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Grundschule aktuell 104

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Heft Nr. <strong>104</strong> • IV. Quartal • November 2008 • Best. Nr. 6039 • D9607F<br />

Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V. • Niddastraße 52 • 60329 Frankfurt/Main • Tel. 0 69 / 77 60 06 • www.grundschulverband.de


Die neuen Bücher<br />

125 Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong><br />

Herbst 2008<br />

Schule außerhalb der Schule<br />

Lehren und Lernen an außerschulischen Orten<br />

Karlheinz Burk,<br />

Marcus Rauterberg,<br />

Gudrun Schönknecht<br />

(Hrsg.)<br />

Wird ein Ort im schulischen Zusammenhang aufgesucht,<br />

wird er zu einem schulischen Lern- oder<br />

Lehrort, zur »Schule außerhalb der Schule«. Gründe,<br />

solche Orte aufzusuchen, liegen vor allem in den<br />

besonderen Möglichkeiten, die sie bieten.<br />

Ob dabei auch inhaltlich und methodisch offener<br />

und anders gelernt und gearbeitet wird als in der<br />

Schule, ist auch abhängig von der didaktischen<br />

Vorbereitung der Klasse, der Lehrerin oder des<br />

Lehrers sowie von den pädagogisch-didaktischen<br />

Angeboten und Programmen vor Ort.<br />

Von solchen Orten, den Begründungen, solche<br />

Orte aufzusuchen und den Möglichkeiten, dort zu<br />

lehren und zu lernen, ist in diesem Band die Rede.<br />

Es kommen AutorInnen zu Wort, die aus unterschiedlichen<br />

Perspektiven, Erfahrungen und<br />

Überzeugungen schreiben. Diese Vielfalt gibt einen<br />

Eindruck von den mannigfaltigen Möglichkeiten<br />

des Lehrens und Lernens außerhalb der Schule.<br />

Mit CD<br />

Band 125<br />

ISBN 3-930024-97-7<br />

Best.-Nr. 1083<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />

Dieser Band greift <strong>aktuell</strong>e Forschungs ergebnisse<br />

zum Fremdsprachenunterricht in der <strong>Grundschule</strong><br />

auf. Prinzipien des Lehrens und Lernens von<br />

Fremdsprachen werden beschrieben und durch<br />

Beispiele aus der schulischen Praxis illustriert.<br />

Angesichts der bundesweit mehrheitlich unter richteten<br />

Sprache Englisch beziehen sich viele der Beispiele<br />

auf den Englisch unterricht, aber auch das Konzept<br />

»Lernen in zwei Sprachen« sowie Möglichkeiten<br />

zur Förderung des Sprachbewusstseins durch die<br />

Arbeit mit mehreren Sprachen werden vorgestellt.<br />

Ein besonderer Schwerpunkt dieses Buchs liegt auf<br />

der Ermittlung von Lernständen. Es thematisiert die<br />

Diagnose der mündlichen Fertigkeiten Hören und<br />

Sprechen und regt außerdem dazu an, durch die<br />

Nutzung von Sprachenportfolios die Perspektive der<br />

Kinder einzubeziehen.<br />

Band 126<br />

ISBN 3-930024-98-5<br />

Best.-Nr. 1084<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €


Editorial<br />

»Schweinchenbau«<br />

ist der Spitzname des rosa Gebäudes der Fakultät für Psychologie und<br />

Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort fand an<br />

einem sonnigen Aprilwochenende eine gemeinsame Tagung von Grundschulverband,<br />

Deutscher Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS)<br />

und der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Münchner Universität<br />

statt. Die Vorträge und die Themen der Arbeitsgruppen bilden die Grundlage<br />

für den Themenschwerpunkt dieses Heftes (S. 3 ff.).<br />

»Lernen in Gesprächen und Beziehungen <br />

… aufgrund gemeinsamer Weltbegegnungen und Erfahrungen« sollte das<br />

Zentrum der Tagung sein, so hatte Ute Andresen in der Einladung formuliert.<br />

Und zu Sinn und Zweck hatte sie geschrieben: »Tatkraft und Geduld<br />

der LehrerInnen in der <strong>Grundschule</strong> brauchen immer mal wieder Unterstützung,<br />

Klärung und frische Anregung, damit sie sich ihrer Stärken und schönen<br />

Möglichkeiten neu bewusst werden. Und damit ihnen die tägliche Arbeit mit<br />

den Kindern gelingt und sie befriedigt. Darum diese Tagung.«<br />

Und so war es dann auch: Jeder Vortrag und jede Gruppe hatte eine besondere<br />

Aufgabe. Alles gruppierte sich um eine zentrale Halle, in der man<br />

sich treffen, essen und trinken, plaudern, diskutieren und kennen lernen<br />

konnte.<br />

»Thüringer Bildungsplan«<br />

Den Vortrag von Horst Bartnitzky bei der Auftaktveranstaltung zum<br />

»Thüringer Bildungsplan« dokumentieren wir ab Seite 25. Auch hier geht<br />

es darum, »wie aus Erfahrung Sprache wird«: »Lesen, Schreiben und Rechnen<br />

beginnen bei Kindern weit vor der Einschulung. Umgang mit Schrift ist<br />

nicht für die Schule reserviert, wie das früher gedacht war. Überhaupt nichts<br />

ist für die Schule reserviert, was Kinder schon vor der Schulzeit interessiert und<br />

woran sie arbeiten. Der Bildungsprozess ist nicht in Abteilungen trennbar: hier<br />

Kita, da Schule.« Und: »Schulfähigkeit ist die Kindfähigkeit der Schule.«<br />

»Grundschulgeschichte(n)«<br />

Unsere in Heft 102 begonnene Reihe unter diesem Titel setzen wir mit<br />

einem Text von Hans Brügelmann fort. Diesmal also keine »Grundschulgeschichte«<br />

über jemanden, sondern ein Stück Grundschulgeschichte<br />

von einem nach wie vor Beteiligten, passend zum Schwerpunkt unseres<br />

Heftes: »Mein Weg zum Spracherfahrungsansatz« (S. 23 f).<br />

Ulrich Hecker<br />

Impressum<br />

, die Zeitschrift des Grundschulverbandes erscheint<br />

viertel jährlich und wird allen Mitgliedern zugestellt.<br />

Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Das einzelne Heft kostet 5 €;<br />

für Mitglieder und bei Sammelbestellungen ab 10 Hefte 3 € (incl. Versand).<br />

Verlag: Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Niddastraße 52, 60329 Frankfurt / Main, Tel. 0 69 / 77 60 06, Fax: 0 69 / 7 07 47 80;<br />

Internet: www.grundschulverband.de, E-Mail: info@grundschulverband.de<br />

Herausgeber: Horst Bartnitzky (für den Vorstand des Grundschulverbandes)<br />

Redaktion: Ulrich Hecker, Hülsdonker Str. 64, 47441 Moers, Tel. 0 28 41 / 2 17 14,<br />

E-Mail: ulrichhecker@aol.com<br />

Fotos: Ulrich Hecker (S. 5 und 7) sowie jeweilige Autor/innen<br />

Titel: Katharina Ritter, designritter GRAFIKDESIGNKOMMUNIKATION, 38550 Isenbüttel,<br />

kontakt@designritter.de<br />

Herstellung: novuprint Agentur für Mediendesign, Werbung, Publikationen GmbH,<br />

Bödekerstr. 73, 30161 Hannover, Tel. 05 11 / 9 61 69 – 11, Fax: 05 11 / 9 61 69 – 99<br />

Anzeigenverwaltung: Claudia Klinger, Verlagsgruppe Beltz, Tel. 0 62 01 / 6 00 73 86,<br />

Fax 0 62 01 / 6 00 73 93<br />

Druck: Druck Partner Rübelmann, 69502 Hemsbach<br />

ISSN 1860-8604<br />

Beilagen: »Eine Welt in der Schule« als ständige Beilage sowie eine Beilage des<br />

Oldenbourg Schulbuchverlags<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

1


Tagebuch<br />

Zurückgeblättert und vorausgedacht<br />

Prof. Richard Meier<br />

10 Jahre Volksschullehrer,<br />

35 Jahre Lehrerbildung,<br />

Mitbegründer<br />

des »Arbeitskreises<br />

<strong>Grundschule</strong>«, zentrales<br />

Thema: konstruktive<br />

Antwort auf die Unterschiedlichkeit<br />

der Kinder<br />

Der in zehnjähriger Folge im Jahr 2009 geplante<br />

Bundesgrundschulkongress ist dem Leitthema<br />

gewidmet: »Allen Kindern gerecht werden.«<br />

An dieser umfassenden Zielsetzung orientiert,<br />

scheint es mir sinnvoll, die Entwicklung und<br />

Arbeit des Arbeitskreises <strong>Grundschule</strong> (heute<br />

Grundschulverband) aus seinen Anfängen heraus<br />

zu skizzieren, um von der heutigen Situation der<br />

<strong>Grundschule</strong> ausgehend, die notwendige weitere<br />

Entwicklung zu bedenken.<br />

Zurückgeblättert<br />

1964-67 Die Volksschule wird aufgelöst, eine eigenständige<br />

<strong>Grundschule</strong> (auch Primarstufe genannt) und eine<br />

Hauptschule als eine der drei weiterführenden Schulen<br />

der Sekundarstufe entstehen. Damals besuchten noch<br />

zwischen 65 % und 78 % der Schülerinnen und Schüler<br />

nach der <strong>Grundschule</strong> die Hauptschule.<br />

1966 Erwin Schwartz wird auf die erste Professur für<br />

»Schulpädagogik und Didaktik der Primarstufe« an der<br />

Universität Frankfurt berufen. Mit Kurt Warwel, dem<br />

Lese fachmann zusammen, baut er das Institut auf.<br />

1968 Das Institut wächst personell und sachlich durch die<br />

Zuständigkeit für den Studiengang »Lehramt an <strong>Grundschule</strong>n«.<br />

Im Sommer 1968 gründet Erwin Schwartz mit<br />

uns »Grundschulleuten« den Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong>.<br />

Die Zeitschrift »<strong>Grundschule</strong>« erscheint als Beiheft zu<br />

»Westermanns Pädagogische Beiträge«. Wir beginnen mit<br />

den Vorbereitungen für den ersten Grundschulkongress.<br />

Jeden Montag stürmt Erwin Schwartz mit seiner schwarzen<br />

Mappe das Institut und verteilt Aufgaben.<br />

1969 Die Resonanz auf die Ankündigung des Kongresses<br />

ist überwältigend. Wir organisieren zusätzliche Tagungsräume<br />

in der Universität, eine Ausstellung entsteht in der<br />

Mensa, für die Auftakt- und Schlussveranstaltung wird<br />

das größte Gebäude auf dem Messegelände angemietet.<br />

Zahlreiche Arbeitsgruppen tagen, aus der Generation von<br />

Erwin Schwartz gestalten Fachleute wie Ilse Lichtenstein-Rother,<br />

Jakob Muth, Walter Jeziorsky Vorträge<br />

und Seminare, die nächste Generation gewinnt Profil.<br />

1969 erscheinen als Ergebnis dieses ersten, bundesweiten<br />

Kongresses die drei ersten Bände der blau-weißen Reihe.<br />

Ihre drei Titel<br />

n Begabung und Lernen im Kindesalter<br />

n Ausgleichende Erziehung in der <strong>Grundschule</strong><br />

n Inhalte grundlegender Bildung<br />

sind programmatische Säulen, die auch heute ihre Gültigkeit<br />

haben.<br />

Mit Peter Heyer bin ich der Auffassung, dass es sich lohnt<br />

zu untersuchen, welche in den drei Bänden niedergelegten<br />

Forderungen und Ansätze heute noch <strong>aktuell</strong> und<br />

dringend sind. Ich bin mir sicher, viele der damaligen Forderungen<br />

und Ansätze werden auch heute noch Bestand<br />

haben.<br />

Von 1969 bis heute Seit diesen Jahren bis heute wurden<br />

durch Initiative des Grundschulverbandes zahlreiche Landeskongresse,<br />

Fachtagungen, Seminare, Tagungen mit<br />

politischem Hintergrund und zentrale Grundschulkongresse<br />

veranstaltet. Ihr Ertrag steht in den blau-weißen<br />

Bänden und anderen Veröffentlichungen zur Verfügung. In<br />

Verbindung mit dem Grundschulverband wie in anderen<br />

Initiativen machen sich seit diesem Beginn zahlreiche<br />

Fachgruppen, Kollegien, engagierte Frauen und Männer<br />

in allen Ländern der Bundesrepublik auf, die <strong>Grundschule</strong><br />

anders und neu zu gestalten. Selbst »Die Zeit« stellt in<br />

einer ihrer neuesten Ausgaben fest, dass die <strong>Grundschule</strong><br />

die dem Heute mit seinen Notwendigkeiten am weitesten<br />

entsprechende Schule ist.<br />

Vorausgedacht<br />

Die Zielsetzung, die Forderung »Allen Kindern gerecht werden«<br />

greift gesellschaftlich weit, ist sozial gerecht und<br />

stellt an uns in der <strong>Grundschule</strong> hohe Anforderungen.<br />

Ich bin entschieden der Auffassung, dass wir heute in<br />

der Lage sind, diese Weiterentwicklung der <strong>Grundschule</strong><br />

in einem vor allem mental anstrengenden und politisch<br />

schwierigen Schritt zu leisten. Durch den Ertrag der gemeinsamen<br />

Entwicklungsarbeit über nun vierzig Jahre,<br />

vor allem durch die große Zahl der engagierten Menschen,<br />

steht uns ein reicher Bestand an wirksamen Mitteln,<br />

Wegen und Auffassungen zur Verfügung. Dieser Bestand<br />

macht es möglich, mit den Schülerinnen und Schülern<br />

und vor allem durch sie eine integrative Situation zu gestalten,<br />

in der gemeinsames Gestalten und individuelles<br />

Lernen den Kindern die Lernwege bietet, die sie von ihrer<br />

Lebenslage und <strong>aktuell</strong>en Befindlichkeit aus erfolgreich<br />

gehen können.<br />

Richard Meier<br />

2 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Spracherfahrungsansatz – was könnte das sein?<br />

von Ute Andresen und Angelika Speck-Hamdan<br />

Die Tagungen und Jahrbücher der<br />

»Deutschen Gesellschaft für Lesen und<br />

Schreiben (DGLS)« waren maßgeblich<br />

daran beteiligt, dem Schriftspracherwerb<br />

mit Hilfe von Fibel und Lesebuch<br />

andere Möglichkeiten gegenüberzustellen.<br />

Sie wurden im Rahmen »Offenen<br />

Unterrichts« bzw. als »Spracherfahrungsansatz«<br />

in der Praxis der<br />

<strong>Grundschule</strong>n populär. Inzwischen hat<br />

sich die Idee eines Schreib- und Leseunterrichts<br />

anhand der eigenen Texte<br />

der Kinder in vielen Schulen etabliert.<br />

Zieht man eine Bilanz dieser Veränderungen,<br />

zeigen sich neben der ohne<br />

Zweifel erfreulichen Wertschätzung<br />

der Kindertexte und der Förderung<br />

kindlicher Schreibfreude aber auch<br />

zahlreiche offene Probleme:<br />

(I) Es gibt ungeklärte Fragen und verwirrende<br />

Widersprüche und Missverständnisse<br />

in Bezug auf Ziele, Wege<br />

und Mittel des »Spracherfahrungsansatzes«.<br />

(II) Mit der Institutionalisierung des<br />

Konzepts entstand die dringende Notwendigkeit,<br />

die damit verbundenen<br />

Risi ken, Nebenwirkungen, Verarmungen<br />

und Enttäuschungen zu erkennen<br />

und gegen bloße Chancen und Hoffnungen<br />

genauer abzuwägen. Das wurde<br />

bisher versäumt.<br />

(III) Es gibt eine sehr lange Vorgeschichte<br />

und eine facettenreiche Geschichte<br />

des »Spracherfahrungsansatzes«. Sie<br />

reichen weit hinter die Zeit zurück, zu<br />

der sich seine heute vorherrschende,<br />

materialintensive Ausprägung entwickelte,<br />

und war fruchtbar immer dann,<br />

wenn die Lehrenden die jeweils besondere<br />

Lebenssituation und Erlebnisweise<br />

der Lernenden wahrnehmen und<br />

mündlich und schriftlich, im Schreiben<br />

und Lesen didaktisch akzentuieren<br />

konnten.<br />

(IV) Diese ursprünglich dialogische<br />

und diskursive, an die Erfahrungen und<br />

die Sprache der jeweils anwesenden<br />

Kinder anknüpfende Grundlegung des<br />

Schriftspracherwerbs im »Spracherfahrungsansatz«<br />

ohne vorgefertigtes, der<br />

Situation der Kinder fremdes Material<br />

ist in Deutschland weitgehend vergessen<br />

bzw. niemals wirklich gründlich<br />

wahrgenommen und in die allgemeine<br />

Alltagsmethodik der <strong>Grundschule</strong>n integriert<br />

worden.<br />

(V) Da diese zurzeit an den Rand geratenen<br />

organischen Methoden des<br />

Schriftspracherwerbs unmittelbar in<br />

der praktischen Arbeit mit Kindern<br />

entwickelt worden sind, und zwar gerade<br />

auch mit Kindern aus schul- und<br />

schriftfernem Milieu, können wir darin<br />

sehr wahrscheinlich Hilfe für viele der<br />

Kinder finden, die heute unsere Schulen<br />

durchlaufen, ohne wirklich ausreichend<br />

Lesen und Schreiben zu lernen.<br />

All diese Befunde und Überlegungen<br />

mündeten in den Plan, im Rahmen einer<br />

Tagung die Gelegenheiten, bei denen<br />

Kinder hierzulande mit der Schriftsprache<br />

bekannt und vertraut werden,<br />

möglichst genau wahrzunehmen,<br />

dabei den »Spracherfahrungsansatz«<br />

von seinen Wurzeln her neu zu durchdenken<br />

und Schulbeispiele zu zeigen,<br />

in denen sich für jeweils viele Kinder<br />

gemeinsam Welt- und Spracherfahrungen<br />

bewusst entfalten, vertiefen und<br />

verknüpfen lassen.<br />

Um den Zusammenhang konkreter<br />

Welterfahrung mit mündlicher und<br />

Gestern habe ich<br />

mit Gestern meinem habe Papa ich<br />

Schiffe mit meinem gebaut. Papa<br />

Dann Schiffe haben gebaut. wir sie<br />

schwimmen Dann haben lassen. wir sie<br />

Da schwimmen sind allelassen.<br />

untergegangen.<br />

Da sind alle<br />

Thomas untergegangen.<br />

Thomas<br />

schriftlicher Sprache zu begreifen, bedarf<br />

es in der Schule zunächst greifbarer<br />

Situationen, für deren Inszenierung<br />

die Lehrerin verantwortlich ist. Damit<br />

entstehen oft erst Anlässe und Aufgaben,<br />

sich in der Kindergemeinschaft<br />

mündlich zu verständigen, Erkanntes<br />

und Erlebtes selbst in Worte, auch in<br />

Schriftsprache zu fassen oder bereitliegende<br />

Texte mit persönlichem Interesse<br />

zu lesen.<br />

Im einführenden Referat haben wir<br />

die lange Geschichte des »Spracherfahrungsansatzes«<br />

andeutungsweise<br />

nachgezeichnet und seine Neufassung<br />

vorgeschlagen, akzentuiert durch die<br />

Begriffe »sozial« und »balanciert«. Der<br />

erste erinnert daran, dass individuelle<br />

Sprache, auch Schriftsprache, aus den<br />

Erfahrungen und der Kommunikation<br />

der Kindergemeinschaft lebt. Der<br />

zweite erinnert daran, dass die Sprachentwicklung<br />

und die eigenaktiv konstruktiven<br />

Aktivitäten der Kinder auch<br />

auf instruktive Aktivitäten der Lehrperson<br />

angewiesen sind. In weiteren<br />

Vorträgen und in Arbeitsgruppen wurde<br />

das Anliegen konkretisiert, weiter<br />

verfolgt und mit den Problemstellungen<br />

und Kompetenzen verknüpft, die<br />

die Tagungsteilnehmer – überwiegend<br />

Grundschullehrerinnen – in die Gruppen<br />

und ins Plenum mitbrachten.<br />

Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Schriftspracherwerb braucht die Welt, die Schrift, die Anderen und viele Sprachen<br />

Tagung der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS),<br />

der Ludwig-Maximilians-Universität und des Grundschulverbandes<br />

am 11. und 12. April 2008 in München<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

