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MAGISCHE UND REALE RÄUME IM<br />
TEMPEL VON EDFU<br />
JAN-PETER GRAEFF<br />
ABSTRACT<br />
Der Tempel des Horus Behedeti <strong>im</strong> oberägyptischen Edfu<br />
ist aufgr<strong>und</strong> seines hervorragenden Erhaltungszustandes<br />
sowie der reichhaltigen Beschriftung <strong>und</strong> Dekoration ein geeignetes<br />
Objekt für die Untersuchung <strong>von</strong> Raumd<strong>im</strong>ensionen,<br />
-strukturen <strong>und</strong> -funktionen in ägyptischen Sakralbauten.<br />
Der folgende Artikel wird anhand dieses Tempels<br />
einmal einige jener inneren Zusammenhänge darstellen, die<br />
zeigen, daß die D<strong>im</strong>ensionen eines Raumes nicht allein<br />
durch physikalische Mauern definiert werden können, sondern<br />
ebenso durch <strong>magische</strong>. Ein besonderer Schwerpunkt<br />
wird hierbei auf die Abwehr <strong>magische</strong>r <strong>und</strong> <strong>reale</strong>r schädlicher<br />
Einflüsse gelegt, welche sich <strong>im</strong> Tempel durch <strong>reale</strong><br />
Bauelemente einerseits <strong>und</strong> durch <strong>magische</strong> Texte <strong>und</strong> Darstellungen<br />
andererseits manifestieren. Desweiteren wird ein<br />
Blick auf die Dekorationssystematik geworfen, welche<br />
stark <strong>von</strong> Magie <strong>und</strong> Mystizismus best<strong>im</strong>mt wird, die ihrerseits<br />
durch das jeweilige Bauelement definiert ist.<br />
Due to its excellent state of preservation, its elaborated inscriptions<br />
and decoration, the temple of Horus Behedeti in<br />
Edfu in Upper Egypt is a suitable object for the study of<br />
spatial d<strong>im</strong>ensions, structures and functions in ancient<br />
Egyptian sacral buildings. The following article will discuss<br />
and clarify some of the temple’s internal correlations concerning<br />
the d<strong>im</strong>ensions of a given space, that can be defined<br />
not only by physical walls, but also by pure magic. A special<br />
emphasis is put on the protection against real and mag-<br />
191
192| JAN-PETER GRAEFF<br />
ical negative forces, manifested in the temple both by real architectural<br />
<strong>com</strong>ponents and by magical texts and illustrations.<br />
Furthermore, a second focus is put on the decorating<br />
scheme, which provides a wide range of magic and mysticism,<br />
being defined in turn by its related architectural <strong>com</strong>ponent.<br />
Der Tempel des Horus Behedeti <strong>im</strong> oberägyptischen Edfu ist aufgr<strong>und</strong><br />
seines hervorragenden Erhaltungszustandes sowie der reichhaltigen<br />
Beschriftung <strong>und</strong> Dekoration ein geeignetes Objekt für die<br />
Untersuchung <strong>von</strong> Raumd<strong>im</strong>ensionen, -strukturen <strong>und</strong> -funktionen<br />
in ägyptischen Sakralbauten. Der folgende Artikel wird anhand dieses<br />
Tempels einmal einige jener Zusammenhänge darstellen, die<br />
zeigen, daß die D<strong>im</strong>ensionen eines Raumes nicht allein durch physikalische<br />
Mauern definiert werden können, sondern ebenso durch<br />
<strong>magische</strong>.<br />
Der Gesamtkomplex des Tempels <strong>von</strong> Edfu teilte sich ursprünglich<br />
in mehrere Komponenten, <strong>von</strong> denen jedoch einige<br />
heute nicht mehr existieren. Namentlich der größte Teil der äußeren<br />
Umfassungsmauer, der heilige See <strong>und</strong> weitere kleinere Sakralbauten<br />
bzw. Kapellen sind heute archäologisch nicht mehr nachweisbar.<br />
1 So beschränkt sich die folgende Untersuchung auf einige<br />
jener Bauelemente, die Teil des verbliebenen Haupt<strong>tempel</strong>s sind.<br />
Derselbe setzt sich zusammen aus dem Eingangstor (der Pylon K’),<br />
dem Großen Hof (H’), dem pronaos (C’) <strong>und</strong> dem darauf folgenden<br />
naos. Hof, pronaos <strong>und</strong> naos werden <strong>von</strong> einer 10 m hohen Mauer<br />
mit einer Länge <strong>von</strong> r<strong>und</strong> 120 m umschlossen (I’/J’). Vornehmlich<br />
diese Mauer soll in der vorliegenden Untersuchung Gegenstand der<br />
Betrachtung sein, definiert sie doch am prägnantesten die <strong>reale</strong>n<br />
D<strong>im</strong>ensionen des Tempelbaus <strong>und</strong> setzt deren Grenzen zur Außenwelt<br />
hin fest.<br />
1 Eine dieser Kapellen, welche auf dem Areal des Tempels gestanden<br />
haben dürfte, wird demnächst publiziert in: KURTH – WAITKUS (2010).<br />
Andere Elemente sind sicher unwiederbringlich verloren, so der überwiegende<br />
Teil der äußeren Umfassungsmauer (nur wenige Meter haben sich<br />
<strong>im</strong> Bereich hinter dem Mammisi erhalten) oder der heilige See mit den<br />
umliegenden Wirtschaftsgebäuden, welche sich unter der modernen Stadt<br />
befinden dürften.
Abb. 1: Gr<strong>und</strong>riß des Tempels <strong>von</strong> Edfu.<br />
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 193
194| JAN-PETER GRAEFF<br />
Auf der Außenseite (J’) dieser Mauer – <strong>im</strong> Folgenden als “Innere<br />
Umfassungsmauer” bezeichnet – befindet sich ein Text, der als<br />
Bauinschrift bezeichnet wird <strong>und</strong> der wertvolle Informationen zum<br />
Tempel zu liefern <strong>im</strong>stande ist. Er informiert uns nicht nur über die<br />
einzelnen Bauglieder bzw. Räume des Tempels, indem er dieselben<br />
auflistet. Auch die hier zu findenden Maße <strong>und</strong> Eigennamen der<br />
Räume liefern unersetzliche Informationen zum Kultablauf <strong>im</strong><br />
Tempel <strong>und</strong> den mythologischen Ausdeutungen der betreffenden<br />
Räume. 2<br />
Die Beschreibung der Bauelemente erfolgt nach ihrer Wichtigkeit<br />
bzw. Heiligkeit, beginnend mit dem Sanktuar <strong>und</strong> den umliegenden<br />
Kammern. Dann fährt der antike Autor mit all jenen<br />
Elementen fort, die um diesen Kernbereich herum angelegt wurden<br />
<strong>und</strong> bewegt sich dadurch vom Allerheiligsten zum Ausgang des<br />
Tempels.<br />
Sowohl die Textinhalte 3, als auch die Dekoration des Tempels<br />
machen deutlich, daß der Tempel als Mikrokosmos der Schöpfung<br />
verstanden wurde – als ein verkleinertes Modell Ägyptens. 4 Die <strong>im</strong><br />
Tempel vorzufindenden Beispiele für diesen Zusammenhang sind<br />
vielfältig. So sind alle Decken<strong>räume</strong> des Tempels als H<strong>im</strong>mel dargestellt.<br />
Entweder sind sie sternenübersät oder es fliegen Geier<br />
über sie (Abb. 3).<br />
Der Boden des Tempels ist gleichsam der Boden der Erde.<br />
Hier finden sich oftmals Pflanzenmotive (Abb. 4)5 <strong>und</strong> ebenso die<br />
Gaugötterprozessionen, welche die Erträge des Landes auflisten,<br />
wurden hierher verlegt. Da sich zwischen H<strong>im</strong>mel <strong>und</strong> Erde der<br />
2 CHASSINAT (1932) 11, 3–20, 5. Eine Bearbeitung des Textes findet<br />
sich in KURTH (1994) 73 <strong>und</strong> aktueller KURTH (2004) 14–30.<br />
3 Nicht nur der Bauinschrift, sondern auch jene in anderen Textbereichen;<br />
vornehmlich der Schöpfungsmythen.<br />
4 siehe hierzu generell KURTH (1994) 31. Als Beispiel dieses Zusammenhangs<br />
<strong>im</strong> Falle eines anderen Tempels vgl. GUNDLACH (1995) 47;<br />
ebenso KORMYSHEVA (1995) 115.<br />
5 Außerhalb Edfus siehe hierzu OSING (1997) 272. Darüber hinaus<br />
zeigen Farbreste <strong>im</strong> Bodenniveau an einigen Stellen noch die für die Darstellung<br />
des Erdbodens typische Bemalung mit braunen <strong>und</strong> schwarzen<br />
Streifen, wie man sie auch aus Gräbern kennt. Diese Farbgebung hebt<br />
sich deutlich vom weißen Gr<strong>und</strong>ierungsslip ab, mit welchem der Tempel<br />
großflächig bemalt war.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 195<br />
Luftraum befindet, ist die Ritualszene “Den H<strong>im</strong>mel stützen” vorzugsweise<br />
<strong>im</strong> zweiten Register angebracht. 6<br />
Abb. 2: Lehmziegelmauer in Elkab mit der typischen Wellenform.<br />
Wenngleich sich <strong>von</strong> der “Äußeren Lehmziegelumfassungsmauer”<br />
des Tempels kaum etwas erhalten hat, so dürfen wir doch durch<br />
Parallelen in anderen Tempeln bedingt auch in Edfu die für Ägypten<br />
so typische Mauertechnik in Wellenform ansetzen (Abb. 2). 7<br />
Diese “Äußere Umfassungsmauer” symbolisierte durch ihre<br />
Wellenform gleichsam den Urozean Nun, der die gesamte Schöpfung<br />
umspült. 8 Aus ihm erwuchs das erste feste Land, welches <strong>von</strong><br />
Schilf umgeben war <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage der Welt bildete; in der <strong>reale</strong>n<br />
Manifestation ist dies der Tempelbau.<br />
6 Zu diesem Themenkomplex siehe generell: KURTH (1975).<br />
7 Für die spärlichen Reste der Mauer (siehe Anm. 1) ist dies zweifelsfrei<br />
festzustellen.<br />
8 siehe hierzu ARNOLD (1994) 278–279 (s. v. Wellenmauer). Diese<br />
Mauertechnik ist gut belegt in Karnak, Deir el-Medine, Elkab etc.
