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zwischen kult und kommerz. architektur als erfahrbarer raum

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ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ.<br />

ARCHITEKTUR ALS ERFAHRBARER RAUM<br />

IN ANTIKEN ORAKELHEILIGTÜMERN<br />

WIEBKE FRIESE<br />

ABSTRACT<br />

Während bedeutende Orakelstätten wie Delphi, Olympia<br />

oder Dodona im archaischen <strong>und</strong> klassischen Griechenland<br />

nicht nur <strong>als</strong> individuelle Ratgeber, sondern auch <strong>als</strong> interurbane<br />

Machtzentren überregionaler politischer Bündnisse<br />

fungierten, hatten die meisten von ihnen in römischer Zeit<br />

erheblich an Bedeutung verloren. Dagegen stehen andere<br />

Kultorte wie das Trophoniosorakel von Lebadeia, das<br />

Apollonorakel von Klaros oder das Totenorakel von Herakleia<br />

Pontica, die im 2. <strong>und</strong> 3. Jh. n. Chr. sogar erst ihre<br />

größte Beliebtheit erlangten. Einen überregionalen Erfolg<br />

hatte auch das etwa zur selben Zeit gegründete Glykonorakel<br />

von Abonuteichos zu verzeichnen. Was aber mag der<br />

Gr<strong>und</strong> für diesen Beliebtheitswechsel gewesen sein? Der vorliegende<br />

Artikel zeigt, dass sich der Interessenwandel sowohl<br />

in der antiken Literatur <strong>als</strong> auch im Ritualablauf<br />

<strong>und</strong> in der dazugehörigen Heiligtums<strong>architektur</strong> nachweisen<br />

lässt. Während bis in hellenistische Zeit monumentale<br />

Großbauten wie Tempel oder Theater das Heiligtumsbild<br />

dominierten, wurden in römischer Zeit vor allem die Orakelbauten<br />

selbst ausgebaut. Vermutlich unter dem Einfluss<br />

der seit hellenistischer Zeit nach Westen strömenden orientalischen<br />

<strong>und</strong> ägyptischen Heils- <strong>und</strong> Mysterien<strong>kult</strong>e, waren<br />

es v. a. mystische <strong>und</strong> so genannte autosuggestive Orakelmethoden,<br />

bei denen der Klient dem Gott direkt oder<br />

durch ein einzelnes Medium gegenüber trat, die zu dieser<br />

159


160| WIEBKE FRIESE<br />

Zeit an Beliebtheit gewannen. Zudem ließ sich nachweisen,<br />

dass sich die Architektur direkt an den Bedürfnissen des<br />

Ritu<strong>als</strong> orientierte, indem sie, etwa durch besondere Einbauten,<br />

die klaustrophobischen <strong>und</strong> desorientierenden Elemente<br />

des <strong>kult</strong>ischen Raumes verstärkte. Eingeb<strong>und</strong>en in<br />

ein ebenfalls aus den antiken Mysterien<strong>kult</strong>en bekanntes<br />

tripartites Ritu<strong>als</strong>chema, ermöglichte der so veränderte<br />

Raum der Institution Orakel damit die größtmögliche Kontrolle<br />

eines ansonsten eher unkontrollierbaren, da sehr individuellen<br />

spirituellen Erlebnisses.<br />

While in archaic and classical times, most of the famous<br />

Greek oracle sites, like Delphi, Olympia or Dodona provided<br />

not only individual help and guidance, but <strong>als</strong>o functioned<br />

as interurban political centres, they were less important<br />

in roman times. Other sanctuaries, like the oracle<br />

of Trophonios in Lebadeia, the oracle of Apollon in Claros<br />

or the death oracle in Heracleia Pontica took their place.<br />

The oracle of Glykon in Abonuteichos, which was fo<strong>und</strong>ed<br />

in the second century AD, was <strong>als</strong>o supra-regional successful.<br />

But what could be the reason for his change? Drawing<br />

upon written as well as epigraphical and archaeological<br />

sources, the following paper gives an insight in the ancient<br />

cult architecture and practice and examines its influential<br />

potential on the oracle-seeking client. While until Hellenistic<br />

times, the sanctuaries architecture was dominated by<br />

monumental buildings, like temples and theatres, in roman<br />

times, the oracle building itself became more important. At<br />

the same time and probably <strong>und</strong>er the influence of the oriental<br />

and Egyptian apotropaic mystery cults, mystic and socalled<br />

auto-suggestive oracle methods were the most popular.<br />

Furthermore, the article demonstrates the close relation between<br />

architecture and ritual. The roman reconstructions of<br />

the ritual space all aimed to intensify the claustrophobic and<br />

disorientating elements of it. Integrated in a tripartite ritualistic<br />

schema, the so converted ritual space became an important,<br />

inasmuch controllable element for the institution of<br />

the oracle.


1. EINLEITUNG<br />

ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 161<br />

Angeführt von Delphi beeinflussten Orakelstätten im archaischen<br />

<strong>und</strong> klassischen Griechenland nicht nur das Schicksal einzelner<br />

Individuen, sondern nicht selten auch das ganzer Stadtstaaten. Die<br />

in der Folge gestifteten prunkvollen Architekturen <strong>und</strong> Weihgeschenke<br />

bewiesen nicht nur den Erfolg eines Orakels selbst, sie<br />

dienten vor allem einer interurbanen Machtdemonstration,<br />

wodurch sich viele der extraurbanen Kultorte (u. a. Dodona,<br />

Ptoion, Olympia) zu Zentren überregionaler politischer Bündnisse<br />

etablierten. 1<br />

Mit dem Beginn der hellenistischen Herrscherdynastien <strong>und</strong><br />

noch deutlicher unter römischer Herrschaft hatten jedoch die meisten<br />

griechischen Orakelstätten mit einem empfindlichen Rückgang<br />

der Einnahmen zu kämpfen. Zahlreiche Orakel, wie etwa das Apollonorakel<br />

von Theben <strong>und</strong> vermutlich auch das Orakel von Olympia<br />

waren zu dieser Zeit bereits vollständig aufgegeben. 2 Der<br />

Gr<strong>und</strong> hierfür scheint zum einen in der abweichenden römischen<br />

Divinationstradition (Auguralwesen, sibyllinische Bücher), zum<br />

anderen in einem Misstrauen der hellenistischen <strong>und</strong> römischen<br />

Herrscherhäuser gegenüber der scheinbaren Autonomie <strong>und</strong> damit<br />

Unberechenbarkeit der Orakelstätten zu liegen. 3<br />

Dennoch hielten einige Orakel dem allgemeinen Niedergang<br />

stand. Kultstätten wie die des Trophonios von Lebadeia, des Apollon<br />

in Klaros oder das Totenorakel von Herakleia erlangten ihre<br />

größte Beliebtheit sogar erst im 2. <strong>und</strong> 3. Jh. n. Chr. Einen überregionalen<br />

Erfolg hatte auch das etwa zur selben Zeit gegründete<br />

Glykonorakel von Abonuteichos zu verzeichnen. Alle diese Orakelstätten<br />

versprachen ihren Klienten einen direkten bzw. mediumgesteuerten<br />

Kontakt mit einem göttlichen Wesen. Zudem fällt auf,<br />

dass sich die räumlichen Prioritäten innerhalb der vorhellenistischen<br />

<strong>und</strong> römischen Heiligtums<strong>architektur</strong> verändert hatten. Typischerweise<br />

orientierte sich die Gründung eines Orakelheiligtums in<br />

1 siehe zu dieser Theorie vor allem: POLIGNAC (2001) <strong>und</strong><br />

MORGAN (1990).<br />

2 Theben: Pind. P. 11, 4–5 <strong>und</strong> Paus. 9, 10, 2–4; Olympia:<br />

Strab. 8, 3, 30.<br />

3 Zu italischen Orakeln siehe allgemein: BOUCHÉ-LECLERCQ<br />

(1975) I 189; DIV. IT. I–III (1985/1986); CHAMPEAUX (1990).


