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titeLthema: heimat<br />
Berlin – sO nah, sO Fern<br />
Sie kommen um zu bleiben. Jedes Jahr wird Berlin für zigtausende junge Menschen zur<br />
neuen Heimat. hendriK pAuli kam vor anderthalb Jahren – und fremdelt immer noch.<br />
I<br />
ch bin kein gutes Vorbild. Für einen Berlinbewohner<br />
unter dreißig gehört es sich,<br />
von dieser Stadt uneingeschränkt begeistert<br />
zu sein. Vor allem als Zugezogener,<br />
für den Großstadtluft überall sonst kaum<br />
erschwinglich ist. Berlin ist keine Stadt,<br />
Berlin ist eine Marke, die mittlerweile als<br />
Lebensgefühl Karriere gemacht hat: arm,<br />
aber sexy. Ich bin nicht uneingeschränkt<br />
begeistert. Seit fast anderthalb Jahren versuche<br />
ich, mir die Stadt zu eigen zu machen,<br />
versuche ich heimisch zu werden. Der gute<br />
Vorsatz ist da, aber gelingen will es mir<br />
nicht so richtig. Begeisterte Neu-Berliner<br />
würden meine Integration wahrscheinlich<br />
für gescheitert erklären.<br />
Eigentlich habe ich mein ganzes Leben<br />
in der Provinz verbracht. Zuerst in der<br />
westfälischen, dann einige Jahre in der fränkischen,<br />
zwischendurch auch mal ein paar<br />
Monate in Düsseldorf und Mainz, was im<br />
Grunde auch Provinz ist. Nun also Berlin,<br />
das nicht wenige für die derzeit aufregendste<br />
Metropole der Welt halten. Großstadtabenteuer<br />
in einer Stadt mit 24-Stunden-BVG<br />
und flächendeckender Billig-Gastronomie.<br />
Wie viele andere hatte auch ich meinen<br />
persönlichen Berlin-Moment. Der<br />
Moment, in dem mir klar wurde: Da will<br />
ich hin – ohne zu bedenken, dass ich dort<br />
auch leben muss. Einfach so dahinleben,<br />
das geht in Berlin nicht. Jedenfalls nicht für<br />
Illustration von rAchel edelstein.<br />
einen Binnenmigranten wie ich es bin, der<br />
nicht nur zum Studieren hier ist, sondern<br />
auch auf seinem persönlichen Kreuzzug ins<br />
Glück. Die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten.<br />
»Give me your tired, your poor,<br />
your huddled masses«, das ist das Liebesversprechen<br />
am Fuß der New Yorker Freiheitsstatue<br />
für alle mit einer Idee von einem<br />
anderen, besseren Leben.<br />
Berlin will Neuankömmlingen auch<br />
etwas besonderes bieten, aber nicht unbedingt<br />
eine Aufstiegsgeschichte. Die Stadt<br />
ist arm und will sexy sein. Das klingt halb<br />
nach Versprechen, halb nach Warnung. Ein<br />
Flirt mit allen Vergnügungssüchtigen, mehr<br />
aus Verlegenheit, denn aus Überzeugung.<br />
Ich habe meine Flegeljahre längst hinter<br />
mir. Ich will nicht mehr flirten, sondern<br />
eine ernsthafte Beziehung, ein Glück, das<br />
länger hält, als die nächste Trendblase.<br />
Wer sein Glück machen und wer der<br />
Stadt etwas abtrotzen will, der muss sie<br />
mögen. Er muss sie verteidigen gegen ungerechtes<br />
Urteil und wenn er es wirklich<br />
ernst meint, muss er ihr irgendwann auch<br />
seine Liebe erklären. Doch Liebe wird nur<br />
gegenseitig oder sie wird gar nicht.<br />
Mit 3,4 Millionen Menschen teile ich<br />
diese Stadt, mit hundertzwanzigmal mehr<br />
als der Kleinstadt, aus der ich komme. Besonders<br />
viel Liebe kann ich wohl nicht erwarten.<br />
Wenn überhaupt.<br />
Mehr als 700 Jahre organische Stadtgeschichte.<br />
Geschichte quasi über Nacht getilgt;<br />
danach dreimal die Stunde Null: 1945<br />
Teilung, 1961 Mauerbau und 1989 Mauerfall.<br />
Berlin, die verspätete Hauptstadt, die<br />
ich vor 16 Jahren zum ersten Mal für ein<br />
paar Tage besuchte, ist also gerade erst der<br />
Pubertät entwachsen. Wer ist da schon zu<br />
wahrer Liebe fähig.<br />
»Die Stadt gibt dir nichts«, sagt der<br />
Schriftsteller Maxim Biller, »sie nimmt<br />
nur.« Vor zwei Jahren hat der Filmmacher<br />
Igor Paasch den Autor und andere Lokalprominente<br />
für seine Dokumentation<br />
»Willkommen in Berlin« zu ihrem Berlin-<br />
Gefühl befragt. Das reicht von seliger Verzückung<br />
bis blanker Verachtung. Berauscht<br />
sein, angewidert sein, verliebt sein – jede<br />
Empfindung ist oft nur eine Straßenecke<br />
entfernt.<br />
• •<br />
Man muss Ringen mit der Stadt, weil<br />
sie mit sich selbst ringt. »Frag die Leute aus<br />
New York, wo sie glauben, dass gerade alles<br />
passiert«, sagt Biller. Ich will gar nicht in<br />
New York nachfragen, sondern in Passau,<br />
Bonn und Braunschweig. Und ich will dabei<br />
in glänzende Augen sehen. Weil Berlin<br />
ihnen gefällt und nicht nur, weil sie leicht<br />
zu beeindrucken sind.<br />
Paris ist die Diva, Moskau die Hure und<br />
New York die Stadt, die niemals schläft.<br />
Was ist Berlin? Die Metropole mit den<br />
meisten innerstädtischen Grünflächen? Das<br />
Furios 06/2011