196| JAN-PETER GRAEFF<br />
Abb. 3: Geier fliegen über den “H<strong>im</strong>mel” des Tempels (Beispiel<br />
aus Philae).<br />
So erklärt sich die Dekoration der Außenseite der “Inneren Umfassungsmauer”<br />
des Tempels auf Bodenniveau: Hier wurde <strong>im</strong> Relief<br />
der gesamte Tempel <strong>von</strong> Papyruspflanzen umgeben (Abb. 4). Diese<br />
Mauer symbolisiert die Uferzone zwischen Urozean (“Äußere Umfassungsmauer”)<br />
<strong>und</strong> festem Land, zur eigentlichen Welt (der<br />
Tempel). Sie scheidet das Chaos <strong>von</strong> der durch die Götter erschaffenen<br />
Welt.
Zu dieser Vorstellung heißt es:<br />
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 197<br />
„Ihr (der Mauer) Anblick gleicht dem Gebüsch rings um das<br />
Kind herum…” 9<br />
oder auch<br />
„… all das, was ihn (den Tempel) umgibt, ist <strong>von</strong> Papyrus umgeben,<br />
so wie die Meneh-Pflanze um ihn (Horus) ist in<br />
Chemmis”. 10<br />
Die bis hierhin dargestellten Zusammenhänge werden am besten<br />
<strong>im</strong> folgenden Text geschildert, der aus den Edfu-spezifischen<br />
Schöpfungsmythen stammt. Er fasst den Zusammenhang <strong>und</strong> die<br />
Gleichsetzung zwischen der “Inneren Umfassungsmauer” <strong>und</strong> der<br />
Uferzone zusammen, welche den Urozean vom ersten Land trennt<br />
<strong>und</strong> welche durch Schutzgötter geschützt werden müssen, sodaß<br />
dieselben sowohl den Tempel als damit auch die Schöpfung selbst<br />
schützen.<br />
9 CHASSINAT (1931) 16, 13–14. Hier wird zugleich die Vorstellung<br />
präzisiert, daß nach dem Auftauchen des Urhügels aus dem Urozean zunächst<br />
ein Lotus wuchs, aus dessen Blüte der Sonnengott als Kind geboren<br />
wurde. siehe darüber hinaus Anm. 10. Vgl. dazu generell SCHLÖGL<br />
(1977); desweiteren auch DRIOTON (1944) 117; DE GARIS DAVIES (1953)<br />
Taf. 4, Sanctuary (A), South wall V 13; sowie ERICHSEN – SCHOTT (1954)<br />
355. 10 CHASSINAT (1932) 177, 13–14. Die letzte Aussage spielt auf zwei<br />
Vorstellungen an, die miteinander verwandt sind: Einerseits wird hier beschrieben,<br />
daß Horus als Kind des Osiris <strong>im</strong> Papyrusdickicht in Chemmis<br />
vor den Augen des Seth verborgen <strong>und</strong> dadurch geschützt wurde. Andererseits<br />
ist hier ebenso der Augenblick der Weltschöpfung beschrieben, in<br />
welchem sich Horus Behedeti als Urgott auf dem <strong>von</strong> Schilf bestandenen<br />
Urhügel niederläßt <strong>und</strong> sowohl durch das Schilf als auch durch ihn umgebende<br />
Schutzgötter vor Apophis geschützt wird. Dieselbe Aussage findet<br />
sich auch an zahlreichen anderen Stellen. So z. B. bei der Beschreibung<br />
des Großen Hofes in der Bauinschrift (CHASSINAT (1932) 18, 8). Dort<br />
werden die Säulen des Hofes, die ja pflanzengestaltig sind, ebenfalls mit<br />
dem schützenden Nest des Falkengottes verglichen. Hier heißt es: „32<br />
Säulen sind ringsum aufgestellt <strong>und</strong> bilden seinen (des Hofes) Umgang<br />
wie bei jenem Nest des Falken. Der Vollendete-Palast-der-Nut ist dies in<br />
seinem Namen Stätte-an-der-Seftech-nidergeworfen-wird,-der-Feind-des-<br />
Harachte. Seine Wände sind dekoriert, wie es sich für ihn gehört, entsprechend<br />
der alten Schriften”.
198| JAN-PETER GRAEFF<br />
Abb. 4: Das Pflanzendickicht, welches den Tempel <strong>und</strong> die Welt<br />
umgibt.<br />
Vor allem der abschließende Satz nennt diese Gleichsetzung noch<br />
einmal explizit:<br />
„Die göttliche Mauer vom Großen-Sitz-des-Re (Edfu), der<br />
vollkommene Umgang <strong>von</strong> seinem Sitz-in-Oberägypten (Edfu),<br />
die große , welche das Gemach-des-<br />
Harachte (Edfu) beschützt, welche den Thronsitz-des-Behedeti<br />
(Edfu) beschirmt, welche das Heiligtum-des-göttlichen-Api<br />
(Edfu) wohlbehalten sein läßt <strong>und</strong> welche das Heiligtum-des-<br />
Ersten-der-Tempel (Edfu) behütet, es gibt nicht ihresgleichen<br />
unter den Mauern Ägyptens, indem sie den Sitz-des-<br />
Götterschützers (Edfu) beschützt. Seht ihre siegreiche Kraft<br />
unter den Mauern Ägyptens, (<strong>und</strong> folglich) nennt man ihr Heiligtum<br />
Groß-an-Sieg (Edfu). Apophis [wurde vertrieben], Semes-<br />
(Apophis) wurde getötet, <strong>und</strong> so ist die Stättedes-Re<br />
(Edfu) rein für diesen (Re). Ihr Anblick gleicht der Umfassungsmauer,<br />
die Re in Sema-behedet wohlbehalten sein läßt:<br />
Alle ihre Mauerseiten wurden erbaut (versehen) mit göttlichen<br />
Mächten, ohne daß es eine Stelle an ihr gibt, die ohne einen<br />
Gott ist, (<strong>und</strong> zwar) indem die Chatiu ihren Dienst auf allen<br />
vier Seiten verrichten <strong>und</strong> der Neb-des auf ihrer Nordseite<br />
gleichermaßen, nämlich der Neb-maba auf ihrer Südseite, das
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 199<br />
Oberhaupt der 14 (Schutzgötter) <strong>und</strong> indem die vier Phylen ihren<br />
(der Mauer) Schutz bereiten, sowie der Aa-senedj auf der<br />
Ostseite; also existiert Gleiches <strong>im</strong> Süden <strong>und</strong> <strong>im</strong> Norden <strong>und</strong><br />
der Ur-hemhem auf der Westseite gleichermaßen; die Kehiu<br />
des [Horus] sind diejenigen, welche den angreifen, der kommt,<br />
um ihn (Horus) anzugreifen, indem sie insgesamt 60 Götter<br />
sind. Die Sendboten, die großen Brüller des Herrn-<strong>von</strong>-Mesen,<br />
welcher der Kämpferische-Ba ist, (sie) sind gerüstet für ihre<br />
Aufgabe. Die Schützer vom Großen-Sitz (Edfu), die Wächter<br />
<strong>von</strong> Mesen (Edfu), die Herren der Wachsamkeit, deren Abscheu<br />