3


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Schriftspracherwerb braucht die Welt,<br />

die Schrift und die Anderen<br />

von Angelika<br />

Speck-Hamdan<br />

Rückblick und Bilanz<br />

Ausgehend von kritischen Überlegungen<br />

zum traditionellen Unterricht im<br />

Lesen und Schreiben haben sich im Verlauf<br />

der letzten zwanzig bis fünfundzwanzig<br />

Jahre in deutschen Schulen die<br />

didaktischen Handlungsmöglichkeiten<br />

im Bereich des Schriftspracherwerbs<br />

wesentlich erweitert.<br />

In die Kritik geriet dabei zunächst<br />

einmal die Fibel als erstes Lesebuch.<br />

Sie gebe den »Takt des Unterrichts,<br />

d. h. Tempo, Text, Methode, Abfolge<br />

der Buchstaben und Form der Übungen<br />

etc.« (Bergk, Meiers 1985, S. 7) 1<br />

vor und führe im schlimmsten Fall<br />

zum »Fibeltrott« (a. a. O.). Sie stelle ein<br />

Hindernis für die Berücksichtigung der<br />

individuellen Lernwege der Kinder dar,<br />

wenn im Zentrum des Unterrichts das<br />

Durchnehmen der Fibel und nicht das<br />

Lernen der Kinder stehe. Diese Kritik<br />

bezog sich in erster Linie auf die Rolle<br />

der Fibel als erstes und oft auch einziges<br />

Buch im Anfangsunterricht. Eine<br />

weitere Kritik bezog sich auf die Fibeln<br />

und ihre Gestaltung selbst. Sie verstünden<br />

es nur unzureichend, an die<br />

Lebenswelt aller Kinder anzuknüpfen.<br />

Für ganze Gruppen von Kindern sei es<br />

nicht möglich, sich in der oft sehr heilen<br />

Fibelwelt wiederzufinden. Zudem<br />

entsprächen die sprachlichen Reduktionen<br />

(Fibel-Dadaismus), die zwangsläufig<br />

auftreten, will man die Progression<br />

des Leselernprozesses abbilden,<br />

nicht dem realen Sprachgebrauch von<br />

Schulanfängern. Man halte sie mehr<br />

oder weniger auch für sprachliche Anfänger.<br />

Eine zweite Diskussionslinie zog sich an<br />

der Frage des Verhältnisses von Lehren<br />

und Lernen entlang. Der traditionellen<br />

Form des Lehrgangs wurde eine Orientierung<br />

am Lernweg bzw. an den Lernwegen<br />

der Kinder gegenübergestellt.<br />

Lehrgänge sind nach sachstrukturellen<br />

Gesichtspunkten aufgebaut; eine klare<br />

Vorstellung von der Progression im<br />

Lernprozess ist ihnen immanent. Die<br />

Beobachtung der Vielfalt kindlicher<br />

Lernprozesse aber wirft die Frage nach<br />

der Angemessenheit eines mehr oder<br />

weniger gleichschrittigen Lehrgangs<br />

auf, zumal Kinder in der Schule nicht<br />

auf demselben Niveau ihrer Fähigkeiten<br />

starten. Eine Orientierung an den<br />

Lernwegen der Kinder bedeutet also, an<br />

ihren Erfahrungen und Kompetenzen<br />

anzuknüpfen und ihre Such- und Lernprozesse<br />

in Richtung auf das Ziel des<br />

Lesenkönnens zu unterstützen. Eine<br />

methodische Umsetzung dieser Grundidee<br />

findet sich in solchen Ansätzen,<br />

die als »offener Schriftspracherwerb«<br />

oder als »Spracherfahrungsansatz«<br />

beschrieben werden. 2 Ihnen ist eigen,<br />

nicht von vorgegebenen Fibeltexten,<br />

sondern von den eigenen Texten der<br />

Kinder auszugehen. Dazu gibt es wieder<br />

unterschiedliche Herangehensweisen<br />

wie beispielsweise das Drucken<br />

im Anfangsunterricht nach Freinet,<br />

das eigene Verschriften mithilfe einer<br />

Anlauttabelle oder das Erstellen einer<br />

Eigenfibel nach dem Diktat der Kinder.<br />

Betont wird in erster Linie die aktive<br />

Rolle der Kinder beim Lernen.<br />

Der didaktischen Hinwendung von den<br />

in einer Fibel vorgezeichneten Lehrprozessen<br />

hin zu den Lernprozessen der<br />

Kinder lief eine Entwicklung in der Forschung<br />

parallel, die einen neuen Blick<br />

auf die Lern- und Entwicklungsprozesse<br />

selbst nahe legte. 3 Lesen- und<br />

Schreibenlernen werden als Prozesse<br />

aufgefasst, die von den Kindern als<br />

Lernenden – als aktive Konstrukteure<br />

ihrer Erfahrung – selbst gesteuert werden.<br />

Einen großen Einfluss hatten die<br />

in diesem Zusammenhang entworfenen<br />

Entwicklungsmodelle (von Frith,<br />

K. B. Günther, Spitta und Valtin zum<br />

Beispiel) 4 . Sie beschreiben den Prozess<br />

der Entwicklung zum entfalteten<br />

Lesen und Schreiben als Problemlösen<br />

auf qualitativ fortschreitenden Niveaustufen.<br />

Sie sind nicht als didaktische<br />

Modelle konzipiert worden und haben<br />

dennoch auf die Didaktik einen nicht<br />

zu unterschätzenden Einfluss gehabt.<br />

Die Modelle dienen als Folie für diagnostische<br />

Beobachtungen, wie sie in<br />

offenen Formen des Schriftspracherwerbs<br />

als unerlässlich gelten, um geeignete<br />

Anreize zum Weiterlernen zur<br />

Verfügung stellen zu können. Mit ihrer<br />

Hilfe soll individuelle Unterstützung<br />

geplant werden.<br />

Zieht man nun eine Bilanz dieser Veränderungen,<br />

wird man konstatieren<br />

müssen, dass der Blick auf die Lernprozesse<br />

der Kinder ohne Zweifel einen<br />

großen Gewinn darstellt. Man<br />

wird aber ebenso zugestehen müssen,<br />

dass es in Bezug auf das Verständnis<br />

und die Umsetzung des Spracherfahrungsansatzes<br />

auch Probleme gibt.<br />

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen,<br />

dass der Begriff des Spracherfahrungsansatzes<br />

als Sammelbegriff<br />

für sehr viele verschiedene Ansätze<br />

gebraucht wird und somit weitgehend<br />

ungeklärt ist. Diese Unklarheit<br />

ist mit dafür verantwortlich, dass die<br />

empirischen Befunde zur Wirksamkeit<br />

eines offenen Schriftsprach erwerbs<br />

nicht eindeutig sind. Ebenso wenig<br />

wie es »den geschlossenen Unterricht«<br />

gibt, gibt es »den geöffneten Unterricht«<br />

oder »den Unterricht nach dem<br />

Spracherfahrungsansatz«. Daher sind<br />

generelle Vergleiche von mehr oder weniger<br />

offenen Verfahren mit mehr oder<br />

weniger geschlossenen Verfahren so<br />

schwierig. Die empirische Befund lage<br />

ist keineswegs zufriedenstellend. 5 Es<br />

gibt aber Hinweise, die nahelegen, sehr<br />

viel genauer hinzusehen und auf die so<br />

genannten Mikroprozesse des Unterrichts<br />

zu achten. Es gibt auch Hinweise<br />

darauf, dass je nach Lernvoraussetzung<br />

eine andere Art des Unterrichts<br />

angemessen ist.<br />

Was ist nun der<br />

Spracherfahrungsansatz?<br />

Der Begriff des Spracherfahrungsansatzes<br />

ist eine Übernahme des englischen<br />

Begriffs »Language Experience<br />

Approach« (LEA), der zurückgeht auf<br />

4 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Lamoreaux und Lee 6 sowie Lee und<br />

Allen 7 , die ihn in den vierziger Jahren<br />

des letzten Jahrhunderts wohl zum<br />

ersten Mal in dieser Form verwendet<br />

haben (siehe Beitrag Ute Andresen).<br />

Er wird von ihnen in vier markanten<br />

Grundsätzen zusammengefasst:<br />

n What I think about, I can talk<br />

about.<br />

n What I say, I can write (or someone<br />

can write for me).<br />

n What I can write, I can read (and<br />

others can read, too).<br />

n I can read what I have written, and<br />

I can also read what other people<br />

have written for me to read. 8<br />

Hier wird eindeutig auf den Zusammenhang<br />

zwischen Denken, Sprechen,<br />

Lesen und Schreiben verwiesen, also<br />

auf den Zusammenhang zwischen<br />

Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Dieser<br />

Zusammenhang ist in der Sache<br />

nicht so unkompliziert, wie es die<br />

Grundsätze nahelegen; gleichwohl ist<br />

in der beschriebenen Abfolge ein Weg<br />

vorgezeichnet, der didaktisch schlüssig<br />

ist und alle Ansätze eint, die sich<br />

im weitesten Sinn hierzulande auf den<br />

Spracherfahrungsansatz berufen. Er<br />

baut auf dem Grundgedanken einer<br />

funktionalen Verwendung der Sprache<br />

bzw. Schriftsprache auf. Die Schrift<br />

wird als Mittel in Aussicht gestellt,<br />

zum einen Gedachtes und Erfahrenes<br />

zu fixieren und zu »verdauern«<br />

(Ehlich 1994) 9 , damit die Flüchtigkeit<br />

des Sprechens zu überwinden und<br />

der Kommunikation über Raum und<br />

Zeit hinweg zugänglich zu machen,<br />

und zum anderen, an den Gedanken<br />

und Erfahrungen anderer teilzuhaben.<br />

Den Ausgangspunkt bildet das eigene<br />

Denken, die Beschäftigung mit den<br />

Dingen, die subjektiv von Belang sind.<br />

Was beschäftigt mich? Worüber möchte<br />

ich sprechen? Was davon möchte ich<br />

festhalten, zunächst in gesprochenen<br />

Worten, dann auch in Schrift? Die Motivation<br />

der Lernerinnen und Lerner ist<br />

sozusagen der Motor für die notwendigen,<br />

bisweilen mühseligen Lernprozesse.<br />

Folgerichtig beginnt der Lernprozess<br />

beim Schreiben; dafür hat sich der<br />

Begriff »Verschriften« in der Didaktik<br />

eingebürgert. Ein Text wird verfasst,<br />

der die Gedanken des Lernenden festhält.<br />

Die Inhalte sind nicht vorgegeben.<br />

Deshalb gibt es weder eine festgelegte<br />

Reihenfolge der zu erarbeitenden<br />

Buchstaben noch eine Liste festgelegter<br />

Wörter oder Sätze. Der gesamte<br />

Bestand an Schriftzeichen wird zur<br />

Verfügung gestellt; dies geschieht<br />

meist in Form einer Lauttabelle. Jedes<br />

Kind bzw. jede/r Lernende arbeitet an<br />

den Wörtern und Sätzen, die ihm / ihr<br />

bedeutsam sind. Dadurch ist es möglich,<br />

Lernprozesse zu individualisieren.<br />

Ein weiteres Prinzip des Spracherfahrungsansatzes<br />

ist seine Fehlertoleranz.<br />

Damit ist eine Haltung angesprochen,<br />

die die zwangsläufig auftretenden orthografischen<br />

Fehler beim ersten Verschriften<br />

als Schritte in der Annäherung<br />

an die Konvention der Rechtschreibung<br />

zu interpretieren sucht und deshalb<br />

äußerst zurückhaltend korrigiert. Jedes<br />

dieser idealtypischen Elemente des<br />

Spracherfahrungsansatzes ließ sich<br />

kognitionspsychologisch schon vor<br />

23 Jahren begründen 10 und hält auch<br />

der konstruktivistischen Auffassung<br />

vom Lernen stand. Lernende konstruieren<br />

sich die Schrift auf je individuelle<br />

Art und Weise, abhängig vom jeweiligen<br />

Vorwissen und von den Erfahrungsmöglichkeiten<br />

mit der Schrift. 11<br />

Aber jedes dieser Elemente enthält<br />

auch genügend Potenzial für Unsicherheiten,<br />

Missverständnisse und<br />

Vereinseitigungen. Der Grundsatz des<br />

eigenen Textes wirft beispielsweise die<br />

Frage auf, ob wirklich jedes Kind einen<br />

individuellen Text zu Papier bringen<br />

muss, oder ob es sich nicht auch um<br />

einen gemeinsam mit der Lehrperson<br />

formulierten Text handeln kann. Der<br />

Grundsatz der inhaltlichen Freiheit<br />

stößt an ähnliche Grenzen. Ein eigenes<br />

Kapitel sind die verwendeten Laut- oder<br />

Anlauttabellen, die bereits vielfach in<br />

der Fachwelt kritisiert wurden. 12 Abgesehen<br />

von diesen eher sprachwissenschaftlichen<br />

bzw. sprachheilpädagogischen<br />

Bedenken muss auch in Betracht<br />

gezogen werden, dass die Kompetenz,<br />

eine solche Tabelle zu benutzen, an sich<br />

schon hoch komplex ist. Der Schlüssel<br />

für den Schriftspracherwerb – nämlich<br />

die Einsicht in den Zusammenhang<br />

zwischen Lautsprache und Schrift, in<br />

die Entsprechung von Laut und Buchstabe<br />

– wird bereits vorausgesetzt. Um<br />

sie anzubahnen, ist in der Regel auch<br />

Instruktion notwendig, was an und für<br />

sich kein Problem darstellt, aber oft<br />

gar nicht thematisiert oder manchmal<br />

auch schlicht unterlassen wird. Die<br />

größte Verunsicherung aber löst die<br />

Forderung der Fehlertoleranz aus. Darf<br />

nun gar nichts mehr korrigiert werden?<br />

Ab wann darf korrigiert werden? Wenn<br />

Fehler als notwendige Schritte auf dem<br />

Weg zur richtigen Schreibung betrachtet<br />

werden sollen, dann müssen sie<br />

auch thematisiert werden, selbstverständlich<br />

in konstruktiver Weise, so<br />

dass Kinder nicht entmutigt werden<br />

und hilfreiche Unterstützung zum Aufbau<br />

effektiver Rechtschreibstrategien<br />

erhalten. Wird der Grundsatz der Individualisierung<br />

verabsolutiert, besteht<br />

die Gefahr, dass die Kindergruppe bzw.<br />

die Klasse als Anregungs- und Kommunikationsgemeinschaft<br />

übersehen<br />

wird. Um das individuelle Lernen zu<br />

unterstützen und in einer Klasse organisieren<br />

zu können, wird oft auf eine<br />

Fülle von Material zurückgegriffen, das<br />

mittlerweile auch nicht mehr selbst<br />

gefertigt werden muss, sondern in<br />

ansprechender, oft geradezu verführerischer<br />

Qualität von Verlagen zur Verfügung<br />

gestellt wird. Der Terminus des<br />

»materialgeleiteten Lernens«, der sich<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

5


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

in manchen didaktischen Texten findet,<br />

ist verräterisch: Soll das Material<br />

die Leitung der Lernprozesse übernehmen?<br />

Mutet man hier nicht dem Material<br />

etwas viel zu? Kann Material die<br />

wichtige Funktion des Impulsgebens<br />

oder des Aushandelns von Bedeutungen<br />

übernehmen?<br />

Um die Anforderung und Leistung des<br />

Verschriftens angemessen einschätzen<br />

zu können, ist es hilfreich, das<br />

Verhältnis von Sprechen und Schreiben<br />

etwas näher zu beleuchten. Beides<br />

sind Äußerungen, mündlich oder<br />

schriftlich. Beim Sprechen wird Sprache<br />

produziert, beim Schreiben Schrift<br />

bzw. schriftliche Sprache, die sich von<br />

mündlicher Sprache allerdings mehrfach<br />

unterscheidet. »Das schriftliche<br />

ist … keine einfache Übersetzung des<br />

mündlichen Sprechens in Schriftzeichen,<br />

und das Erlernen der Schriftsprache<br />

ist nicht einfach Aneignung<br />

der Schreibtechnik« (Vygotskij 2002,<br />

S. 313) 13 . Mit der höheren Abstraktheit<br />

des »schriftlichen Sprechens« und der<br />

gegenüber dem mündlichen Sprechen<br />

weniger zwingenden Motivation hängt<br />

eine andere, eine »freiere« Beziehung<br />

zur Situation sowie eine andere, eine<br />

stärkere Bewusstheit der Handlung<br />

zusammen, so Vygotskij 14 . Das Erfordernis<br />

einer doppelten Abstraktion<br />

(von der Lautseite des Sprechens und<br />

vom Gesprächspartner) führt zu einer<br />

ungleich schwierigeren Herausforderung,<br />

als sie das mündliche Sprechen<br />

stellt. »Es ist natürlich, dass das<br />

Sprechen ohne reale Laute, das nur<br />

gedacht und vorgestellt wird, und das<br />

eine Symbolisierung der Lautsymbole,<br />

d. h. eine Symbolisierung zweiter Ordnung<br />

erfordert, in dem gleichen Maße<br />

schwerer sein muss als das mündliche<br />

Sprechen, wie Algebra für das Kind<br />

schwerer ist als Arithmetik. Schreiben<br />

ist die Algebra des Sprechens. Und genau<br />

so, wie die Aneignung der Algebra<br />

nicht das Erlernen der Arithmetik wiederholt,<br />

sondern eine neue und höhere<br />

Entwicklungsebene des abstrakten<br />

mathematischen Denkens darstellt,<br />

die das bereits herausgebildete arithmetische<br />

Denken umgestaltet und auf<br />

eine höhere Ebene hebt, so führt die<br />

Algebra des Sprechens, das schriftliche<br />

Sprechen, das Kind in die höhere und<br />

abstrakte Ebene des Sprechens ein,<br />

und gestaltet dadurch auch das bereits<br />

ausgebildete psychische System des<br />

mündlichen Sprechens um« (a. a. O.,<br />

S. 315). Für H. Günther entsteht aus<br />

der Unterschiedlichkeit von Schriftlichkeit<br />

und Mündlichkeit ein »Paradoxon<br />

des Schriftspracherwerbs« 15 . Das<br />

Kind muss sich, um die Schriftsprache<br />

zu erwerben, die Struktur der Sprache<br />

bewusst machen, wofür die Schrift ein<br />

geeignetes Modell darstellt, die ihm<br />

aber zunächst noch nicht zur Verfügung<br />

steht. Durch ständige Übung an<br />

der Schrift erweitert es seine Einsicht<br />

in die Sprache und erwirbt schließlich<br />

mit der Schrift auch einen neuen Einblick<br />

in die Struktur der mündlichen<br />

Sprache. Der vielfältige Gebrauch der<br />

Schrift hilft ihm dabei.<br />

Beim Schriftspacherwerb geschieht<br />

mehr als die Übersetzung von mündlicher<br />

in schriftliche Sprache. Es wird<br />

eine neue Sprache erworben, die sich in<br />

ihrer Struktur von der mündlichen Sprache<br />

unterscheidet. Genau daran wollen<br />

Lee u. a. (siehe Beitrag Ute Andre sen)<br />

beim Verfassen der »coopoerative experience<br />

charts« arbeiten. Durch den<br />

Schriftspracherwerb verändert sich<br />

das Verhältnis zur Sprache; sie wird<br />

bewusst verfügbar. Dieser qualitative<br />

Sprung wird in den Grundsätzen von<br />

Lee und Allen nicht angesprochen,<br />

muss aber mitgedacht werden, wenn<br />

es um die konkrete didaktische Umsetzung<br />

geht. So ist das Aufschreiben<br />

eines gemeinsam formulierten Satzes<br />

oder auch nur eines Wortes bereits als<br />

solche Übung zu verstehen, die Sprache<br />

sichtbar macht. Beim Aufschreiben<br />

aber wird bereits klar, dass es sich um<br />

eine andere Art des Sprechens handelt.<br />

Zur Rolle der Lehrperson und<br />

der Gruppe der Lernenden<br />

Wie die Recherchen zu den Anfängen<br />

des Spracherfahrungsansatzes gezeigt<br />

haben, ist ursprünglich der unterrichtliche<br />

Ausgangspunkt für das Lernen ein<br />

Text, in den die Erfahrungen der Kinder<br />

eingegangen sind, bestehend aus Wörtern,<br />

die von den Kindern gekommen<br />

sind. Er ist das Produkt einer gemeinsamen<br />

Arbeit, angeleitet von der Lehrerin,<br />

die schreibt, was die Kinder ihr<br />

sagen. In der neueren deutschen Adaption<br />

des Ansatzes scheint oft einer individuellen<br />

Arbeit der Vorzug gegeben<br />

zu werden. Jedes Kind verschriftet für<br />

sich. Die Rolle der Lehrperson wird in<br />

der Regel als sehr zurückhaltend beschrieben.<br />

Es wird von Bereitstellung,<br />

Beobachtung, Begleitung und allenfalls<br />

von Unterstützung gesprochen.<br />

Was aber genau kann denn die Rolle<br />

einer Lehrperson sein, die Kinder begleitet<br />

und unterstützt?<br />

Eine maßgebliche Rolle für das Lernen<br />

spielen aber nach sozialkonstruktivistischer<br />

Sicht, die sich im Wesentlichen<br />

auf Vygotskij stützt, der soziale Kontext<br />

und authentische kulturelle Praktiken.<br />

Indem das Kind an diesen Praktiken<br />

teilnimmt und mit kompetenten<br />

Anderen in einen Dialog eintritt, erweitert<br />

es seine eigenen Möglichkeiten. Es<br />

nimmt die Impulse und Stimulationen<br />

auf und verwendet sie im Sinne der<br />

eigenen Entwicklung. Sowohl die Lehrperson<br />

als auch andere Kinder können<br />

diese Rolle als kompetente Andere einnehmen.<br />

Entscheidend ist die Zusammenarbeit,<br />

die gemeinsame und auf<br />

Einigung gerichtete Suche nach Lösungen.<br />

Dies geschieht im Dialog und im<br />

gemeinsamen Handeln.<br />

Geht man davon aus, dass in den Texten<br />

die Erfahrungen der Kinder eingefangen<br />

werden, so muss es die erste Aufgabe<br />

der Lehrperson sein, den Erfahrungen<br />

der Kinder in einem Gespräch<br />

Raum zu geben. In einem mündlichen<br />

Gespräch, in dem Worte für das Erlebte<br />

gefunden und geklärt werden, in dem<br />

das Wichtige unterschieden wird vom<br />

weniger Wichtigen und in dem schließlich<br />

entschieden wird, was sich eignet,<br />

aufgeschrieben zu werden. Dieses Gespräch<br />

kann in der Gruppe, aber auch<br />

im Dialog zwischen Lehrperson und<br />

einem Kind geführt werden. Es unterstützt<br />

die Herauslösung der Erfahrung<br />

aus dem Kontext einerseits und die<br />

Übertragung in ein Symbolsystem,<br />

zunächst erster und dann auch zweiter<br />

Ordnung, wenn eine schriftlich zu<br />

fixierende Formulierung gesucht wird,<br />

andererseits. Die dialogische Struktur<br />

ist der Träger für diese wichtige Etappe.<br />

Die Lehrperson, der die Strukturen<br />

der geschriebenen Sprache bewusst<br />

sind, kann die richtigen Impulse geben,<br />

die richtigen Fragen stellen, um die<br />

eigenaktiven Lernprozesse der Kinder<br />

anzuregen. Sie handelt dabei mit dem<br />

Kind in der »Zone der nächsten Entwicklung«<br />

(Vygotskij 2002, S. 331 f.) 16 .<br />

6 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Didaktisches Handeln soll in diesem<br />

Sinn der Entwicklung stets vorauseilen<br />

und sie nach sich ziehen. Der Lehrperson<br />

kommt also eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle zu: Sie wird zum Dialogpartner<br />

des Kindes und bringt mit<br />

ihm zusammen die Entwicklung voran.<br />

Das gelingt ihr, indem sie das Kind sehr<br />

genau beobachtet und eine klare Vorstellung<br />

davon hat, was der nächste<br />

Schritt in der Entwicklung sein kann.<br />

Dazu können ihr die Entwicklungsmodelle<br />

Anhaltspunkte geben. Sie geben<br />

die Richtung an, in die ein Hinweis,<br />

eine Frage oder eine kleine Hilfestellung<br />

gegeben wird. Der auf Wood 17<br />

zurückgehende Begriff des Scaffolding<br />

beschriebt dies anschaulich: Ein Gerüst<br />

wird errichtet, um es später, wenn der<br />

Bau die angestrebte Form angenommen<br />

hat, wieder abbauen zu können.<br />

Überträgt man diese Metapher auf den<br />

pädagogischen Kontext, bedeutet dies,<br />

dass der Erwachsene sich in der Interaktion<br />

sensibel an die Fähigkeiten des<br />

Kindes anpasst, dann – wo nötig – Unterstützung<br />

und Hilfestellung leistet,<br />

also ein Gerüst baut, um dem Kind die<br />

Lösung von Aufgaben zu ermöglichen,<br />

die etwas über die <strong>aktuell</strong>en Fähigkeiten<br />

hinausreichen. Agiert das Kind<br />

schließlich sicher, kann der Erwachsene<br />

sich mehr und mehr zurücknehmen.<br />

In der Phase des Ausprobierens und<br />

Probehandelns aber ist der Erwachsene<br />

als Dialogpartner in hohem Maß aktiv<br />

und involviert.<br />

Der Dialog kann auch erweitert werden<br />

zum Gruppengespräch. So können<br />

sich die Erfahrungen mehrerer Kinder<br />

verdichten zu einem gemeinsamen<br />

Text, den alle als den ihren empfinden.<br />

Dadurch, dass viele Ideen und viele<br />

Überlegungen in diesen gemeinsamen<br />

Text einfließen, erhalten alle Kinder die<br />

Gelegenheit, an den Gedanken der übrigen<br />

Kinder teilzuhaben. Es entsteht<br />

ein Raum für ko-konstruktive Prozesse,<br />

die dadurch gekennzeichnet sind, dass<br />

sich die Beteiligten ihre Denkmodelle<br />

gegenseitig zur Verfügung stellen, sich<br />

über mögliche Lösungen austauschen<br />

und so voneinander lernen. Kinder lernen<br />

auf diese Weise nicht nur neue Begriffe<br />

und Wörter, sie lernen auch verschiedene<br />

Perspektiven auf ein- und<br />

denselben Gegenstand kennen.<br />

Der Text kann nun vom Kind selbst geschrieben<br />

werden, er kann aber auch<br />

von der Lehrperson vor den Augen<br />

des Kindes / der Kinder aufgeschrieben<br />

werden. Auf diese Weise wandert<br />

das Gesprochene sichtbar in die<br />

Schrift und ermöglicht den Kindern,<br />

den Prozess des Verschriftens erst einmal<br />

mental nachzuvollziehen, um ihn<br />

dann anschließend auch selbsttätig zu<br />

versuchen. Entscheidend für die Idee<br />

eines wieder neu gedachten Spracherfahrungsansatzes<br />

ist die Bindung des<br />

Textes an die Erfahrung der Kinder, die<br />

über den Dialog stattfindet.<br />

Prof. Dr. Angelika Speck-Hamdan,<br />

Professorin für Grundschulpädagogik<br />

und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität,<br />

im Grundschulverband<br />

Referentin für Bildungsgerechtigkeit,<br />

Vorstandsmitglied im<br />

Pestalozzi-Fröbel-Verband, befasst<br />

sich u. a. mit dem Übergang vom<br />

Elementar- in den Primarbereich,<br />

mit dem Schriftspracherwerb von<br />

Kindern und Erwachsenen sowie mit<br />

Fragen der interkulturellen Bildung<br />

Anmerkungen<br />

1 Bergk, M./ Meiers, K. (1985) (Hrsg.): Schulanfang ohne Fibeltrott.<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

