Wagnereinmalig No. 1
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Cover<br />
sei<br />
Dank.<br />
Von Vea Kaiser<br />
30<br />
Wagner’sche.<br />
Wenn man in einem abgeschiedenen niederösterreichischen Dorf<br />
aufwächst, wo sich die Mädchen bereits am Montag zu über legen<br />
beginnen, welches im Versandkatalog bestellte Outfit sie zum<br />
Fußballmatch der Burschen am Sonntag anziehen, dann liest man<br />
entweder nur, wenn man muss, oder immer, wenn man kann.<br />
Seit ich lesen konnte, verschlang ich alles, was ich im Jugendzimmer<br />
meines Onkels fand. Karl May, Enid Blyton,<br />
ganz egal was, Hauptsache, es zeigte mir eine Welt, die<br />
nicht von blonden, blauäugigen Sandkastendominas und<br />
der Tennisplatzmafia regiert wurde. Als ich jedoch in die Pubertät<br />
kam, ging mir der Nachschub aus. Das Jugendzimmer meines<br />
Onkels war ausgelesen, die paar interessanten Werke im schmalen<br />
Regal meiner Eltern auch, und die Dorfbücherei, die sonntags im<br />
Anschluss an die Kirchmesse geöffnet hatte, boykottierte ich. Ich<br />
hatte panische Angst, würde ich dieselben Bücher lesen wie die<br />
Dorfbewohner, würde ich eines Tages meinen Cousin heiraten, ein<br />
Fertigteilhaus bauen und Tupperwarepartys entgegenfiebern.<br />
Meine Hoffnung war, dass mir im katholischen Privatgymnasium,<br />
auf das ich nach der Volksschule wegen meiner guten <strong>No</strong>ten<br />
wechseln durfte, der Weg in die Welt der Erwachsenenliteratur<br />
geebnet werden würde. Doch meine Klasse wurde von der Unterstufe<br />
bis zur Matura von einem gescheiterten Dichter unterrichtet.<br />
Unser Lehrer war in seiner Studienzeit mit der Wiener Gruppe<br />
im Café Hawelka abgehangen. Hatte mit H. C. Artmann, Friedrich<br />
Achleitner und Co. über die Erneuerung der Literatur philosophiert,<br />
war jedoch nie bei einem Verlag gelandet, sondern an unserer<br />
Schule – und die einzigen Texte, die er uns zu lesen gab, waren<br />
seine eigenen. Und zu besonderen Anlässen die seiner früheren<br />
Freunde. Hausübungen mussten wir keine schreiben, da er ohnehin<br />
jede Aufgabe selbst löste und uns in der folgenden Stunde einen<br />
von ihm verfassten „Musteraufsatz“ austeilte.<br />
Mit dreizehn schließlich entdeckte ich nicht nur, dass ich Brüste<br />
bekam, sondern auch, dass sich ein kleines bisschen Mut darunter<br />
befand, und so schlich ich nach der Schule regelmäßig in die kleine<br />
Buchhandlung in der Fußgängerzone. Meine dortigen Besuche<br />
waren beeinträchtigt vom Zeitdruck, rechtzeitig zum Bahnhof zu<br />
kommen. Ein Zug fuhr zwar stündlich, doch der eine Bus, der vom<br />
Bahnhof an der Westbahnstrecke hinein in die Voralpen zu meinem<br />
kleinen Dorf fuhr, nur vier Mal täglich. Ich hatte große Angst,<br />
die Buchhändler würden mich irgendwann für eine Diebin halten,<br />
wenn ich mich lediglich hektisch umsähe, aber nie etwas kaufte,<br />
und so beschloss ich eines Tages, nicht hinauszugehen, ohne ein<br />
Buch zu erwerben. Auf Samtpfoten wanderte ich um die freistehenden<br />
Tische, betrachtete immer nur die in Plastik eingeschweißten<br />
Exemplare, damit die Buchhändler nicht schimpften, ich würde sie<br />
schmutzig machen, und dann hatte ich plötzlich dieses eine Buch<br />
in der Hand. Auf dem in Blautönen gehaltenen Cover schlug ein<br />
kleines Mädchen oder ein langhaariger Bursche mit einem überdimensionalen<br />
Hammer auf ein am Amboss liegendes Herz ein und<br />
hatte dabei ein diebisches Lächeln im Gesicht. Ich hatte natürlich<br />
keinen Schimmer, dass das eine Darstellung Eros’ war, ich – mitten<br />