der Schlaf ist, vier <strong>von</strong> ihnen wandeln ihre Gestalt um zu<br />
fliegen, damit sie das Gewürm töten, welches Flügel angenommen<br />
hat. Ihre Aufgabe <strong>im</strong> Thronsitz (Edfu) <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel<br />
<strong>und</strong> auf der Erde entspricht ihrem Tun in der Zeit des Tatenen,<br />
11 indem sie Mesen (Edfu) als Schutz ihres Herrn umgeben.<br />
Des Horus Behedeti, des großen Gottes, des Herrn des<br />
H<strong>im</strong>mels Mauer ist beschriftet, so wie es ihm (Horus) entspricht<br />
<strong>und</strong> mit den heiligen Schriften des Re, des ersten der<br />
Urzeitlichen, (nämlich) mit dem Kommen des Re zu dem<br />
Haus,-das-seine-Stärke-gebiert (Edfu), wenn das Land vom<br />
Urozean umgeben ist. Seine Majestät gelangt zu dem <br />
<strong>und</strong> dem Großen, 12 die (beide) auf der Stelle sind, wenn<br />
das erste Schilf aus ihr (der Stelle) hervorkommt, (<strong>und</strong> zwar)<br />
<strong>im</strong> (Ort),-an-dem-die-beiden-Götter-das-Schilf-in-der-Flut-festigen,<br />
um die Flügel des Kreisenden (Horus) zu erblicken; als<br />
Horus kam, da trug ihn das Schilf. Es entstand Djeba (Edfu),<br />
<strong>und</strong> es entstand der Thronsitz-des-Horus (Edfu).” 13<br />
Die Funktion der “Inneren Umfassungsmauer” als religiöse <strong>und</strong><br />
mythische Schutzwehr ist es auch, welche die Dekoration der Mauer<br />
an ihrem oberen Ende erklärt. Es ist einer der Bereiche, über<br />
den potentielle Feinde der Schöpfung in den Bereich der Götter<br />
11 Das heißt: Ihr täglicher Tempelschutz ist derselbe, welcher die <strong>reale</strong><br />
Schöpfung bzw. Welt schützt.<br />
12 Bei dem “Großen” <strong>und</strong> dem “Fernen” handelt es sich um zwei<br />
Machtwesen, die <strong>im</strong> Kontext der Schöpfung derselben beiwohnen.<br />
13 Vgl. CHASSINAT (1931) 14, 2–15, 1. Die letzten Aussagen setzen<br />
Edfu explizit mit der Welt gleich. Horus Behedeti n<strong>im</strong>mt seinen frisch<br />
erbauten Tempel in Besitz <strong>und</strong> damit ebenso die Welt an sich.
200| JAN-PETER GRAEFF<br />
<strong>und</strong> Menschen eindringen könnten. 14 Daher wurde hier eine Dekoration<br />
geschaffen, welche Gefahren zu bannen <strong>im</strong>stande ist. Zahlreiche<br />
Dämonen bewachen die Mauerkrone. Sie sind in Falkengestalt<br />
dargestellt, variieren jedoch in der Darstellung des Kopfes.<br />
Neben dem zu erwartenden Falkenkopf erscheinen hier auch<br />
Schlangen- <strong>und</strong> seltener Stierköpfe.<br />
Der <strong>magische</strong> Schutz, welchen die “Innere Umfassungsmauer”<br />
bietet, zeigt sich auch in einem Textabschnitt der Bauinschrift,<br />
wo es heißt:<br />
„Eine reine Mauer umgibt den Tempel, derengleichen es nicht<br />
gibt um die anderen Gotteshäuser, 15 dekoriert mit den Bildern<br />
der Machtwesen (Götter <strong>und</strong> Dämonen) <strong>und</strong> der Nebtiu-<br />
Göttinnen, in all ihren Gestalten, so wie es sein soll. Horus<br />
Behedeti, der große Gott, der Herr des H<strong>im</strong>mels, – Hathor, die<br />
Große, die Herrin <strong>von</strong> Dendera <strong>und</strong> die Neunheit <strong>von</strong> Mesen<br />
umgeben Seine Majestät, gewähren ihm Schutz <strong>und</strong> schützen<br />
ihn fortwährend. Die Götter Unterägyptens sind zu seiner<br />
Rechten <strong>und</strong> beschützen ihn, die Götter Oberägyptens sind in<br />
gleicher Weise zu seiner Linken. Die Chnumgötter kommen<br />
schnell <strong>und</strong> töpfern eilends, <strong>und</strong> so sagt man “Die-schnell-<br />
Getöpferte” zur Umfassungsmauer. Die Umfassungsmauer des<br />
14 Zum täglichen Kampf gegen die Götterfeinde vgl. auch PINCH<br />
(1994) chap. 7–8. siehe auch den vorangehend zitierten Text (CHASSINAT<br />
(1931) 14, 2–15, 1), in welchem explizit gesagt wird, daß die Feinde des<br />
Gottes Flügel annehmen können, um die Mauerkrone zu überwinden.<br />
Folgerichtig werden auch die abwehrenden Dämonen mit Flügeln ausgestattet.<br />
Vgl. hierzu auch CHASSINAT (1931) 018, 3–4: „Es kommt der Sebiti<br />
(Apophis) als Fliegender um anzugreifen <strong>und</strong> er steigt über Horus<br />
auf”. Ebenso in Chassinat (1931) 328, 10: „Im Augenblick gelangte die<br />
feindliche Schlange (Apophis), der Herr-des-Fliegens, über Horus. Horus<br />
erblickte die Schlange <strong>und</strong> die vier Schutztruppen schauten hin”.<br />
15 Die ptolemäischen Tempel <strong>von</strong> Dendera, Esna <strong>und</strong> Philae weisen<br />
tatsächlich keine, bzw. keine vergleichbare Mauer auf, was allerdings nur<br />
auf den Umstand zurückzuführen ist, das an jenen Orten die Baumaßnahmen<br />
nicht abgeschlossen wurden. Im vorliegenden Text ist in Erwartung<br />
dessen, daß diese Mauern auch in den anderen Tempeln zweifelsfrei<br />
geplant waren, eher ein qualitativer Unterschied gemeint, denn ein gr<strong>und</strong>sätzlicher.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 201<br />
Thronsitzes (Edfu) gleicht Chemmis, wo Hornefer täglich geschützt<br />
wird.” 16<br />
Abb. 5: Detail des Photos D03_0959 des Archives des Edfu-<br />
Projektes. Ein falkengestaltiger Dämon mit Stierkopf.<br />
Dieser <strong>von</strong> Göttern <strong>und</strong> Dämonen gemeinschaftlich betriebene<br />
Schutz der Mauer um den Tempel wird an anderer Stelle noch präzisiert.<br />
Dort wird deutlich, daß best<strong>im</strong>mte Götter mit ihnen untergebenen<br />
Dämonen als Schutztruppen bzw. Wächter der Tempelmauer<br />
fungieren:<br />
„Diese Götter, die … Bas unter den Machtwesen, die Re<br />
schützen <strong>im</strong> Thronsitz-des-Re (Edfu), die den Gott in seinem<br />