2 Dargestellt in: Brügelmann, H. (1983): Kinder auf dem Weg zur Schrift.<br />

Eine Fibel für Lehrer und Laien. Konstanz: Faude 1983, S. 174 – 182 und<br />

Scheerer-Neumann, G. (1985): Freiheit und Systematik im Spracherfahrungsansatz.<br />

In: Bergk, M. / Meiers, K. (Hrsg.): Schulanfang ohne Fibeltrott.<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 179 – 188<br />

3 Zusammenfassend: Schneider, W. / Brügelmann, H. / Kochan, B. (1990):<br />

Lesen- und Schreibenlernen in neuer Sicht: Vier Perspektiven auf den Stand der<br />

Forschung. In: Brügelmann, H. / Balhorn, H. (Hrsg.): Das Gehirn, sein Alfabet<br />

und andere Geschichten. Konstanz: Faude. S. 220 – 234<br />

4 Zusammenfassend und resümierend: Scheerer-Neumann, G. (1998): Stufenmodelle<br />

des Schriftspracherwerbs – Wo stehen wir heute? In: Balhorn, H. /<br />

Bartnitzky, H./ Büchner, I. / Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Schatzkiste Sprache<br />

1. Von den Wegen der Kinder in die Schrift. Frankfurt: Grundschulverband.<br />

S. 54 – 62<br />

5 näher dazu: Schründer-Lenzen, A. (2004): Schriftspracherwerb und Unterricht.<br />

Opladen: Leske + Budrich, S.133 ff<br />

6 Lamoreaux, Lillian A. / Lee, Dorris M.: Learning to Read through Experience.<br />

New York / London 1943<br />

7 Lee, Dorris M. / Allen, R. V.: Learning to Read through Experience. (Second<br />

Edition) New York 1963<br />

8 In der Langfassung wird das Anliegen noch deutlicher:<br />

1. What children think about, they can talk about. Thus, their thoughts<br />

become the basis for developing reading skills.<br />

2. What they can talk about, can be expressed in painting, writing, or in some<br />

other form.<br />

3. Anything they write they can read. Writing is more precise than drawing.<br />

4. They can read what they write and what other people write. The children<br />

experience the thrill of what others have written after experiencing their<br />

own oral language take a form that can be reproduced by the process called<br />

reading. (Lee, Allen 1963, S. 1 – 10)<br />

9 Ehlich, K. (1994): Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation. In:<br />

Günther, Hartmut / Ludwig, Otto (Hrsg.) (1994): Schrift und Schriftlichkeit.<br />

Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, 1. Halbband Berlin/<br />

New York: Walter de Gruyter Verlag, S. 18 – 41<br />

10 Scheerer-Neumann, G. (1985): Freiheit und Systematik im Spracherfahrungsansatz.<br />

In: Bergk, M. / Meiers, K. (Hrsg.): Schulanfang ohne Fibeltrott.<br />

Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 179 – 188<br />

11 siehe dazu Speck-Hamdan, A. (1998): Individuelle Zugänge zur Schrift. Schriftspracherwerb<br />

aus konstruktivistischer Sicht. In: Huber, L. / Kegel, G. / Speck-<br />

Hamdan, A. (Hrsg.): Einblicke in den Schriftsprach erwerb. Braunschweig:<br />

Westermann Schulbuchverlag, S. 101 – 109<br />

12 Siehe: Thomé, G. (2000): Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit mit Anlauttabellen:<br />

Zur sprachdidaktischen Qualität von Unterrichtsmaterialien am<br />

Beispiel der Einheiten des Geschriebenen. In: Valtin, R. (Hrsg.): Rechtschreiben<br />

lernen in den Klassen 1 – 6. Grundlagen und didaktische Hilfen. Frankfurt a. M.:<br />

Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong>, S. 116 – 118 und<br />

Crämer, Claudia / Füssenich, Iris / Schumann, Gabriele (1996): Lese- und<br />

Schreibschwierigkeiten im Zusammenhang mit Problemen der gesprochenen<br />

Sprache. In: Die Sprachheilarbeit, Heft 1, S. 5 – 22<br />

13 Vygotskij, L. (2002): Denken und Sprechen. Weinheim: Beltz, S. 313 ff.<br />

(Original erschienen 1934)<br />

14 Siehe Vygotskij, L. (2002): Denken und Sprechen. Weinheim: Beltz, S. 313 ff.<br />

(Original erschienen 1934)<br />

15 Günther, H. (1998): Die Sprache des Kindes und die Schrift der Erwachsenen.<br />

In: Huber, L. / Kegel, G. / Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Einblicke in den Schriftspracherwerb.<br />

Braunschweig: Westermann Schulbuchverlag, S.21 – 30<br />

16 Vygotskij, L. (2002): Denken und Sprechen. Weinheim: Beltz, S. 313 ff.<br />

(Original erschienen 1934)<br />

17 Wood, D.J. / Middleton, D. (1975): A study of assisted problem solving.<br />

British Journal of Psychology, 66, S. 181 – 191<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

7


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Auf der Suche nach den Ursprüngen<br />

des Spracherfahrungsansatzes<br />

von Ute<br />

Andresen<br />

Ich bin mit dem Traktor<br />

im Acker stecken geblieben.<br />

Mit dem Unimog hab ich<br />

den Traktor rausgezogen.<br />

Thomas<br />

Diese Geschichte wurde nicht aufgeschrieben.<br />

Ich habe ein weißes Blatt<br />

vor Augen und einen hageren Jungen,<br />

größer und älter als die andern Kinder<br />

in der Dorfschulklasse, in der fast<br />

fünfzig Erst- und Zweitklässler in festgeschraubten<br />

Bänken sitzen und sich<br />

von mir, der Anfängerin, unterrichten<br />

lassen. Thomas wurde verspätet eingeschult,<br />

auf Wunsch der Eltern. Ein<br />

graues Kind mit großen Augen sitzt er<br />

in seiner Bank, bleibt stumm und wagt<br />

nicht, seinen Stift auf ein leeres Blatt zu<br />

setzen. Ich muss ihm den ersten Strich<br />

machen, seit Wochen. – Es regnet seit<br />

Tagen, alles ist nass und schwer. Darüber<br />

haben wir gesprochen, Thomas hat<br />

sich nicht daran beteiligt. Als wir Pause<br />

machen und die andern Kinder fröhlich<br />

herumtoben, steht er an meinem Tisch<br />

und stößt hervor, was er zu sagen hat:<br />

»Ich bin mit dem Traktor im Acker stecken<br />

geblieben. Mit dem Unimog hab<br />

ich den Traktor rausgezogen.« Ich kann<br />

es nicht fassen. Und ich schreibe es<br />

nicht auf. Nehme kein weißes Blatt<br />

und schreibe mit großen Buchstaben<br />

darauf, was Thomas zu erzählen hat,<br />

für ihn selbst und damit alle es lesen<br />

können. Nur zugehört habe ich ihm.<br />

Und ihn nie vergessen. Aber das weiß<br />

er nicht.<br />

Es sind wohl solche Versäumnisse, die<br />

mich immer wieder anstacheln, zu<br />

fragen: Was leistet eine Methode, ein<br />

Konzept, eine Schulsituation für die<br />

Kinder, die nicht so mittun, sich zeigen<br />

und sich äußern, nach allem greifen<br />

und für sich selbst sorgen können wie<br />

die Fixen und Fitten, die überall gleich<br />

daheim sind? Was bedeutet diese oder<br />

jene Methode für die langsamen, zaghaften,<br />

stillen, unbeholfenen und<br />

wortkargen Kinder? Erleben sie, dass<br />

ihnen auch gut tut, was die Schule allen<br />

Kindern zumutet? Werden sie zu<br />

sich selbst ermutigt? Werden sie erkannt?<br />

Bleiben sie am Rand?<br />

Generative Wörter<br />

Ich fand die ganzheitliche HOPSI-Fibel<br />

vor, als ich 1967 Lesen und Schreiben<br />

zu unterrichten begann. Das Lehrerhandbuch<br />

wurde mein methodischer<br />

Ratgeber. Meine Schulkinder folgten<br />

brav, lernten aber oft anders, als mein<br />

Ratgeber es behauptete. Ich habe nach<br />

ihren guten Gründen dafür gesucht<br />

und meinen Unterricht entsprechend<br />

verändert, habe schließlich die Fibel<br />

beiseitegelegt und die Kinder mit<br />

Wort- und Buchstabenkarten ausgerüstet,<br />

hab geschnippelt, geklebt, beschrieben,<br />

hab Arbeitsblätter entwickelt<br />

und vervielfältigt und Texte aus<br />

unseren gemeinsamen Erfahrungen.<br />

So bald wie möglich haben die Kinder<br />

eigene Geschichten geschrieben oder<br />

mir diktiert und dazu gezeichnet. Aus<br />

meiner Begeisterung für diese offene<br />

Arbeit mit den Kindern entstand mein<br />

erstes Buch 1 .<br />

Ein Text von uns<br />

für uns (1979)<br />

Paolo Freires Methode der Alphabetisierung<br />

begegnete mir um 1973 in der<br />

dreiteiligen TV-Dokumentation ›Das<br />

Alphabet ist subversiv‹ und in seinem<br />

einflussreichen Buch 2 . Ich begriff: Die<br />

rechtlosen Landarbeiter in Südamerika<br />

brauchen für ihren Lese-Anfang bedeutsame<br />

Wörter aus ihrem eigenen<br />

Leben, aber auch die Kinder hier bei<br />

uns, besonders aber diejenigen, die<br />

man damals spracharm nannte. Freire<br />

spricht von ›generativen Wörtern‹. Für<br />

Thomas allein hätten das wohl Traktor<br />

und Unimog sein können, aber woher<br />

hätte ich das wissen sollen, so lange er<br />

stumm blieb? Und waren Traktor und<br />

Unimog für alle Kinder in der Klasse so<br />

lebenswichtig wie für ihn?<br />

Ich suchte Wörter, die am Schulanfang<br />

für alle Kinder einer Klasse gleichermaßen<br />

bedeutsam sind oder doch<br />

rasch werden können. Ich fand: ›Wort,<br />

Welt, wir‹ (siehe: www.atelier-fuer-<br />

8 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

unterricht.de) und ließ mir von jedem<br />

Kind ein Wort an die große Tafel diktieren<br />

an seinem ersten Schultag. Darauf<br />

baute ich ein kinderlogisches Konzept<br />

für das Lesenlernen in einer Klasse auf.<br />

Es sieht Grundlegendes für alle gemeinsam<br />

vor und differenziert in dem,<br />

was darüber hinaus einzelnen Kindern<br />

möglich oder notwendig ist. Alles und<br />

alle sollen aufgehoben sein in einem lebendigen<br />

Miteinander, in dem Freude,<br />

Sorgen, Interessen und Wissen geteilt<br />

werden. In dem Gespräche, locker oder<br />

diszipliniert, jeden einbinden und jeder<br />

Achtung, Wohlwollen und Interesse<br />

erfährt. So etwas ist nicht einfach da,<br />

man muss es miteinander erarbeiten,<br />

und das geht nicht unabhängig oder<br />

gar gegen die Ordnung des Lernens.<br />

Sprache, Erfahrung, Freiheit<br />

Als mir später dann der Begriff<br />

›Spracherfahrungsansatz‹ (SEA) begegnete,<br />

habe ich ihn auch für mein eigenes<br />

Vorgehen passend gefunden: Ich<br />

wollte ja die Sprache und Erfahrungen<br />

der Kinder aufeinander beziehen, die<br />

Kinder aber auch Erfahrungen mit der<br />

Sprache unbekannter AutorInnen machen<br />

lassen in Geschichten, Gedichten,<br />

Büchern. Und mit der Sprache selbst<br />

etwa in Übungen, die den Regeln der<br />

Sprache gelten. All das, was sie mit Bezug<br />

auf die Sprache zu lernen hatten,<br />

sollte in eigener Erfahrung wurzeln,<br />

nicht aber leeres Können sein.<br />

Am unmittelbarsten schien mir das<br />

im »Freien Schreiben« wirklich zu werden,<br />

das ich als das Verfassen eines<br />

selbst gewollten, authentischen Textes<br />

verstand, wie es seit mindestens hundert<br />

Jahren dem gegängelten Textsortenverfassen<br />

im Aufsatzunterricht als<br />

die bessere Alternative entgegengehalten<br />

wird. 3<br />

Nun machte die Debatte um das »Freie<br />

Schreiben«, die vor zwei Jahren auch im<br />

Grundschulverband (GS <strong>aktuell</strong> Heft<br />

96 / 2006) ausgetragen wurde, unabweisbar,<br />

dass dieser Begriff nicht mehr<br />

so zu benutzen ist, wie ich es eben<br />

getan habe, ohne Gefahr, missverstanden<br />

zu werden. Er wurde verbraucht<br />

als strahlende Bezeichnung für das<br />

selbstständige Verschriften mit Hilfe<br />

einer Anlauttabelle im Gegensatz zum<br />

lehrgangsgemäßen Lernen im Fibelund<br />

Frontalunterricht, die als weniger<br />

lerngünstig und überholt in dunklem<br />

Kontrast dazu gezeigt werden.<br />

Lange konnte ich nicht begreifen, dass<br />

man im Unterricht – oder der begleiteten<br />

Lernzeit – nach dem SEA jemanden<br />

wie Thomas mit Blatt, Stift und einer<br />

Anlauttabelle alleinlassen darf, damit<br />

er sich autodidaktisch selbst alphabetisiere,<br />

und das dann »Freies Schreiben«<br />

nennt. Ich wollte nicht glauben,<br />

dass das Versagen, das Thomas dabei<br />

erlebt, hingenommen wird im Glauben,<br />

seinen Schriftspracherwerb könnte<br />

man einfach abwarten, der folge auf<br />

jeden Fall demselben Entwicklungsmodell<br />

wie der der Fitten und Fixen, nur<br />

eben mit Verzögerung. – Ist es Ausfluss<br />

eines Missverständnisses, wenn so<br />

etwas geschieht? Es geschieht zweifellos,<br />

und die Verantwortlichen verteidigen<br />

es als fortschrittlich.<br />

Suche nach den Ursprüngen<br />

des Spracherfahrungsansatzes<br />

Nur ganz allmählich wurde mir klar,<br />

dass mein Verständnis von offener<br />

Arbeit mit Grundschulkindern, in dem<br />

sich meine in langjähriger Praxis geklärten<br />

Hoffnungen und bewährten<br />

Prinzipien niedergeschlagen haben,<br />

mit vielem nicht vereinbaren lassen,<br />

was führende VertreterInnen eigenaktiven<br />

Lernens verkünden und unter<br />

dem Label ›Spracherfahrungsansatz‹<br />

als richtungsweisende Konzepte lehren<br />

und durchsetzen wollen.<br />

Unabhängig davon regte Inge Büchner<br />

an, für 2008 eine DGLS-Tagung zu planen<br />

zum 25-jährigen Jubiläum des SEA,<br />

dessen Ursprung sie im Erscheinen von<br />

Brügelmanns ›Kinder auf dem Wege<br />

zur Schrift‹ (1983) sah. Wir wollten eine<br />

kritische Bilanz ziehen, die Gewinne<br />

sichten, aber auch endlich einmal die<br />

Verluste, Risiken, Versäumnisse, Missverständnisse<br />

usw., die sich über die<br />

Jahre ergeben haben, ernstnehmen.<br />

Angelika Speck-Hamdan war bereit,<br />

mit uns zusammen die Tagung in der<br />

LMU auszurichten. Wir in München haben<br />

dann monatelang diskutiert, von<br />

unterschiedlichen Perspektiven ausgehend<br />

und immer in tiefer Übereinstimmung,<br />

auch wenn wir an der Oberfläche<br />

ganz verschiedener Meinung<br />

waren. Dabei wurde klar, dass der mir<br />

so schwierig gewordene deutsche Begriff<br />

eine Übertragung des englischen<br />

»Language Experience Approach« sein<br />

soll, übernommen von Lee und Allen.<br />

Gemeinsam erarbeitet:<br />

›cooperative experience charts‹ (1943)<br />

Ute Andresen,<br />

als altgediente Grundschullehrerin,<br />

Autorin, Hochschullehrerin<br />

und Referentin in der<br />

Fort bildung immer noch im<br />

Dienst für Klarheit, Vernunft und<br />

Liebe im Umgang mit Kindern.<br />

Näheres unter<br />

www.ute-andresen.de<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

9


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

LEARNING TO READ<br />

THROUGH EXPERIENCE<br />

Schließlich reizte es mich, dieses Buch<br />

von Lee und Allen, erschienen 1963 4 ,<br />

auf das immer wieder wie auf eine<br />

Urschrift des SEA hingedeutet wird,<br />

selbst in der Hand zu halten. Ich bekam<br />

es über die Fernleihe und stutzte: Das<br />

Vorwort begann: »Twenty years ago<br />

the first edition of Learning to Read<br />

through Experience was published.«<br />

Dass die Urschrift von 1963 schon 1943<br />

einen Vorläufer hatte, war mir neu.<br />

Auch diese erste Ausgabe 5 war zu beschaffen,<br />

sie hatte denselben Titel,<br />

aber als erste Autorin firmiert Lamoreaux,<br />

Lee wird als zweite Autorin genannt.<br />

Merkwürdigerweise wird diese<br />

Differenz in der Autorschaft im Vorwort<br />

von 1963 nicht aufgeklärt.<br />

Beide Ausgaben habe ich nicht durchgearbeitet,<br />

nur darin gestöbert, aber<br />

das war schon aufschlussreich. In der<br />

Ausgabe von 1963 heißt es auf der ersten<br />

Seite (ich übersetze ziemlich frei):<br />

»Bedeutung und Verstehen müssen in<br />

der Erfahrung des Einzelnen eine Basis<br />

haben. Wenn wir empfehlen, jedem<br />

Kind Gelegenheit zu geben, sein eigenes<br />

Lernmaterial zu schaffen, bis es<br />

die Fähigkeit und das Vertrauen entwickelt,<br />

mit anderen Lernmaterialien<br />

umzugehen, wird ein entsprechender<br />

Hintergrund an Erfahrung vorausgesetzt.«<br />

Das verstehe ich so, dass darauf<br />

geachtet werden soll, dass erfahrungssatte,<br />

nicht nur leere Worte und Texte<br />

aufgeschrieben werden, weil eine ganz<br />

frische, bedeutsame Erfahrung dem<br />

Kind – oder den Kindern – gegenwärtig<br />

ist.<br />

Betrachtet man die drei hier zitierten<br />

Abbildungen von 1963 – das Mädchen<br />

an der Tafel, die Runde mit dem gemeinsam<br />

eigenen Buch, die beiden<br />

diktierten Texte – dann fällt auf, wie<br />

gesittet alles anmutet. Da wird der<br />

kultivierende Einfluss der Lehrerin<br />

sichtbar. Auf S. 78f heißt es denn auch:<br />

»The quality and characteristics of the<br />

teacher-pupil interaction is without<br />

doubt the most important single factor<br />

in the child’s learning.« Die Lehrerin<br />

soll als Freund angesehen werden, sie<br />

steht auf der Seite der Kinder, sie können<br />

ihr vertrauen und sich darauf verlassen,<br />

dass sie jedes Kind respektiert<br />

›Sharing Experiences‹: erzählend,<br />

zeichnend, schreibend Erfahrungen<br />

miteinander teilen (1963)<br />

Von mr diktiert,<br />

für mich geschrieben (1963)<br />

Ein Buch, von uns<br />

erarbeitet (1963)<br />

10 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Thema: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

