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VERNISSAGE AUSSTELLUNG<br />

Vernissage Ausstellung<br />

Der unscheinbare Schopf, einst wahrscheinlich eine Schreinerei, ist zu einem Tor<br />

geworden. Das Tor zur Stiftung «Gott hilft», seit 1916 in Zizers daheim. Der Schopf<br />

mit der Glastüre katapultiert einen in zwei Welten: Auf der einen Seite die «Box im<br />

Schopf», auf der anderen Seite die Ausstellung «Wenn es scheinbar nicht mehr<br />

weiter geht». Das Jahrhundert wird von einer Glocke eingeläutet, vier Stelen zeigen<br />

vier Schicksale von Kindern, die während dieser Zeit im «Gott hilft» waren, aus<br />

verschiedenen Perspektiven. Einmal aus der Sicht des Kindes, einmal aus der Sicht<br />

der Eltern, einmal aus der Sicht der Betreuungspersonen.<br />

Geschichte der «Korrektive»<br />

nachgezeichnet<br />

Ansprache von Peter Dörflinger,<br />

Leiter KESB Nordbünden<br />

(heute Leiter KESB Appenzell Ausserrhoden)<br />

Die «Stiftung Gott hilft» zeigt in Ihrer Ausstellung<br />

anschaulich, welcher Wertewandel<br />

in den letzten hundert Jahren – das sind drei<br />

bis vier Generationen! – stattgefunden hat.<br />

Damit wird auch die Geschichte der «Korrektive»<br />

nachgezeichnet, welche geschaffen<br />

wurden, wenn zum Beispiel Familienverhältnisse<br />

von der geltenden Norm abweichen<br />

oder wie man mit Kindern umzugehen hat,<br />

die besondere Bedürfnisse haben.<br />

«Heime» haben in der Öffentlichkeit seit je<br />

einen negativen Klang. Der Ausspruch, den<br />

man auch heute noch hört, wenn Eltern bei<br />

der Erziehung an ihre Grenzen kommen:<br />

«sonst kommst du ins Heim», spricht für<br />

sich. Noch negativer ist vermutlich der Ruf<br />

der Kindes- und Erwachsenschutzbehörde<br />

KESB, wenn man auf die Boulevardpresse<br />

und die vielen Foren auf den sozialen Medien<br />

abstellt. Der schlechte Ruf der Heime und<br />

der KESB gründet zu einem grossen Teil auf<br />

Nichtwissen oder einseitigen Sichtweisen. …<br />

In den Bereichen hat eine Professionalisierung<br />

stattgefunden. Schauen Sie sich nachher<br />

in der Ausstellung die Visualisierung des<br />

Verhältnisses der Anzahl Kinder zu den Mitarbeitenden<br />

der Heime an. Heute kommt auf<br />

ein Kind fast eine Mitarbeitende/ein Mitarbeiter.<br />

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

wurde «Kind sein» klein geschrieben<br />

und «gehorchen» und «arbeiten» gross.<br />

Entsprechend wenig auf die Individualität<br />

ausgerichtet war die Betreuung, die zudem<br />

oft von nicht ausgebildeten Personen geleistet<br />

wurde. Das ist heute zum Glück anders.<br />

«Ich bin der Sohn einer<br />

19-jährigen Frau ohne Mann»<br />

Ricardo Ardüser, Ansprache an der Vernissage<br />

der Ausstellung «Wenn es scheinbar nicht mehr<br />

weitergeht» (gekürzt)<br />

Damals war dies eine grosse Sünde. Ein Vormund<br />

wies mich damals mit ca. 1,5-jährig in<br />

das Heim ein. Kleine Kinder wurden in die<br />

Säuglingsabteilung aufgenommen. Wir wurden<br />

von Tanten und den ältesten Mädchen<br />

betreut. Von den Säuglingen wechselte man<br />

zu den «Höcks», also Kinder, die man tagsüber<br />

beschäftigen musste. Je nach «Reife»<br />

wechselte man von dieser Abteilung in eine<br />

Gemischtengruppe, genannt Familie.<br />

Ich kam – etwas früher als meine Jahrgänger<br />

– ca. 2,5-jährig – zur Familie Schwalben.<br />

Die Tagesabläufe verliefen jeweils nach Plan,<br />

sehr militärisch, mit Zucht und Ordnung. Um<br />

6.30 Uhr war Tagwache. In den Gruppenzimmern<br />

wurde durch die Aufsicht (genannt<br />

Tante) Licht gemacht, und es ertönte «Aufstehen».<br />

Dies bedeutete für uns: wie der<br />

Blitz aus dem Bett, Bettdecken zurückschlagen<br />

und sich im Kreis in der Zimmermitte<br />

aufstellen. Die Tante kam zurück, und es erfolgte<br />

ein Gebet. Anschliessend holte jeder<br />

sein Putzkistchen und machte Hausarbeiten<br />

mit anschliessender Kontrolle durch die Aufsichtsperson.<br />

Das Geläut einer Kuhglocke<br />

um ca. 7.20 Uhr, befestigt an einer Ziehstange<br />

beim Schwalbenhaus, rief uns an den<br />

Tisch zum Frühstück. Jeden Tag Hafergrüzensuppe<br />

und im Winter zusätzlich Fischtran/Lebertran.<br />

Vor dem Essen ein Gebet<br />

und nach dem Essen ein Gebet.<br />

Anschliessend «sausten» wir in die Schule.<br />

So wie wir uns erinnern können, wurde alles<br />

im Tempo ausgeführt. In die Schule rannten<br />

wir; ob Heimschule oder in den Dörfern Igis<br />

und Zizers. Als Lehrer/Innen im Heim walteten<br />

Tanten oder Onkel und die Frau von jun.<br />

Rupflin, genannt Müeterli. 11.45 Uhr: Schulende;<br />

die Glocke rief zum Mittagessen. Zu<br />

erwähnen ist, dass die jeweiligen Mahlzeiten<br />

in der Grossküche im Haus Marin zubereitet<br />

wurden und von vorbestimmten Kindern abgeholt<br />

und zu den jeweiligen Familien gebracht<br />

wurden. Es gab eine Suppe, Gemüse<br />

und Kartoffeln. Anschliessend gab es für<br />

diejenigen, die nicht einer Arbeit, genannt<br />

«Ämtli», wie beispielsweise Geschirrabwaschen,<br />

Trocknen oder Tischputzen, zugeteilt<br />

waren: Spielzeit; im Sommer auf dem grossen<br />

Aussenplatz zwischen Schwalbenhaus<br />

und Hühnerhof.<br />

13.00 Uhr: Nachmittagsschule bis ca. 15.00<br />

Uhr. Nach der Mittagsschule gab es einen<br />

Zvieri, meist ein Stück selbst gebackenes<br />

Brot und Obst, im Winter selbst gemachte<br />

Dörrfrüchte. Wir Knaben versammelten uns<br />

in der Folge bei der Teppichstange (Platz<br />

vor dem Leuchtkäfergebäude). Dort verteilte<br />

Vater Rupflin Arbeiten, im Sommer auf den<br />

Feldern, im grossen Garten/ im Winter Kartoffelkeller,<br />

Gartenhaus oder Scheune, etc.<br />

17.30 Uhr: Hausaufgaben in den jeweiligen<br />

Familien. 18.30 Uhr: Die Glocke läutet zum<br />

Nachtessen. Mais, Gries, Milchreis, geschwellte<br />

Kartoffeln; kein Fleisch. Für uns

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