162| WIEBKE FRIESE<br />

Griechenland an naturphänomenologisch hervorstechenden Orten<br />

wie einer wasserführenden (Herakleia) oder gasausströmenden<br />

(Delphi) Höhle oder einem heiligen Hain (Dodona). 4 Doch während<br />

der bauliche Fokus in der archaischen <strong>und</strong> klassischen Zeit<br />

zunehmend auf repräsentativen Bauten wie dem Tempel, den<br />

Schatzhäusern oder den Versammlungsräumen lag <strong>und</strong> der eigentliche<br />

Handlungsort des Orakels, das so genannte manteion, architektonisch<br />

eher unauffällig oder – wie in Delphi – von einem Repräsentationsbau<br />

überbaut war, konzentrieren sich die Neu- <strong>und</strong> Umbauten<br />

in römischer Zeit gerade auf die Vergrößerung <strong>und</strong> Ausgestaltung<br />

dieser zentralen Ritualräume. Was aber mag der Gr<strong>und</strong> für<br />

diesen Beliebtheitswechsel gewesen sein? Was erwartete der römische<br />

Orakelklient von einer spirituellen Begegnung? Und wie bediente<br />

man diese Erwartungen im rituellen bzw. räumlichen Heiligtumskontext?<br />

Im Folgenden soll diesen Fragen durch eine dezidierte Betrachtung<br />

aller zur Verfügung stehenden archäologischen wie historischen<br />

Quellen <strong>und</strong> unter besonderer Berücksichtigung der Architektur<br />

nachgegangen werden. Anhand der oben genannten Beispiele<br />

der Kultstätten von Lebadeia, Klaros, Herakleia <strong>und</strong> Abonuteichos<br />

soll damit nicht zuletzt aufgezeigt werden, dass auch ein<br />

Orakel wie jeder andere Kult einer gewissen Zeitströmung unterlag.<br />

2. KULTBAUTEN ANTIKER ORAKELHEILIGTÜMER – DAS<br />

ARCHÄOLOGISCH-HISTORISCHE MATERIAL<br />

Die rein verbale Antwort auf eine an ein übernatürliches Wesen<br />

gestellte Frage bezeichnete man in der Antike allgemein <strong>als</strong> Divination.<br />

Dagegen leitet sich der heutige Begriff Orakel von dem lateinischen<br />

Wort oraculum (Sprechstätte) ab. Im antiken Griechenland<br />

nannte man den Orakelspruch chresmos, den Ort der Weissagung<br />

aber chresterion oder manteion. Der Begriff Orakel bezeichnet demnach<br />

nicht nur das Ritual oder den Orakelspruch allein, sondern<br />

war immer auch in einem räumlichen Gesamtzusammenhang zu<br />

sehen. Die Architektur dieser “Sprechstätten” stand dabei im direk-<br />

4 siehe zu der Bedeutung natürlicher Phänomene für das Ritual<br />

<strong>und</strong> die Architektur griechischer Orakelheiligtümer: FRIESE<br />

(2010) Kap. VIII.2.


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 163<br />

ten Kontext zu ihrer Funktion. Abhängig von der Orakelmethode<br />

konnte der Bau dabei ganz unterschiedliche Ausformungen haben.<br />

2.1. Das Trophoniosorakel von Lebadeia<br />

Das Orakel des Trophonios in der böotischen Siedlung Lebadeia<br />

wurde bereits von Herodot <strong>als</strong> eines der von Kroisos befragten<br />

Heiligtümer erwähnt. 5 In einem so genannten autosuggestiven<br />

Orakelverfahren trat der Ratsuchende hier dem an dieser Stelle in<br />

der Erde verschw<strong>und</strong>enen Heros Trophonios gegenüber. 6 Die Prozedur<br />

soll dabei so schrecklich gewesen sein, dass sie erstens nur<br />

Männern zuzumuten war <strong>und</strong> dass zweitens für übelgelaunte Menschen<br />

im Allgemeinen das Sprichwort galt, sie wären vor kurzem<br />

„dem Trophonios begegnet“. 7<br />

Der aktuelle bauhistorische Erhaltungszustand des Heiligtums<br />

ist äußerst schlecht. Dennoch erlaubt die ausführliche Beschreibung<br />

des Kultes durch den römischen Reiseschriftsteller Pausanias<br />

eine ziemlich genaue Rekonstruktion der Anlage zumindest in ihrem<br />

Zustand im 2. Jh. n. Chr. 8 Demnach kann das Heiligtum relativ<br />

sicher im Gebiet der südlich der modernen Stadt gelegenen<br />

Schlucht lokalisiert werden (Abb. 1).<br />

Der temenos umfasste Pausanias zufolge ein relativ großes,<br />

vermutlich zu weiten Teilen mit einem heiligen Hain bewachsenes<br />

Gebiet im hinteren Teil der von hohen Berghängen umgebenen<br />

Schlucht. Im Inneren lagen mehrere Tempel wie der Tempel der<br />

Herkyna, das Heiligtum der Demeter Europe <strong>und</strong> des Zeus Hyetios,<br />

sowie eine Herberge. 9 Von hier aus wurde der Klient in der Nacht<br />

zunächst zu zwei Quellen, dann zu verschiedenen Gebets- <strong>und</strong> Opferstationen<br />

geführt.<br />

5 Hdt. 1, 46, 2.<br />

6 Zur Unterscheidung <strong>zwischen</strong> autosuggestiven <strong>und</strong> fremdsuggerierten<br />

Orakelmethoden siehe auch: FRIESE (2010) Kap. II.3.<br />

Zum Mythos des Heros Trophonios: Paus. 9, 37, 4–5; Schol. Aristoph.<br />

506–508.<br />

7 Paus. 9, 32, 2 (Übers. E. Meyer). Zum Kult des Trophonios<br />

in Lebadeia umfassend: BONNECHÈRE (2003); TURNER (1994).<br />

8 Paus. 9, 32, 2.<br />

9 Da der Klient dort auch verpflegt wurde, muss es demnach<br />

auch entsprechende Versorgungseinrichtungen gegeben haben.


164| WIEBKE FRIESE<br />

Abb. 1: Schlucht von Lebadeia.<br />

Hierzu zählt der bothros des Agamedes, der Fluss Herkyna, die nahe<br />

gelegenen Quellen der Lethe <strong>und</strong> der Mnemosyne <strong>und</strong> das sicherlich<br />

in einem naiskos aufbewahrte dädalische Kultbild des Trophonios.<br />

Die Orakelhöhle selbst befand sich Pausanias zufolge etwas<br />

weiter entfernt, jedoch in direkter Nähe zu Kultstätten des Zeus<br />

Basileus, der Hera, des Kronos, der Kore <strong>und</strong> des Apollon. Sie war<br />

ein künstliches Bauwerk mit einem r<strong>und</strong>en, durch Schranken gesicherten<br />

<strong>und</strong> durch Stufen begehbaren Podest, in dessen Mitte eine


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 165<br />

Öffnung in die Tiefe führte. Das Innere der Höhle konnte nur mit<br />

Hilfe einer Leiter betreten werden <strong>und</strong> lag vermutlich im Dunkeln.<br />

Am Boden angekommen, hatte sich der Klient auf den Boden zu<br />

legen <strong>und</strong> seine Füße in ein flaches Loch zu stecken, durch das er<br />

in einen zweiten unterirdischen Raum gezogen wurde.<br />

Heute ist von all dem nur wenig erkennbar. Im vorderen Bereich<br />

der Schlucht befinden sich am Westufer der Herkyna mehrere<br />

Nischen <strong>und</strong> eine ein Meter über dem Boden liegende, aus dem<br />

Fels gearbeitete Höhle mit Bänken neben einem Brunnen. Möglicherweise<br />

befanden sich hier die beiden Quellen Lethe <strong>und</strong><br />

Mnemosyne. Die auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses an<br />

der Stelle der heutigen Panagia-Kapelle gef<strong>und</strong>enen Reste dorischer<br />

Säulenkapitelle könnten zudem auf den Tempel des Trophonios<br />

hinweisen.<br />

Problematisch bleibt die Lokalisierung der Orakelhöhle. Zunächst<br />

vermutete man sie in der Zisterne oder der so genannten<br />

Allerheiligen-Kapelle innerhalb der fränkischen Burg auf dem Berg<br />

oberhalb der Herkynaquelle, doch werden diese Thesen heute einstimmig<br />

verworfen. 10 E. Waszink zufolge befand sich die Trophonioshöhle<br />

hinter der weiter nördlich in der Schlucht liegenden so<br />

genannten Lebensquell-Kapelle (Abb. 2). 11 Nach einem steilen<br />

Aufstieg erreicht man eine in den Fels geschlagene Terrasse, die im<br />

Norden aus einer Felsbank <strong>und</strong> mehreren kleinen Nischen besteht<br />

<strong>und</strong> im Süden durch eine kleine Kapelle abgeschlossen wird. In der<br />

Rückwand dieser Kapelle befindet sich ein mindestens 80 cm tiefes,<br />

in den Felsen geschlagenes Becken, das heute mit Wasser gefüllt ist.<br />

Es ist durchaus möglich, dass sich darunter eine weitere, heute<br />

vermauerte Höhle befindet (Abb. 3).<br />

10 WASZINK (1968) 27.<br />

11 WASZINK (1968) 23–30.


166| WIEBKE FRIESE<br />

Abb. 2: So genannte Lebensquell-Kapelle.