als Person. Ihre Beziehung zu den Kindern<br />

ist davon geprägt, dass sie fähig<br />

ist, sie zu leiten und zu kontrollieren<br />

und gleichzeitig ihre Fähigkeit zu entwickeln,<br />

sich selbst zu leiten und zu<br />

kontrollieren. Eine richtige Lehrerin soll<br />

sie also sein, keine nur unterstützende<br />

Begleiterin!<br />

Das Vorwort der Ausgabe von 1943<br />

betont, dass das, was im Buch vorgeschlagen<br />

wird, aus der praktischen<br />

Erfahrung im Klassenraum stammt.<br />

Dann heißt es: »It develops the theory<br />

and technique of the cooperative<br />

experience chart and shows, how it<br />

can be used effectively to introduce<br />

reading from books.« Zwei solcher »cooperative<br />

charts from first hand experience«<br />

sind hier abgebildet. Sie sind<br />

von einer Gruppe mit ihrer Lehrerin<br />

gemeinsam erarbeitet worden in Vorfreude<br />

auf einen Lernausflug, der nach<br />

gemeinsamem Plan durchgeführt und<br />

in weiteren ›cooperative charts‹ seinen<br />

kultivierten Niederschlag finden wird.<br />

In ihnen werden die Kinder, die beim<br />

Ausflug dabei waren, für immer ihre<br />

»first hand experiences« aufgehoben<br />

wissen. Diese charts sind offenbar verwandt<br />

mit unseren Eigenfibeln. Auch<br />

da werden Texte gemeinsam erarbeitet<br />

und soll aus der Arbeit des sorgsamen<br />

Verwandelns von Erfahrung in Schriftsprache<br />

eine Brücke ins Lesen schon<br />

fertiger Texte und Bücher entstehen.<br />

DIALOGISCHES ERSTLESEN<br />

Unter diesem Titel erschien 1979 ein<br />

schmales Büchlein, das die von Ulrika<br />

Leimar in Schweden entwickelte Methode:<br />

›Lesenlernen auf der Grundlage<br />

der Sprache der Kinder (LGSK)‹ deutschen<br />

Verhältnissen anpasst. 6 In der<br />

Einleitung vergleicht der Herausgeber<br />

das LGSK mit anderen Methoden, entwickelt<br />

die Verwandtschaft von Leimars<br />

Konzept mit dem Paolo Freires<br />

und konstatiert dann: »Die Dialogpädagogik<br />

geht davon aus, dass Pädagoge<br />

und Schüler … gleichen Wert haben.<br />

Beide sind Subjekt, und die Sache oder<br />

der Unterrichtsgegenstand sind das<br />

Objekt der gemeinsamen Bemühungen.<br />

Beide haben ihre eigenen, speziellen<br />

Kenntnisse und Erfahrungen. Durch<br />

den Dialog, wechselseitig geführt, gewinnen<br />

beide Seiten neue Erkenntnisse<br />

und Erfahrungen. …« (S. 16)<br />

Leimar war mit LGKS wohl in Schwedens<br />

Schulen sehr einflussreich. Wenn<br />

ich sie lese, beeinflusst sie mich, alles,<br />

was ich im Zusammenhang des<br />

Lesenlernens schon gedacht, gesagt,<br />

geschrieben, getan habe, in neuem<br />

Licht noch einmal anzuschaun. Das ist<br />

sehr spannend und sehr belernend! Ich<br />

kann Leimar hier nicht zitieren, aber<br />

ich biete allen, die sich das Büchlein<br />

nicht selbst besorgen können, an, ihnen<br />

auszuhelfen, wenn sie sich bei mir<br />

melden.<br />

Sy lv i a As h t o n-Wa r n e r<br />

(1908 – 1984)<br />

Sie war eine europäisch geprägte<br />

Künstlerin in Neuseeland, wollte<br />

Schriftstellerin oder Pianistin werden,<br />

musste dann aber als Lehrerin Geld<br />

verdienen und entwickelte für die<br />

Maori-Kinder, die mit ihren Eltern als<br />

entrechtete Ureinwohner am Rande<br />

der kolonialen Welt Neuseelands lebten,<br />

einen Anfangsunterricht, der ihre<br />

Wurzeln in der Maori-Kultur stärkte<br />

und ihnen eine Brücke baute in die<br />

fremde Kultur der Weißen. Auch in ihrer<br />

Methode spielen Schlüsselwörter<br />

eine zentrale Rolle, radikaler noch als<br />

die generativen Wörter Freires. Ihre<br />

Bücher über ihre Arbeit wurden Welterfolge,<br />

aber nicht für uns hier übersetzt.<br />

Nur ›Spinster‹, ihr Roman einer Lehrerin,<br />

die ihr gleicht, wurde ins Deutsche<br />

übersetzt und erschien mit dem<br />

Titel ›Quelle meiner Einsamkeit‹ 7 . Man<br />

kann ihn in Bibliotheken finden, auch<br />

ihr Fachbuch ›Teacher‹ (1943) und ihre<br />

Biographie (Englisch). Und im Internet<br />

wird man ausgiebig fündig, wenn man<br />

ihren Namen eingibt. Diese Frau kann<br />

uns demütig machen gegenüber unserer<br />

Aufgabe, auch Kinder wie Thomas<br />

in der Schule und in der Schriftkultur<br />

gleichberechtigt ankommen zu lassen,<br />

und zeigt uns, wie wir ihr gerecht werden<br />

können.<br />

Wir haben erst angefangen, herauszufinden,<br />

was ein Spracherfahrungsansatz<br />

sein könnte.<br />

Sylvia Ashton-<br />

Warner (1963)<br />

Anmerkungen<br />

1 Ute Moeller-Andresen: Das erste Schuljahr – Unterrichtsmodelle.<br />

Stuttgart 1973<br />

2 Paolo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart 1971<br />

3 Michael Ritter gibt uns einen klaren und lesbaren analytischen<br />

Rückblick auf diese Zeit und zeigt, welche schönen Möglichkeiten<br />

wir noch zu entdecken haben, wenn wir Kinder ihre eigenen<br />

Texte schreiben lassen. M. R.: Wege ins Schreiben. Eine Studie zur<br />

Schreibdidaktik in der <strong>Grundschule</strong>. Baltmansweiler 2008<br />

4 Lee, Dorris M. / Allen, R. V.: Learnin to Read through Experience.<br />

(Second Edition) New York 1963<br />

5 Lamoreaux, Lillian A. / Lee, Dorris M.: Learning to Read through<br />

Experience. New York/London 1943<br />

6 Möckelmann, Jochen: Dialogisches Erstlesen. Frankfurt a.M.<br />

1979 (Deutsche Adaption von: Ulrika Leimar: Lesen lernen auf der<br />

Grundlage der Sprache der Kinder. Lund 1974)<br />

7 Sylvia Ashton-Warner: Quelle meiner Einsamkeit. Hamburg 1963<br />

(Orig.: Spinster. New York 1959)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

11


Thema: Praxis: Spracherfahrung<br />

Wie VERA aus 2008 Erfahrung Sprache wird<br />

Dazu will ich etwas schreiben!<br />

Didaktische Überlegungen zu freien und kreativen Schreibprozessen<br />

von Michael<br />

Ritter<br />

Der Begriff »Freies Schreiben« ist in den letzten Jahren<br />

eher im Kontext offener Schriftspracherwerbskonzepte<br />

diskutiert worden (vgl. GS <strong>aktuell</strong> Heft 96 aus 2006).<br />

Eigentlich geht er aber auf den durch die Aufsatzreformer<br />

am Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten »Freien<br />

Aufsatz« zurück, der nach dem »Erstschreiben« auf<br />

die Entwicklung einer natürlichen und authentischen<br />

schriftlichen Ausdrucksfähigkeit abzielte. Es waren also<br />

Schreibprozesse gemeint, bei denen die Kinder jenseits<br />

der ersten selbstständigen Schreibversuche auf gewisse<br />

Fähigkeiten beim Schreiben zurückgreifen konnten. Der<br />

folgende Beitrag stellt Überlegungen und Anlässe zum<br />

freien und kreativen Schreiben vor, die in dieser Tradition<br />

stehen.<br />

Entdeckungen auf der Wiese<br />

Wir – das waren die 20 Kinder und die<br />

LeiterInnen der Halleschen Kreisarbeitsgemeinschaft<br />

»Schreibspielwiese«<br />

– saßen gemeinsam auf einer Wiese.<br />

Das Frühjahr hatte gerade seinen<br />

Höhepunkt erreicht, die Sonne schien,<br />

es ging uns gut. Gemeinsam wollten<br />

wir nun das Leben an diesem eher untypischen<br />

Schreibort erkunden. Mit<br />

Augen, Ohren, Nase und Händen gingen<br />

die Kinder auf die Suche nach den<br />

Worten, die sie hier entdecken konnten.<br />

Das Wechselspiel von ›wahrnehmen<br />

und benennen‹ stand am Anfang<br />

unserer Begegnung mit der Wiese,<br />

dieses »Grundprinzip der dichterischen<br />

Mechanik«, wie es der französische<br />

Dichter und Poetiker Paul Valery bezeichnet<br />

hat. 1 Nachdem die Kinder<br />

›Wiesenwörter‹ gesammelt und aufgeschrieben<br />

hatten, legten wir uns ins<br />

Gras und stellten uns vor, wie es wäre,<br />

ganz klein zu sein. Das Gras würde zum<br />

undurchdringlichen Urwald, die Ameise<br />

zum Pferd. Oder vielleicht sogar zum<br />

Freund? Die Menschen, die sich auf der<br />

Wiese niederließen, würden sicherlich<br />

eher zur Gefahr. Auch Regentropfen<br />

könnten uns in Bedrängnis bringen. So<br />

fantasierten wir uns in eine Welt, die<br />

mithilfe der Frage »Was-wäre-wenn«<br />

ihre Gestalt in der Fantasie der Kinder<br />

entwickelte.<br />

Nun suchten sich die Kinder einen<br />

›Bewohner‹ der Wiese aus. Das konnten<br />

Tiere, Pflanzen oder Gegenstände wie<br />

Steine oder Erdklumpen sein. Gemeinsam<br />

überlegten wir: Was hätten sie<br />

zu berichten, könnten sie für einen<br />

Moment sprechen? Wie würden sie ihr<br />

Leben beschreiben? Was stünde im<br />

Mittelpunkt? Was wäre ihnen wichtig?<br />

Hier begannen die Kinder nun zu<br />

schreiben. Die intensive sinnliche Begegnung<br />

mit der Wiese, die Versprachlichung<br />

der Erfahrung durch das Aufschreiben<br />

der Wiesenwörter und die<br />

Fantasiereise, die für die Kinder einen<br />

Perspektivwechsel und die Verfremdung<br />

der eigenen Erfahrungen mit<br />

sich brachte, boten viel Stoff, der nun<br />

in den Berichten der unterschiedlichen<br />

Wiesenbewohner artikuliert werden<br />

konnte. Gemeinsam hatten sie Erfahrungen<br />

gesammelt, sich darüber ausgetauscht<br />

und sie so bereits in Sprache<br />

gekleidet. Nun gingen sie ihre eigenen<br />

Wege, indem sie sich in die ausgesuchten<br />

Wiesendinge hineindachten und<br />

einfühlten und sie im eigenen Schreiben<br />

noch einmal ganz neu entdeckten.<br />

12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Praxis: Wie aus Praxis: Erfahrung Thema: Spracherfahrung<br />

VERA 2008 wird<br />

Dabei entstand zum Beispiel Sophias<br />

Text vom Grashalm.<br />

Mein Tag<br />

Ich bin ein kleiner Grashalm auf<br />

einer großen Wiese. Jeden Tag strahlt<br />

die Sonne über mir und mein Tag<br />

beginnt. Es summen Bienen um mich<br />

rum, es laufen Ameisen hin und her.<br />

Käfer knabbern an mir herum.<br />

Bricht mich jemand ab, bin ich<br />

kein kleiner Grashalm mehr<br />

auf einer großen Wiese.<br />

Sophia, 9 Jahre<br />

Ein besonderer Text<br />

Sophia beschreibt in ihrem Text die<br />

Welt aus der Sicht eines Grashalms.<br />

Für den Moment des Schreibens hat<br />

sie sich in dieses kleine Geschöpf hineingedacht.<br />

Sie versucht, ihr Umfeld<br />

durch seine Augen zu sehen und zu<br />

beschreiben. Dem Alltag, der wenig<br />

überraschend daherkommt, stellt sie<br />

eine Gefahr gegenüber, der er hilflos<br />

ausgeliefert ist. Das scheint banal,<br />

aber das Bild lässt einige persönliche<br />

Bedeutung vermuten. Ich ahne, dass<br />

Sophia hier viel mehr anspricht. Der<br />

Grashalm in seiner Schwäche wird zum<br />

Symbol für ihre eigene Verletzlichkeit.<br />

Sophia hat das Schreiben genutzt, über<br />

sich selbst und ihre Lebenssituation<br />

nachzudenken. Der Text wird zum Ausdruck<br />

persönlicher Empfindungen und<br />

Befürchtungen.<br />

In der dichten und pointierten Beschreibung<br />

wird die Angst für mich als<br />

Leser fast körperlich spürbar. Diesen<br />

Effekt erzielt Sophia, indem sie sich<br />

die Kraft der Sprache zunutze macht.<br />

Das ereignislose, fast eintönige Stimmungsbild<br />

kontrastiert der letzte Satz<br />

als krasser Gegenpol. Formal ist er<br />

eine variierte Wiederholung des ersten<br />

Satzes. Er deckt sich in weiten Teilen<br />

wörtlich und seiner Satzstruktur nach<br />

mit ihm. Diese Parallelität schafft Vertrautheit,<br />

die dem Gegensatz der Verneinung<br />

umso pointierter zur Wirkung<br />

verhilft. Den inhaltlichen Polen von<br />

Vorstellung und Vernichtung stehen<br />

auf sprachlicher Ebene die beiden gegensätzlichen<br />

und doch so ähnlichen<br />

Aussagen gegenüber. Sie schaffen einen<br />

Rahmen des Textes, eine Form,<br />

die ihm in ihrer prägnanten Kürze eine<br />

besondere Wirkung ermöglicht. Dabei<br />

verzichtet Sophia auf wuchtige Darstellungen<br />

oder übertriebene Dramatik.<br />

Sensibel inszeniert sie den Grashalm<br />

– nüchtern, fast schlicht. Dass sie<br />

dies alles wahrscheinlich unbewusst<br />

tut, weniger aus dem Wissen um gelungene<br />

Textkomposition heraus denn<br />

als Folge eines intuitiven Umgangs mit<br />

der Sprache, erscheint mir an dieser<br />

Stelle zweitrangig; denn diese Erkenntnis<br />

ändert nichts an dem Text und seiner<br />

Wirkung.<br />

Texte brauchen Kontexte<br />

Das Beispiel zeigt, dass offene, aber anregungsreiche<br />

und ästhetisch intensive<br />

Schreibszenarien Kindern geeignete<br />

Rahmenbedingungen für erstaunliche<br />

sprachliche Leistungen bieten können.<br />

Der Text ist ein außergewöhnliches<br />

Produkt eines Kindes, das mir sonst<br />

nicht durch so prägnante sprachliche<br />

Leistungen auffiel. Auf der Wiese hatte<br />

Sophia aber einen Zugang zum Schreiben<br />

gefunden, der dieses Ergebnis<br />

möglich machte.<br />

Nicht jeder Text, der an diesem<br />

Nachmittag entstand, ist so gelungen<br />

wie der von Sophia. Aber alle Texte<br />

sprechen mit einer Lebendigkeit, die<br />

besonders aus der Unmittelbarkeit des<br />

Schreibprozesses und seiner Einbettung<br />

in konkrete Erfahrungssituationen<br />

resultierte.<br />

Der Grasfrosch<br />

Auch als Bewohner der Wiese hab ich<br />

manchmal Schwierigkeiten. Ich, ja<br />

ich bin ein kleiner grüner Grasfrosch<br />

und erzähle euch heute mein aufregendstes<br />

Erlebnis mit dem großen<br />

grünen Schwimmbecken.<br />

Eines Tages hüpfte ich froh und munter<br />

übers weiche Gras, als plötzlich der<br />

Boden verschwand und ich in die Tiefe<br />

stürzte. Ich schrie vor Angst und weil<br />

ich spürte, dass ich unterging. Doch<br />

plötzlich zog sich ein Netz um mich<br />

und ich war nach kurzem wieder auf<br />

festem Boden. Es waren die Nachbarskinder,<br />

die mich retteten. Sie ließen<br />

mich frei und ich hüpfte davon.<br />

Julian, 11 Jahre<br />

Was sagt ein Stein?<br />

Ich liege auf der Wiese. Tag für Tag,<br />

Nacht für Nacht. Mir ist oft langweilig.<br />

Manchmal laufen Menschen über<br />

mich und das tut weh. Wenn ich Kinder<br />

lachen höre, werde ich glücklich.<br />

Martha, 9 Jahre<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Texte aus der Arbeit der Schreibspielwiese<br />

Ich bin, wie ich bin<br />

Ich bin der Wind, der die Zweige bewegt.<br />

Ich bin der Titel eines Buches.<br />

Ich bin der Regen, der die Pflanzen sprießen lässt.<br />

Ich bin ein Pferd, das läuft ohne nachzudenken.<br />

Ich bin die Sonne, die zuerst den Tag ankündigt.<br />

Ich bin der Mond, der abends am Himmel steht.<br />

Ich bin ein Jungtier, das verletzlich ist.<br />

Ich bin ein Fuchs, der nachdenkt bevor er geht.<br />

Ich bin ein Bücherwurm, der die Bücher durchkreuzt.<br />

Ich bin der Morgentau, der auf der Wiese liegt.<br />

Ich bin das Wasser, das getrunken wird.<br />

Ich bin dein Freund, wenn du mich gut behandelst.<br />

Ich bin ich, und nur ich ändre was daran.<br />

Alexandra, 10 Jahre<br />

Das Gedicht von 2 Farben<br />

Es waren einmal 2 Farben,<br />

Das waren Rot und Gelb.<br />

Rot und Gelb sind Freunde,<br />

zusammen ist es Orange.<br />

Rot heißt Nina<br />

und Gelb heißt Nini.<br />

Morgen ist bei<br />

Rot und Gelb<br />

wieder Schule.<br />

Rot und Gelb hassen<br />

die Schule aber.<br />

Geschichten<br />

schreiben sie aber gern.<br />

Sophie, 7 Jahre<br />

Der Schulengel heißt Naninana. Naninana hilft,<br />

wenn man Hilfe braucht in Mathe, Deutsch und<br />

anderen Dingen. Der hilft auch, wenn man ihn ruft!<br />

Vielleicht hilft er auch wenn dir jemand weh tut.<br />

Aber wenn du ihn nicht rufst, dann wird es nichts.<br />

Sophie, 7 Jahre<br />

Es war einmal ein kleiner Knopf. Der war ganz allein und<br />

hatte keine Freundin und keinen Freund. Der Knopf ging<br />

zum Bahnhof und da hat er etwas gegessen und getrunken.<br />

Da traf er einen zweiten Knopf. Einen rosa Knopf.<br />

Sophie, 7 Jahre<br />

L – Liebe<br />

A – anfreunden<br />

U – unaufmerksam<br />

R – rollen<br />

A – Andreas<br />

E – Ehrgeiz<br />

L – lahm<br />

T – traurig<br />

E – Ehe<br />

R – rund<br />

N – nein<br />

Vögel fliegen ohne Ventil,<br />

aber kommen doch ans Ziel.<br />

Emily, 8 Jahre<br />

Liebe ist komisch, sage ich.<br />

Oder anfreunden mit ihm.<br />

Ihn zu lieben wäre auch toll.<br />

In der Schule war ich unaufmerksam<br />

und seine Bilder rollten mir im Kopf herum.<br />

»Der Andreas ist ehrgeizig!«<br />

»Er ist lahm!«<br />

»Er würde Laura traurig machen!«<br />

»Er wird unsre Ehe zerstören!«<br />

»Er ist so dick und rund!«<br />

»Nein!«<br />

Alexandra, 10 Jahre<br />

14 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Konsequenzen<br />

für die Schreibdidaktik<br />

Die vorangegangenen Beobachtungen<br />

werfen nun die Frage auf, ob sich hinter<br />

diesem Beispiel ein didaktisches<br />

Prinzip freien und kreativen Schreibens<br />

verbergen kann. Mehrere Schwerpunkte<br />

erscheinen hier wichtig:<br />

1. Am Anfang des Schreibens<br />

steht die Begegnung mit der Welt<br />

In freien Texten, seien es Erlebnisse,<br />

Stimmungsbilder, Gedichte oder Fantasiegeschichten,<br />

setzen sich Kinder<br />

schreibend mit der Welt auseinander,<br />

wie sie sie selbst erlebt haben. Die<br />

Wörter sind Ausdruck von persönlichen<br />

Erfahrungen, bzw. die Erfahrungen<br />

sind die Voraussetzung für sprachlichen<br />

Ausdruck. Daher sollte am Beginn<br />

des Schreibens die konkrete Erfahrung,<br />

das Erlebnis stehen.<br />

2. Gute Schreibimpulse<br />

werfen echte Fragen auf<br />

Manchmal ergibt sich aus der Erfahrung<br />

ein Ausdruckswunsch, der unmittelbar<br />

ins eigene Schreiben führen<br />

kann. In diesem Fall ist kein weiterer<br />

Impuls nötig. Häufig ist aber eine Brücke<br />

vonnöten, die den oft diffusen Erfahrungen<br />

der Kinder eine Möglichkeit<br />

der Veräußerlichung bietet. Sozusagen<br />

eine Form, in welche die Erfahrungen<br />

sich artikulieren können. Schreibimpulse,<br />

z. B. Sprachspiele, Erzählbilder,<br />

Fantasiereisen, Gedichte, Bilderbücher,<br />

etc. können solche Brücken sein. Wichtig<br />

ist, dass sie nicht eine mögliche<br />

Geschichte vorwegnehmen, sondern<br />

Fragen aufwerfen, die die Kinder herausfordern<br />

und die sie beantworten<br />

möchten. Und dass sie durch die Anregung<br />

der Fantasie ein Spiel mit der<br />

Sprache und ihren Bedeutungen inszenieren.<br />

3. Freie Kindertexte sind Stimmen<br />

der Kinder und verlangen<br />

Anerkennung<br />

In den Textwelten der entstehenden<br />

freien Kindertexte kommen die Kinder<br />

zur Sprache. Fantasien und Erfahrungen<br />

verbinden sich mit literarischen<br />

Bildern und Mustern. Ihre Bedeutung<br />

können wir letztendlich nur erahnen.<br />

Dennoch müssen wir uns im Bewusstsein<br />

behalten, dass diese Texte extrem<br />

wichtig für die schreibenden Kinder<br />

sein können. Sie zu Stilübungen zu<br />

degradieren oder aufgrund von Zeitmangel<br />

dem Kind die Chance zur öffentlichen<br />

Präsentation im Erzählkreis<br />

und zum Feedback zu verwehren, kann<br />

die wertvollen Erfahrungen, die auch<br />

für die Haltung des Kindes zur Schriftsprache<br />

und seinen Bildungserfolg von<br />

enormer Bedeutung sind, zunichte<br />

machen. Freie Kindertexte brauchen<br />

darum auch eine interessierte Leserschaft.<br />

Um sie aber der Öffentlichkeit<br />

präsentieren zu können, müssen sie<br />

von der Entwurfsfassung in eine Form<br />

gebracht worden sein, die ihrer Bedeutung<br />

angemessen ist. Sie müssen den<br />

Normen der Schriftsprache genügen<br />

und auch optisch ansprechend gestaltet<br />

werden. Interessante Buchformen<br />

und Präsentationsmöglichkeiten können<br />

zu diesen weiterführenden Arbeitsschritten<br />

Motivation stiften und<br />

die Vielfalt der Schriftlichkeit auch äußerlich<br />

berücksichtigen helfen. 2<br />

Resümee<br />

Ganzheitlich-spielerische Zugänge<br />

zum Schreiben können Kindern helfen,<br />

gangbare und herausfordernde Wege<br />

ins eigene Schreiben zu finden. Die<br />

Kinder treffen hier auf Anregungen, die<br />

ihre Kreativität nicht einengen, sondern<br />

entfalten helfen. Wichtig ist, dass<br />

die Kinder erfahren, dass das Schreiben<br />

eine Möglichkeit ist, persönlichen<br />

Ideen, Erfahrungen, Vorstellungen und<br />

anderen gedanklichen Inhalten eine<br />

konkrete und beständige Form zu geben.<br />

Und dass sie erkennen, dass ein<br />

gelungener Text nur dann seine Wirkung<br />

ganz entfalten kann, wenn er<br />

auch in eine Form gebracht wurde, die<br />

seine Schönheit anderen zugänglich<br />

macht.<br />

In diesem Zusammenhang bleibt<br />

das Schreiben nicht einfach nur eine<br />

Kulturtechnik, in welche die Schule<br />

mittels eines Lehrgangs einzuführen<br />

hat. Das Schreiben wird für die Kinder<br />

selbst ein Teil einer elementaren Kultur<br />

der Schriftlichkeit, die es für sich zu erobern<br />

gilt.<br />

Hinweis<br />

Weitere Anregungen und dokumentierte<br />

Schreibwerkstätten finden sich auch<br />

im Internet unter www.schreibritter.de.<br />

Eine Studie zu Entwicklungsprozessen<br />

der Schreibdidaktik der <strong>Grundschule</strong><br />

und einer möglichen konzeptionellen<br />

Neupositionierung dieses Bereichs im<br />

Rahmen ästhetischer Bildungsvorstellungen<br />

ist kürzlich im Schneider-Verlag<br />

Hohengehren unter dem Titel »Wege<br />

ins Schreiben. Eine Studie zur Schreibdidaktik<br />

in der <strong>Grundschule</strong>« erschienen.<br />

Dr. phil. Michael Ritter ist<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

an der Martin-Luther-Universität<br />

Halle/Wittenberg.<br />

Informa tionen unter:<br />

www.schreibritter.de<br />

Anmerkungen<br />

1 Paul Valery: Theorie der Dichtkunst. Frankfurt/Main: 1987, S. 26;<br />

zur Bedeutung der Sinne für das Schreiben vgl. auch Eva Maria<br />

Kohl: Schreibspielräume. Seelze-Velber: 2005<br />

2 Vorschläge für interessante Buchformen: Eva Maria Kohl:<br />

Kleine Bücher selbst gemacht. In: Grundschulunterricht 9/1997,<br />

Sonderheft S. 18 – 23<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Und das finden wir auch noch raus!<br />