Tempel schützen, die Wächter, die die Eingänge des Heiligtums<br />
bewachen, die Herren des Gemetzels, die unter den<br />
Feinden ein Gemetzel anrichten, die den Thronsitz (Edfu) vor<br />
Aufruhr bewahren:...” 17<br />
16 CHASSINAT (1932) 23, 1–24, 5. Zur Vorstellung, die sich hinter der<br />
letzten Aussage verbirgt, siehe Anm. 10.<br />
17 CHASSINAT (1930) 11, 4–5.
202| JAN-PETER GRAEFF<br />
Im weiteren Verlauf des Textes werden die betreffenden Götter<br />
als Kompanieführer zusammen mit den ihnen unterstellten<br />
Dämonen genannt <strong>und</strong> zugleich ein “Dienstplan” festgelegt. Hierbei<br />
gilt beispielsweise:<br />
- Im Paophi schützen Neb-a, Schem-her-awief, Pedj-nemtet <strong>und</strong><br />
Redui-em-heru <strong>im</strong> Gefolge des Atum<br />
- Im Hathyr schützen Heriti, But-her, Mesedji, Neb-wa, Hehi-…<br />
<strong>und</strong> Sepes-n-… <strong>im</strong> Gefolge des Schu.<br />
- Im Choiak schützen …, Sapi-…, …-chach-…, Neb-… <strong>im</strong> Gefolge<br />
des Seth. 18<br />
- Im Tybi schützen …, Maa-ef, Neb-mereret <strong>und</strong> … <strong>im</strong> Gefolge<br />
des Geb, usw.<br />
Über diese <strong>magische</strong> Kampftruppe sagt man zudem:<br />
„Die Chatiu des Re, welche der Schutz des Buntgefiederten<br />
sind, <strong>und</strong> die Sendboten des Herrn <strong>von</strong> Pe-Mesen sind dienstbereit<br />
auf allen vier Seiten (der Mauer), indem die Anführer der<br />
14 hinter ihnen sind, indem sie geschmückt sind mit ihrem<br />
Kampfschmuck <strong>und</strong> indem sie in ihren Waffen erglänzen. Die<br />
Mannschaft des Re <strong>und</strong> die Truppe des Herrn <strong>von</strong> Mesen sind<br />
in ihrer Anzahl insgesamt Götter.” 19<br />
Wie wichtig der <strong>magische</strong> Schutz durch Götter <strong>und</strong> Dämonen für<br />
eine Mauer ist, wird aus zahlreichen Texten in Edfu deutlich. 20 Ein<br />
prägnantes Beispiel hierfür stammt <strong>von</strong> der Innenseite der “Inneren<br />
Umfassungsmauer”. Dort heißt es:<br />
„All ihre Mauerseiten wurden erbaut (versehen) mit göttlichen<br />
Mächten, ohne daß es eine Stelle an ihr gibt, die ohne einen<br />
18 Die Nennung des Gottes Seth ist an dieser Stelle bemerkenswert,<br />
ist Seth doch der Hauptfeind des Horus. Ihn zugleich als Schutzgott in<br />
Edfu anzutreffen trägt vielleicht dem Umstand Rechnung, daß Seth in der<br />
Unterwelt auch den Gott Re vor Apophis zu schützen hat.<br />
19 CHASSINAT (1931) 17, 1–3. Diese <strong>und</strong> die vorangehende Quelle<br />
(Anm. 17) machen deutlich, daß für jeden Monat fünf Wächter vorgesehen<br />
waren, wobei jeweils einer <strong>von</strong> ihnen, mit dem Status eines Gottes<br />
versehen, der Kompanieführer war. Die verbleibenden vier schirmten<br />
jeweils eine der vier Seiten des Tempels ab.<br />
20 Diese Stellen vollständig aufzuzählen würde den Umfang dieses<br />
Artikels sprengen.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 203<br />
Gott ist, <strong>und</strong> indem die vier Phylen ihren (der Mauer) Schutz<br />
bereiten … Des Horus Behedeti, der großen Gottes, des Herrn<br />
des H<strong>im</strong>mels Mauer ist beschriftet, so wie es ihm (Horus) entspricht<br />
<strong>und</strong> mit den heiligen Schriften des Re, des ersten Urzeitlichen,<br />
(nämlich) mit dem Kommen des Re zu dem Haus,das-seine-Stärke-gebiert<br />
(Edfu), wenn das Land vom Urozean<br />
umgeben ist.” 21<br />
An anderer Stelle heißt es:<br />
„Seine Neunheit versieht ihren Dienst, Kedeftiu (schützende<br />
Dämonen) erfüllen ihre Pflicht. Die gesamte Truppe ist angekommen.<br />
„Die Mauer ist groß, doch schnell erbaut”, sagt<br />
Re…” 22<br />
Selbstverständlich umfaßte der <strong>magische</strong> Schutz dieser Machtwesen<br />
vor allem auch die eigentlichen Schwachstellen jeder Mauer, nämlich<br />
die Türen. Auch für deren Schutz zeichnen sie sich verantwortlich:<br />
„… die Herren der Kraft, die Nebedj (Seth) töten, die Apophis<br />
schwächen <strong>und</strong> deren Banden vertreiben, die über den Thronsitz<br />
(Edfu) wachen, die das Haus-des-Falken (Edfu) schützen,<br />
die die (bösen) Ra-Schlangen vom Lobpreis-des-Horus (Edfu)<br />
abweisen, die sein (des Tempels) Mauer mit ihrem Schutz umgeben,<br />
die ihre Türen schützen <strong>und</strong> ihr Tor hüten…” 23<br />
So verw<strong>und</strong>ert es nicht, daß man Darstellungen <strong>von</strong> Dämonen neben<br />
der Mauerkrone vor allem auch unmittelbar an Türen begegnet;<br />
vornehmlich am Türsturz <strong>und</strong> der Türlaibung. 24<br />
Reale Naturabläufe <strong>und</strong> Magie gehen fallweise Hand in Hand.<br />
Deutlich wird dies zum Beispiel <strong>im</strong> Falle <strong>von</strong> Regengüssen. Da<br />
man Regen als ein Phänomen begriff, welches durch den Gott Seth<br />
21 CHASSINAT (1931) 14, 6–13.<br />
22 CHASSINAT (1931) 18, 8–10.<br />
23 CHASSINAT(1932) 269, 5–7.<br />
24 Hier wird demselben Prinzip Rechnung getragen, das man auch aus<br />
der Pylonendekoration kennt: Die Vernichtung der Feinde Ägyptens<br />
durch den Pharao als Symbol für die Abwehr schlechter Einflüsse <strong>und</strong><br />
potentieller Feinde, welche den Tempel nicht betreten dürfen.
204| JAN-PETER GRAEFF<br />
ausgelöst wurde, 25 mußte der Tempel entsprechend gegen Regen<br />
geschützt sein.<br />
Abb. 6: Mit Messern bewaffnete Dämonen an einer Türlaibung.<br />
Vor allem war es wichtig, Regenmassen relativ schnell aus dem<br />
Tempel abzuleiten <strong>und</strong> so <strong>reale</strong>n Zerstörungen <strong>von</strong> Bemalung bzw.<br />
Dekoration vorzubeugen. Hierzu dienten die Wasserspeier, die am<br />
Tempelhaus angebracht die Aufgabe versahen, Regenwasser vom<br />
Flachdach des Gebäudes in den Umgang zwischen Tempelhaus<br />
<strong>und</strong> “Innerer Umfassungsmauer” abzuleiten, <strong>von</strong> wo aus es abfließen<br />
konnte. 26<br />
Diese Wasserspeier sind löwengestaltig dargestellt <strong>und</strong> ihre<br />
Aufgabe wurde schriftlich an ihnen festgehalten:<br />
„Ich bin der Löwe mit großer Kraft … der den Regen ableitet,<br />
welcher bei Trauer (<strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel) auf die Erde gegeben wird,<br />
25 Dies galt zumindest dann, wenn der Regen aufgr<strong>und</strong> seiner Heftigkeit<br />
Zerstörungen hervorrief.<br />
26 In Edfu finden sich acht Wasserspeier dieser Art; je drei an Ost-<br />
<strong>und</strong> Westwand des naos, sowie zwei an dessen Nordwand. Zu diesen Wasserspeiern<br />
siehe generell EFFLAND (2000) 15–20 <strong>und</strong> DE WIT (1954) 29.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 205<br />
der das tobende Unwetter niederwirft <strong>und</strong> verschlingt am Tage<br />
des Gewittersturmes, wenn jener Feind (Seth) kommt, um Unheil<br />
zu stiften.” 27<br />
Die Autoren der Wasserspeierinschriften verstärkten zudem die<br />
<strong>magische</strong> Wirksamkeit jener Texte, indem sie sich eines Tricks bedienten.<br />
Sie verfaßten die Texte dergestalt, daß durch die auffallende<br />
Alliteration auf den Laut “Ch” das Fauchen des Löwen <strong>im</strong>itiert<br />
wurde. 28<br />
All diese Beispiele verdeutlichen, daß <strong>im</strong> Falle des Tempels<br />
<strong>von</strong> Edfu eine mythisch-religiöse Welt hinter der <strong>reale</strong>n Welt existierte.<br />
Die <strong>reale</strong> Welt wird durch Mauern <strong>und</strong> Kammern begrenzt<br />
<strong>und</strong> in ihnen findet der tägliche Tempelkult statt. Die metaphysische<br />
Welt hingegen n<strong>im</strong>mt zwar die gleichen Grenzen ein wie die<br />
<strong>reale</strong> – auch sie wird durch Mauern definiert –, doch sie stellt nicht<br />
allein einen Tempel dar, sondern zudem en miniature die Schöpfung<br />
an sich. Des weiteren wird sie <strong>von</strong> ir<strong>reale</strong>n Mächten geschützt, die<br />
folglich nicht allein den <strong>reale</strong>n Tempel <strong>und</strong> die <strong>magische</strong> Unversehrtheit<br />
seiner Räume schützen, 29 sondern durch ihren Dienst<br />
auch die Schöpfung bzw. den Kosmos erhalten <strong>und</strong> vor dem Chaos<br />
bewahren.<br />
Aus genau diesem Gr<strong>und</strong> legen die Texte <strong>im</strong> Tempel auch<br />
Wert auf die Feststellung, daß der Tempel zwar Horus Behedeti<br />
gewidmet ist. Doch letztendlich sind alle Götter Ägyptens dort vertreten<br />
– ebenso, wie es in Ägypten selbst der Fall ist: „Auflistung<br />
derjenigen Götter, die in Edfu sind:…”, 30 heißt es folgerichtig an<br />
einer Stelle.<br />
27 siehe KURTH (1994) 152.<br />
28 siehe KURTH (1994) 152.<br />
29 Zu diesem Aspekt muß man sich in Erinnerung rufen, daß die<br />
Schutzgötter <strong>und</strong> Dämonen Edfus den Tempel eben nicht gegen <strong>reale</strong><br />
Feinde (Plünderer etc.) schützen, sondern den Texten zufolge gegen<br />
feindliche Mächte aus der Welt der Götter.<br />
30 Es folgt eine längere Liste, die allerdings größtenteils zerstört ist.<br />
CHASSINAT (1930) 395, 9. Im Umkehrschluß ist natürlich auch Horus<br />
Behedeti in allen Tempeln Ägyptens vertreten; so laut CHASSINAT (1933)<br />
093, 6–12: „… (Horus Behedet), dessen Bildnisse in allen Tempeln sind,<br />
dessen Abbild an allen heiligen Stätten ist”. Auch die Aussage, daß er der<br />
Api in allen Tempeln Ägyptens ist, tritt häufig auf.