Abb. 3: So genannte Lebensquell-Kapelle.<br />

ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 167<br />

E. Vallas <strong>und</strong> N. Pharaklas folgend lag die Orakelhöhle jedoch auf<br />

der akropolis südwestlich der heutigen Agios Elias Kapelle. 12 Durch<br />

Spenden Antiochos IV. Epiphanes wurde dort 175–172 v. Chr. ein<br />

dorischer Tempel für Zeus Basileus errichtet, der in den 1960er<br />

Jahren ergraben wurde. Aus dem 3. Jh. n. Chr. stammt eine südöstlich<br />

des Tempels gelegene, r<strong>und</strong>e, unterirdische Struktur (ca. drei<br />

Meter im Durchmesser), die etwa 100 Jahre später durch eine Kultstätte<br />

des hl. Christopherus ersetzt wurde. 13 Am Boden verlief ein<br />

nach Südosten weisender, vermutlich wieder verschließbarer Kanal<br />

eventuell in einen weiteren Raum, den die beiden Ausgräber mit<br />

dem von Pausanias beschriebenen Tunnel identifizieren.<br />

L. A. Turner <strong>und</strong> vor allem P. Bonnechère plädieren<br />

schließlich für eine Dreiteilung des Heiligtums innerhalb des Stadtgebietes,<br />

wozu der heilige Hain <strong>als</strong> Zentrum, die Heiligtümer auf<br />

dem Eliasberg <strong>als</strong> repräsentativer Ableger, sowie der Orakelort<br />

selbst „somewhere in between”, aber sicherlich oberhalb des in der<br />

Herkynaschlucht gelegenen heiligen Hains gehören. 14 Somit könnte<br />

auch die Lokalisierung der Waszink’schen “Lebensquell-Kapelle”<br />

wieder an Aktualität gewinnen. Einig sind sich die meisten For-<br />

12 VALLAS – PHARAKLAS (1969) 228–232.<br />

13 Die Datierung in die Mitte des 3. Jh. erfolgt durch römische<br />

Keramikfragmente: VALLAS – PHARAKLAS (1969) 228–229.<br />

14 TURNER (1994) 468–469.


168| WIEBKE FRIESE<br />

scher schließlich darin, dass die ältesten Strukturen (<strong>und</strong> damit<br />

möglicherweise auch eine erste <strong>und</strong> vermutlich natürliche Orakelhöhle)<br />

im vorderen unteren Teil der Schlucht gelegen haben. In<br />

römischer Zeit wurde diese Höhle erweitert oder aber vollständig<br />

neu an einem höher gelegenen Ort wieder errichtet. Pausanias` Beschreibungen<br />

weisen dabei nicht nur auf einen repräsentativen architektonischen<br />

Überbau der Höhle hin, welcher zwar den eigentlichen<br />

Eingang erleichtert, die Einsicht aber restringiert. Auch im<br />

Inneren scheinen bestimmte Zugänge den Ansprüchen des Kultes<br />

folgend, verändert worden zu sein.<br />

2.2. Das Apollonorakel von Klaros<br />

Das Orakel des klarischen Apollon liegt im Tal des antiken Flusses<br />

Ales, zwei Kilometer nördlich der Hafenstadt Notion <strong>und</strong> südlich<br />

der antiken Stadt Kolophon. Wann das Gebiet durch die Griechen<br />

besiedelt wurde, ist umstritten. Der Name Klaros wird zwar bereits<br />

in den homerischen Hymnen erwähnt, doch beschreibt erst Pausanias<br />

eine detailliertere, wenn auch mythologische Gründungsgeschichte<br />

des Ortes. 15 In der neueren Forschung wird im Allgemeinen<br />

angenommen, dass sich griechische Siedler im 10. – 9. Jh. v.<br />

Chr. im Gebiet von Klaros niederließen <strong>und</strong> dabei eine hier verehrte<br />

Muttergottheit zunächst mit Artemis verbanden, zu der sich wenig<br />

später Apollon stellte. Möglicherweise gehörte eine 400 m<br />

oberhalb des antiken Klaros liegende Kultgrotte, in der ein Abbild<br />

der Kybele gef<strong>und</strong>en wurde, zu dieser frühen Kultphase. 16<br />

In den schriftlichen Quellen wird über die Architektur des<br />

Heiligtums nur wenig berichtet. Pausanias erwähnte auch hier einen<br />

heiligen Hain aus Eschen. 17 Tacitus zufolge sollen hier Priester zu<br />

einer Quelle hinabgestiegen sein, von der sie tranken <strong>und</strong> in einer<br />

durch Apollon inspirierten Trance weissagten. Sowohl Germanicus<br />

<strong>als</strong> auch die Gattin des Caligula ließen sich auf diese Weise ihr<br />

Schicksal weisen. 18<br />

Die frühesten archäologischen F<strong>und</strong>e innerhalb des Heiligtums<br />

stammen aus dem 10. Jh. v. Chr. <strong>und</strong> wurden im Bereich ei-<br />

15 Hom. h. Apoll. 40 <strong>und</strong> h. Art. 5–6; Paus. 7, 3, 1–2.<br />

16 Bisher <strong>und</strong>atiert: GENIÈRE (1990) 95–96.<br />

17 Paus. 7, 5, 10.<br />

18 Tac. ann. 2, 54 <strong>und</strong> 12, 22, 1–3.


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 169<br />

nes Altars gemacht, der von den Ausgräbern <strong>als</strong> Artemisaltar gedeutet<br />

wird. 19 Seit dieser Zeit weisen verschiedene Votivf<strong>und</strong>e auf<br />

eine nahezu gleichwertige Bedeutung von Apollon <strong>und</strong> Artemis<br />

hin. 20 Aus dem 6. Jh. v. Chr. stammt vermutlich ein erstes, <strong>als</strong><br />

Kultbau interpretiertes Marmorgebäude südwestlich des späteren<br />

Tempels. 21 Dieser spätarchaische Tempel umschloss wahrscheinlich<br />

bereits die heilige Quelle. Ob das Heiligtum schon zu dieser<br />

frühen Zeit <strong>als</strong> Orakelstätte fungierte, ist unklar. 22<br />

In hellenistischer Zeit wurde das Heiligtum umfassend monumentalisiert.<br />

Vermutlich bereits in der 1. Hälfte des 4. Jhs. v.<br />

Chr. wurde mit dem Bau eines größeren Apollon-Tempels <strong>und</strong> eines<br />

neuen Artemis-Tempels begonnen ebenso wie mit dem Ausbau<br />

der dorthin führenden heiligen Straße (Abb. 4).<br />

Aus dieser Zeit stammen auch die überlebensgroße Kultbildtrias<br />

des Apollon, der Artemis <strong>und</strong> der Leto sowie eine monumentale<br />