Wie Weltwissen und Schriftsprache sich in kleinen Projekten<br />

zusammen entwickeln<br />

Wir sind zu Jacquelines Opa gegangen.<br />

Sie hatte ein Huhn im Hasenstall, das<br />

wurde immer von den anderen geärgert.<br />

Da haben sie es in den Hasenstall getan.<br />

Ihr Opa hat es sogar herausgeholt.<br />

Alle haben es gestreichelt.<br />

Josefine, 8 Jahre<br />

Wie lebt eine Henne?<br />

In der Zeit vor Ostern ist es fast schon<br />

Tradition geworden, im dritten Schuljahr<br />

das Ei und die Henne in den Mittelpunkt<br />

des Heimat- und Sachkundeunterrichts<br />

zu stellen. Diesmal kam<br />

noch ein Aufruf zum Wettbewerb »Wie<br />

lebt eine Henne?« dazu. Meine Schulkinder<br />

waren begeistert, leben sie doch<br />

auf dem Dorf und haben vielfältige<br />

Berührungspunkte mit Haustieren.<br />

Doch nicht alle wussten, wie Hühner<br />

heute gehalten werden und welche Bedingungen<br />

sie eigentlich brauchen, um<br />

artgemäß zu leben. Wir machten uns<br />

also auf den Weg, das herauszufinden.<br />

Dabei stand für mich die Projektidee,<br />

die Verknüpfung der einzelnen<br />

Fächer in einem übergreifenden Thema,<br />

im Vordergrund. Und ich war gespannt,<br />

welche Vorschläge und Ideen<br />

meine Kinder mit einbringen würden.<br />

In der genau geplanten, aber zugleich<br />

offenen Struktur solcher Projekte entstehen<br />

viele Möglichkeiten, Schriftsprache<br />

zu gebrauchen, zu lesen oder<br />

selbst zu schreiben. Ich habe immer<br />

wieder erlebt, wie motiviert Kinder an<br />

das Entwickeln von Texten herangingen,<br />

die in ihrer eigenen, konkreten<br />

Erfahrung wurzeln konnten. Besonders<br />

auffallend auch Kinder, die sonst<br />

nur ungern schreiben und / oder große<br />

Mühe damit haben.<br />

Der erste Auftrag war nun: »Schreibt<br />

doch mal auf, was ihr schon über Hühner<br />

wisst!«<br />

Was Hühner essen<br />

Hühner essen Würmer, Körner und<br />

Entenfutter. Mein Opa und ich gehen<br />

jedes Wochenende und in der Woche zu<br />

den Hühnern und Enten und auch zu<br />

den Hasen. Wir füttern sie. Unser Hahn<br />

heißt Peter. Unsere Hühner haben einen<br />

großen Freiraum. Sie vertragen sich sehr<br />

gut mit den Enten. Am besten vertragen<br />

sich unsere Hühner mit unserem Erpel.<br />

Max, 9 Jahre<br />

Es entstanden die vielfältigsten Texte,<br />

die von den Kindern im Kreis vorgelesen<br />

und später von mir mit dem Computer<br />

abgeschrieben wurden. Max erzählte<br />

von seinem Opa und der besonderen<br />

Freundschaft zwischen Hühnern und<br />

Enten. Leon schilderte den Tagesablauf<br />

einer Henne. Lea wusste, dass es auch<br />

Hühner in Käfigen gibt.<br />

Der Gedanke, dass Hühner in engen<br />

Käfigen ein freudloses Dasein fristen,<br />

bewegte alle Kinder außerordentlich.<br />

Darüber wollten sie unbedingt mehr<br />

Wie lebt eine Henne? Beobachtungen vor Ort und Sammlung der Kenntnisse an einer Wandzeitung<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

wissen. Und unser Projekt sollte den<br />

Titel »Glückliche Hennen – Traurige<br />

Hennen« bekommen.<br />

Am nächsten Morgen brachten die ersten<br />

Kinder kleine Zettel mit Vorschlägen<br />

an unserer Pinnwand an. Einige<br />

Bastelanleitungen für Hühner waren<br />

dabei und immer wieder hieß es: Wir<br />

wollen einen Hühnerhof besuchen, den<br />

Hühnerhalter befragen, fotografieren,<br />

zeichnen und ein Ei-Buch selbst herstellen.<br />

Sophia brachte das Buch von Felix<br />

Mitterer »Superhenne Hanna« aus der<br />

Bibliothek mit. In den nächsten Tagen<br />

kamen noch einige Sachbücher und<br />

weitere Ideen hinzu:<br />

Wir könnten in die Kinderakademie<br />

nach Fulda zur Ausstellung »Vom Ei zum<br />

Huhn« fahren!<br />

Mein Papa schweißt uns einen Käfig<br />

aus Metall, der ist so groß wie ein echter.<br />

Da können wir richtig sehen, wie eng es<br />

für die Hennen ist.<br />

In unserem Brutkasten werden bald<br />

die ersten Küken schlüpfen. Wir dürfen<br />

alle kommen und sie sehen! …<br />

Schreibanlässe gab es nun viele und<br />

sie kamen alle von den Kindern selbst.<br />

Kein Kind musste ermutigt oder zum<br />

Schreiben aufgefordert werden. Alle<br />

waren mit Freude dabei. Sie schrieben<br />

Fragen für ein Interview mit dem<br />

Hühnerhalter auf (später dann auch die<br />

Antworten) und Jacqueline bekam den<br />

Auftrag, ihren Opa zu fragen, ob die<br />

ganze Klasse kommen dürfe, um seine<br />

Hühner zu sehen. Natürlich durften<br />

wir.<br />

Jaquelines Opa freute sich, als wir zwei<br />

Tage später wie richtige Reporter mit<br />

unseren Fragen vor ihm standen. Er<br />

beantwortete sie gerne und beschrieb<br />

ausführlich seine Arbeit mit den Hühnern.<br />

Am meisten beeindruckte die<br />

Kinder eine Zwerghenne, die von den<br />

anderen Hühnern gehackt wurde und<br />

deshalb vorübergehend im Hasenstall<br />

untergebracht war. In den Texten der<br />

Kinder wurde oft von dieser Zwerghenne<br />

berichtet, später tauchte sie sogar<br />

in kleinen Geschichten auf.<br />

Die Interviews wurden in der Schule<br />

(nachdem ich die Rechtschreibung<br />

korrigiert hatte), noch einmal auf ein<br />

schönes Blatt geschrieben.<br />

Nach einem weiteren Ausflug, diesmal<br />

zu Christians Küken, verfasste jedes<br />

Kind einen kleinen Bericht. Ich war<br />

erstaunt, wie detailgetreu alle wiedergaben,<br />

was sie beobachtet und gehört<br />

hatten.<br />

Wir sind zu Christians Küken gelaufen<br />

und haben die Brutmaschine angesehen.<br />

Frau Niebel hat uns gesagt, dass die<br />

Brutmaschine 36°C haben muss.<br />

Die Eier liegen 21 Tage darin. Man muss<br />

sie zweimal am Tag 10 Minuten lüften.<br />

Die Eier müssen auch gedreht werden,<br />

weil das die Glucke mit ihren Beinen<br />

auch macht. Vor dem Schlüpfen<br />

muss man Wasser hinein tun, damit die<br />

Schale weicher wird. Die Küken brauchen<br />

2 Stunden fürs Schlüpfen, hat Christian<br />

erzählt. … Drei Küken waren schon<br />

in einer großen Kiste und darüber hing<br />

eine rote Lampe und wärmte die Küken.<br />

Christian hat sie auch hoch genommen<br />

und wir durften sie streicheln. Die waren<br />

süß und weich! Das hat mir gefallen.<br />

Sophia, 8 Jahre (gekürzt)<br />

Aus dem Buch »Superhenne Hanna«las<br />

ich nun jeden Tag vor. Wir erfuhren viel<br />

über die Käfighühner, die hier allerdings<br />

gerettet wurden und ein glückliches<br />

Leben auf dem Lande beginnen<br />

durften. Die Begegnung mit Literatur<br />

weckte bei meinen Kindern das Bedürfnis,<br />

eigene Geschichten zu schreiben.<br />

Es entstanden Fantasietexte, in denen<br />

sich das bisher Erlebte wiederfand.<br />

Die Abenteuer des kleinen Küken<br />

Es war einmal eine Henne. Sie hatte<br />

gerade ein Ei gelegt. Bald darauf<br />

schlüpfte das Küken. Es konnte nach<br />

wenigen Stunden schon laufen. Die Mutter<br />

zeigte ihrem Küken den Bauernhof.<br />

Projekt<br />

»Glückliche Hennen –<br />

traurige Hennen«<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Am nächsten Morgen wachte die<br />

Henne auf und rief erschrocken:<br />

»Wo ist denn mein Küken?«.<br />

Sie suchte überall.<br />

Sie fand es aber nicht, denn das<br />

Küken war in den Wald gelaufen.<br />

Dort traf das Küken den gefährlichen<br />

Habicht. »Hallo du kleines Küken«,<br />

sagte er und dachte dabei: »Du wärst<br />

das richtige Mittagessen für mich.«<br />

Der Habicht flog auf das Küken<br />

zu und wollte es packen. In letzter<br />

Sekunde konnte es sich unter<br />

einem Busch verstecken.<br />

»Das war knapp«, dachte es sich. Das<br />

Küken lief weiter. Es war völlig erschöpft.<br />

Plötzlich sah es einen Haufen<br />

voller Hühner. Es waren Rebhühner,<br />

die im Wald lebten.<br />

Dort blieb es ein paar Tage,<br />

dann lief es weiter.<br />

Nun traf es wieder einen<br />

Habicht. Und auch er wollte<br />

sich auf das Küken stürzen.<br />

»Halt!«, rief das Küken, »ich finde<br />

meine Mutter nicht mehr!«<br />

Das tat dem Habicht wirklich leid<br />

und er ließ das Küken gehen.<br />

Nach einiger Zeit sah das Küken<br />

ein Haus und dachte sich:<br />

»Vielleicht ist das ja mein Bauernhof.«<br />

Und es hatte recht.<br />

Es war der Bauernhof.<br />

Die Henne fragte das Küken: »Wo warst<br />

du denn?« und das Küken sagte:<br />

»Das erzähle ich dir später.«<br />

Und sie lebten glücklich bis<br />

an ihr Lebensende.<br />

Laura, 9 Jahre<br />

Heike Dreßler leitet als Lehrerin eine<br />

einzügige <strong>Grundschule</strong> in Thüringen,<br />

erreichbar über E-Mail:<br />

gs-dorndorf@t-online.de<br />

Inzwischen waren auch zwei Metallkäfige<br />

fertig und wir setzten Hühner, die<br />

wir aus Pappmache geformt hatten, hinein.<br />

Hühner mit einem ganz besonderen<br />

Federkleid. Jedes Kind hatte einen<br />

traurigen Käfig-Satz auf eine Papierfeder<br />

geschrieben und die dem Huhn angeklebt.<br />

Da konnte man nun lesen: Ich<br />

träume von einer Wiese. – Wo kommen<br />

meine Eier hin? – Ich will auch mal Küken<br />

ausbrüten! – Hier ist es eng! – Ich möchte<br />

einmal die Sonne sehen. – Das Futter<br />

schmeckt eklig. Was tut ihr da rein? …<br />

Und weil traurige Hühner auch traurige<br />

Eier legen, schnitten wir passende<br />

Wörter aus Zeitungen aus und klebten<br />

sie mit Binder auf ausgeblasene Eier.<br />

Pechvogel, Not, blutig, Stress, Verbrechen<br />

… stand nun darauf. Merkwürdig<br />

war, dass sich in den Zeitungen eher<br />

Wörter für unsere traurigen Eier fanden<br />

als für die glücklichen.<br />

Längst hatten wir uns in Gruppen<br />

eingeteilt, um die großen Ei-Bücher mit<br />

»Traurige Eier« von »traurigen Hühnern« – und Stolz auf das selbst erstellte »Ei-Buch«<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Texten zu füllen. Einige Kinder beschäftigten<br />

sich mit allem, was ein Huhn<br />

braucht, schrieben Informationen aus<br />

Sachbüchern ab und klebten die Interviews<br />

und Fotos auf. Andere erforschten,<br />

wie sich die Entwicklung vom Ei<br />

zum Küken vollzieht. Norman kam mit<br />

einem Bündel Holz in die Schule, aus<br />

dem er einen Hühnerstall mit Legenestern<br />

baute. Im Kunstunterricht formten<br />

wir Tonhennen mit Küken, die dann<br />

in Normans Hühnerstall wohnen durften.<br />

Außerdem fertigte jedes Kind ein<br />

eigenes kleines Ei-Buch, um seiner Fantasiegeschichte<br />

eine schöne Rahmung<br />

zu geben. Verziert wurde das Deckblatt<br />

mit einer Henne aus Metallprägefolie.<br />

Das Einritzen von Formen und Mustern<br />

machte allen sichtlich Freude.<br />

Längst war der Zeitrahmen, den ich zu<br />

Beginn bestimmt hatte, nicht mehr<br />

einzuhalten. Die Begeisterung meiner<br />

Kinder für ihr Projekt war so groß,<br />

dass sie bereit waren, sich auch nachmittags<br />

zu treffen, um manch angefangene<br />

Arbeit noch fertig zu stellen.<br />

Es wurde gesägt, gemalt, getanzt,<br />

gestaltet, geschrieben und gerechnet.<br />

Und wir fuhren gemeinsam zur Küken-<br />

Ausstellung in die Kinderakademie<br />

nach Fulda.<br />

Bevor unser Projekt nun auf Wettbewerbs-<br />

Reise ging, stellten wir für die<br />

Familien der Kinder eine kleine Ausstellung<br />

zusammen. Sie gab einen Einblick<br />

in das kreative Schaffen der Kinder und<br />

zeigte, wie sich lebendige Erfahrung<br />

mit Sprache und künstlerischem Tätigsein<br />

verknüpfen lässt. Auch Jacquelines<br />

Opa sah sich unsere Ausstellung an.<br />

Stolz führten die Kinder ihn herum und<br />

lasen ihm auch einige Interviews aus<br />

dem Ei-Buch vor. Als er die Käfighühner<br />

mit den traurigen Federn und den<br />

traurigen Eiern sah, meinte er: »Das<br />

ist eine furchtbare Sache!« Zum Glück<br />

können seine Hennen »auf einer Wiese<br />

träumen«.<br />

Projektbeschreibung »Wie lebt eine Henne«<br />

Ideenfindung<br />

Zusammengetragen wurden u. a.: Bastelanleitungen<br />

für Hennen; Besuche bei Opas,<br />

die Hühner halten mit Fotodokumentation;<br />

Besuch der Kinderakademie Fulda; Kinderbuch<br />

»Superhenne Hanna« und andere Bücher über<br />

Hühner … An einer Pinnwand wurden alle Ideen<br />

gesammelt. Immer wieder kamen noch welche<br />

dazu. Manche wurden verworfen.<br />

Erstes Schreiben: »Was ich schon über Hühner<br />

weiß!«<br />

Vom Ei zum Küken<br />

Christian berichtete: Bei uns werden im Brutkasten<br />

morgen die ersten Küken schlüpfen!<br />

n Unterrichtsgang: Beobachtung der geschlüpften<br />

Küken, Betrachten des Brutkastens<br />

und der Eier, Fragen stellen, einen Erlebnisbericht<br />

schrei ben über den Unterrichtsgang<br />

mit persönlichen Gedanken (jedes Kind)<br />

n Zusammenstellen von Bildern aus Zeitschriften<br />

(z. B. »Tu was«) über die Entwicklung<br />

des Kükens und Herstellen des Ei-Buches<br />

(Gruppenarbeit)<br />

n Besuch der Küken bei Christian nach<br />

14 Tagen: Wie haben sich die Küken entwickelt?<br />

Besuch der Kinderakademie Fulda – Sonderausstellung<br />

»Vom Ei zum Küken«<br />

Unsere glücklichen Hühner – oder:<br />

Wie lebt eine Henne?<br />

n Unterrichtsgang zu 2 Hühnerhaltern im Ort:<br />

Fragen über Hühner stellen und Antworten<br />

mitschreiben, Interessantes über Lebensweise<br />

der Hühner erfahren, Anlage betrachten<br />

(Hühnerställe, Auslauf …), Verhaltensweisen<br />

von Hühnern beobachten und fotografieren<br />

n Herstellen des Ei-Buches »Wie lebt eine<br />

Henne?« (Gruppenarbeit)<br />

Freies Schreiben<br />

Jedes Kind schreibt eine Fantasie-Geschichte,<br />

in der es um Hühner oder Küken geht.<br />

Deckblatt: Kunstvoll verzierte Henne aus<br />

Metallprägefolie (Kunstunterricht)<br />

Kinderbuch »Superhenne Hanna« von<br />

Felix Mitterer<br />

Im Morgenkreis lasen wir dieses Buch gemeinsam.<br />

(Ei-Buch mit Meinungen als Gruppenarbeit)<br />

Umfrage und Statistik<br />

Wir überlegten uns Fragen über Verbraucherverhalten<br />

rund ums Ei und stellten sie den Leuten<br />

vor der Kaufhalle und im Ort (statistische<br />

Auswertung dazu im Mathematikunterricht)<br />

Wissen Sie, was die Zahlen auf den Eiern bedeuten?<br />

Aus welcher »Haltung« kaufen Sie Ihre Eier<br />

meistens?<br />

Wissen Sie, welche Bedingungen Hennen in<br />

Legebatterien haben?<br />

Sind Sie dafür, dass die Käfighaltung abgeschafft<br />

wird? (gesetzlich verboten wird)<br />

Traurige Hühner in Käfighaltung<br />

Nachdem so viel Wissen auch über die Käfighaltung<br />

zusammengetragen wurde, entstand<br />

die Idee, Pappmaschee-Hühner mit traurigen<br />

Federn in Käfige zu setzen. In Zeitungen suchten<br />

wir traurige Wörter, um sie auf die Käfig-<br />

Eier zu kleben. (Metallkäfige haben 2 Väter<br />

gebaut.)<br />

n Plakat über Käfighaltung<br />

n Kopiervorlage: Was könnte ein Käfighuhn<br />

sagen? Aus diesen Sätzen entwickelten wir die<br />

»traurigen Federn«<br />

n Ausgeblasene Eier werden mit passenden<br />

Wörtern aus der Zeitung beklebt (Binder-Dispersionsbindemittel)<br />

Glückliche Hühner<br />

n Bau eines Holzhühnerstalls mit Legenestern<br />

(Idee und selbstständige Umsetzung: Schüler<br />

Norman A. mit Partnern)<br />

n Formen von Hennen aus Ton, Eier mit glücklichen<br />

Wörtern (Gruppenarbeit)<br />

n Musikhören und Tanzen: Mussorgski: »Ballett<br />

der Küchlein in ihren Eierschalen« aus »Bilder<br />

einer Ausstellung«<br />

Holzhühner<br />

n erste Laubsägearbeit »Henne« aus Sperrholz<br />

und Draht im Werkunterricht (jedes Kind)<br />

Sprachbetrachten<br />

n Wörter mit Dehnungs-h wie in Huhn, Hahn<br />

n Wörter mit doppeltem Mitlaut wie in Henne,<br />

dazu Rs-Training: kurzer und langer Vokal im<br />

Sprachforscherbuch<br />

Ausstellung<br />

Am letzten Schultag vor den Osterferien luden<br />

wir alle Klassen unserer <strong>Grundschule</strong>, am<br />

Nachmittag auch Eltern, Großeltern sowie die<br />

2 Hühnerhalter, die wir während der Projektarbeit<br />

besuchten, in die Schule ein, um ihnen<br />

die Ergebnisse unserer zweiwöchigen Arbeit zu<br />

präsentieren.<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Tafel, Kreide und eine Geschichte<br />

