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DieOStSTEIRISCHE<br />
Leben auf dem Lande, Teil 2<br />
Wie es bei den armen Leuten war<br />
Wer noch weiß, wie elend das<br />
Leben auf dem Lande für die<br />
Habenichtse sein konnte, staunt<br />
n<strong>at</strong>ürlich über die romantischen<br />
Bilder aus der angeblich „guten<br />
alten Zeit“. Dabei weiß Gottfried<br />
Eicher durchaus von Herzenswärme<br />
und Zuneigung zu erzählen,<br />
die er in seiner Kindheit kurz<br />
erlebt h<strong>at</strong>. Aber wenn bei einem<br />
Haus nicht mehr alle Leute<br />
durchgefüttert werden konnten,<br />
wurden Kinder üblicherweise<br />
weggegeben. Sie kamen dann<br />
als billige Arbeitskräfte zu fremden<br />
Bauern.<br />
Arm sein, das hieß ganz konkret rechtlos<br />
und schutzlos sein. Eicher wirkt<br />
heute noch in manchen Momenten eines<br />
Gespräches von diesen Erfahrungen derart<br />
erschüttert, daß er stockt. Was schmerzt so<br />
12 DIE OSTSTEIRISCHE JUNI 2011<br />
sehr? Einerseits Ungerechtigeit und<br />
Brutalität, der das Kind Gottfried ausgesetzt<br />
war. Andrerseits die sexuellen Übergriffe<br />
eines Geistlichen. Diese Wunde<br />
scheint bis heute nicht geschlossen zu sein.<br />
Es war üblich, daß Kinder im Alter zwischen<br />
vier und sechs Jahren in die<br />
Arbeitswelt eingeführt wurden. Wasser<br />
und Feuerholz holen, Ernterückstände<br />
einsammeln, für die kleineren Tiere sorgen.<br />
Was gab es zu essen? „Kartoffeln,<br />
Maisschrot und Milchsuppe.“ Frühstück?<br />
Nein. Die armen Kinder gingen<br />
hungrig und barfuß in die Schule. Das<br />
Schlimmste war für Gottfried „der leere,<br />
knurrende Magen“. Er trank viel Wasser,<br />
um durchzuhalten, denn die Ausspeisung<br />
in der Gleisdorfer Schule<br />
erfolgte mittags: Sterz, Eintopf und<br />
Gemüsesuppe. „Immer das Gleiche.“<br />
Manchmal als Nachspeise ein Apfel. Zur<br />
Erinnerung: Gottfried Eicher wurde<br />
1941 geboren. Das war also die Zeit des<br />
Kriegsendes.<br />
Ohne Schuhe, abgerissenes Gewand, ein<br />
alter Leinensack st<strong>at</strong>t einer Schultasche,<br />
dazu der Spott besser gestellter Kinder<br />
und, besonders verletzend, die herablassende<br />
Strenge der Klosterfrauen.<br />
Gottfried sagt, er konnte die Scham<br />
kaum ertragen. Das war eine der<br />
Wahrheiten jener bäuerlich-kleinstädtischen<br />
Gesellschaft in Gleisdorf.<br />
Nächstenliebe ist die Ausnahme gewesen,<br />
Mitleidlosigkeit eine häufige<br />
Erfahrung. Und das in einer Situ<strong>at</strong>ion,<br />
wo Mangel zum Alltag gehörte, zu<br />
jenem Alltag, der manchmal von purer<br />
Not durchbrochen wurde. Nicht in „fernen<br />
Zeiten“, sondern kürzlich, vor bloß<br />
wenigen Jahrzehnten.<br />
Die sexuellen Übergriffe eines Kaplans<br />
mußte der Bub rund zwei Jahre ertragen.<br />
Eine tiefe Kränkung und Qual, die ihm<br />
heute noch praktisch täglich durch den<br />
Kopf geht. Diese nachhaltige Erniedrigung<br />
empfindet er als verschärft, weil<br />
ihm niemand geholfen h<strong>at</strong> und weil darüber<br />
nicht geredet werden durfte. Zur<br />
Ungerechtigkeit, die Gottfried auf manche<br />
Arten kennenlernte, kam also diese<br />
alles verhüllende Heuchelei, bei der<br />
Personen in höherem sozialen Rang<br />
nicht einmal daran dachten, die Werte,<br />
welche man anderen predigte, für sich<br />
selbst als verbindlich anzusehen.<br />
Die Kindheitsgeschichte des Gottfried<br />
Eicher handelt von einer Gesellschaft, in<br />
der ein Recht des Stärkeren vor allem im<br />
Unrecht der Schwächeren erstaunlichen<br />
Bestand h<strong>at</strong>te. Auf traditionelle Autoritäten<br />
wie Bürgermeister, Pfarrer, Lehrer<br />
und Arzt durfte ein uneheliches Dienstbotenkind<br />
da nicht rechnen. Die<br />
„Schande“ der Erwachsenen wurde oft<br />
völlig bedenkenlos den Kindern aufgebürdet.