Anlage auf der Fläche <strong>zwischen</strong> Apollon-Tempel <strong>und</strong> -altar, die<br />

vermutlich für große Opferfeiern vorgesehen war. Die F<strong>und</strong>situation,<br />

v. a. aber die Entdeckung eines der Leto geweihten Votivdepots<br />

aus hellenistischer Zeit veranlassen die Ausgräber außerdem<br />

im Süden des Apollon-Tempels einen Kultbau der Apollonmutter<br />

zu vermuten. Architektonische Nachweise stehen jedoch noch<br />

aus. 23<br />

Folgte man schließlich in römischer Zeit dem Prozessionsweg<br />

von Süden nach Norden vorbei an einer Reihe von Ehrenmonumenten<br />

v. a. aus dem 1. Jh. v. Chr., betrat man den offenen Altarplatz<br />

vor dem Apollon-Tempel. Im Osten des Platzes befand sich<br />

19 Bronzemesser mit Weihung an Apollon; R<strong>und</strong>altar; Bronzefibel<br />

mit Weihung an Artemis; Artemisaltar. Bester Überblick:<br />

GENIÈRE (1998) 235–256.<br />

20 Weitere Terrakotten vor allem im 7. <strong>und</strong> 6. Jh. v. Chr. z. B.<br />

GENIERE (1999) 703, pl. 181, 1.<br />

21 Marmorbau: GENIÈRE (1990) 96–97.<br />

22 In Verbindung mit der Befragung Kroisos’ wird es von Herodot<br />

nicht erwähnt. Hdt. 1, 46–47. Da Kroisos jedoch lediglich<br />

griechische Orakel befragt <strong>und</strong> Klaros im karischen Gebiet lag,<br />

kann dies nicht unbedingt <strong>als</strong> Ausschluss bewertet werden. LAN-<br />

GENSTROER (1992) 245.<br />

23 DEWAILLY (2001) 367–368.


170| WIEBKE FRIESE<br />

ein in hellenistischer Zeit erbauter <strong>und</strong> in einer Achse mit dem<br />

Tempel ausgerichteter 9 x 18,45 m großer Altar.<br />

Abb. 4: Klaros. 2. Jh. n. Chr.<br />

Der heute sichtbare Apollon-Tempel erhob sich auf einem ca. 26 x<br />

46 m großen, fünfstufigen Unterbau <strong>und</strong> war ein dorischer peripteros<br />

mit 6 x 12 Marmorsäulen. 24<br />

24 Im ansonsten weitgehend ionisch geprägten Kleinasien ist<br />

diese dorische Tempelform relativ selten, so etwa auch in Perga-


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 171<br />

Der ursprüngliche Bau aus dem 3. Jh. v. Chr. war vermutlich,<br />

wie der Tempel von Didyma ein hypätraler Bau mit einem kleinen,<br />

die heilige Quelle schützenden naiskos. Erst seit dem 2. Jh. v. Chr.<br />

bestand der Tempelbau aus pronaos <strong>und</strong> naos. Im pronaos führen im<br />

Norden <strong>und</strong> Süden je drei Stufen in ein unterirdisches Kammersystem,<br />

dessen heute sichtbare Gewölbestruktur in augusteischer Zeit<br />

hinzugefügt wurde (Abb. 5).<br />

Abb. 5: Klaros. Keller unter der Tempelcella.<br />

Auf beiden Seiten gelangt man zunächst in zwei von Osten nach<br />

Westen verlaufende 0,7 m breite <strong>und</strong> 2,1 m hohe Korridore, die an<br />

ihrem Ende rechtwinklig abbiegen <strong>und</strong> etwa in der Mitte der Tempelrückwand<br />

ineinander münden. Von hier zweigt ein weiterer<br />

Gang nach Westen ab, der sich etwa unter dem Mittelpunkt des<br />

Tempels wiederum in zwei Arme teilt, die zunächst in Nord-Süd-<br />

Richtung verlaufen <strong>und</strong> nach einer Biegung im Westen in einer<br />

Sackgasse enden. Kurz vor deren Ende führen schmale Durchgänge<br />

in eine Gewölbekammer unter der cella. Eine Tür führt in der<br />

mon. LANGENSTROER (1992) 252.


172| WIEBKE FRIESE<br />

Mitte der westlichen Seitenwand in einen zweiten überwölbten<br />

Raum, in dem vermutlich die heilige Quelle lag (Abb. 6).<br />

Abb. 6: Klaros. Gewölbe im Keller unter der Tempelcella.<br />

Ein 0,96 x 1,41 m großes Becken liegt links vom Eingang. An der<br />

Westseite dieses Raumes befindet sich eine niedrige Bank. Ob dieses<br />

Labyrinth bereits aus hellenistischer Zeit stammt, ist unklar.<br />

Fest steht, dass die Einwölbung der Kammern ebenso wie die Verstärkung<br />

des cella-Bodens in augusteische Zeit datiert <strong>und</strong> dass der<br />

Fußboden der hinteren Kammer <strong>und</strong> eventuell auch deren Gewölbe<br />

aus wiederverwendeten Blöcken eines älteren Gebäudes bestehen.<br />

25 Im Gegensatz zu den meisten anderen großen apollinischen<br />

Orakelzentren, die in römischer Zeit nur wenige <strong>kult</strong>spezifische<br />

Umbauten erfuhren, scheint in Klaros demnach noch in römischer<br />

Zeit der höhlenartige Orakelkeller unterhalb des Tempels bewusst<br />

<strong>kult</strong>spezifisch verändert bzw. erweitert worden zu sein.<br />

2.3. Das Totenorakel von Herakleia<br />

Herakleia Pontica am südlichen Ufer des schwarzen Meeres wurde<br />

ca. 560 v. Chr. <strong>als</strong> megarische Kolonie gegründet. 26 Das dort exis-<br />

25 MELLINK (1961) 49.<br />

26 Xen. an. 6, 2, 1; Ephor. fr. 44a.


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 173<br />

tierende Totenorakel war zu dieser Zeit möglicherweise schon aktiv.<br />

Xenophon erwähnt, dass der Abstieg in die Höhle länger <strong>als</strong><br />

zwei Stadien gewesen sein soll. Apollonius von Rhodos beschrieb<br />

den Wald, der um die Höhle herum wuchs <strong>als</strong> so dunkel, dass kein<br />

Sonnenstrahl jem<strong>als</strong> den Eingang derselben traf. Q. Smyrnus<br />

schrieb die Höhle den Nymphen zu <strong>und</strong> erwähnte mehrere Nischen<br />

mit großen Steinkrateren <strong>und</strong> anderen Weihgeschenken. Es<br />

soll zwei Wege, einen Ein- <strong>und</strong> einen Ausgang gegeben haben, einer<br />

sei nach Norden, der andere nach Süden orientiert. Auf dem<br />

einen betraten Besucher die Höhle, der andere führte in den Hades.<br />

27<br />

W. Hoepfner, der Herakleia in der Mitte des 20. Jhs. untersuchte,<br />

lokalisierte das Totenorakel in der mittleren von drei –<br />

oberhalb des <strong>als</strong> Acheron bezeichneten Flusses – gelegenen Höhlen,<br />

etwa 700 m nördlich der antiken Stadt. 28 Jede der ca. 50 bis 150<br />

m voneinander entfernten Höhlen weist Spuren antiker Bearbeitung<br />

auf. 29 Die so genannte Höhle II liegt 80 m weiter nordöstlich<br />

<strong>und</strong> etwas höher <strong>als</strong> Höhle I (Abb. 7).<br />

Ein ein Meter breiter Weg führte in die Höhle hinab, der in<br />

römischer Zeit durch Bruchsteinmauern an den Seiten <strong>und</strong> einem<br />

Felsblock <strong>als</strong> Bedachung künstlich verengt <strong>und</strong> so zu einem<br />

Kriechgang umgewandelt wurde. Am unteren Ende erkennt man<br />

eine in den Fels geschlagene Wendeltreppe. Steigt man diese herunter<br />

öffnet sich unvermittelt eine 20 x 45 m große <strong>und</strong> etwa sieben Meter<br />

hohe Höhle, deren Wände vor allem im hinteren Bereich bearbeitet<br />

sind. Zwei Felspfeiler scheinen die Decke zu stützen.<br />

In der Mitte befindet sich ein mehrere Meter tiefer See, der<br />

aufgr<strong>und</strong> der auf ihm liegenden Staubschicht vermutlich nicht mit<br />

einem unterirdischen Flusslauf verb<strong>und</strong>en ist. 30 Direkt vor dem<br />

Fuß der Treppe befindet sich neben einem Pfeiler ein kleiner Vorsprung,<br />

der in den See führt. In der Felswand rechts vom Eingang<br />

ist eine kleine, spitzbogige Nische in den Fels geschlagen. In der<br />

dem Eingang gegenüberliegenden Felswand befindet sich eine weitere<br />

große, rechteckige <strong>und</strong> begehbare Nische (5 x 6 m) mit wei-<br />