Sprachförderung mit einfachsten Mitteln<br />

von Thea<br />

Schmidbauer<br />

Die Tür stand offen, zwei Leute sahen<br />

mir freundlich entgegen, schon war ich<br />

drinnen in ihrem Workshop. Erst später<br />

hörte ich Bekannte freudestrahlend<br />

schwärmen vom Auftritt von Hedwig<br />

Rost und Jörg Baesecke am Abend<br />

vorher. Den hatte ich leider nicht erlebt.<br />

Mich lockte ihre Ankündigung:<br />

›Geschichten mit einfachen Mitteln so<br />

animieren, dass sie das Herz bewegen<br />

und die Zunge lösen‹. Die einfachen<br />

Mittel sind das, was man im Unterricht<br />

braucht, die ganz einfachen Mittel!<br />

Schon am Montag habe ich eine der Erzählzeichnungen,<br />

die ich am Samstag<br />

gelernt hatte, für meine Kinder aufgeführt.<br />

Alle zehn Kinder saßen dicht um die<br />

große Tafel. An die hab ich stehend<br />

mit weißer Kreide gezeichnet und dazu<br />

erzählt: Da ist Tom, und da ist Susi. Die<br />

beiden müssen in den Keller gehen und<br />

Sahne holen für die Mama. Tom und Susi<br />

haben jeder ein eigenes Zimmer. Tom<br />

lebt hier, und Susi lebt da. Das ist die<br />

Tür von Tom, und das die Tür von Susi.<br />

Da ist das Fenster von Tom, und da das<br />

Fenster von Susi. Und jedes Zimmer hat<br />

einen Kamin. Und wenn sie die Türen zuschlagen,<br />

macht es immer PUFF! PUFF!<br />

PUFF! PUFF! Tom sagt: Susi, wir müssen<br />

in den Keller gehen und schauen, wo die<br />

Sahne ist. Na gut! Sie gehen die Treppe<br />

RUNTER in den Keller. Aber da ist keine<br />

Sahne. Also gehen sie wieder RAUF. Und<br />

dann die andere Treppe RUNTER. Aber da<br />

ist auch keine Sahne, und so steigen sie<br />

wieder RAUF. Sie laufen einen laaangen<br />

Gang entlang und wieder eine Treppe<br />

RUNTER. Und finden nichts und gehen<br />

wieder RAUF und zur nächsten Treppe,<br />

da wieder RUNTER, und schauen<br />

nach der Sahne, aber da ist auch<br />

keine. Sie gehen die letzte Treppe<br />

wieder HOCH, ganz HOCH. Und da<br />

sehen sie, wer die Sahne aufgeschleckt<br />

hat. Ja, wer war denn das?<br />

wieder: Noch einmal! Ganz interessiert<br />

und aufmerksam waren sie alle mit mir<br />

bei der Sache, weil mein Erzählzeichnen<br />

ihre Emotionen geweckt hatte.<br />

Auch bei der Geschichte vom Einkaufen<br />

war das so. Und auch da haben sie<br />

erst zuletzt erkannt, was meine Kreide<br />

beim Erzählen unter der Hand hatte<br />

entstehen lassen. Ich habe erzählt:<br />

Ich kaufe zwei Semmeln, ein Stück Torte,<br />

eine Banane. Das wird eingepackt und<br />

oben wird eine Schleife gemacht. Dann<br />

kaufe ich noch zwei Hörnchen und einen<br />

Laib Brot. In dem Brot sind Nüsse. Dann<br />

brauche ich noch zwei Gabeln, jede mit<br />

fünf Zinken. Und das Ganze kostet 66<br />

Cent. Wer kommt zu mir zum Essen?<br />

Ein Mann! Plötzlich waren die Semmeln<br />

zu Augen, das Tortenstück zur Nase,<br />

die Banane zum Mund verwandelt. Im<br />

Spiel mit Kreide und Sprache. Wichtig<br />

ist, dass es wiederholt wird, bis die Kinder<br />

es selber erzählen können. Oder zunächst:<br />

bis sie es selber können wollen.<br />

Viele Kinder fordern die Wiederholung,<br />

weil sie stark sind und sich zutrauen,<br />

es irgendwann selber zu können.<br />

Aber manche mosern auch: Nee! Nicht<br />

schon wieder. Ist doch langweilig! Solche<br />

Unterschiede sind für mich interessant.<br />

Die Unlustigen denken vielleicht:<br />

Das schaff ich sowieso nicht! Oder ihre<br />

Gedanken sind von anderen Dingen<br />

besetzt.<br />

Oder sie<br />

konsumieren<br />

meine<br />

kleine Darbietung nur passiv wie eine<br />

Show.<br />

Macht sich darin, dass manche Kinder<br />

mein Kunststückchen hinnehmen als<br />

reine Unterhaltung, während andere<br />

es lernen wollen, um auch damit auftreten<br />

zu können, ein Entwicklungsoder<br />

ein Bildungsrückstand bemerkbar?<br />

Oder zeigt sich da nur, ob sie sich<br />

emotional auf so ein Spiel einlassen<br />

können? Ich weiß, dass bei manchen<br />

meiner Kinder die Fähigkeit dazu erst<br />

geweckt werden muss, zum Beispiel<br />

durch solches Erzählzeichnen. Es wird<br />

ja etwas Emotionales angesprochen<br />

damit, auch bei mir selbst. Dieses Sprechen<br />

und gleichzeitige Tun empfinde<br />

ich als merkwürdig spannend. Und ich<br />

meine, alle andern im Kurs hat es auch<br />

gepackt. Es sind so kleine Geschichten,<br />

aber sie rühren uns an! Und die Kinder<br />

dann auch.<br />

Ist es die besondere Verbindung zwischen<br />

Sprechen und bildlicher Darstellung,<br />

die fasziniert? Die einzelnen<br />

Elemente der Zeichnungen sind einfachste<br />

Symbole für das, wovon die<br />

Rede ist. Und am Schluss ist etwas ganz<br />

anderes entstanden. Das Ganze ist ein<br />

sprachintensives Kunststückchen, mit<br />

dem ich meine Schulkinder fessele, bei<br />

dem sie mir gerne zuhören und zusehen,<br />

das aber so durchschaubar wirkt,<br />

dass der Wunsch, es mir nachzutun,<br />

nahe liegt.<br />

Jede dieser Erzählzeichnungen<br />

bietet eine klar<br />

strukturierte mündliche<br />

Erzählung und einfachste<br />

Eine Katze! Aus T + S + Tür + Tür + Fenster<br />

+ Fenster usw. … war das Bild einer<br />

Katze entstanden. Noch einmal! Und<br />

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Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Linien. Niemand wird ausgeschlossen,<br />

auch nicht die Kinder, die ungeschickt<br />

mit dem Stift umgehen oder nicht so<br />

gut Deutsch sprechen. Ich habe ja Kinder<br />

in meiner Klasse, die bei der ersten<br />

Aufführung vielleicht nur einen Teil<br />

verstehen, aber zum Schluss doch erkennen:<br />

Eine Katze! Ein Mann! Am Ende<br />

ist jedes Kind ganz dabei und freut sich<br />

mit den andern am eben entstandenen<br />

Bild dieser merkwürdigen Katze. Ein<br />

zugleich persönliches und gemeinsames<br />

Erlebnis.<br />

Jede Aufführung ist für mich aber auch<br />

ein diagnostisches Instrument, weil<br />

ich die unterschiedlichen Reaktionen<br />

der Kinder auf mein Erzählen und<br />

Zeichnen beobachten, durchdenken,<br />

deuten und einordnen kann.<br />

Sehr viele Kinder in meiner Klasse<br />

wachsen zweisprachig auf. Es sind<br />

Kinder mit Verständnisschwierigkeiten,<br />

die Aufgaben kaum umsetzen können.<br />

Manche Kinder haben Wahrnehmungsprobleme<br />

– auditiv, visuell,<br />

taktil. Es sind Kinder, die<br />

im<br />

Einschulungsverfahren<br />

zurückgestellt wurden, weil<br />

sie, obwohl schon sechs<br />

Jahre alt, dem Schulbeginn<br />

in einer schulklasse noch<br />

Grundwären.<br />

Meine Aufgabe<br />

ist es, die<br />

Kinder in ihrer Entwicklung so weit zu<br />

fördern, dass sie nach einem Jahr<br />

stabil und selbstsicher genug vom<br />

regulären Anfangsunterricht in der<br />

<strong>Grundschule</strong> profitieren können. Lust<br />

auf Spielen und Lernen, Selbstständigkeit<br />

und Vertrauen in die eigenen<br />

nicht gewachsen<br />

Fähigkeiten sind zu wecken, dazu die<br />

Neugier auf Sprache, gesprochene wie<br />

geschriebene. Ziel ist es, dass sie wagen,<br />

sich auszudrücken, dass sie sich<br />

verständlich machen und anderen zuhören<br />

können.<br />

Diese Kinder brauchen Bilder, damit<br />

sie sich etwas vorstellen können. Sie<br />

hatten wenig mit Bilderbüchern zu<br />

tun und haben bisher kaum Geschichten<br />

vorgelesen bekommen. Sie fragen<br />

immer: Wo ist das Bild? Ich will was<br />

sehen, damit ich mir das vorstellen<br />

kann! Das erlebe ich jedes Jahr wieder<br />

aufs Neue: Wenn sie keine Bilder sehen<br />

zu einer erzählten Geschichte, dann ist<br />

die Aufmerksamkeit weg! Das RUNTER<br />

und RAUF meiner Kreide, wenn ich von<br />

den Kellertreppen erzähle (und die Beine<br />

der späteren Katze zeichne), erzeugt<br />

Anschaulichkeit.<br />

Mir selbst tut es gut, dass ich erlebe:<br />

Sie sind bei mir! Sie sind da! Ich erreiche<br />

sie! Mit diesen schlichten Erzählzeichnungen<br />

habe ich als Heilpädagogin einen<br />

faszinierenden Auftritt, denn alles<br />

kommt von mir, aus meinem Mund,<br />

aus meiner Hand. Nicht irgendwer hat<br />

etwas produziert,<br />

was<br />

nun hergezeigt<br />

wird,<br />

sondern<br />

eine<br />

greifbare<br />

Person<br />

lässt etwas<br />

entstehen!<br />

Und das<br />

kann man<br />

sogar<br />

nachahmen!<br />

Der Mann hier<br />

entsteht aus<br />

lauter Elementen,<br />

die Dinge repräsentieren,<br />

die man<br />

kennt. Sie<br />

bedeuten<br />

dann aber im Zusammenhang<br />

der Zeichnung etwas ganz anderes. Es<br />

ist wie ein Geheimnis im Alltäglichsten,<br />

das sich auf einen Schlag entpuppt.<br />

Das mag es sein, was so emotionalisierend<br />

wirkt! Dieses Geheimnis, das<br />

in der Erzählzeichnung steckt. Das ist<br />

keine platte Förderaufgabe, bei der die<br />

zu erreichende Leistung direkt angezielt<br />

wird.<br />

Heute dominiert eine Sichtweise auf<br />

Kinder mit Schwierigkeiten, die will,<br />

dass die Kinder aufgrund je individueller<br />

Diagnostik und gemäß einem individuellen<br />

Förderplan mit individuell<br />

angepasstem Übungsmaterial eher<br />

passiv gefördert werden. Hier werden<br />

sie einbezogen in das Erleben eines<br />

komplexen, in seiner Logik erkennbaren,<br />

koordinierten Könnens, das fesselt<br />

und verblüfft, aber so klar strukturiert<br />

ist, dass die Kinder nicht ahnen, wie<br />

anspruchsvoll die Leistung ist, wenn<br />

sie sie sich selbst zutrauen. Da liegen<br />

keine offenbaren oder diffusen<br />

Schwierigkeiten auf dem Weg zum<br />

Gelingen. Sie sprechen, sie spielen, sie<br />

zeichnen, sie spüren und kommen voran.<br />

Sie sind mit meinem Erzählzeich-<br />

nen ganzheitlich angesprochen und<br />

das Können, das sie sich erarbeiten<br />

möchten, fordert sie wiederum ganzheitlich.<br />

Aber Erzählen und Zeichnung<br />

stützen sich auch gegenseitig. Da ist<br />

eine Struktur in der Zeichnung, die<br />

sich aus der Erzähllogik ergibt. Und ein<br />

Ablauf in der Erzählung, der sich von<br />

der Zeichnung leiten lässt.<br />

Für solche Kunststückchen ist Konzentration<br />

nötig, kann sich darin aber<br />

auch allmählich entwickeln. Dazu das,<br />

was wir Raum-Lage- und Figur-Grund-<br />

Wahrnehmung nennen. Lauter Voraussetzungen<br />

für den Schriftspracherwerb,<br />

die hier aber nicht isoliert und<br />

gezielt gefördert werden, sondern<br />

in einem komplexen, animierenden<br />

Zusammenhang, weil sie da<br />

im doppelten Sinne gebraucht werden.<br />

Man bemüht sich um sie, weil man<br />

ihrer bedarf, und übt sie, indem man<br />

sie benützt. Das sollte im sonderpädagogischen<br />

Förderbereich eigentlich<br />

immer so sein! Meine Kinder haben<br />

sonderpädagogischen<br />

Förderbedarf.<br />

Sie brauchen eine andere Art Aufgaben<br />

als Kinder, die es leichter haben, weil<br />

sie daheim oder im Kindergarten schon<br />

viel Anregung und Klärung von Sprache<br />

bekommen haben.<br />

Was die Kinder hier zu lernen bekommen,<br />

ist eingebunden in gemeinsames<br />

Erleben und in Gespräche nebenbei, in<br />

Gefühlsaustausch und natürliches Fragen<br />

und Antworten. Die Rückstände in<br />

der Sprachentwicklung meiner Kinder<br />

hängen oft damit zusammen, dass<br />

sie genau dies zu Hause nicht erlebt<br />

haben: das unbefangene, ausgiebige<br />

Plaudern über etwas, womit man gemeinsam<br />

beschäftigt ist und wo jeder<br />

sich auf seine Weise beteiligen kann,<br />

eingebunden mit seiner Sprache in ein<br />

vertrautes Miteinander.<br />

Thea Schmidbauer<br />

ist Heilpädagogin<br />

am Sonderpädagogischen<br />

Förderzentrum<br />

Dachau,<br />

Außenstelle<br />

Karlsfeld<br />

t.schmidbauer@<br />

gmx.de<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

21


Praxis: Wie aus Erfahrung Sprache wird<br />

Die Taschentuch-Maus<br />

Ein Stofftaschentuch wird in der Diagonale<br />

gefaltet.<br />

Die beiden langen Spitzen des Dreiecks werden<br />

nach innen eingeschlagen.<br />

Die nun entstandene Form wird zur Spitze hin<br />

aufgerollt.<br />

Die Rolle wird gebogen, so dass die Enden<br />

zusammenstoßen, und auf diese Weise zu einem<br />

Ring geformt.<br />

Der Zipfel wird über die Stelle gelegt, wo die<br />

Enden der Rolle zusammenliegen; dann führt<br />

man ihn weiter um diese Stelle herum und<br />

rollt dabei die zuvor entstandene Rolle ab und<br />

um den Ringschluss herum neu auf. Am Ende<br />

kommen die beiden anfangs eingeschlagenen<br />

Spitzen wieder zum Vorschein.<br />

Nun sieht die Form wie ein großes Bonbon<br />

aus.<br />

Eine der beiden Spitzen zieht man nun in die<br />

Breite und verknotet die aufgezogenen Seiten.<br />

Dabei entsteht ein Kopf mit Ohren. Hier<br />

braucht man Geduld und manchmal eine Pinzette.<br />

Fertig ist die Maus!<br />

Die Taschentuch-Maus wird erst in<br />

meiner neuen Klasse ausführlicher<br />

auftreten. Ich weiß schon: Es gibt eine<br />

starke emotionale Reaktion bei den<br />

Kindern auf diese Maus, wenn sie sich<br />

wie lebendig bewegt. Die einen: Das ist<br />

ja gar keine richtige Maus! Die andern<br />

wollen sie anfassen und streicheln und<br />

mitspielen. Ich weiß auch: Als Heilpädagogin<br />

muss ich meinen eigenen<br />

Spieltrieb ermuntern, um vor den Kindern<br />

unbefangen mit der Maus spielen<br />

und dabei eine Geschichte erzählen zu<br />

können. Das Erzählzeichnen fiel mir<br />

leichter.<br />

Vielleicht übe ich mit der Maus nicht<br />

allein daheim, sondern mit den Kindern<br />

zusammen in der Schule. Es gibt Dinge,<br />

die muss man einfach üben, auch noch<br />

als Lehrerin. Ich zeige den Kindern die<br />

Maus, wie sie im Buch (1) gezeichnet<br />

ist und wie man sie falten kann nach<br />

der Anleitung in Zeichnung und Text.<br />

Kinder, die das auch lernen wollen, bekommen<br />

ein Taschentuch von mir. Wer<br />

eine Maus geschaffen hat, bekommt<br />

sie geschenkt. Und dann können wir<br />

um die Wette üben, sie herumhuschen<br />

zu lassen, wie es im Buche steht:<br />

»Man setzt sie auf die Innenseite<br />

der Hand, mit dem Kopf zum Ellbogen.<br />

Dann tut man so, als würde man sie<br />

mit der anderen Hand streicheln wollen.<br />

Dabei gibt man ihr mit den (nun<br />

verdeckten) Fingerspitzen der unteren<br />

Hand einen kräftigen Schubs – und<br />

die scheue Maus scheint den Unterarm<br />

hochzuspringen. Die obere Hand<br />

versucht sie zu fangen – dabei führt<br />

sie aber die Maus hoch hinauf bis zur<br />

Schulter.«<br />

Anmerkungen<br />

Rost, Hedwig / Baesecke, Jörg: Höher als der<br />

Himmel, tiefer als das Meer. Ein Erzähl- und<br />

Theater-Werkbuch. Frankfurt a.M. 2007 –<br />

siehe: www.kleinstebuehne.de<br />

Dank an Ute Andresen, die meine Erfahrungen<br />

mit mir durchdacht und formuliert hat.<br />

(Ein kräftiger Zug an Kopf und Schwanz –<br />

und man hat wieder ein Taschentuch.) Quelle: Rost / Baesecke 2007<br />

22 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Grundschulgeschichte(n)<br />

Mein Weg zum<br />

Spracherfahrungsansatz<br />

von Hans Brügelmann<br />

Als ich 1980 von der Universität Bremen auf<br />

eine Professur für Anfangsunterricht berufen<br />

wurde, hatte ich von Lese- und Schreibdidaktik<br />

kaum Ahnung. Um mich vor den Studierenden<br />

nicht zu blamieren, las ich alles, was<br />

ich in die Hände bekam – und war irritiert:<br />

Überall konnte ich lesen, wie man Lesen und<br />

Schreiben lehrt, aber ich fand kaum empirische<br />

Befunde bzw. Erklärungsansätze dazu,<br />

wie Kinder lesen und schreiben lernen.<br />

Dies war und ist aus meiner Sicht die primäre<br />

Frage, hatte ich doch bei Piaget gelernt,<br />

dass Menschen sich die Welt aktiv aneignen.<br />

In den Anfängen des Schreibens, als gerade<br />

ernannter Professor 1980 (H. Brügelmann)<br />

Auf der Grundlage ihrer bisherigen Erfahrungen<br />

entwickeln sie eigene Vorstellungen, die<br />

sie handelnd auf ihre Tragfähigkeit erproben.<br />

Aber selbst im Ausland gab es nur wenige ForscherInnen,<br />

die den Schriftspracherwerb aus<br />

der Sicht der Kinder untersuchten. Selbst bis<br />

heute sind die eindrucksvollen Studien von<br />

Emilia Ferreiro und Ana Teberosky (1979 / 82)<br />

weithin unbekannt.<br />

Deutsche Vorläufer<br />

Einige wenige Anregungen und Ermutigungen fand ich um 1980 auch in der<br />

deutschsprachigen Fachliteratur: der durch Fotos aus dem Unterrichtsalltag<br />

anschaulich und glaubwürdig belegte Praxisbericht »Das erste Schuljahr« von<br />

Ute Andresen (1973 bei Klett erschienen) und aus demselben Jahr Gudrun<br />

Spittas Ideensammlung für ein stärker selbstständiges »Lesenlernen«<br />

(Pädagogisches Zentrum Berlin). Wichtig war mir auch Jürgen Reichens<br />

»Lesen durch Schreiben« (1982 von Sabe in der Schweiz veröffentlicht), das eine<br />

kluge Idee von Maria Montessori zum Zentrum des Anfangsunterrichts im<br />

Lesen und Schreiben machte – und vor allem Gerhard Sennlaubs »Spaß beim<br />

Schreiben oder Aufsatzerziehung?«. Dieses seit 1980 von Kohlhammer immer<br />

wieder neu aufgelegte Praxisbuch hat mich damals nicht nur durch seinen<br />

Erfahrungsreichtum und seine klare Sprache beeindruckt, sondern vor allem<br />

durch seine Verweise auf vergessene Traditionen angeregt. Denn zentrale Ideen<br />

und Begründungen des Spracherfahrungsansatzes finden sich bereits bei ReformpädagogInnen<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts.<br />

