwortung<br />
in Notlagen, selbstbezogen). Ihre Unangepasstheit schlägt sich im Höchstwert bei Offenheit (ungeniert,<br />
unkonventionell) nieder. Sehr ungewöhnlich ist das Bild, das sich bei ihr in den Zusatzskalen zeigt.<br />
Franziska<br />
Ihre Werte bewegen sich sowohl im eher extravertierten als auch im eher emotional labilen Bereich. Im<br />
Stück taucht Franziskas Verletzlichkeit in ihrem Monolog im 3. Akt auf. »Man kann nicht einsam genug<br />
sein«, singt sie und fügt hinzu: »Gott sei Dank ist hier niemand, den ich irgendwie kenn‘.«<br />
Herausgeber: <strong>Volkstheater</strong> <strong>Rostock</strong> · 115. Spielzeit 2009/2010 · Intendant: Peter Leonard · Kommissarische Verwaltungsdirektorin:<br />
Christine Scheel · Redaktion: Bernd Hobe · Gestaltung: Christiane Scholze · Druck: Stadtdruckerei Weidner GmbH.<br />
Das Bild auf Seite 2 ist der Graustrufen-Abdruck der »Komposition« von Hans Kinder, 1982, Mischtechnik auf Karton, 75 x 54,5 cm,<br />
aus dem Bestand der Kunsthalle <strong>Rostock</strong> (Inv. Nr. 874863). Dank an die Kunsthalle <strong>Rostock</strong>, Herrn Dr. Jörg-Uwe Neumann und Frau<br />
Heike Heilmann, für die freundliche Zusammenarbeit und an Falk von Wangelin für die Bereitstellung von Figurinen.<br />
Texte: C. G. Jung, Psychologische Typen (1929), Solothurn 1994; S. Lenz, Das Feuerschiff (1960), in: Die Erzählungen 1959-1964,<br />
München 1986; M. Houellebecq, Elementarteilchen (1998), übersetzt von Uli Wittmann, Köln 1999; Th. Mann, Der Zauberberg (1924),<br />
Frankfurt am Main 2002; H. Hesse, Demian (1919), Frankfurt 2001; Th. Mann, Doktor Faustus (1947), Frankfurt 2007; A. Lindgren,<br />
Pippi Langstrumpf (1946), übs. v. Cäcilie Heinig, Berlin 1975; Fahrenberg/Hempel/Selg, Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R),<br />
Göttingen 1994<br />
Der Text »Gehen Sie abends gerne aus? – Opernfiguren im Persönlichkeitstest« ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.<br />
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