27 Xen. an. 6, 2, 2; Apoll. Rhod. Argonautica 2, 727–748; Q.<br />

Smyrn. Posthomerica 6, 469–491.<br />

28 siehe zu Herakleia: HOEPFNER (1972) 40–46.<br />

29 siehe zu Höhle I <strong>und</strong> III: HOEPFNER (1972) 45–46.<br />

30 HOEPFNER (1972) 44.


174| WIEBKE FRIESE<br />

ßem Verputz. Nach Westen neigt sich die Decke der Höhle soweit,<br />

dass man nicht mehr stehen kann. Im Nordwesten jedoch führt ein<br />

langer, enger Felsgang in einen niedrigen, kleinen Raum, der vermutlich<br />

nicht bearbeitet wurde.<br />

Abb. 7: Herakleia Pontica. Höhle II.<br />

Das Alter der eigentlichen Höhle bzw. deren früheste Nutzung <strong>als</strong><br />

Kultstätte lässt sich nicht datieren. Das Bruchsteinmauerwerk der<br />

Verengung des Einganges, die Verputzung des Inneren sowie mehrere<br />

Architekturbruchstücke in der näheren Umgebung der Höhle<br />

datiert W. Hoepfner jedoch in römische Zeit. Damit scheint auch<br />

im Falle des Totenorakels von Herakleia ein bereits bestehendes<br />

aktives Orakelheiligtum den <strong>kult</strong>ischen Ansprüchen – spätestens in<br />

römischer Zeit – architektonisch angepasst worden zu sein.<br />

2.4. Das Glykonorakel von Abonuteichos<br />

Welche Ansprüche in römischer Zeit an ein Orakelheiligtum gestellt<br />

wurden, lässt sich am besten an dem einzigen uns überlieferten<br />

neu gegründeten Orakel dieser Zeit erkennen: Dem von Lukian<br />

ausführlich, wenn auch in satirischer Weise beschriebenen Glykon-<br />

Heiligtum im pontischen Abonuteichos, dem heutigen Inebolu an<br />

der Südküste des Schwarzen Meeres. Durch die Vermischung ver-


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 175<br />

schiedener bereits bekannter Kulte war hier im 2. Jh. n. Chr. ein<br />

neuer Kult entstanden, der neben einer Mysterien- <strong>und</strong> Heilkomponente<br />

auch ein Orakel beinhaltete. 31 Lukian zufolge wurde es<br />

durch den Wanderprediger Alexandros von Abonuteichos <strong>und</strong> dessen<br />

Partner Kokkonas gegründet. Schon kurz nach der spektakulär<br />

inszenierten “Auffindung” einer uralten Bronzetafel im bereits<br />

etablierten Orakelheiligtum des am Bosporus gelegenen Apollon<br />

von Kalchedon, auf der die Gründung des Kultes durch den Gott<br />

Apollon vorhergesagt wurde <strong>und</strong> angefeuert durch f<strong>als</strong>che sybillinische<br />

Sprüche begann man mit dem Bau eines Tempels für den<br />

neuen Gott im direkten Zentrum der pontischen Stadt Abonuteichos.<br />

32 Diesem angeschlossen war ein kleiner, halbdunkler<br />

Kult<strong>raum</strong>, in dem Alexandros mit einer großen zahmen Schlange<br />

saß, der er einen künstlichen, menschenähnlichen Kopf aus Leinen<br />

<strong>und</strong> Pferdehaar aufgesetzt hatte. Diese Inkarnation des “neuen Asklepios”,<br />

wie der Gott Glykon auch genannt wurde, sprach zu den<br />

Ratsuchenden, die sich, wie Lukian schreibt, durch eine Tür hinein<br />

<strong>und</strong> eine andere wieder hinaus drängten. Die Enge in dem Raum<br />

war somit vermutlich beabsichtigt. Da alles „drängte <strong>und</strong> drückte”,<br />

hatte keiner genügend Zeit, den Betrug zu entdecken. Fragen wurden<br />

zudem schriftlich <strong>und</strong> versiegelt eingereicht. Eine Antwort erhielt<br />

man entweder ebenfalls in Briefform oder aber – gegen Aufpreis<br />

– von der Schlange selbst. Alexandros war ein geübter Bauchredner.<br />

Von dem Heiligtum selbst ist heute nichts mehr erhalten.<br />

Römische Architekturreste am westlichen Ufer der Flussmündung<br />

könnten einen Anhaltspunkt bieten, lassen sich jedoch nicht genauer<br />

einordnen. Inschriftliche Zeugnisse des Kultes reichen jedoch<br />

von Antiochia in Syrien bis nach Alba Iulia in Rumänien. Zudem<br />

beweisen mehrere Münzen <strong>und</strong> Statuen mit dem Abbild der menschenköpfigen<br />

Schlange aus der Zeit <strong>zwischen</strong> Antoninus Pius<br />

(138–161 n. Chr.) <strong>und</strong> Trebonianus Gallus (251–253 n. Chr.) den<br />

31 Lukian. Alex. passim. siehe hierzu allgemein: MIRON (1996)<br />

153–188; MAREK (2003). Zur Kultkombination v. a. CHANIOTIS<br />

(2002) 67–85 <strong>und</strong> CHANIOTIS (2004) 1–17.<br />

32 Lukian. Alex. 10–17. Ähnliche “Himmelsbriefe” kommen<br />

auch in den Kultlegenden anderer Kultneueinführungen dieser<br />

Zeit vor, z. B. bei Sarapis: CHANIOTIS (2004) 8.


176| WIEBKE FRIESE<br />

großen Erfolg des Kultes (Abb. 8). 33 Die von Lukian im 2. Jh. n.<br />

Chr. verfasste Schmähschrift inklusive einer expliziten Aufdeckung<br />

sämtlicher Betrügereien des selbsternannten Propheten tat diesem<br />

keinen Abbruch.<br />

Wie bereits erwähnt, lassen sich die einzelnen Komponenten<br />

des Abonuteichos Kultes aus mehreren in dieser Zeit populären<br />

Religionen herleiten. So entstammte das Erscheinungsbild des Propheten<br />

vermutlich dem Kulthintergr<strong>und</strong> des Kybele<strong>kult</strong>es, während<br />

die Schlangengestalt des Gottes Glykon an die Kultbegleiter seines<br />

Vaters Asklepios erinnerte. Die Mysterienfeiern, die neben Prozessionen,<br />

rituellen Tänzen <strong>und</strong> Gelagen <strong>als</strong> zentralen Akt ein dramatisiertes<br />

hieros gamos-Ritual mit Alexandros <strong>als</strong> Hauptakteur beinhalteten,<br />

reflektieren vor allem die zyklischen Fruchtbarkeitsfeiern östlicher<br />

Mysterien<strong>kult</strong>e. Das Orakel selbst bot schließlich fast alle zu<br />

dieser Zeit erfolgreichen Methoden an: Inkubation, Brieforakel <strong>und</strong><br />

das so genannte autophone Sprechorakel des Gottes selbst. Wie der<br />

Priester <strong>und</strong> die einzelnen Rituale scheint dabei auch die Architektur<br />

des Kultes bekannte Elemente zu imitieren <strong>und</strong> diese gleichzeitig<br />

in leichter Modifikation dem speziellen Kultbedürfnis anzupassen.<br />

Für das architektonische Erscheinungsbild des Orakels scheinen<br />

hier vor allem die zu dieser Zeit wichtigen kleinasiatischen<br />

Apollonorakel <strong>als</strong> Vorbild gedient zu haben. So lässt Alexandros<br />

zunächst einen Tempel <strong>und</strong> gleichzeitig eine separate Orakelkammer<br />

errichten, die exakt auf seine Ritualansprüche Rücksicht<br />

nimmt. Sie ist so klein, dass nur wenige Leute gleichzeitig hinein<br />

passen, dunkel, um den künstlichen Schlangenkopf zu vertuschen<br />

<strong>und</strong> besitzt zwei Eingänge, um die Klienten möglichst schnell an<br />

dem Phantasietier vorbeizuschleusen. Wie die Kult-nuclei von Klaros,<br />

Herakleia <strong>und</strong> Lebadeia war es demnach ein höhlenartiger<br />

Raum, verb<strong>und</strong>en mit einem künstlich verstärkten mystischen Ritual,<br />

der das Glykonorakel für seine Klienten interessant machte.<br />

33 Zu einer ausführlichen Diskussion der numismatischen<br />

Quellen siehe: MIRON (1996) 153–188.


