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Ä<br />

gypten ist stabil. Das dachten zumindest alle. Doch Tunesiens Regierung<br />

war gerade erst gestürzt, als ein Facebook-Mitglied unter<br />

dem Pseudonym ElShaheed zum Protest aufrief: »Kommt zum<br />

Tahrir-Platz, am Samstag dem 25. Januar.« Die Nachricht verbreitete<br />

sich über die sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer. Innerhalb<br />

weniger Tage versammelten sich tausende Menschen in mehreren<br />

ägyptischen Städten und demonstrierten für Freiheit und Reformen.<br />

Auch für Hend Labib waren die Unruhen eine Überraschung.<br />

Jäh wurde sie aus ihrem Alltag an der Freien Universität gerissen.<br />

Die junge Ägypterin studiert Politikwissenschaft am Otto-Suhr-<br />

Institut. Was sie hier nur in der Theorie behandelt, wurde in ihrer<br />

Heimat plötzlich Realität. Hend wuchs in der Nachbarschaft<br />

des Tahrir-Platzes auf, der als Ausgangspunkt der Revolution zum<br />

Symbol für den arabischen Frühling wurde. Wenn sie nun die Berichte<br />

von den Straßen Kairos in den Medien verfolgt, dann sieht<br />

sie keine exotischen Plätze voller Demonstranten und Sicherheitskräfte,<br />

sondern Schauplätze ihrer Kindheit, wo ihre Familie noch<br />

immer wohnt.<br />

Die 24-jährige Masouda Stelzer ist Tochter eines deutschen Einwanderers.<br />

Zum Studieren ist sie nach Berlin gekommen. Viele ihrer<br />

Schulfreunde und Bekannte protestierten auf dem Tahrir-Platz<br />

gegen das Regime. Nichts konnte sie einschüchtern. Sie wichen<br />

auch nicht, als der Innenminister Scharfschützen postieren ließ<br />

und die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas auf sie losging.<br />

Masouda macht sich aber nichts vor. Sie ist sich bewusst, dass<br />

die Bewegung von einer privilegierten Jugend angetrieben wird.<br />

Anders als die Menschen, die am meisten unter dem Regime litten,<br />

haben sie die Zeit, Proteste zu organisieren und Zugang zu<br />

höherer Bildung. Gerade deshalb sehen sich die jungen Ägypter<br />

in der Verantwortung dafür zu kämpfen, auch den Ärmsten eine<br />

Perspektive zu geben – bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 30%<br />

keine einfache Aufgabe. »Das Mubarak-Regime hat zu lange versäumt,<br />

das Land zu reformieren. Jetzt hat sich der Unmut darüber<br />

entladen«, fasst Masouda die Situation zusammen.<br />

•<br />

Während sich der Druck auf den Straßen erhöhte, standen<br />

für Hend schlaflose Nächte bevor. Das Regime kappte sämtliche<br />

Kommunikationswege. »Ich hatte keine Möglichkeit mehr, meine<br />

Familie in Kairo zu erreichen, weder über Telefon noch per<br />

Internet.« Unterdessen rollten wenige Schritte vom Arbeitsplatz<br />

ihrer Mutter Panzer auf. Die Lage in Kairo eskalierte. Zur gleichen<br />

Zeit konnte Hend in Berlin lediglich Videozusammenschnitte im<br />

Internet verfolgen. Hend und Masouda war klar, dass sie sofort<br />

in ihre Heimatstadt zurückkehren mussten. Zu Tatenlosigkeit<br />

verdammt zu sein, während zuhause alles aus den Angeln gehoben<br />

wird, war für beide schwer zu ertragen. Schließlich waren es<br />

Furios 06/2011<br />

ihre Mütter, die sie davon abhielten, nach Ägypten zu kommen.<br />

Masouda erinnert sich: »Meine Mutter sagte mir immer wieder, es<br />

wäre gar nichts los.«<br />

Dabei war allen klar: Die Realität sah anders aus. Es gab massenhaft<br />

Überfälle und Plünderungen. Die Untätigkeit der Polizei<br />

war Kalkül des Regimes. »Ohne uns versinkt ihr im Chaos« lautete<br />

die Botschaft. Eine Drohgebärde, auf die sich die Bevölkerung<br />

nicht einließ. Sie bildete eine Bürgerwehr, um die Straßen<br />

und Geschäfte zu sichern. Masoudas Bruder, gerade erst achtzehn<br />

geworden, half Straßensperren zu errichten, um Plünderer aufzuhalten,<br />

während Hends Vater jede Nacht mit dem Gewehr in der<br />

Hand in der Nachbarschaft patroullierte. Derweil erreichte die<br />

revolutionäre Stimmung vom Tahrir-Platz auch Berlin. Dutzende<br />

demonstrierten vor der ägyptischen Botschaft und am Brandenburger<br />

Tor. Hend war oft dabei. »Ich hatte aber nicht das Gefühl,<br />

einen echten Beitrag zu leisten«, sagt sie.<br />

Die Anspannung entlud sich erst in dem Moment, als klar wurde:<br />

Mubarak war zurückgetreten. Jubel brandete auf am Brandenburger<br />

Tor.<br />

•<br />

titeLthema: heimat<br />

Mittlerweile sieht Masouda die Dinge nüchterner. »Ob das mit<br />

der Demokratie klappt, ist für mich die große Frage. Ein Regime<br />

ist schneller abgeschafft, als ein neuer Staat errichtet«, sagt sie.<br />

»Die Bevölkerung hat zwar eine Chance, sich neu zu orientieren,<br />

doch die Menschen sind sehr ungeduldig und fordern sofortige<br />

Ergebnisse.« In Ägypten stellt die Armee inzwischen eine Übergangsregierung,<br />

für den Herbst sind Neuwahlen geplant. Kritiker<br />

wie der Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei halten<br />

das für verfrüht. Den Parteien bleibe zu wenig Zeit, sich zu organisieren.<br />

Gespräche über Politik stehen in Kairo nun an der Tagesordnung.<br />

»Vor der Revolution waren alle Fußballexperten, nach der<br />

Revolution sind alle Politikexperten,« fasste es eine Freundin<br />

Masoudas zusammen. Fürs erste hat das Militär die Zügel in die<br />

Hand genommen und begleitet den politischen Wechsel. Die Sorge<br />

ist groß, dass der erfolgreiche Regime-Sturz nicht zu echten<br />

Reformen führt und der Umschwung versiegt. Neue Proteste formieren<br />

sich. Doch unabhängig davon, was in den nächsten Monaten<br />

geschieht, sind die beiden FU-Studentinnen stolz auf das,<br />

was bereits erreicht wurde. »Früher galt die ägyptische Jugend als<br />

passiv und politikverdrossen. In den letzten Monaten hat sich das<br />

als falsch erwiesen.« ■<br />

Michael Wingens studiert Politikwissenschaft im 2. Semester<br />

und freut sich darauf, nächstes Jahr das neue Kairo zu<br />

erkunden.<br />

Filip Tuma studiert Sinologie, Politik- und Musikwissenschaft.<br />

Er beobachtet mit Neugier, wie sich in China Netzaktivisten<br />

ihren Weg bahnen.<br />

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