in der Pubertät, den Hormonen zum Abschuss ausgeliefert – dachte<br />
nur daran, wie zerbrechlich Herzen sind und wie manche rücksichtslos<br />
mit ihnen spielen, gleich diesem abgebildeten Kind. Wie viel<br />
Weisheit alleine das Cover enthielt! Wer der Autor war, was für ein<br />
Landsmann, das war mir alles egal. Er hieß Jeffrey Eugenides und<br />
gehört hatte ich noch nie von ihm. Den Klappentext ignorierte ich,<br />
was ein Pulitzer-Preis war, wusste ich ohnehin nicht, es klang aber<br />
immerhin nach etwas Wichtigem, und dass der Titel dieses Romans,<br />
nämlich Middlesex, das Wort „Sex“ beinhaltete, machte mich erst<br />
recht neugierig. Also hastete ich zum Tresen, bezahlte unter Zuhilfenahme<br />
aller Cent-Stücke, die sich am Boden meiner Schultasche<br />
fanden, die für mich damals astronomische Summe von 20,45 und<br />
lief aus der Buchhandlung, ehe mich jemand fragte, was ein junges<br />
Mädchen wie ich mit einem Buch für Erwachsene wolle, und ob<br />
mir meine Eltern überhaupt erlaubten, etwas zu kaufen, auf dem<br />
das Wort „Sex“ stand. Im Kopf hatte ich dabei die Stimme meines<br />
Vaters, der mich rügte, warum ich nicht auf die Veröffentlichung<br />
des Taschenbuchs gewartet hätte, wenn es schon nicht in unserer<br />
Dorfbücherei erhältlich sei.<br />
<strong>No</strong>ch im Zug begann ich zu lesen. Selbst im nach<br />
nassem Hund riechenden Bus hörte ich nicht auf, und<br />
drei Tage später war ich nicht nur mit den siebenhundert<br />
Seiten fertig, sondern ein anderer Mensch geworden.<br />
Als ob mich mein erstes Buch für Erwachsene selbst erwachsen<br />
gemacht hätte.<br />
In Middlesex geht es um Cal, der durch den Inzest seiner griechischen<br />
Großeltern als Hermaphrodit geboren und als Mädchen<br />
Calliope erzogen wird, ehe er in seiner Pubertät beschließt, als<br />
Mann leben zu wollen. Ausgehend von dieser Figur wird die Geschichte<br />
der gesamten Familie und all ihrer Mitglieder erzählt.<br />
Beim Lesen erfuhr ich nicht nur von der Vertreibung der Griechen<br />
aus Klein asien, dem Leben in der griechischen Diaspora, dem<br />
American Dream, nein, ich lernte auch, dass man seiner Familie,<br />
egal, ob man ein enges Verhältnis mit ihr pflegt oder vor ihr flüchtet,<br />
nie ent kommen kann. Familie ist immer da, und die Entscheidung<br />
eines Einzelnen beeinflusst schlussendlich alle. Als ich las, wie<br />
Cal seinen Großeltern ihren Inzest vergibt, versöhnte ich mich<br />
mit dem Leben, in das mich meine Familie geboren hatte. Genauso<br />
wie Cals Großeltern nicht ausgesucht hatten, sich ineinander zu<br />
verlieben, hatten meine Großeltern keine andere Wahl gehabt, als<br />
in diesem niederösterreichischen Dorf zu leben, in dem sie geboren<br />
wurden, wie auch meine Eltern, die nunmal einen Baugrund von<br />
meinen Urgroßeltern vermacht bekommen hatten und zum Teufel<br />
gejagt worden wären, wenn sie das Erbe verkauft hätten. Ich weiß,<br />
es ist unfair, die Folgen einer Genmutation mit den Widrigkeiten<br />
des Landlebens in einen Topf zu werfen, aber zu meiner Entschuldigung:<br />
ich war dreizehn. Nicht gerade ein Alter, das sich durch<br />
Weitsicht und emotionale Reife auszeichnet.<br />
Doch am Allerwichtigsten sollte eine ganz bestimmte<br />
Szene für mich werden. Eine Figur namens Milton<br />
kommt während einer Verfolgungsjagd im Auto von der<br />
Straße ab. Zunächst heißt es, dass der Wagen plötzlich<br />
von alleine fährt, gar nicht mehr gelenkt werden muss, Milton zurückführt<br />
an die einzelnen Stationen seines Lebens – und plötzlich<br />