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 177<br />

Abb. 8: Statue des Glykon. Spätes 2. Jh. n. Chr. (Agora Museum,<br />

Athen).<br />

3. RAUM FÜR RITUALE. FUNKTIONSSPEZIFISCHE GE-<br />

STALTUNG DER KULTBAUTEN ANTIKER ORAKELHEILIG-<br />

TÜMER<br />

So dominant die zum Teil prunkvollen Fest<strong>architektur</strong>en <strong>und</strong><br />

Tempel einiger Orakelstätten dem antiken wie modernen Betrachter<br />

erscheinen mögen – für den zentralen Kultakt des Orakels waren<br />

sie nebensächlich. Denn bis auf wenige Ausnahmen war der<br />

Orakelvorgang <strong>als</strong> individuelle Begegnung mit dem Göttlichen ein<br />

rein privater Vorgang, eine öffentliche Zurschaustellung desselben


178| WIEBKE FRIESE<br />

daher nicht erwünscht. Diese besondere Ritualintimität erforderte<br />

auch eine besondere Umgebung, die zwar abhängig von der Orakelmethode<br />

variieren konnte, jedoch immer dieselben Merkmale<br />

aufwies: Sie isolierte den Klienten räumlich vom übrigen Heiligtum,<br />

ermöglichte damit den mehr oder weniger ungestörten Kontakt mit<br />

dem Gott <strong>und</strong> unterschied sich in der Regel deutlich von der, dem<br />

Klienten vertrauten Alltagsumgebung. Die hier aufgeführten Kultstätten<br />

weisen in diesem Zusammenhang folgende rituelle wie architektonische<br />

Gemeinsamkeiten auf:<br />

- Das Alter scheint für die Glaubwürdigkeit eines Orakels ein<br />

wichtiges Indiz gewesen zu sein. Klaros, Herakleia <strong>und</strong> Lebadeia<br />

waren in römischer Zeit bereits seit Jahrh<strong>und</strong>erten etabliert.<br />

Bei der Neugründung des Glykon<strong>kult</strong>es wurde besonderer<br />

Wert auf die vor langer Zeit gesprochene Vorhersage des<br />

Apollon von Kalchedon gelegt.<br />

- Das zentrale Orakelritual hatte mit einem direkten bzw. mediumgesteuerten<br />

Kontakt zum Gott zu tun. Somit kommunizierte<br />

der Klient auf unmittelbarem Wege mit dem Gott, was dem<br />

Kult einen gewissen privilegierten <strong>und</strong> spirituell höheren Charakter<br />

gab. Damit gleichen sie den ebenfalls in römischer Zeit<br />

so beliebten Mysterien<strong>kult</strong>en, was sich auch im rituellen Ablauf<br />

widerspiegelt. In Lebadeia <strong>und</strong> vermutlich auch in Herakleia<br />

<strong>und</strong> in Klaros wurden die Klienten durch Priester eine mehr<br />

oder weniger lange Zeit auf die Orakelbefragung vorbereitet.<br />

In Abonuteichos wurden Mysterienfeiern sogar bewusst <strong>als</strong> eine<br />

Art höhere Stufe in den Kult integriert.<br />

- Orakelritual <strong>und</strong> -ort hatten eine gewisse gefährliche (chthonische)<br />

Konnotierung. In Herakleia <strong>und</strong> Lebadeia traten die<br />

Orakelklienten in Kontakt mit einem Toten. In Klaros stiegen<br />

sie in ein nicht einsehbares Kellergewölbe zu einem durch das<br />

Trinken des mantischen Wasser in Trance versetzten Priester<br />

hinab. In Abonuteichos betraten sie einen dunklen Raum mit<br />

einem drachenähnlichen Wesen.<br />

- Das zentrale Ritual fand schließlich in einem kompliziert gestalteten<br />

(natürlichen oder artifiziellen) Umfeld statt, das fast<br />

immer einen höhlen- bzw. labyrinthähnlichen Charakter hatte.<br />

Die in römischer Zeit vorgenommenen Um- bzw. Einbauten<br />

haben zudem alle das Ziel, den Klienten so stark wie möglich<br />

abzuschirmen <strong>und</strong> sein Ritualempfinden zu verstärken. In Lebadeia,<br />

Klaros <strong>und</strong> Herakleia wurden sowohl die Eingänge <strong>als</strong>


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 179<br />

auch das Innere labyrinthartig verengt <strong>und</strong> verlängert. In Abonuteichos<br />

wurde die kleine Kammer bewusst im Dunkeln gehalten.<br />

Die auf den Betrachter einwirkende natürliche oder naturimitierende<br />

Umgebung potenzierte dabei sowohl dessen<br />

physisches wie psychisches Erlebnis.<br />

Betrachtet man vor diesem Hintergr<strong>und</strong> die Entwicklung der oben<br />

beispielhaft aufgeführten Orakelbauten chronologisch, ergibt sich<br />

für die eingangs gestellte Frage nach dem “Erfolgsgeheimnis” römischer<br />

Orakelstätten demnach folgende Antwortmöglichkeit: In<br />

der Regel wurde ein Orakel, stattfindend an einem natürlichen<br />

Kultort wie einer Höhle, einer Quelle oder einem Hain, beginnend<br />

etwa in hellenistischer oder römischer Zeit, entweder architektonisch<br />

eingefasst oder aber vollständig artifiziert. Entscheidend für<br />

das Aussehen eines Orakelbaus war dabei zum einen, ob der Klient<br />

diesen betrat <strong>und</strong> an dem Orakelvorgang aktiv oder passiv Teil<br />

nahm oder ob er auf seine Antwort vor dem Orakelbau warten<br />

musste. So war etwa das Innere des Plutoniumsorakels von Hierapolis<br />

vollkommen unspektakulär <strong>und</strong> ohne effekthaschende Architekturelemente,<br />

da er von den draußen wartenden Klienten<br />

vermutlich nicht betreten werden durfte. Dagegen bildeten der davor<br />

liegende mit Marmor gepflasterte Hof, mit dem prunkvollen<br />

darüber aufragenden Apollon-Tempel ebenso wie der “Wartesaal”<br />

über dem Plutoniumseingang den eindrucksvollen Rahmen für die<br />

Präsentation der giftigen Wirkung der plutonischen Dämpfe <strong>und</strong><br />

war für das Prestige des Kultes demnach weitaus wichtiger <strong>als</strong> der<br />

eigentliche Orakelort. 34 Im baulichen wie rituellen Gegensatz dazu<br />

steht die Ausgestaltung der im Vorangegangenen aufgeführten<br />

Orakelstätten, die alle vom Klienten selbst <strong>und</strong> teilweise in direktem<br />

Kontakt zum Gott befragt wurden, denn in diesem Falle galt<br />

es den Klienten von der Glaubwürdigkeit des Orakels zu überzeugen.<br />

So erhöhten die Verengung des dromos vor der Höhle von<br />

Herakleia oder der Schacht <strong>zwischen</strong> der ersten <strong>und</strong> der zweiten<br />

Höhle von Lebadeia den klaustrophobischen Charakter derselben.<br />

Das klarische Labyrinth verwirrte die Orientierung des Besuchers.<br />

Die Enge <strong>und</strong> Dunkelheit in Abonuteichos verhinderten eine genaue<br />

Sicht auf die “Götterpuppe”.<br />

34 Zum Plutonium von Hierapolis siehe etwa: CAROTTI<br />

(1963/1964) 411–433.