206| JAN-PETER GRAEFF<br />
Abb. 7: Wasserspeier. Die Texte des Wasserspeiers befinden sich<br />
rechts <strong>und</strong> links an seinem Sockel.<br />
Abb. 8: Auf der Rückseite der Wasserspeier befindet sich jeweils<br />
eine Scheintür, durch welche Seth, wenn er in Form <strong>von</strong> Regen<br />
kam, das Dach verlassen konnte. Es handelt sich also um das<br />
<strong>magische</strong> Gegenstück zum <strong>reale</strong>n Wasserspeier.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 207<br />
Durch eben diesen Umstand ergibt sich noch ein weiterer Zusammenhang.<br />
Wenngleich die Welt – der Edfu-spezifischen Theologie<br />
folgend – vornehmlich auf Horus Behedeti in seiner Rolle als<br />
Schöpfergott zurückgeht, so haben doch auch andere Götter Anteil<br />
an diesem Schöpfungsprozess. 31 Überträgt man diesen Gr<strong>und</strong>gedanken<br />
auf den Tempel selbst, der ja als Miniaturmodell der Welt<br />
betrachtet wurde, so wäre eine ähnliche Aussage über die Erschaffung<br />
des Tempels zu erwarten. Tatsächlich findet sich diese Aussage,<br />
derzufolge zahlreiche Götter an der Erbauung des Tempels beteiligt<br />
waren: 32<br />
„Worte zu sprechen: Dein Tempel für dich, gebaut aufs trefflichste<br />
als Werk des Ba-Neb-hi (Ptah). Deine Majestät selbst<br />
hat den Befehl dafür erteilt, o Re, Großer, der die beiden Länder<br />
erhellt, <strong>und</strong> das Lot (Thot) sowie Seschat die Große haben<br />
dafür den Strick gespannt; die Chnumgötter haben es insgesamt<br />
erbaut, <strong>und</strong> die Djaisu waren bei ihnen <strong>und</strong> haben seinen<br />
Plan größer gemacht, mehr als in allen anderen Gauen. Seine<br />
Zeit entspricht der Zeit des H<strong>im</strong>mels auf seinen vier Stützen,<br />
<strong>und</strong> seine Jahre sind die Jahre der beiden Lichter (Sonne <strong>und</strong><br />
Mond).” 33<br />
Wer sich mit <strong>magische</strong>n Räumen auseinandersetzt, wird – zumal <strong>im</strong><br />
Tempel <strong>von</strong> Edfu – schnell auf weitere Aspekte stoßen, in denen<br />
die Magie die Grenzen der <strong>reale</strong>n Welt berührt.<br />
31 Hier sind vornehmlich die Chnumgötter <strong>und</strong> die Djaisu zu nennen.<br />
Die Autoren des Schöpfungsmythos <strong>von</strong> Edfu unterscheiden folgerichtig<br />
nicht zwischen der Erschaffung der Welt <strong>und</strong> Edfus. siehe auch Anm. 33.<br />
32 Der ägyptische Gr<strong>und</strong>gedanke einen Tempel zwar unter die Suprematie<br />
eines einzelnen Gottes zu stellen, zugleich aber alle Götter des<br />
Landes an jenem Kult teilhaben zu lassen, erschuf zudem die Idee des<br />
“Umlaufopfers”, welches auch in Edfu außerordentlich gut belegt ist.<br />
Hierbei wird der Tatsache Rechnung getragen, daß der Tempel als Welt<br />
bzw. Ägypten natürlich nicht allein den Hauptgott beherbergt, sondern<br />
eine He<strong>im</strong>statt für alle Götter ist. Daher wird das tägliche Opfer zwar<br />
zunächst Horus Behedeti gewidmet, dann jedoch an alle Götter “weitergereicht”<br />
die <strong>im</strong> Tempel vertreten sind.<br />
33 CHASSINAT (1932) 49, 5–11. Entsprechende Aussagen finden sich<br />
z. B. auch in CHASSINAT (1931) 173, 9. 175, 3. 327, 6.
208| JAN-PETER GRAEFF<br />
Neben der bereits angesprochenen Möglichkeit, durch Magie<br />
einen Schutz für einen <strong>reale</strong>n Raum zu wirken, ist an dieser Stelle<br />
auch das Prinzip der “Wandtransparenz” anzusprechen.<br />
Die “Wandtransparenz” folgt der Gr<strong>und</strong>idee, daß eine Ritualszene<br />
ihre Thematik auf die umliegenden Szenen ausstrahlen läßt. 34<br />
Dies bedeutet, daß sie inhaltlich auf ihre Umgebung Einfluß zu<br />
nehmen <strong>im</strong>stande ist <strong>und</strong> zwar auch durch die Mauer hindurch, auf<br />
der sie angebracht ist <strong>und</strong> über die Achsen des Tempels hinweg.<br />
Dies hat zur Folge, daß ganze Wände <strong>und</strong> Bauglieder eine inhaltliche<br />
Ausrichtung annehmen, deren Inhalt vornehmlich durch die<br />
Textgestaltung Ausdruck findet. “Wandtransparenz” 35 gehört also<br />
zum umfangreichen Themengebiet der Dekorationssystematik.<br />
Mehrere Beispiele sollen dies <strong>im</strong> Folgenden belegen. Zunächst<br />
einmal ist zu beobachten, daß eine generelle Themenausrichtung<br />
pr<strong>im</strong>är <strong>von</strong> der Hauptachse des Tempels vorgegeben wird. 36 Dies<br />
bedeutet, daß <strong>im</strong> Regelfall eine Ritualszene auf der Westseite des<br />
Tempels ein Pendant auf der Ostseite vorweisen kann. Bedingt<br />
durch die “Wandtransparenz” spiegeln sich also Ritualszenen entlang<br />
der Ritualachse des Tempels. So ergibt sich am Beispiel des<br />
Pylonen 37 folgendes Bild:<br />
34 Zu diesem Themengebiet <strong>und</strong> seinen Zusammenhängen siehe generell<br />
LABRIQUE (1992).<br />
35 Das hier keine einfache Unterordnung unter das jeweilige Hauptthema<br />
einer Wand anzusetzen ist, sondern <strong>im</strong> Gegenteil die Ritualszenen<br />
einer aktiven Wechselwirkung untereinander unterworfen sind, erkennt<br />
man durch den Umstand, daß an den Nahtstellen zwischen zwei Themenkomplexen<br />
innerhalb der dort angebrachten Ritualszenen Formulierungen<br />
genutzt werden, die auf beide Themengebiete Rücksicht nehmen. Vgl.<br />
generell GRAEFF (2010).<br />
36 Vgl. hierzu am Beispiel des Tempels <strong>von</strong> Abu S<strong>im</strong>bel auch<br />
LOEBEN (1995) 143.<br />
37 Ich wähle für dieses Beispiel ob seiner Einfachheit den Pylon. Die<br />
Umfassungsmauer ist zwar wesentlich prägnanter, doch zu groß <strong>und</strong><br />
komplex an dieser Stelle.
