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mittlerweile verstorbenen Großmutter, oder aber später meiner Mutter zum Opfer<br />
gefallen. Offenbar hatte er sie gut vor ihnen versteckt und erst hervorgeholt, als er<br />
wußte, dass er es nicht mehr lange machen würde. Die krakelige Schrift auf dem Karton<br />
verriet, dass es noch nicht sehr lange her sein konnte, dass er sie für mich bereitgestellt<br />
hatte.<br />
Ich merkte nicht, wie meine Familie die Wohnung verließ, verkroch mich, die Schuhe<br />
umklammert, in diesem Zimmer und hing Anekdoten nach, die mein Großvater von sich<br />
und seinem Freund erzählt hatte.<br />
„Junge“, hatte er oft am Ende seiner Erzählungen gesagt, „diese Schuhe sind magisch.<br />
Sie wurden über so lange Zeit mit so viel Liebe bedacht, sie sind gewiß verzaubert.“<br />
Mein Großvater hatte sich oft gewünscht, mir würde eine ähnliche Liebe widerfahren,<br />
aber natürlich ohne deren grausames, abruptes Ende. Ja, manchmal hatte er mich<br />
regelrecht aus der Wohnung gejagt mit dem Befehl, mich zu verlieben. Ich war dann den<br />
halben Tag durch die Auen gelaufen, hatte mir Kinofilme angesehen oder in einem Café<br />
ein Buch gelesen, und war Abends unverrichteter Dinge wieder heimgekehrt.<br />
Wenn er wissen wollte, ob ich jemanden kennen gelernt hatte, erzählte ich manchmal<br />
kleine Geschichten. Ich betrieb auf einer ganz anderen Ebene Heimlichtuerei: ich verbarg,<br />
dass ich das mit der Liebe nicht konnte. Ich kriegte das einfach nicht hin, wußte nicht, wie<br />
man das machte. Es war mir ein Rätsel geblieben.<br />
Irgendwann hatte ich mir, als er mich wieder einmal davon jagte um die Liebe zu<br />
finden, dieses Theaterstück angesehen und mich in einen der Nebendarsteller verguckt.<br />
Natürlich nur von meinem Platz aus, denn ich hatte nicht den Mut, ihn hinter der Bühne<br />
aufzusuchen, um zumindest ein Autogramm zu erhalten. Dabei war es ein winziges<br />
Theater und ein Leichtes, mit den Schauspielern in Kontakt zu kommen, wenn man<br />
wollte.<br />
Statt dessen hatte ich sein Foto aus dem Programmheft ausgeschnitten, und eine<br />
wilde Geschichte um ihn herum zusammen fantasiert.<br />
Das war die einzige Sache, in der ich meinen Großvater je belogen habe. Aber ich<br />
vermutete, er wußte es, denn er bat nie darum, ihn kennenzulernen. Ich war überzeugt,<br />
hätte er geahnt, dass es ihn wirklich gab, er hätte ihn kennenlernen wollen. So aber<br />
wollte er mir meine Fantasie lassen und mich nicht bloßstellen. Er liebte die Geschichten,<br />
die ich erfand und ich steigerte mich mitunter so in sie hinein, dass ich mir wünschte, sie<br />
wären tatsächlich geschehen.<br />
Mittlerweile war es dunkel geworden und ich schlich durch das Chaos, das meine<br />
Familie hinterlassen hatte. Nichts stand mehr an seinem Platz, viele Dinge fehlten, in<br />
erster Linie aber war nur alles auf der Suche nach Bargeld zerwühlt worden. Noch immer<br />
im Anzug meines Großvaters und beide Paar Schuhe an meine nackte Brust gepreßt, legte<br />
ich mich in die Kuhle, die der sterbende Körper hinterlassen hatte. Immerhin hat keiner<br />
von meiner Familie den Mut gehabt, diese Stelle zu berühren, vermutlich aus Angst vor<br />
dem Tod oder den Spuren der Inkontinenz. Jetzt ließ ich mich in diese – über viele Monate<br />
und Jahre hinweg entstandene – Mulde sinken, umschlang die Schuhe, kuschelte mich in<br />
die stinkende Matratze und schlief ein letztes Mal in dieser Wohnung.<br />
°°°<br />
„Boa, ist das eklig!“, weckte mich die Stimme meiner Schwester. Ich blinzelte und<br />
blickte hoch zu vier Silhouetten, die auf mich herab sahen.