merkt man, dass die Figur gerade gestorben ist. Dieser erzählerische<br />
Kunstgriff beeindruckte mich so massiv, dass ich ihn stehlen<br />
musste. Und so schrieb ich die erste Kurzgeschichte meines Lebens.<br />
Sie handelt von einer jungen Frau, die sich ständig in Schwierigkeiten<br />
bringt, weil sie denkt, dass ihr Vater sie nicht liebt. Und als<br />
ihr der Vater schließlich zu Hilfe eilt, kommt er mit seinem Wagen<br />
vom Weg ab und wundert sich, dass das Auto plötzlich von alleine<br />
fährt. Kurze Zeit später las ich in der Lokalzeitung von einem<br />
Schreibwettbewerb für Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährige, sandte<br />
die Geschichte ein und hoffte, niemandem fiele auf, dass ich erst<br />
dreizehn war. Mein Deutschlehrer meinte, die Geschichte sei scheiße,<br />
und empfahl mir, ich solle anrufen und sie zurück ziehen. Zum<br />
Glück traute ich mich nicht. Die Jury nämlich fand die Geschichte<br />
so gut, dass sie mir das Jugendamt vor die Tür schickte. Man<br />
dachte, eine Dreizehnjährige könne sich so etwas nicht ausdenken.<br />
Nachdem das Jugendamt jedoch festgestellt hatte, dass meine Eltern<br />
glücklich verheiratet waren und ich keine Drogen nahm, bekam<br />
ich den ersten Preis: tausend Euro. Panisch beichtete ich daraufhin<br />
der Jury, dass ich die Szene mit dem Tod des Vaters gestohlen hatte.<br />
Die jedoch meinte, diese Szene habe ihr ohnehin am wenigsten<br />
gefallen, sie habe wie ein Fremdkörper gewirkt, und ich hätte den<br />
Preis für die Schilderung der Beziehung zwischen Vater und Tochter<br />
erhalten. Daraufhin investierte ich das Geld in einen Laptop und<br />
begann, aus dieser Kurzgeschichte einen Roman zu machen.<br />
Natürlich scheiterte ich kläglich. Doch ich gab nicht auf, las<br />
zur Ermutigung noch viele Male Middlesex, bis zehn Jahre später<br />
tatsächlich mein erster Roman fertig war und sogar veröffentlicht<br />
wurde.<br />
Je mehr ich nachdenke, desto mehr Episoden fallen mir ein, in<br />
denen Middlesex Einfluss auf mich hatte: als ich beschloss, für ein<br />
halbes Jahr nach Detroit zu gehen, wo das Buch spielt, oder als<br />
ich sechs Stunden lang durch die Buchhandlungen Triests lief, um<br />
meinem Geliebten die italienische Übersetzung zu schenken. Oder<br />
die Nacht, in der besagter Geliebter und ich bis in den Sonnenaufgang<br />
über dieses Buch redeten und ich verstand, was Glück<br />
bedeutet, nämlich in einem Moment an keinem anderen Ort,<br />
mit keinem anderen Menschen, in keiner anderen Situation sein<br />
zu wollen.<br />
Nachdem mein zweiter Roman auch eine griechische Familiengeschichte<br />
erzählt, taufte ich Jeffrey Eugenides zu Ehren eine<br />
meiner Hauptfiguren nach einer seiner Hauptfiguren: Eleftherios,<br />
von allen Lefti gerufen.<br />
Das einzige Problem: Wenn man so sehr an einem Buch<br />
hängt, verleitet es einen zu kruden Handlungen. Letztes<br />
Jahr gab ich mein als Dreizehnjährige erstandenes<br />
Exemplar zum Zeichen meiner Liebe einem Mann, von<br />
dem ich dachte, wir würden den Rest unseres Lebens miteinander<br />
verbringen. Natürlich endete diese Beziehung im Drama, und auch<br />
wenn wir nicht mehr miteinander reden, mein Middlesex will ich<br />
wiederhaben. Und wenn das bedeutet, dass ich in seine Wohnung<br />
einbrechen muss. Liebschaften kommen und gehen. Doch dieses<br />
eine Buch, das mein Leben von Grund auf verändert hat, muss auf<br />
ewig an meiner Seite bleiben.<br />
Original-Text erschien<br />
in NEON 10/14<br />
Bücher seit 1639<br />
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