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 209<br />
Abb. 9: Pylon <strong>von</strong> Edfu. Schematische Darstellung.<br />
A – Feind töten<br />
B – Kranz der Rechtfertigung darreichen<br />
C – Krone <strong>von</strong> Unterägypten darreichen (Westseite) / Krone <strong>von</strong><br />
Oberägypten darreichen (Ostseite)<br />
D – Maat darreichen<br />
E – Kronen <strong>von</strong> Ober- <strong>und</strong> Unterägypten darreichen<br />
F – Opfer darreichen<br />
G – H<strong>im</strong>mel stützen<br />
H – Kranzdarreichen (Westseite) / Halskragen darreichen (Ostseite)<br />
I – Manu opfern (Westseite) / Bachu opfern (Ostseite)<br />
J – Antilope töten (Westseite) / Seth töten (Ostseite)<br />
K – Milch darreichen (Westseite) / Schwert darreichen (Ostseite)<br />
L – Spiegel darreichen (Westseite) / Sistrum spielen (Ostseite)<br />
M – Doppelfederkrone darreichen<br />
N – Iunpfeiler aufrichten (Westseite) / Obelisk aufrichten (Ostseite)<br />
O – Menit darreichen (Westseite) / Weihräuchern (Ostseite)<br />
P – Weihräuchern (Westseite) / Myrrhe darbringen (Ostseite)<br />
Q – Masten aufrichten (Westseite) / Pylon erbauen (Ostseite)<br />
In einer Reihe <strong>von</strong> Fällen ist auf der jeweiligen Gegenseite eine<br />
unmittelbare inhaltliche Entsprechung, bzw. Spiegelung zu finden<br />
(A, B, D, E, F, G, M). In den anderen Fällen handelt es sich ent-
210| JAN-PETER GRAEFF<br />
weder um eine adaptive Anpassung 38 (C, I) oder um eine inhaltliche<br />
Anpassung <strong>und</strong>/oder Ergänzung 39 (H, J, K, L, N, O, P, Q). Einige<br />
Gegenstücke scheinen <strong>im</strong> Zuge einer oberflächlichen Begutachtung<br />
zunächst nicht zueinander zu passen; so z. B. “K”. Der Zusammenhang<br />
zwischen “Schwert darreichen” <strong>und</strong> “Milch darbringen”<br />
ergibt sich jedoch be<strong>im</strong> Lesen des Textes. 40 Da das Oberthema des<br />
Pylonen die Feindvernichtung ist, stehen beide Szenen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit der Versorgung des Horus Behedeti mit all jenen<br />
Dingen, die er als starker Kämpfer benötigt. Dies gilt sowohl für<br />
das Schwert als Waffe, als auch für die Milch, die seine Knochen<br />
stark sein läßt. 41<br />
Die Beeinflussung der Szenen- bzw. Textwahl durch ihren<br />
Anbringungsort ist jedoch weniger aufgr<strong>und</strong> ihrer Positionierung,<br />
sondern mehr noch durch ihre innere Textgestaltung auffallend.<br />
Während der Zusammenhang zwischen der Darstellung <strong>von</strong><br />
Feindvernichtung auf einem Pylonen als Eingangstor des Tempels<br />
<strong>und</strong> somit als besonders schützenswertes Bauglied des Tempels<br />
38 Hier werden Ritualkomponenten bzw. -objekte genannt, die paarweise<br />
vorkommen (z. B. Krone <strong>von</strong> Oberägypten/Krone <strong>von</strong> Unterägypten).<br />
Mit einer entsprechenden Ausrichtung versehen (Oberägypten steht<br />
für Osten, Unterägypten für Westen), werden sie separat angebracht <strong>und</strong><br />
ergänzen einander dann innerhalb der Achsensymmetrie des Tempels.<br />
39 Anders als in Anm. 38 erhält jede Szene ein inhaltliches Gegenstück.<br />
So z. B. <strong>im</strong> Falle <strong>von</strong> “J”: Während auf einer Seite Seth getötet<br />
wird, kommt auf der Gegenseite die Antilope zum Einsatz, die natürlich<br />
aber ein klassisches Feindestier ist <strong>und</strong> somit als Synonym angesehen werden<br />
muß.<br />
40 Milch darreichen: CHASSINAT (1933) 104, 17. Schwert darreichen:<br />
CHASSINAT (1933) 143, 4.<br />
41 siehe CHASSINAT (1933) 104, 17: „[Milch darbringen. Worte zu<br />
sprechen]: … Dies ist „Leben-Und-Herrschaft” (Milch), das deine Glieder<br />
stärkt. Die (Milch), die deine Knochen festigt.” Daß diese gesamte<br />
Szene <strong>im</strong> Kontext der Feindvernichtung steht, erkennt man <strong>im</strong><br />
weiteren Verlauf, so z. B. in der königlichen Randzeile, wo es heißt: „Ich<br />
bin zu dir gekommen, Horus-der-Große, Herr des Thronsitzes (Edfu), der<br />
auf den Rücken der Antilope gestiegen ist, damit ich dir den Räuber des<br />
Udjat-Auges bringe als Widersacher deines Vaters <strong>und</strong> ich ihm den Kopf<br />
abschneide vor deinem Angesicht; denn du bist der Herr des Maba-<br />
Speeres, der den Feind fällt, der Nehes (Seth) erstochen hat an der Stättedes-Erstechens<br />
(Edfu).”
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 211<br />
unmittelbar einleuchtend ist, 42 erschließt sich der Zusammenhang<br />
zwischen der Anbringung best<strong>im</strong>mter Szenen an anderer Stelle<br />
nicht ganz so unmittelbar. So darf man sich z. B. die Frage stellen,<br />
warum sich an der Umfassungsmauern u. a. Opferszenen finden. 43<br />
Da ebenso wie vom Pylon auch <strong>von</strong> der “Inneren Umfassungsmauer”<br />
– wie oben dargestellt – ein Schutzaspekt für den gesamten<br />
Tempel zu erwarten ist, sollte man doch erwarten, daß sich auch<br />
hier vornehmlich Szenen finden, die mit Feindvernichtung zu tun<br />
haben. Hier kommt das Prinzip der “Wandtransparenz” ins Spiel.<br />
Tatsächlich steht die “Innere Umfassungsmauer” beinahe ganz <strong>im</strong><br />
Zeichen zweier Themen, nämlich der Feindvernichtung <strong>und</strong> des<br />
artverwandten königlich/göttlichen Herrschaftsanspruches, welche<br />
fast alle dort angebrachten Ritualszenen beeinflusst haben. 44<br />
Bei der Beobachtung der Szenen vor Ort ist nun aber zu unterscheiden<br />
zwischen “typisierten” <strong>und</strong> “untypisierten” Ritualszenen.<br />
45 Typisierte Ritualszenen sind hierbei solche, deren Thema<br />
eindeutig in eine Richtung weist, so daß sie unmittelbar eingesetzt<br />
werden können. Im Falle einer Tempelumfassungsmauer mit dem<br />
Themenschwerpunkt “Feindvernichtung” wären dies Ritualszenen<br />
wie “Seth töten”, “Den Ball schlagen”, oder “Das Nilpferd speeren”.<br />
Untypisierte Ritualszenen hingegen sind solche, deren Themen<br />
zwar einen Dienst an der Gottheit darstellen, bei denen jedoch<br />
kein unmittelbares Oberthema erkennbar sein muß. Beispiele hierfür<br />
sind Opferszenen, die nicht <strong>im</strong> Zusammenhang mit der<br />
Schlachtung <strong>von</strong> Feindestieren stehen. Solche Szenen lassen zunächst<br />
an ein Oberthema wie “Fruchtbarkeit” denken, welches <strong>im</strong><br />
Tempel durchaus vertreten ist. Untypisierte Ritualszenen distanzieren<br />
sich jedoch <strong>von</strong> dieser Einordnung durch ihre Textgestaltung,<br />
die an das jeweilige Oberthema der Wand angepasst werden kann,<br />
42 Dies betrifft auch die anderen oben genannten Szenen auf dem Pylonen.<br />
Die Weihräucherszenen z. B. haben den Sinn, die Reinheit des<br />
Tempels <strong>und</strong> seiner Besucher bereits “an der Tür” sicherzustellen.<br />
43 Wobei es sich eben nicht zwangsweise um das Opfern <strong>von</strong> Feindtieren<br />
handeln muß.<br />
44 Es findet sich ein drittes Thema auf der Außenwand, welches allerdings<br />
lange nicht so dominant ist, <strong>und</strong> zwar “Fruchtbarkeit/Regeneration”;<br />