Titel der 3., »verbesserten und vor<br />

allem vergrößerten Auflage 1989«,<br />

Faude Verlag, Lengwil (CH)<br />

Mir haben in meiner Bremer Anfangszeit<br />

Berichte über zwei Ansätze geholfen, die<br />

( Zufall?) in der Arbeit mit besonderen Gruppen<br />

erprobt worden waren: Sylvia Ashton-<br />

Warner (1963) hatte benachteiligte Maori-<br />

Kinder in Neuseeland in die Welten der Schrift<br />

eingeführt und Paulo Freire (1981) Alphabetisierungskampagnen<br />

für Erwachsene in Brasilien<br />

organisiert.<br />

Ashton-Warners Leitidee (vgl. Ramseger<br />

1975): Für jeden Menschen lassen sich Schlüsselwörter<br />

finden, die für besondere emotionale<br />

Erfahrungen in seinem Leben stehen.<br />

An diesem individuellen »Grundwortschatz«<br />

können dann auch Einsichten in den technischen<br />

Aufbau der Schrift gewonnen werde.<br />

Freire (1981) ging ebenfalls von den Erfahrungen<br />

der Betroffenen aus, aber er setzte mit<br />

Gesprächen über ihre gemeinsamen Lebensbedingungen<br />

an (Doll 2008). Den Ertrag<br />

dieser politisch verstandenen Aufklärung<br />

(»conscientização«) fasste er in Schlüsselwörtern<br />

zusammen (aus denen danach durch<br />

Zerlegung und Zusammensetzung neue<br />

Wörter gebildet wurden). Meine dritte Quelle<br />

waren Célestin Freinets Erfahrungen mit<br />

der Handdruckerei als Instrument des freien<br />

Ausdrucks: Kinder schreiben über das, was<br />

ihnen persönlich besonders wichtig ist, aber<br />

mit dem Ziel, sich anderen mitzuteilen, z. B.<br />

im Rahmen einer Klassenkorrespondenz. Der<br />

Spracherfahrungsansatz, also die Einsicht,<br />

dass Menschen Schriftsprache durch aktive<br />

Auseinandersetzung mit dem Gegenstand<br />

erfahren und durchdringen müssen, ist also<br />

nicht nur eine neue Methode (s. u.), er verlangt<br />

zudem eine besondere pädagogische Haltung,<br />

nämlich ein Interesse an den individuellen Erfahrungen<br />

und Vorstellungen der Kinder und<br />

Respekt für ihre persönlichen Interessen und<br />

Ziele.<br />

Übersetzt auf den Anfangsunterricht in deutschen<br />

Schulen bedeutet »Spracherfahrungsansatz«<br />

für mich Dreierlei:<br />

n an den individuellen Erfahrungen der Kinder<br />

mit (Schrift-)Sprache anknüpfen,<br />

n damit sie neue Erfahrungen mit Funktion<br />

und Struktur der Schriftsprache sammeln<br />

und alte ausbauen können,<br />

n indem sie schreibend Erfahrungen aus ihrer<br />

eigenen Lebenswelt mit Schrift festhalten<br />

und mitteilen sowie sich lesend bisher<br />

fremde Erfahrungswelten über Schriftsprache<br />

neu erschließen können.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

23


Grundschulgeschichte(n)<br />

Die Umsetzung<br />

dieser Leitideen<br />

ist in<br />

verschiedenen<br />

Formen<br />

denkbar (vgl.<br />

etwa die<br />

Beiträge zu<br />

Spitta 1998).<br />

Zusammen mit<br />

Erika Brinkmann habe<br />

ich unsere Vorstellung in einem »4 Säulen-<br />

Modell« für den Anfangsunterricht konkretisiert,<br />

das folgende Schwerpunkte umfasst:<br />

(I) freies Schreiben von Texten zu persönlich<br />

wichtigen Themen in der eigenen Sprache und<br />

ihre Veröffentlichung in Klassenbüchern, auf<br />

Plakaten, durch Vortragen in der Gruppe;<br />

(II) Vorlesen anspruchsvoller Geschichten in<br />

der Gruppe und individuelles Lesen / Betrachten<br />

von selbst gewählten Büchern;<br />

(III) Erklären und Modellieren grundlegender<br />

Umgangsweisen mit Schrift, um ihren technischen<br />

Aufbau verständlich zu machen und die<br />

individuell verfügbaren Strategien des Lesens<br />

und Schreibens weiter zu entwickeln;<br />

(IV) Übungen mit einem begrenzten Wortschatz<br />

an besonders häufigen und an persönlich<br />

wichtigen Wörtern, um grundlegende<br />

Lese- und Rechtschreibmuster zu automatisieren.<br />

Dabei erweist sich das Wechselspiel von<br />

individuellen und gemeinsamen Aktivitäten<br />

als besonders produktiv, wie die Bespiele zu<br />

den vier Säulen iim Kasten zeigen.<br />

Solche Aktivitäten haben wir in der »Ideenkiste<br />

Schriftsprache« gesammelt und im Rahmen<br />

einer »didaktischen Landkarte« geordnet<br />

(Brinkmann / Brügelmann 1993/2006). Wie<br />

die Beispiele zeigen, ist es aber schwierig, sie<br />

in Form von gemeinsamen Materialien für die<br />

aus: »Kinder auf dem Weg zur Schrift«, S. 176<br />

SchülerInnen zu fassen. Einen Versuch in dieser<br />

Richtung stellt die »ABC-Lernlandschaft«<br />

dar (Brinkmann u. a. 2008). Sie konzentriert<br />

die Aufgaben auf wenige Kernbereiche, um<br />

Raum für situationsbezogene Aktivitäten vor<br />

allem in den Bereichen I und II zu gewinnen.<br />

Zum anderen sind die Materialien inhaltlich<br />

und methodisch so offen konzipiert, dass sie<br />

Kindern eigene Wege auch in den Bereichen III<br />

und IV eröffnen.<br />

Literatur<br />

Ashton-Warner, S. (1963): Teacher. Simon and Schuster:<br />

New York/ Secker & Warburg: London.<br />

Backhaus, A. u. a. (Hrsg.) (2008): Demokratische<br />

<strong>Grundschule</strong> – Mitbestimmung von Kindern über ihr<br />

Leben und Lernen. Arbeitsgruppe Primarstufe/ FB2.<br />

Universität: Siegen.<br />

Brinkmann, E. u. a. (2008): ABC-Lernlandschaft.<br />

Lernbuch-Verlag Friedrich: Seelze.<br />

Brinkmann, E. / Brügelmann, H. (1993): Ideen-<br />

Kiste Schriftsprache 1 (mit didaktischer Einführung<br />

»Offenheit mit Sicherheit«). Verlag für pädagogische<br />

Medien: Hamburg (5. Aufl. 2006).<br />

Doll, J. (2008): Alphabetisierung als politische Bildung.<br />

Erinnerung an den brasilianischen Pädagogen<br />

Paulo Freire. In: Backhaus u. a. (2008, 134 _ 142).<br />

Ferreiro, E. / Teberosky, A. (1982): Literacy before<br />

schooling. Heinemann: Portsmouth/ London (span.<br />

1979).<br />

Freinet, C. (1980): Pädagogische Texte. Mit Beispielen<br />

aus der praktischen Arbeit nach Freinet. Rororo 7367:<br />

Reinbek.<br />

Freire, P. (1971): Pädagogik der Unterdrückten. Kreuz<br />

Verlag: Stuttgart (Rowohlt 1973; engl. 1972).<br />

Ramseger, J. (1975): Gegenschulen. Radikale Reformschulen<br />

in der Praxis. Julius Klinkhard: Bad Heilbrunn.<br />

Spitta, G. (Hrsg.) (1998): Freies Schreiben – eigene<br />

Wege gehen. Libelle: CH-Lengwil.<br />

Hans Brügelmann,<br />

Professor für Grundschulpädagogik und ­didaktik<br />

an der Universität Siegen (seit 1993).<br />

Von 1980 – 1993 Professor für Anfangsunterricht<br />

(Lese­/ Schreibdidaktik) an der Universität Bremen.<br />

Im Grundschulverband Fachreferent für Qualitätsentwicklung.<br />

4-Säulen-Modell<br />

Freies Lesen [Säule I]<br />

n Jedes Kind wählt ein Buch, das es lesen<br />

(oder vorgelesen bekommen) möchte;<br />

n es stellt dieses Buch, z. B. mit vorgelesenen<br />

Ausschnitten, in der Gruppe vor,<br />

die Rückfragen stellen kann;<br />

n andere Kinder nehmen Buchempfehlungen<br />

auf und lesen Bücher, die sie persönlich<br />

interessieren, selbst.<br />

Tagebuch schreiben [Säule II]<br />

n Im Morgenkreis erzählen die Kinder<br />

von ihren Erlebnissen, eines davon wird<br />

gemeinsam an der Tafel verschriftet und<br />

von der Lehrerin ins »Klassenbuch« übertragen;<br />

n jedes Kind schreibt seine eigene Version<br />

des Ereignisses auf, ggf. im Rückgriff<br />

auf Elemente von der Tafel;<br />

n die Texte werden (durch die Lehrperson<br />

oder HelferInnen wie ältere SchülerInnen)<br />

»in Buchschrift übersetzt« und unter oder<br />

neben das Original geklebt, so dass diese<br />

wieder in der Gruppe (vor)gelesen werden<br />

können.<br />

Wörter jagen zu Hause<br />

oder auf der Straße [Säule III]<br />

n Jedes Kind wählt und schneidet bedeutsame<br />

Wörter oder Logos aus Zeitschriften<br />

usw. aus (oder schreibt sie ab)<br />

und bringt sie in die Schule mit;<br />

n die Funde werden im Kreis besprochen<br />

im Blick auf Bedeutung, Funktion und<br />

Schriftform (z. B. »Welche Buchstaben<br />

kennt ihr schon?«);<br />

n die Kinder wählen persönlich interessante<br />

Wörter aus, »tauschen« Wortkarten<br />

und schrei ben ihre Funde nach dem Anfangsbuchstaben<br />

geordnet in ein alphabetisches<br />

Wörterheft.<br />

Rechtschreibbingo mit<br />

geübten Wörtern [Säule IV]<br />

n Zum <strong>aktuell</strong>en Sachunterrichtsthema<br />

wählen die Kinder gemeinsam 10 bis 15<br />

»wichtige« Wörter aus, die auf einem Plakat<br />

gesammelt werden;<br />

n die Kinder übertragen die ihnen wichtigen<br />

Wörter in ihre Wörterkartei (oder ihr<br />

Wörterheft) und üben sie individuell (z. B.<br />

im Wende- oder Schleichdiktat);<br />

n die Lehrerin bietet das Plakat zur Auswahl<br />

und zum Abschreiben von Wörtern<br />

in einen Bingoplan (anfangs 2 × 2, dann<br />

3 × 3 Felder) an (später: Schreiben nach<br />

Diktat statt vom Plakat).<br />

24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Dokumentation<br />

Bildung von Anfang an und an allen Bildungsorten<br />

von Horst Bartnitzky, Vorsitzender des Grundschulverbandes<br />

Kinder entwickeln sich<br />

unterschiedlich<br />

Das Schuljahr hatte im September angefangen.<br />

Mit den Erstklässlern ging<br />

die Lehrerin auf den Schulhof, um<br />

Blätter zu sammeln, die schon von<br />

den Bäumen fielen. Auch Eicheln wurden<br />

gefunden. Von ihrem Schulweg<br />

brachten die Kinder weitere Blätter<br />

mit. Sie wurden sortiert – nach Farbe<br />

und Form, Blättermännchen wurden<br />

zusammengelegt und –geklebt. Dann,<br />

Ende September, sollten die Kinder ein<br />

Herbstbild malen und, wenn sie wollten,<br />

Herbstwörter dazuschreiben.<br />

Dies sind zwei der Bilder (siehe die<br />

beiden Zeichnungen rechts). Beide<br />

liebevoll und detailreich gezeichnet.<br />

Annett zeichnet und malt; Milena<br />

schreibt schon Wörter dazu. Wer beide<br />

Kinder kennt, weiß mehr: Annett kann<br />

ihren Namen in großen Buchstaben<br />

schon malen, aber weiß noch keine<br />

anderen Buchstaben und schon gar<br />

nicht weiß sie um das Geheimnis von<br />

Schrift, nämlich dass man das gesprochene<br />

Wort in einzelne Laute zerlegen,<br />

dass man dann jedem Laut einen<br />

Buchstaben zuordnen muss. Anders<br />

Milena. Sie hatte schon vor der Schule<br />

angefangen, Wörter zu schreiben, und<br />

wie unschwer an dem Bild zu erkennen<br />

ist, hat sie das Geheimnis der Schrift<br />

für sich bereits gelüftet: BAOM. HMeL.<br />

Sicher, da fehlen Buchstaben und die<br />

korrekte Rechtschreibung ist es auch<br />

nicht, aber der so wichtige erste Schritt<br />

ist getan: die Entdeckung, wie Schrift<br />

funktioniert.<br />

Nun könnte man annehmen, dass die<br />

Kinder durch den Erstlese- und Schreibunterricht<br />

rasch auf einen gleichen<br />

Stand kommen. Die Kinder, die in ihrer<br />

Entwicklung noch nicht so weit sind,<br />

werden eben, wie man gerne sagt,<br />

gezielt gefördert und ziehen dann mit<br />

den anderen gleich.<br />

»Thüringer Bildungsplan« – Auftaktveranstaltung in Erfurt mit Horst Bartnitzky<br />

Am 29. September 2008 fand die Auftaktveranstaltung<br />

zur Einführung des »Thüringer<br />

Bildungsplans für Kinder bis 10 Jahre« in der<br />

Erfurter Messe statt. Mehr als 2 000 Pädagogen<br />

aus Kindergärten, <strong>Grundschule</strong>n und<br />

Einrichtungen, die Kinder bis zehn Jahre betreuen<br />

und so für die frühkindliche Bildung<br />

und Erziehung Verantwortung tragen, aber<br />

auch Eltern, Praxispartner und Vertreter von<br />

Verbänden waren gekommen.<br />

Der »Thüringer Bildungsplan für Kinder<br />

bis 10 Jahre« ist als Orientierungsrahmen für<br />

die pädagogische Arbeit und die Bildungsqualität<br />

konzipiert. Ein Schwerpunkt liegt<br />

auf den <strong>Grundschule</strong>n und Kindertageseinrichtungen.<br />

Aus der Sicht der <strong>Grundschule</strong> referierte<br />

Dr. Horst Bartnitzky (Vorsitzender des<br />

Grundschullehrerverbandes) zum Anliegen<br />

des Bildungsplans: »Bildung von Anfang an<br />

und an allen Bildungsorten«.<br />

Seinen Vortrag dokumentieren wir an dieser<br />

Stelle - gekürzt um die Passagen, die sich mit<br />

»Schulreife und -fähigkeit« beschäftigen. In<br />

vollem Umfang findet sich der Vortrag auf<br />

der Homepage des Grundschulverbandes:<br />

www.grundschulverband.de<br />

Im weiteren Verlauf der Veranstaltung erläuterten<br />

Referenten wie Prof. Dr. Ada Sasse<br />

(Humboldt-Universität Berlin, Vorsitzende<br />

des Bildungsplan-Konsortiums), und Prof.<br />

Dr. Wassilios E. Fthenakis (Freie Universität<br />

Bozen) Entstehungsprozess, Inhalt und Ziele<br />

des Bildungsplanes.<br />

Der Plan umfasst die gesamte kindliche<br />

Entwicklung zwischen erstem und zehntem<br />

Lebensjahr. Damit legt Thüringen ein durchgängiges,<br />

forderndes, förderndes sowie<br />

kindgerechtes Bildungskonzept vor.<br />

»Die Umsetzung des Bildungsplanes ist ein<br />

über die Grenzen des Freistaates beachtetes,<br />

ambitioniertes Vorhaben, das eine Herausforderung<br />

für alle Beteiligten ist«, so Kultusminister<br />

Bernward Müller (CDU) in seiner<br />

Eröffnungsrede.<br />

Ziel der Implementierung des Bildungsplans<br />

ist es, dass alle an Bildungsprozessen für<br />

Kinder bis 10 Jahre Beteiligten bis Ende 2010<br />

den Bildungsplan kennen lernen, sich aktiv<br />

damit auseinandersetzen und ihre pädagogische<br />

Konzeption fortschreiben.<br />

Zusätzlich sollen Informationsveranstaltungen<br />

und Veröffentlichungen die Praxis<br />

aller, die Verantwortung für Bildung von Kindern<br />

bis 10 Jahre übernehmen, unterstützen.<br />

Weitere Informationen sind im Internet<br />

unter www.thueringer-bildungsplan.de und<br />

www.thueringen.de/... zu finden.<br />

He.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

25


Dokumentation<br />

Wieder ein Beispiel aus den Anfangswochen<br />

der 1. Klasse. Die Lehrerin hat<br />

das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten<br />

erzählt, die Kinder haben<br />

Szenen dazu gemalt, mit den Bildern<br />

das ganze Märchen nacherzählt, die<br />

Tierlaute gesprochen und geschrieben,<br />

die Tiernamen gesprochen, Laute wiedererkannt,<br />

den Orginal-Märchentext<br />

als Kopie betrachtet, Tiernamen darin<br />

entdeckt und farbig markiert – für jedes<br />

Tier eine andere Farbe. Schließlich<br />

erhielten die Kinder ein Faltbüchlein<br />

mit 16 Seiten, auf jeder linken Seite<br />

eine Strichzeichnung von einer Szene<br />

aus dem Märchen, auf jeder rechten<br />

Seite Platz für einen eigenen Text. Hier<br />

das Beispiel einer Szene: Der Esel verlässt<br />

die Mühle, dazu die Texte von drei<br />

Kindern:<br />

Was an dem Beispiel zu ersehen ist:<br />

Während ein Kind lediglich das im Unterricht<br />

erworbene Lautwort IA sinnvoll<br />

einsetzt, erschreibt ein anderes Kind<br />

schon lautentsprechend den Tiernamen;<br />

das dritte Kind erschreibt bereits<br />

einen Satz, dabei sind die Wortgrenzen<br />

und der Satzschluss beachtet, der Tiername<br />

ist korrekt geschrieben. Dieses<br />

Kind hat also bereits vom gedruckten<br />

Text profitiert. Alle drei Texte erzählen<br />

inhaltlich das Gleiche, aber mit den<br />

Möglichkeiten, die dem einzelnen Kind<br />

individuell zur Verfügung stehen.<br />

Bleibt zu fragen, sind die Lernstände<br />

durch weiteren Unterricht nicht anzugleichen,<br />

zu homogenisieren?<br />

Den Kindern von Grundschulklassen<br />

wurden über die Grundschuljahre<br />

hinweg achtmal dieselben Wörter<br />

diktiert, darunter das Wort »Blätter«.<br />

Sehen wir uns an, wie bei zwei der Kinder<br />

der Lernverlauf war: bei Finn und<br />

bei Nele. Finn gehört zu den 25 % besten<br />

Rechtschreibern seines Jahrgangs,<br />

Nele dagegen zu den 5 % schwächsten<br />

Rechtschreibern des Jahrgangs.<br />

Das Wort »Blätter« enthält Rechtschreibphänome,<br />

die traditionell in<br />

Klasse 2 bearbeitet werden: Blätter<br />

mit ä, weil es von Blatt kommt, der<br />

Schlusslaut wird mit dem Rechtschreibmuster<br />

-er geschrieben, wie bei<br />

Vater, Leiter, Wetter, besser …<br />

Finn kennt Mitte Klasse 1 das Geheimnis<br />

der Schrift und bildet die<br />

hörbaren Laute mit Buchstaben ab;<br />

die rechtschriftlichen Besonderheiten<br />

erwirbt er im Laufe des nächsten Jahres<br />

und wendet sie beim Schreiben des<br />

Wortes an. Von Ende der Klasse 2 an ist<br />

das normgerechte Schreiben des Wortes<br />

bei Finn stabil.<br />

Anders bei Nele. Mitte der Klasse 1<br />

hat sie den wichtigen Schritt getan:<br />

nämlich die Erkenntnis gewonnen,<br />

dass für die Laute des Wortes Buchstabenzeichen<br />

aufgeschrieben werden, sie<br />

schreibt T, also den Buchstaben für den<br />

Laut, der im Wort Blätter beim Abhören<br />

im Mund und im Ohr am auffälligsten<br />

ist, den Explosivlaut /t/. Ende von<br />

Klasse 1 kann sie schon detaillierter das<br />

Wort abhören, sie nimmt besonders<br />

alle Laute wahr, die im Mund aufregend<br />

gebildet werden, Laute, die Lippen und<br />

Zunge intensiv arbeiten lassen: Blätter<br />

– PLT. Beim sorgfältigen Sprechen<br />

überpointiert sie den Anfangslaut<br />

zum kräftigeren P. Im Weiteren zeigt<br />

sich von Halbjahr zu Halbjahr, wie Nele<br />

weitere Strategien zur Verschriftung<br />

des Wortes und dann auch zur orthografischen<br />

Korrektheit erworben hat<br />

und anwendet. Ihre Annäherung an das<br />

normgerechte Schreiben des Wortes<br />

dauert vier Schuljahre, wofür Finn nur<br />

zwei Jahre brauchte. Finn brachte aber<br />

auch schon Können mit, dass sich Nele<br />

erst erarbeiten musste.<br />

Traditionell würde Nele bis<br />

zur Mitte von Klasse 4 beim<br />

Wort Blätter nur Fehler angekreidet<br />

bekommen. Aber<br />

würde das der Leistung von<br />

Nele gerecht? Nein, jede<br />

Schreibweise ist doch erkennbar<br />

ein produktiver Zwischenschritt<br />

auf dem Weg<br />

zur normgerechten Schreibung.<br />

Er zeigt, was sich Nele<br />

angeeignet hat, welche Fortschritte<br />

sie im letzten halben<br />

Jahr gemacht hat. Würden<br />

wir am Ende von Klasse<br />

2 Finn als Maßstab nehmen,<br />

dann könnten wir Neles Fortschritte<br />

nicht mehr positiv wahrnehmen und<br />

sie in ihrem Lernen weder würdigen<br />

noch angemessen unterstützen.<br />

Es ist wie beim Laufenlernen der<br />

kleinen Kinder. Als Baby erobern sie zunehmend<br />

komplexere Strategien, sich<br />

fortzubewegen: sie drehen sich, sie<br />

rutschen, sie robben, sie kriechen, gehen<br />

im Vierfüßergang, manche Kinder<br />

bewegen sich durch schlängelnde Bewegungen.<br />

Irgendwann richten sie sich<br />

am Tischbein oder an einer anderen<br />

Stütze auf, sie gehen zwei Schritte und<br />

setzen sich wieder. Am Ende laufen sie<br />

freihändig. Eltern und Verwandte freuen<br />

sich über jede dieser Bewegungen<br />

und sind stolz auf das Kind, wenn es<br />

sich auf neue Art fortbewegt. Die Erwachsenen<br />

messen das Kind nicht am<br />

fernen Ziel, dem freien Laufen, und<br />

all die Zwischenstufen werden nicht<br />

als Fehler angekreidet. Nein, es sind<br />

doch wichtige Fortschritte. Und das<br />

signalisieren sie durch sichtbare Freude,<br />

und hörbaren Zuspruch auch dem<br />

Kind. Das, verbunden mit der eigenen<br />

Funktionslust, stärkt und beflügelt das<br />

26 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Dokumentation<br />

Kind, die Anstrengungen weiterer Fortbewegungen<br />

auf sich zu nehmen.<br />

Und noch etwas: Die kleinen Kinder<br />

machen nicht alle zum selben Zeitpunkt<br />

ihre ersten Schritte (vgl. Abb.<br />

rechts oben).<br />

Keine Mutter, kein Vater käme wohl auf<br />

den Gedanken, alle Kinder im Alter von<br />

13 Monaten an einer Startlinie zu versammeln<br />

und um die Wette laufen zu<br />

lassen. Im Gegenteil: Beim Laufspiel<br />

»Wer kommt in meine Arme« stellt<br />

sich jede und jeder so weit entfernt<br />

von dem Kind auf, dass es mit Anstrengung<br />

und Lust gerade bis in die ausgebreiteten<br />

Arme schafft. Sollte es einen<br />

überehrgeizigen Vater geben, der sich<br />

so hinstellt, dass das Kind drei Meter<br />

vorher schon entkräftet hinfällt und<br />

sich auch noch wiederholt, würde die<br />

Umwelt dies als idiotisch und herzlos<br />

geißeln.<br />

Was für die kleinen Kinder beim Laufenlernen<br />

gilt, trifft ebenso auf schulische<br />

Leistungen zu, wie mit dem Blätterbeispiel<br />

an der unterschiedlichen Entwicklung<br />

von Finn und Nele deutlich<br />

wurde: Kinder eines Altersjahrgangs<br />

sind nicht homogen. Kinder gleichen<br />

Lebensalters unterscheiden sich im<br />

Entwicklungsalter um bis zu drei Jahren<br />

(s. Abb. rechts in der Mitte, Largo,<br />

S. 32).<br />

Das Schaubild zeigt am Beispiel von 20<br />

Kindern, alle 7 Jahre alt, wie sie in ihrem<br />

Entwicklungsalter differieren. Nur<br />

bei 6 Kindern von 20 sind Lebensalter<br />

und Entwicklungsalter identisch.<br />

Ein Kind ist auch nicht in allen Dimensionen<br />

gleich entwickelt: Es<br />

kann klein, aber dennoch weit fortgeschritten<br />

im Lesen sein; es kann<br />

schon bei Schuleintritt mit Zahlen<br />

jonglieren, aber emotional sehr unstabil<br />

sein. Jede Erzieherin und jede<br />

Lehrerin kennt das aus täglicher Anschauung.<br />

Alle aufmerksamen Eltern<br />

ebenso (s. Abb. rechts unten, Largo,<br />

S. 37).<br />

Eva z. B. ist in Lesen Spitze, im Rechnen<br />

schwach, im Turnen mittelprächtig. Es<br />

gelten also nicht nur Unterschiede zwischen<br />

den Kindern, sondern auch Unterschiede<br />

in den einzelnen Leistungsdimensionen<br />

innerhalb des Kindes.<br />

Geh-Alter. Die Säulen geben den prozentualen Anteil der Kinder an,<br />

die in einem bestimmten Alter die ersten Schritte machen (Largo 1985)<br />

Variabilität des Entwicklungsstandes in einer Gruppe von<br />

20 siebenjährigen Kindern (Largo 1985)<br />

Intraindividuelle Variabilität der Schulleistungen<br />

bei drei achtjährigen Kindern (Largo 1985)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