180| WIEBKE FRIESE<br />

4. RITUALSOMATIK UND ARCHITEKTONISCHE UM-<br />

SETZUNG<br />

Kult ist ein multidimensionales Erlebnis, welches nicht allein <strong>als</strong><br />

spirituelle, sondern auch <strong>als</strong> physische bzw. somatische Erfahrung<br />

wahrgenommen werden kann – oder wie die englische Prähistorikerin<br />

R. Whitehouse es formuliert: „Biology is always culturally<br />

mediated, so that cultural <strong>und</strong>erstanding of the body and it’s functions,<br />

in relation to society and the cosmos, profo<strong>und</strong>ly affects the<br />

way we physically experience the world”. 35<br />

Wenn wir auch keine schriftlichen Überlieferungen von dem<br />

Ritualablauf des herakleischen Totenorakels besitzen, so ist es<br />

durchaus nachvollziehbar, dass ein in die Höhle hinabsteigender<br />

Orakelklient eine stark bewusstseinsverändernde Erfahrung durchlebte.<br />

Durch das Überschreiten der Höhlenschwelle verwandelt<br />

sich eine Welt der Helligkeit <strong>und</strong> freien Beweglichkeit in eine dunkle,<br />

schwer einzuschätzende, einengende <strong>und</strong> damit angsterregende<br />

Erfahrung. Selbst Fackellicht würde in einer solchen Umgebung<br />

nur einen Teil der Höhle erleuchten <strong>und</strong> die Effekte, die das flackernde<br />

Licht auf die Wände wirft, den unheimlichen Eindruck<br />

noch steigern. Auch die anderen, durch das eingeschränkte Sehverhalten<br />

verstärkten Sinneseindrücke – das Gehör, der Geruch <strong>und</strong><br />

der Tastsinn – vermitteln dem Eintretenden wenig Vertrautes. In<br />

einigen Höhlen wird ein Geräusch durch das Echo verstärkt, in<br />

anderen vollständig verschluckt. Die Feuchtigkeit in vielen Höhlen<br />

verändert nicht nur den Geruch, sondern auch die Berührung der<br />

Umgebung. Zusammengenommen stellt sich noch beim heutigen<br />

Menschen häufig ein Gefühl der zunehmenden Desorientierung<br />

ein. 36 Die hierbei erfahrenen natürlichen bzw. naturähnlichen<br />

Wahrnehmungen standen <strong>und</strong> stehen in jedem Fall im klaren Gegensatz<br />

zu den Sinneseindrücken der “normalen” Umgebung des<br />

“zivilisierten” Klienten, der sich spätestens seit dem 8. – 7. Jh. v.<br />

Chr. immer weiter an das Leben innerhalb eines siedlungsähnlichen<br />

35 WHITEHOUSE (2001) 161.<br />

36 siehe hierzu auch die Forschungen von R. Whitehouse in<br />

prähistorisch besiedelten Höhlen Süditaliens: WHITEHOUSE (2001)<br />

161–162. Zu <strong>kult</strong>ischen Höhlen allgemein auch: USTINOVA (2009).<br />

Zum Ritualerlebnis in den Höhlen griechischer Totenorakel siehe:<br />

FRIESE (2010a).


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 181<br />

Verbandes gewöhnt hatte. In Herakleia führt der klaustrophobisch<br />

enge dromos urplötzlich in eine weite Höhle mit einem stehenden<br />

Gewässer, das dem Klienten bei spärlicher Beleuchtung durchaus<br />

<strong>als</strong> Ufer des Styx hätte erklärt werden können. Ein weiterer enger<br />

Tunnel führte an einer Reihe von Kultnischen vorbei in eine weitere<br />

Kammer – alles in völliger Dunkelheit oder nur von wenigen<br />

Fackeln erleuchtet. Auch für die übrigen hier vorgestellten Orakelstätten<br />

kann eine solche Stimmung angenommen werden. So gilt<br />

ähnliches wahrscheinlich auch für das Orakel von Klaros, wo sich<br />

die mantische Quelle in einem Raum unterhalb der Tempel-cella<br />

befand. Der in römischer Zeit erweiterte <strong>und</strong> vermutlich auf einen<br />

früheren Vorgängerbau zurückgehende Raum befand sich am Ende<br />

eines labyrinthartigen nicht beleuchteten Gangsystems, durch das<br />

die Klienten hindurch schreiten mussten <strong>und</strong> das dem Besucher die<br />

Enge <strong>und</strong> Dunkelheit einer natürlichen Höhle vorspielte. Besonders<br />

deutlich beweisen dies nicht zuletzt auch die Erfahrungsberichte<br />

derjenigen, die das Orakel des Trophonios von Lebadeia<br />

durchlaufen hatten. Der Klient wurde zunächst in einen Schacht<br />

hinab gelassen, von wo er durch ein enges Loch kriechen <strong>und</strong><br />

schließlich mehrere Tage in vollständiger Dunkelheit allein unter<br />

der Erde verbringen musste, um dort dem toten Heros zu begegnen.<br />

37 Was dahinter lag, galt <strong>als</strong> ungewiss <strong>und</strong> war für jeden Menschen<br />

unterschiedlich. Nicht nur, dass er durch die völlige Dunkelheit<br />

seiner Sicht <strong>und</strong> durch die hingestreckte Lage seiner Mobilität<br />

beraubt war. Indem er mit den Füßen voran die enge Passage zum<br />

eigentlichen Orakel<strong>raum</strong> durchqueren musste, war der Klient dem<br />

Kommenden auch physisch wie psychisch vollkommen ausgeliefert.<br />

Auf diese Weise bedurfte der zentrale Orakelakt, das Gespräch<br />

mit den Toten oder dem Orakelheros, vermutlich auch keiner, wie<br />

auch immer gearteten Simulation der Priester, sondern könnte<br />

durchaus, wie von D. Ogden vorgeschlagen, in Form von Inkubation<br />

in eben jenen innersten Kammern der Heiligtümer statt gef<strong>und</strong>en<br />

haben. 38 Der Klient war durch die natürliche Umgebung <strong>und</strong><br />

37 Paus. 9, 32, 2; Plut. mor. 589F–592E.<br />

38 siehe zur Diskussion um die Methode der Inkubation im<br />

Toten- <strong>und</strong> Heroenorakel: OGDEN (2001) bes. 75–92; FRIESE<br />

(2010) Kap. II.


182| WIEBKE FRIESE<br />

durch den Ritus bereits soweit manipuliert worden, dass es keiner<br />

weiteren technischen Mittel bedurfte.<br />

Fast ebenso wichtig wie die somatische Wahrnehmung des<br />

zentralen Kultritu<strong>als</strong> <strong>und</strong> seiner direkten Umgebung war zudem die<br />

Erwartungshaltung des Klienten. In diesem Zusammenhang spielte<br />

daher auch das Alter des Orakels eine bedeutende Rolle. Denn das<br />

Bild, mit dem der Klient dem zentralen Orakelritual entgegensah,<br />

wurde nicht nur durch die Instruierung der Priesterschaft während<br />

des teilweise mehrwöchigen Aufenthaltes vor <strong>und</strong> nach der Begegnung<br />

mit dem Gott ausgebildet 39, sondern auch durch die über<br />

Generationen überlieferten Erzählungen über den Erfolg der Weissagungsstätte.<br />

Auf diesem <strong>kult</strong>urell vorgeformten Bilderschatz<br />

gründete nicht nur die Idee vom Aussehen der Toten bzw. des<br />

göttlichen Wesens, sondern auch von dem Orakelerlebnis selbst.<br />

Erst das Zusammenspiel <strong>zwischen</strong> den Angst erregenden <strong>und</strong><br />

zugleich <strong>und</strong>eutlichen Erzählungen über die Begegnung mit dem<br />

Gott, dem tripartiten Ritu<strong>als</strong>chema <strong>und</strong> dem diesen Erwartungen<br />

Folge leistenden Ritual<strong>raum</strong>, führte zu der enormen psychischen<br />

39 In der klassischen Kulturanthropologie werden diese Erfahrungen,<br />

ebenso wie die antiken Mysterien<strong>kult</strong>e, mit der Bezeichnung<br />

rite de passage (Übergangsriten) in Verbindung gebracht. Anfang<br />

des 20. Jhs. durch A. van Gennep formuliert, beschreibt der<br />

Begriff das triadische Schema bestimmter Übergangsrituale wie sie<br />

anlässlich eines sozialen Statuswechsels wie etwa Geburt, Erwachsenwerden,<br />

Heirat, Niederkunft <strong>und</strong> Bestattung gefeiert werden.<br />

Da diese Riten häufig mit einem Raumwechsel einhergehen, werden<br />

sie auch “Schwellenriten” genannt. Ziel sei es, das Individuum<br />

aus einer genau definierten Situation in eine andere ebenso genau<br />

definierte Situation zu überführen. Die Dreiteilung dieser Zeremonien<br />

besteht zunächst in einer symbolischen wie räumlichen<br />

Trennung des so genannten Initianten von der Gemeinschaft<br />

(Trennungsriten), einer auch <strong>als</strong> liminal bezeichneten Phase der<br />

Abgeschiedenheit (Umwandlungsriten) <strong>und</strong> einer abschließenden<br />

Phase, die das Individuum wieder in die Gemeinschaft eingliedert<br />

(Angliederungsriten). Gerade die zweite Umwandlungsphase wird<br />

dabei <strong>als</strong> äußert ambivalent <strong>und</strong> gefahrvoll beschrieben. In einer<br />

Weiterentwicklung der van Genepp`schen Thesen bezeichnete V.<br />

Turner in der Mitte des 20. Jhs. diesen Zustand <strong>als</strong> Anti-Struktur,<br />

da die Initianten in dieser Phase jeglicher individueller <strong>und</strong> sozialer<br />

Merkmale beraubt sind. GENNEP (2005) 15; TURNER (2001) 93–<br />

111.


ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 183<br />

Belastungen, denen der Klienten ausgesetzt war. Die Kontrolle<br />

eben dieses psychischen, wie physischen Erlebens schließlich erlaubte<br />

es dem Orakelpersonal den ursprünglich sehr subjektiven<br />

Orakelvorgang kontrollier- <strong>und</strong> damit auch reproduzierbar zu machen.<br />

5. FAZIT<br />

Der Erfolg einer antiken Orakelstätte war immer nur so groß wie<br />

der Ruf, der ihr vorauseilte. Eine mystische Gründungslegende <strong>und</strong><br />

Umgebung, eine lange Liste erfolgreicher W<strong>und</strong>er <strong>und</strong> Orakelsprüche<br />

<strong>und</strong> vor allem ein den Klienten physisch wie psychisch einbindendes<br />

Ritual erhöhten nicht nur den Erlebniswert, sondern auch<br />

die Glaubwürdigkeit des Orakelaktes beträchtlich – darin unterschieden<br />

sich die antiken Kultstätten von Lebadeia oder Abonuteichos<br />

nur wenig von den heutigen Pilgerorten Lourdes oder<br />

Fatima. Wollte ein Heiligtum demnach bestehen, musste es sich<br />

seiner Klientel anpassen. Da sich dieses jedoch an lokalen, wie<br />

temporären Vorlieben orientierte, war auch der Kultort selbst einem<br />

ständigen Wandel unterlegen. Dies betraf nicht nur das zentrale<br />

Kultritual, sondern auch das architektonische Erscheinungsbild<br />

des Heiligtums.<br />

Offizielle Anfragen, die in der Blütezeit griechischer Orakelheiligtümer<br />

wie Delphi oder Dodona wenn nicht die Haupteinnahme,<br />

so doch die wichtigste Prestigequelle bildeten, waren spätestens<br />

seit der römischen Kaiserzeit immer seltener geworden. Als<br />

Zielgruppe blieb die Privatperson, doch hatte sich deren Kultinteresse,<br />

nicht zuletzt unter Einfluss der seit hellenistischer Zeit nach<br />

Westen strömenden orientalischen <strong>und</strong> ägyptischen Kulte stark<br />

verändert. Gerade der große Erfolg dieser Heil- oder Mysterien<strong>kult</strong>e<br />

scheint dabei auf ein neues Interesse an Spiritualität, Mystik <strong>und</strong><br />

persönlichem Erlebnis zurückzuführen zu sein. Dieser Interessenswandel<br />

lässt sich sowohl in der antiken Literatur, wie auch im<br />

Ritualablauf <strong>und</strong> schließlich in der dazugehörigen Heiligtums<strong>architektur</strong><br />

der Orakel ablesen. Während sich einige Kulte wie etwa der<br />

des Amphiaraos von Oropos auf ihren medizinischen Aspekt spezialisierten,<br />

fokussierten sich andere, wie auch Lebadeia, Klaros<br />

<strong>und</strong> Abonuteichos auf den mystischen Charakter ihres Orakelritu<strong>als</strong>.<br />

Häufig boten sie dabei nicht nur Orakel, sondern gleich ein<br />

ganzes Konglomerat verschiedener Ritualkomponenten wie Myste-


184| WIEBKE FRIESE<br />

rienfeiern oder Heilungen an, so dass diese neuen Heiligtümer eine<br />

Art “ganzheitlich-spirituelle” Behandlung anboten.<br />

A. Chaniotis zufolge war es gerade die Kombination aus vertrauten<br />

<strong>und</strong> neuen, spektakulären Elementen, die einen solchen<br />

Kult aus dem in dieser Zeit besonders ausgeprägten Konkurrenzfeld<br />

hervorhob. 40 Prinzipiell wusste der Klient <strong>als</strong>o was ihn erwartete.<br />

Dies galt sowohl für das Ritual selbst (die Epiphanie des Gottes)<br />

wie auch für den architektonischen <strong>und</strong> ikonographischen Rahmen<br />

dieser Handlung (eine mystische, vorzugsweise höhlenartige Umgebung).<br />

Um dessen Erwartungshaltung zu begegnen, reichte es nicht<br />

mehr aus, dem Klienten eine mündliche oder schriftliche Antwort<br />

zu übergeben, die etwa aus dem von jedem zu beobachtenden Rauschen<br />

der heiligen Eiche von Dodona oder den Flammen des Altarfeuers<br />

in Theben gelesen wurde. Der Klient erwartete vielmehr,<br />

etwas spektakulär Neuem zu begegnen, überrascht bzw. ergriffen<br />

zu werden. Eben dies erlebte er in den Unterweltsorakeln von Herakleia<br />

<strong>und</strong> Lebadeia, im Labyrinthkeller von Klaros oder in Gegenwart<br />

der sprechenden Schlange Glykon. Da das persönliche<br />

Erlebnis des Klienten dabei von entscheidender Bedeutung war<br />

<strong>und</strong> der Orakelspruch vor allem bei den autosuggestiven Orakeln<br />

wie Abonuteichos oder Lebadeia weder durch ein Medium, noch<br />

durch ein Hilfsmittel, sondern durch den Gott selbst übertragen<br />

wurde, blieb neben den vorbereitenden Ritualen <strong>und</strong> Gesprächen<br />

nur die Architektur, um das spirituelle Erlebnis des Klienten <strong>und</strong><br />

damit den Erfolg des Orakels zu gewährleisten. Dies geschah vor<br />

allem durch die architektonische Betonung von Dunkelheit, Enge<br />

<strong>und</strong> wiederholte Richtungsänderung im Raum.<br />

Wie die hier gezeigten Beispiele darlegen konnten, dienten<br />

demnach die meisten Neu- <strong>und</strong> Umbauten römischer Zeit dem<br />

einem Ziel: Das physische wie psychische Körperempfinden der<br />

Orakelklienten zu beeinflussen, zu verwirren <strong>und</strong> sie damit für das<br />

Orakelerlebnis insoweit zu sensibilisieren, dass sie schließlich das<br />

sahen, was sie sehen wollten – einen Gott, der ihnen ihr Schicksal<br />

verriet.<br />

40 CHANIOTIS (2004) 6. 14–15.


DR. WIEBKE FRIESE<br />

Robert Koch Str. 2<br />

20249 Hamburg<br />

wipl@gmx.de<br />

ZWISCHEN KULT UND KOMMERZ | 185


186| WIEBKE FRIESE<br />

BIBLIOGRAPHIE<br />

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />

Abb. 1 Foto: W. Friese.<br />

Abb. 2 Foto: W. Friese.<br />

Abb. 3 nach WASZINK (1968) 29, Fig. 6.<br />

Abb. 4 nach GENIÈRE (1998) Pl. 1.<br />

Abb. 5 nach GENIÈRE (1992) Fig. 9.<br />

Abb. 6 Foto: L. Ziemer.<br />

Abb. 7 Rekonstruktion nach HOEPFNER (1972) Plan 5.<br />

Abb. 8 http://www.livius.org/a/1/romanempire/glycon_agora_<br />

mus1.jpg (26.08.2010).

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