vgl. Anm. 48.<br />
45 Zu diesen Begrifflichkeiten siehe generell GRAEFF (2010).
212| JAN-PETER GRAEFF<br />
d. h. die “Wandtransparenz” lenkt die Textgestaltung der Szene in<br />
eine durch Magie zu begründende Richtung.<br />
Ein Beispiel hierfür sei die folgende Ritualszene. Es handelt<br />
sich um eine Weinopferszene auf der Innenseite der “Inneren Umfassungsmauer”,<br />
deren titre et formule folgendermaßen aussieht:<br />
“Wein darbringen. Worte zu sprechen: Alle Weingärten grünen<br />
für deinen Ka, damit ich für Deine Majestät (Wein) herbeibringe,<br />
o Buntgefiederter. Charga <strong>und</strong> Bahrija, Suni <strong>und</strong> Neham<br />
(Weinanbaugebiete) tragen für dich ihre Erzeugnisse, täglich.<br />
Das Haus-der-Kuh (3. uäg. Gau) <strong>und</strong> Imet (19. uäg. Gau) folgen<br />
deinem Herzen zu den Jahreszeiten. Wenn du da<strong>von</strong><br />
trinkst, vergeht dein Zorn, <strong>und</strong> dein Herz jubelt über das Wasser,<br />
das in ihnen ist.” 46<br />
Das Oberthema der Wand, welches auch <strong>von</strong> den umgebenden<br />
Ritualszenen aufgenommen wird, ist der Herrschaftsanspruch. 47<br />
Daher finden sich in der Ausarbeitung dieser Szene Formulierungen,<br />
in welchen die Gebiete betont werden, welche für Ägypten<br />
Wein produzieren <strong>und</strong> die dem König Untertan sind. Ganz anders<br />
hingegen titre et formule der folgenden Weinopferszene:<br />
46 CHASSINAT (1931) 252, 10.<br />
47 Zu dieser Zuordnung siehe GRAEFF (2010).
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 213<br />
“Wein darbringen. Worte zu sprechen: Es wächst der Weingarten<br />
<strong>im</strong> Anbaugebiet vom Fruchtland-des-Horus, <strong>und</strong> er läßt<br />
gedeihen deinen Liebling (den Weinstock), indem er gebeugt<br />
ist unter den Trauben <strong>und</strong> belastet mit den Reben. Er speit aus<br />
für dich <strong>von</strong> seiner Last, <strong>und</strong> man bringt vor dein Angesicht<br />
<strong>von</strong> den Dingen, die in ihm (dem Weinstock) sind. Trinke <strong>von</strong><br />
dem Wein, der rein ist!” 48<br />
Das Thema dieses Wandabschnitts ist Regeneration <strong>und</strong> Fruchtbarkeit<br />
49 <strong>und</strong> die Formulierungen der Weinopferszene passen sich<br />
dem an, indem ein Schwerpunkt auf den Ertragreichtum gelegt<br />
wird. So war es den antiken Textautoren möglich, eine untypisierte<br />
Ritualszene einer beliebigen Wandthematik anzupassen. Indem<br />
man nun die ohnehin gegebene thematische Untergliederung der<br />
Wände des Tempels in die Textgestaltung einfließen ließ, ergaben<br />
sich Textaussagen innerhalb der Ritualszenen, die ihre Form <strong>und</strong><br />
ihren Inhalt der <strong>magische</strong>n Funktion des jeweiligen Bauelementes<br />
48 CHASSINAT (1932) 278, 12. Der hier vorliegende Themenkomplex<br />
“Fruchtbarkeit” auf der Außenseite der Umfassungsmauer erklärt sich<br />
durch den Umstand, daß die genannte Ritualszene unmittelbar südlich der<br />
Tür I’J’1 zu finden ist; an jener Tür also, die zum Heiligen See führte <strong>und</strong><br />
durch welche alle dem Gott des Tempels zuzuführenden Opfergaben<br />
nach ihrer Reinigung in den Tempel bzw. wieder herausgebracht wurden.<br />
Deutlich wird dieser Zusammenhang durch die oben erwähnte Bauinschrift,<br />
wo es zu diesem Ort heißt: „Eine (Tür) führt gen Osten; die Aqi-<br />
Priester treten durch sie ein, wenn sie aus dem See (der Reinigung) kommen<br />
um ihren Dienst zu tun. Opfergaben, werden durch sie herausgebracht,<br />
nachdem sie freigegeben wurden, damit sie den Vorstehern-der-<br />
Gotteshalle des Buntgefiederten zugeführt werden.” (CHASSINAT (1932)<br />
18, 3–4; vgl. auch KURTH (2004) 26, Anm. 5). Das Thema Fruchtbarkeit<br />
zieht sich <strong>von</strong> dort entlang nach Süden bis zur Tür I’J’2, über welche die<br />
Bauinschrift sagt: „Eine andere (Türe), ein W<strong>und</strong>erwerk, die in seinem<br />
(des Umgangs) F<strong>und</strong>ament liegt, führt zum reinen Brunnen, der [außerhalb<br />
des Umgangs] liegt, zum Reinen-Magazin <strong>und</strong> zum Schlachthaus-des-<br />
Horus der auserlesenen Fleischstücke, um dort frisches Wasser in seiner<br />
Reinheit für den Tempel zu entnehmen, sowie das Gottesopfer für den<br />
Falken, jeweils zur rechten Zeit.” (CHASSINAT (1932) 18, 4). Indem das<br />
Thema der Wand zwischen diesen Türen auf den Begriff Fruchtbarkeit<br />
gelenkt wird, unterstrichen die antiken Textautoren die <strong>magische</strong> <strong>und</strong> <strong>reale</strong><br />
Funktion beider Türen als Versorgunsgwege für die Opfergaben.<br />
49 Vgl. Anm. 44. Zu dieser Zuordnung siehe GRAEFF (2010).
214| JAN-PETER GRAEFF<br />
verdanken. Eine Opferszene der Umfassungsmauer, deren Hauptthema<br />
Schutz <strong>und</strong> Feindvernichtung ist, sieht also <strong>im</strong> Regelfall<br />
gänzlich anders aus, als eine Opferszene des gleichen Themas an<br />
anderer Stelle, die ihre Gestaltung dem <strong>magische</strong>n Themenkomplex<br />
der Fruchtbarkeit verdankt. Magie best<strong>im</strong>mt also <strong>im</strong> vorliegenden<br />
Fall die <strong>reale</strong> Wanddekoration, wobei das Thema der Magie wiederum<br />
durch das Bauelement <strong>und</strong> seine Funktion bedingt ist.<br />
Die vorliegenden Textbeispiele haben am Beispiel des Tempels<br />
<strong>von</strong> Edfu deutlich gemacht, daß das Areal <strong>und</strong> die Räume eines<br />
ägyptischen Tempels über mehrere D<strong>im</strong>ensionen verfügt: Eine<br />
<strong>reale</strong> <strong>und</strong> eine theologisch-mythische. Sie machen aber ebenso<br />
deutlich, daß die antiken Ägypter zwischen diesen D<strong>im</strong>ensionen<br />
nur bedingt unterschieden haben. Beides war gleichermaßen real<br />
für sie <strong>und</strong> so erklärt sich ein in der altägyptischen Theologie<br />
gr<strong>und</strong>legender Gedanke, demzufolge das tägliche Tempelritual<br />
nicht allein die Götterwelt bestehen ließ, sondern ebenso die der<br />
Menschen. 50 Der Dienst an den Göttern in Form <strong>von</strong> Tempelbauten<br />
<strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Gottesdiensten bewirkte zugleich<br />
den Schutz <strong>und</strong> das Fortbestehen Ägyptens. 51 Indem man die<br />
50 Folgerichtig resultiert der Vollzug <strong>von</strong> Ritualszenen, die den empfangenden<br />
Gott mit Schutz versehen sollen auch in einer entsprechenden<br />
Gegenleistung. siehe z. B. CHASSINAT (1930) 367, 18: In dieser Ritualszene<br />
erhält Horus Behedeti ein Schutzamulett. Dort heißt es: „Knüpfen des<br />
Amuletts des Skarabäus. Worte zu sprechen: N<strong>im</strong>m dir dieses dein vollkommenes<br />
Bild, (o) Herr der Götter in Haus-des-Falken (Edfu); denn<br />
dieses ist deine Gestalt, der Schutz der Tempel, der die Götter, die in<br />
Ägypten sind, schützt”. Horus wird also als universeller Schützer aller<br />
Götter <strong>und</strong> damit ganz Ägyptens angesehen. Er gibt dem opfernden König<br />
eine entsprechende Gegengabe, die in der Göttlichen Randzeile genauer<br />
definiert wird: „Ich veranlasse, daß die Pechertiu (Schutzgötter)<br />
dich umgeben, daß die Dauerhaften (Schutzgötter) deinen Schutz besorgen,<br />
daß die Pat-Menschen dich preisen, daß die Rechit-Menschen dich<br />
verehren, indem sie für dich als Untertanen best<strong>im</strong>mt sind.”<br />
51 Aus genau diesem Gr<strong>und</strong> legen die Texte <strong>im</strong> Tempel auch Wert auf<br />
die Feststellung, daß in seiner Ausführung alles seine Richtigkeit haben<br />
muß. Weder das Tempelritual, noch die Architektur oder die Dekoration<br />
des Tempels dürfen beliebig sein, denn nur durch die Einhaltung aller<br />
<strong>magische</strong>r Regeln ist das Fortbestehen der Welt gewährleistet. Fallweise<br />
wird sogar ganz explizit gesagt, daß das <strong>reale</strong> Aussehen des Tempels einen<br />
<strong>magische</strong>n Hintergr<strong>und</strong> hat. So heißt es z. B. in CHASSINAT (1931) 6, 3–4:
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 215<br />
Schutzgötter <strong>und</strong> Dämonen in den Mikrokosmen der Tempel mit<br />
Opfern versah <strong>und</strong> auf diese Weise stärkte, sicherte man symbolisch<br />
die Existenz des Makrokosmos der Welt <strong>im</strong> allgemeinen <strong>und</strong><br />
Ägyptens <strong>im</strong> speziellen, denn Ägypten <strong>und</strong> seine Tempel sind eins.<br />
DR. JAN-PETER GRAEFF<br />
Universität Hamburg<br />
Archäologisches Institut, Ägyptologie<br />
Edm<strong>und</strong>-Siemers-Allee 1, Flügel West, 20146 Hamburg<br />
e-mail: Jan-Peter.Graeff@gmx.net<br />
„Er hat ihren Umgang auf allen vier Seiten mit einer Mauer umgeben aus<br />
[schönem festen Stein], die auf ihrem F<strong>und</strong>ament gegründet ist an der<br />
Stelle, wo sie sein soll, gemäß dem, was die Vorfahren diesbezüglich ersonnen<br />
haben, <strong>und</strong> dem, was (geschrieben steht) auf dem großen Bauplan<br />
dieses Buches, das <strong>im</strong> Norden <strong>von</strong> Memphis vom H<strong>im</strong>mel gefallen ist.”<br />
Ebenso auch in CHASSINAT (1931) 169, 2–3: „Ich gebe, daß seine (des<br />
Tempels) Höhe vollkommen <strong>und</strong> seine Breite richtig ist, daß alle [seine]<br />
Ellenmaße der Vorschrift entsprechen, daß seine Räume an dem Ort sind,<br />
wo sie sein sollen <strong>und</strong> daß seine Kapellen dem H<strong>im</strong>mel gleichen”; CHAS-<br />
SINAT (1932) 12, 2: „Ihr (der Räume) Fußboden ist zusammengefügt, wie<br />
es sein soll”; CHASSINAT (1932) 12, 5–6: „Die Scheseru (Schutzgötter) tun<br />
ihren Dienst. Die Bücher sind an ihrem Platz, wie es sein soll <strong>und</strong> die Rituale<br />
an dem Ort, wo sie hingehören”, oder auch CHASSINAT (1932) 24,<br />
1–2: „Eine reine Mauer umgibt den Tempel, derengleichen es nicht gibt<br />
um die (anderen) Gotteshäuser, dekoriert mit den Bildern der Machtwesen<br />
<strong>und</strong> der Nebtiu, in all (ihren) Gestalten, so wie es sein soll”.
216| JAN-PETER GRAEFF<br />
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MAGISCHE UND REALE RÄUME | 217<br />
J.-P. Graeff, Untersuchung zu wiederkehrenden Phrasen innerhalb<br />
des Edfu-Formulars, Edfu-Begleitheft 6, 2010 (in Redaktion).<br />
GUNDLACH (1995)<br />
R. G<strong>und</strong>lach, Das Dekorationsprogramm der Tempel <strong>von</strong><br />
Abu S<strong>im</strong>bel <strong>und</strong> ihre kultische <strong>und</strong> königsideologische Funktion,<br />
in: D. Kurth (Hrsg.), Systeme <strong>und</strong> Programme der ägyptischen<br />
Tempeldekoration, 3. Ägyptologische Tempeltagung,<br />
Ägypten <strong>und</strong> Altes Testament, 1.–5. Juni 1994 in Hamburg,<br />
Studien zu Geschichte, Kultur <strong>und</strong> Religion Ägyptens <strong>und</strong> des<br />
Alten Testaments 33 (Wiesbaden 1995) 47–71.<br />
JANKUHN (1972)<br />
D. Jankuhn, Das Buch “Schutz des Hauses” (Bonn 1972).<br />
KORMYSCHEVA (1995)<br />
E. Kormyscheva, Fries- <strong>und</strong> Sockeldekor nubischer Tempel<br />
der ptolemäisch-römischen Zeit, in: D. Kurth (Hrsg.), Systeme<br />
<strong>und</strong> Programme der ägyptischen Tempeldekoration, 3.<br />
Ägyptologische Tempeltagung, Ägypten <strong>und</strong> Altes Testament,<br />
1.–5. Juni 1994 in Hamburg, Studien zu Geschichte, Kultur<br />
<strong>und</strong> Religion Ägyptens <strong>und</strong> des Alten Testaments 33 (Wiesbaden<br />
1995) 115–142.<br />
KURTH (1975)<br />
D. Kurth, Den H<strong>im</strong>mel stuetzen: Die “Tw3 pt”– Szenen in<br />
den ägyptischen Tempeln der griechisch-römischen Epoche,<br />
Rites égyptiens 2 (Diss. Brüssel 1975).<br />
KURTH (1983)<br />
D. Kurth, Die Dekoration der Säulen <strong>im</strong> Pronaos des Tempels<br />
<strong>von</strong> Edfu, Göttinger Orientforschungen 4, 11 (Wiesbaden<br />
1983).<br />
KURTH (1994)<br />
D. Kurth, Treffpunkt der Götter (Zürich 1994).
218| JAN-PETER GRAEFF<br />
KURTH (2004)<br />
D. Kurth, Inschriften des Tempels <strong>von</strong> Edfu (ITE) I, 2<br />
(Wiesbaden 2004).<br />
KURTH – WAITKUS (2010)<br />
D. Kurth – W. Waitkus, Die Reste eines kleinen Kultbaus vor<br />
der Nordwest-Ecke des Tempels <strong>von</strong> Edfu, in: Inschriften des<br />
Tempels <strong>von</strong> Edfu (ITE) II, 2, 2010 (in Redaktion).<br />
LABRIQUE (1992)<br />
F. Labrique, Stylistique et théologie à Edfou. Le rituel de l'offrande<br />
de la campagne: Étude de la <strong>com</strong>position, Orientalia<br />
Lovaniensia Analecta 51 (Leuven 1992).<br />
LOEBEN (1995)<br />
Chr. E. Loeben, Symmetrie, Diagonale <strong>und</strong> Chiasmus als Dekorprinzipien<br />
<strong>im</strong> Bildprogramm des Grossen Tempels <strong>von</strong><br />
Abu S<strong>im</strong>bel – Beobachtungen <strong>und</strong> vorläufige Ergebnisse, in:<br />
D. Kurth (Hrsg.), Systeme <strong>und</strong> Programme der ägyptischen<br />
Tempeldekoration, 3. Ägyptologische Tempeltagung, Ägypten<br />
<strong>und</strong> Altes Testament, 1.-5. Juni 1994 in Hamburg, Studien zu<br />
Geschichte, Kultur <strong>und</strong> Religion Ägyptens <strong>und</strong> des Alten Testaments<br />
33 (Wiesbaden 1995) 143–162.<br />
OSING (1997)<br />
J. Osing, Zur Dekoration der Säulen an Prozessionswegen des<br />
Amonre, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Institutes,<br />
Abteilung Kairo 53, 1997, 227–232.<br />
PINCH (1994)<br />
G. Pinch, Magic in Ancient Egypt (London 1994).<br />
SCHLÖGL (1977)<br />
H. Schlögl, Der Sonnengott auf der Blüte, Aegyptiaca Helvetica<br />
5 (Genf 1977).
ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />
MAGISCHE UND REALE RÄUME | 219<br />
Abb. 1: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 2: Photo J.-P. Graeff.<br />
Abb. 3: Photo U. Bartels.<br />
Abb. 4: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 5: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 6: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 7: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 8: Edfu-Projekt.<br />
Abb. 9: bearbeitet nach SERaT (H. Beinlich)<br />
http://www.serat.aegyptologie.uni-wuerzburg.de/<br />
(Pylon K′).