27


Dokumentation<br />

Diese unterschiedlichen Entwicklungsstände<br />

der Kinder lassen sich<br />

nicht angleichen. Jedes Kind hat seine<br />

eigene Lerngeschichte, ist geprägt von<br />

seinen angeborenen Gaben und von<br />

seiner sozialen Lebenswelt, von Vorbildern<br />

und Situationen, in denen es Erfolg<br />

und in denen es Misserfolg hatte.<br />

Jedes Kind hat seine eigene Konstellation<br />

aus Erfahrungen, aus Strategien,<br />

in der Welt zurechtzukommen, aus Zuversicht<br />

oder auch Ängstlichkeit, aus<br />

dem Wissen, selbst etwas bewirken<br />

zu können, also Könnenserfahrungen,<br />

oder aus der gegenteiligen Einschätzung,<br />

wenig zu können und sich wenig<br />

zuzutrauen. Und jedes Kind hat seine<br />

speziellen Interessen und Vorlieben. All<br />

dies wirkt auf die Entwicklung des Kindes<br />

insgesamt und auf seine Entwicklung<br />

in Bezug auf einzelne Bereiche.<br />

Nicht die Schule, sondern<br />

das Kind ist das Maß<br />

Die Geschichte der Schule ist bis heute<br />

geprägt von dem Irrtum, die Kinder<br />

könne man durch gezielte Maßnahmen,<br />

durch gleichen Unterricht für<br />

alle, durch ergänzende<br />

Förderung gleich machen<br />

und damit in der Klasse<br />

ein einheitliches Niveau<br />

erreichen. Unterstützt<br />

wird dieser Irrtum durch<br />

auslesende Maßnahmen:<br />

durch Sitzenbleiben oder<br />

Überweisungen an Sonder-<br />

oder Förderschulen.<br />

Die Homo genität der<br />

Jahrgangsklasse ist die<br />

illusorische Leitvorstellung.<br />

Warum dies eine<br />

Illusion ist, ist schon<br />

mit den bisherigen Ausführungen<br />

belegt. Ich will aber noch<br />

einige Erfahrungen anschließen, die<br />

sich um die Frage drehen: Was müssen<br />

Kinder können, wenn sie in die Schule<br />

kommen?<br />

Lernen beginnt nicht erst am Schultor.<br />

Jörg Ramseger berichtet aus einer Kindertagesstätte.<br />

Klara malt ein großes T auf ein Zeichenblatt<br />

und sagt TANA dazu. An der<br />

Wandtafel malt sie mit Kreise deutlich<br />

lesbar LINA. Mit selbstklebenden<br />

Schaumstoffbuchstaben bildet sie<br />

diverse Wörter. Sie greift wieder zur<br />

Kreide und schreibt OMA, zuerst ein O,<br />

dann ein M und dann A, alle drei Buchstaben<br />

übereinander. Wer den Entstehungsprozess<br />

beobachtet, kann das<br />

Wort OMA entziffern.<br />

Jason kommt dazu. Er greift sich die<br />

Schaumstoffbuchstaben und legt sie<br />

ebenfalls an die Magnettafel. Die Buchstabenfolgen<br />

ergeben aus Sicht der<br />

Erwachsenen keinen Sinn. Jason sagt<br />

auch nichts dazu. Vielleicht imitiert er<br />

Klara nur, die gezielt Worte schreibt,<br />

ohne dass er selbst schon irgendeine<br />

Vorstellung von Schrift hat.<br />

Lea liegt am Fußboden und malt<br />

Kritzelbilder. Das ist ihr Beginn des<br />

Schreibenlernens, eine sichtbare Spur<br />

auf eine Unterlage machen (Ramseger<br />

2008).<br />

An diesem Beispiel zeigt sich, dass das<br />

Interesse von Kindern an Schrift lange<br />

vor der Schule häufig groß ist – besonders<br />

ausgeprägt bei Kindern aus leseund<br />

schreibgewohnten Elternhäusern<br />

wie Klara oder bei Kindern mit älteren<br />

Geschwistern, die schon in die Schule<br />

gehen und die sie beim Hausaufgabenmachen<br />

beobachten. Das Beispiel zeigt<br />

auch, dass Kinder auf andere Kinder<br />

anregend wirken. Lesen, Schreiben und<br />

Rechnen beginnen bei Kindern weit vor<br />

der Einschulung. Dieses Interesse und<br />

die damit verbundenen Handlungen<br />

und Einsichten muss die Kita nicht nur<br />

zulassen, sondern sie ermutigend begleiten.<br />

Dies hat eine gänzlich andere Qualität<br />

als das Durcharbeiten einer Trainingsmappe.<br />

Hier setzen sich Kinder<br />

mit den Eindrücken aus ihrer Lebenswelt<br />

aktiv auseinander, entwickeln eigene<br />

Handlungsweisen und Strategien<br />

– individuell und im Miteinander- und<br />

Voneinanderlernen. Sie lassen sich von<br />

ihrem Interesse, ihrer Neugier, ihrem<br />

Handlungswollen, ihrem Lernenwollen<br />

leiten und die Lernumgebung gibt<br />

ihnen dazu Anregungen und wo nötig<br />

auch Unterstützungen. Hier sind es<br />

die Möglichkeiten mit Schaumstoffbuchstaben,<br />

mit Tafel, mit Kreide, mit<br />

Stiften zu experimentieren, anderen<br />

Kindern zuzusehen und sicher vieles<br />

anderes mehr.<br />

Umgang mit Schrift ist nicht für die<br />

Schule reserviert, wie das früher gedacht<br />

war. Überhaupt nichts ist für die<br />

Schule reserviert, was Kinder schon<br />

vor der Schulzeit interessiert und woran<br />

sie arbeiten. Der Bildungsprozess<br />

ist nicht in Abteilungen trennbar: hier<br />

Kita, da Schule. Er ist bei jedem Kind<br />

ein kontinuierlicher Prozess, der alles<br />

einbezieht, was das Kind aufnimmt<br />

und aktiv verarbeitet – in der Familie,<br />

mit anderen Kindern und in den institutionellen<br />

Bildungsstätten. Kinder<br />

lernen immer.<br />

Die Schule hat sich auf die Kinder<br />

einzustellen. Denn Schulfähigkeit, so<br />

unsere Definition, ist<br />

die Fähigkeit der Schule,<br />

den Kindern in ihrer individuellen<br />

Entwicklung<br />

gerecht zu werden, oder<br />

anders ausgedrückt:<br />

Schulfähigkeit ist die<br />

Kindfähigkeit der Schule.<br />

Wir denken heute über<br />

einen Bildungsbegriff<br />

nach, der alle Bildungsinstitutionen<br />

in einen Zusammenhang<br />

bringt, wir<br />

geben den traditionellen<br />

Begriff der Schulreife oder Schulfähigkeit<br />

auf zugunsten individueller dynamischer<br />

Bildungsprozesse, wir stärken<br />

bei den Kindern deren eigenaktive tätige<br />

Auseinandersetzung mit der Welt,<br />

wir orientieren uns statt an Lernzielen<br />

an Kompetenzen. Dies alles zusammen<br />

ist ein in sich stimmiges Konzept.<br />

Dann aber müssen wir auch über die<br />

heikle Frage des Leistungskonzepts<br />

nachdenken, und das Konzept gleicher<br />

Anforderungen an alle muss aufgegeben<br />

werden.<br />

Die kindgerechte <strong>Grundschule</strong><br />

braucht deshalb ein anderes Leistungs-<br />

28 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


Dokumentation<br />

konzept, als es das traditionelle Zensurenwesen<br />

hergibt.<br />

Der Grundschulverband hat hierzu<br />

über mehrere Jahre ein Projekt entwickelt,<br />

das sich bezeichenderweise<br />

nennt: Pädagogische Leistungskultur<br />

(siehe dazu Rückseite dieses Heftes).<br />

Koordinierung der Bildungsarbeit<br />

in Kita und <strong>Grundschule</strong><br />

Traditionell ist die Arbeit zwischen<br />

Kindertagesstätten und <strong>Grundschule</strong>n<br />

nicht oder nur wenig koordiniert. In<br />

den letzten Jahren wuchs in Politik und<br />

Öffentlichkeit das Bewusstsein, dass<br />

der Elementarbereich nicht bloß Kinder<br />

freundlich verwahrt und beschäftigt,<br />

sondern dass er die erste öffentliche<br />

Bildungseinrichtung ist und dass zwischen<br />

den beiden ersten Bildungsinstitutionen,<br />

der Kita und der <strong>Grundschule</strong>,<br />

die Bildungsarbeit aufeinander<br />

abzustimmen sei. Der Grundschulverband<br />

fordert hierzu:<br />

»Nicht erst in der Schule werden soziale<br />

und emotionale Kompetenzen<br />

entwickelt, Sach- und Umweltwissen<br />

erworben, beginnen Mathematiklernen<br />

und Schriftspracherwerb.<br />

Kindertagesstätte und <strong>Grundschule</strong><br />

verbindet der Auftrag, tragfähige Bildungsgrundlagen<br />

zu schaffen, dabei<br />

die Unterschiedlichkeit der Kinder<br />

als Normalität wahrzunehmen und<br />

individuelle Lernwege zu unterstützen.<br />

Immer muss an Lernprozesse<br />

angeknüpft und Begonnenes weiter<br />

geführt werden.<br />

Um in diesem Sinne miteinander zu<br />

arbeiten, müssen sich beide Einrichtungen<br />

in ihrem Bildungsverständnis<br />

einander annähern, über Lerninhalte,<br />

Methoden und angestrebte Kompetenzen<br />

miteinander abstimmen.«<br />

(Grundschulverband 2007).<br />

Um solche Abstimmung in den Bildungszielen<br />

und -prozessen zu fördern,<br />

werden in den Bundesländern für beide<br />

Einrichtungen verbindliche Bildungsvorgaben<br />

herausgegeben. Dabei zeigen<br />

sich bemerkenswerte Unterschiede:<br />

In Nordrhein-Westfalen wurden zwei<br />

verschiedene Vorgaben erarbeitet,<br />

die »Bildungsvereinbarung« und das<br />

»Schulfähigkeitsprofil«:<br />

n Die »Bildungsvereinbarung NRW«<br />

gilt für die Kindertagesstätten. Sie<br />

wurde erarbeitet vom zuständigen<br />

Ministerium sowie den Spitzenverbänden<br />

der freien und öffentlichen<br />

Wohlfahrtspflege und den Kirchen als<br />

Trägerverbände. Sie enthält Rahmeninhalte<br />

»zur Stärkung des Bildungsauftrags<br />

im Elementarbereich, zur<br />

Förderung des kontinuierlichen Bildungsprozesses<br />

der Kinder und für den<br />

gelingenden Übergang vom Kindergarten<br />

in die <strong>Grundschule</strong>« (Ministerium<br />

für Schule, Jugend und Kinder des<br />

Landes NRW 2003).<br />

n Das »Schulfähigkeitsprofil« gilt<br />

»als Brücke zwischen Kindergarten<br />

und <strong>Grundschule</strong>«. Der Einführungserlass<br />

beginnt mit dem Satz: »Eltern<br />

und Kindergärten brauchen eine klare<br />

Orientierung, worauf die Arbeit in der<br />

<strong>Grundschule</strong> aufbaut« (Ministerium<br />

für Schule, Jugend und Kinder des<br />

Landes NRW o. J.).<br />

Damit wird deutlich, dass ein Kerngedanke<br />

bei den Vorgaben der Übergang<br />

in die <strong>Grundschule</strong> ist. Zwar ist<br />

das Schulfähigkeitsprofil nicht Hürde,<br />

zur Auslese und Zurückstellung bestimmt,<br />

aber es setzt denn doch eine<br />

deutliche Zäsur, auf die hin die Arbeit<br />

in der Kindertagesstätte auszurichten<br />

ist, und die eine Norm, wenn auch eine<br />

weiche, für den Schuleintritt stellt. »Es<br />

kann den pädagogischen Fachkräften<br />

in den Kindergärten und den Lehrkräften<br />

der <strong>Grundschule</strong>n Anregungen und<br />

Hinweise für das Erstellen von Förderplänen<br />

vor allem für jene Kinder geben,<br />

deren Schulfähigkeit noch nicht ausreichend<br />

entwickelt ist« (ebenda, 7).<br />

In Thüringen wurde der Entwicklungsund<br />

Bildungsprozess der Kinder im ersten<br />

Lebensjahrzehnt insgesamt in den<br />

Blick genommen. Im »Thüringer Bildungsplan<br />

für Kinder bis 10 Jahre« wird<br />

ausgeführt, was in den verschiedenen<br />

Bildungsbereichen die grundlegende<br />

Bildung ausmacht, auf welche Angebote<br />

das Kind ein Bildungsrecht hat, in<br />

welchen pädagogischen Settings diese<br />

Angebote stehen und welche konkreten<br />

Angebote dem Kind gemacht werden<br />

sollen.<br />

Bildungsprozesse werden hier also<br />

ohne institutionelle Begrenzungen als<br />

kontinuierliche Bildungsprozesse verstanden,<br />

individuelle Entwicklungen<br />

setzen sich über die Bildungsabschnitte<br />

fort. Der Begriff Schulfähigkeit findet<br />

sich in diesem Bildungsplan nicht,<br />

wohl aber Anregungen zur Verständigung<br />

unter dem Leitgedanken wie:<br />

»Eltern, Kindergärtnerin und Lehrerin<br />

verständigen sich in der Übergangssituation<br />

über die Bildungsbedürfnisse<br />

des Kindes sowie darüber, wie diesen<br />

Bedürfnissen in der Schule, in außerschulischen<br />

Kontexten und zu Hause<br />

am besten entsprochen werden kann.<br />

Diese ökologische Kind-Umfeld-Analyse<br />

hat für Kinder mit besonderen Bildungsbedürfnissen<br />

(Kinder mit Behinderungen<br />

/ Kinder mit Hochbegabung)<br />

eine zentrale Bedeutung« (ebenda, 34).<br />

Es geht im Thüringer Bildungsplan<br />

mithin um Kindfähigkeit von Familie,<br />

Kindertagesstätte und <strong>Grundschule</strong><br />

und um eine unbeschädigte, kontinuierliche<br />

individuelle Bildungsentwicklung.<br />

Allerdings: Bildungsprozesse enden<br />

nicht mit dem 10. Lebensjahr. Für die<br />

weitere Entwicklung ist zu wünschen,<br />

dass der Bildungsplan in die Sekundarstufe<br />

hinein fortgesetzt wird. Das<br />

neue pädagogische Denken, das hier<br />

schon Grundlage ist, wäre auch für<br />

die Entwicklung der nachfolgenden<br />

Schulen und für die Bildungsprozesse<br />

ihrer Kinder und Jugendlichen hilfreich<br />

und würde den Bildungsprozessen der<br />

Kinder und Jugendlichen gerecht. Wie<br />

Kindfähigkeit als pädagogischer Anspruch<br />

für Kita und <strong>Grundschule</strong> gilt,<br />

so muss Jugendfähjigkeit als Anspruch<br />

für die Sekundarschulen gelten.<br />

Literatur<br />

Gabriele Faust-Siehl / Angelika Speck-Hamdan (Hrsg.):<br />

Schulanfang ohne Umwege. Frankfurt a. M.: Grundschulverband 2001<br />

Remo H. Largo: Kinderjahre. München Zürich: Piper 2008 (15. Aufl.)<br />

Jörg Ramseger: Richtig lesen lernen erst in der <strong>Grundschule</strong>?<br />

Wie moderne Kindergärten grundschulpädagogische Gewissheiten in<br />

Frage stellen. In: Die Grundschulzeitschrift 2008, H. 211, S. 15 – 18<br />

Jörg Ramseger / Jens Hoffsommer (Hrsg.): ponte. Kindergärten und<br />

<strong>Grundschule</strong>n auf neuen Wegen. Weimar, Berlin: verlag das Netz 2008<br />

Horst Bartnitzky u. a. (Hrsg.): Pädagogische Leistungskultur.<br />

Materialien Klasse 1 und 2. 2005 / Materialien Klasse 3 und 4. 2006 /<br />

Ästhetik, Sport, Englisch, Arbeits- und Sozialverhalten. 2007.<br />

Alle: Frankfurt a. M.: Grundschulverband<br />

Horst Bartnitzky: Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider<br />

Hohengehren 2008<br />

Hans Brügelmann u. a.: Sind Noten nützlich und nötig?<br />

Ziffern zensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich.<br />

Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes.<br />

Frankfurt a. M.: Grundschulverband<br />

Hans Brügelmann: Schule verstehen und gestalten. Konstanz:<br />

Libelle 2003<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

29


Grundschulverband <strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Berlin<br />

Kontakt: Ingrid Kornmesser, Kohlfurter Str. 4, 10999 Berlin; www.gsv-berlin.de<br />

Jetzt geht’s los!<br />

Mit dem neuen Schuljahr<br />

beginnen 11 Berliner Schulen<br />

und Schulverbünde im Rahmen<br />

der in der rot-roten Koalitionsvereinbarung<br />

festgelegten<br />

»Pilotphase« mit ihren 1.<br />

und 7. Klassen mit ihrer Arbeit<br />

als Gemeinschaftsschule. Die<br />

Gemeinschaftsschule respektiert<br />

alle Kinder und Jugendlichen<br />

in ihrer Verschiedenheit,<br />

fördert sie in ihrer Gesamtentwicklung,<br />

fordert sie zu guten<br />

Leistungen heraus und schiebt<br />

niemand aufs Abstellgleis, weil<br />

sie oder er noch zu wenig kann.<br />

Die Berliner Landesgruppe des<br />

Grundschulverbandes arbeitet<br />

aktiv mit im verbandsübergreifenden<br />

»Runden Tisch Gemeinschaftsschule<br />

Berlin« (www.rtgemeinschaftsschule-berlin.de),<br />

der die Entwicklung in Richtung<br />

auf ein integratives /inklusives<br />

Schulsystem kritisch-konstruktiv<br />

begleitet und unterstützt.<br />

So nicht, Herr Senator!<br />

Das Berliner Palament hat den<br />

Bildungssenator beauftragt, bis<br />

Ende 2008 einen Vorschlag zur<br />

qualitativen Weiterentwicklung<br />

Brandenburg<br />

30 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

der Schulstruktur vorzulegen.<br />

Senator Zöllner (SPD) ist jetzt<br />

mit seinen »Eckpunkten für die<br />

Erarbeitung eines Vorschlages«<br />

medienwirksam an die Öffentlichkeit<br />

getreten. Seine »Eckpunkte«<br />

orientieren sich weitgehend<br />

am »Hamburger Modell«<br />

eines angeblich zweigliedrigen,<br />

in Wirklichkeit zumindest dreigliedrigen<br />

Schulsystems (Gymnasium,<br />

Regionalschule, Sonderschulen).<br />

Die kritischen<br />

Einwände von Linkspartei (www.<br />

gemeinschaftsschule-berlin.<br />

de) und Teilen der SPD (www.<br />

SPD-Linke.de) lassen erkennen,<br />

dass Zöllners Vorstellungen<br />

innerhalb der Koalitionsregierung<br />

nicht abgestimmt sind.<br />

Der Grundschulverband kritisiert<br />

insbesondere (www.gsv-berlin.<br />

de), dass der Senator festhält an<br />

einem gegliederten Schulsystem<br />

mit »höheren« und »niederen«<br />

Bildungseinrichtungen. Das ist<br />

alter Wein in neuen Schläuchen.<br />

Und wenn er die Qualität des<br />

Unterrichts in den 5. und<br />

6. Klassen der sechsjährigen<br />

<strong>Grundschule</strong> durch Lehrer(innen)<br />

aus dem Sekundarbereich verbessern<br />

will, macht er den Bock zum<br />

Vorsitzende: Denise Sommer, Weinbergstraße 21, 15834 Rangsdorf<br />

Individuelles Lernen fördern –<br />

individuelles Fördern lernen<br />

»Individuelles Lernen fördern<br />

– individuelles Fördern lernen«<br />

– unter diesem Motto fand der<br />

diesjährige gemeinsame Grundschultag<br />

des LISUM Berlin-Brandenburg<br />

und der Landesgruppe<br />

Brandenburg statt. Verbunden<br />

mit einem breit gefächerten pädagogischen<br />

Diskussionsangebot<br />

durch Vortrag und Arbeit in den<br />

Arbeitsgruppen, in denen Individualisierungsansätze<br />

aus der<br />

Sicht unterschiedlicher Fächer,<br />

Altersstufen und Organisationsstrukturen<br />

vorgestellt und diskutiert<br />

werden konnten, traf<br />

dieses Thema auf ein hohes Interesse<br />

der Brandenburger und<br />

Berliner Lehrkräfte und fand<br />

eine äußerst positive Resonanz.<br />

Was Paula als Nächstes lernen<br />

kann, wie man im Leseunterricht<br />

individualisieren und dabei<br />

Leseprozesse von der Drehbücherei<br />

bis hin zum Guckkasten<br />

begleiten kann, wie mathematische<br />

Problemlösestrategien<br />

individuell entwickelt werden<br />

können, wie förderdiagnostische<br />

Instrumente beim Schriftspracherwerb,<br />

individuelle Förderpläne<br />

in Klasse 1 oder selbstgesteuertes<br />

Lernen durch die Arbeit mit<br />

Lernplänen in den Jahrgangsstufen<br />

5 und 6 praktiziert werden<br />

können, all dies bot ausreichend<br />

Gelegenheit, an praxisnahen<br />

und praktikablen Beispielen aus<br />

dem Schulalltag Berliner und<br />

Brandenburger Lehrkräfte neue<br />

Lernwege des individuellen Förderns<br />

im Tagungsgepäck wieder<br />

mit nach Hause zu nehmen.<br />

In thematischer Fortsetzung<br />

des Grundschultages veranstaltet<br />

die Landesgruppe ihre diesjährige<br />

Herbst-Fachtagung am<br />

16. 10. 2008 in der <strong>Grundschule</strong><br />

Gärtner! Wer hat denn die negativen<br />

PISA-Ergebnisse bei den<br />

15-Jährigen produziert? Außerdem:<br />

Zöllners Strukturmodell<br />

sieht ab 2014 weder Gesamtnoch<br />

Gemeinschaftsschulen vor.<br />

Damit wird das »Modell Gemeinschaftsschule«<br />

quasi schon<br />

heute als gescheitert angesehen<br />

und die zu recht aufwändige Wissenschaftliche<br />

Begleitung der<br />

Pilotphase für überflüssig erklärt.<br />

(für die Landesgruppe: Peter Heyer;<br />

peterheyer@snafu.de)<br />

Donnerstag,<br />

26. Februar 2009<br />

17 – 20 Uhr<br />

3. Forum <strong>Grundschule</strong><br />

Thema: Neue Schulanfangsphase.<br />

Versuch einer Standortbestimmung.<br />

Diskussion <strong>aktuell</strong>er<br />

Probleme und Lösungswege.<br />

Ort: Galilei-<strong>Grundschule</strong><br />

(Kreuzberg), Friedrichstr. 13<br />

(U-Bahnhof Hallesches Tor)<br />

Weitere Informationen auf unserer<br />

website (www.gsv-berlin.de).<br />

(Die Veranstaltung musste vom<br />

Oktober 2008 auf diesen neuen<br />

Termin verschoben werden.)<br />

Mittenwalde. Auch hier steht das<br />

individuelle Lernen und Arbeiten<br />

der Kinder mit konkreten Anregungen<br />

für die Umgestaltung<br />

des Unterrichts im Mittelpunkt.<br />

Seitens des Ministeriums wird<br />

künftig individuelle Förderung<br />

als Schwerpunktaufgabe in der<br />

Zusammenarbeit aller Grundund<br />

Förderschulen in den<br />

43 regionalen Netzwerken<br />

fokussiert. Mit der verbindlichen<br />

Einführung des Portfolios in<br />

diesem Schuljahr, beginnend mit<br />

der Jahrgangsstufe 1, wird der<br />

Blick verstärkt auf die qualitative<br />

Weiterentwicklung von Lehrund<br />

Lernprozessen insbesondere<br />

im Hinblick auf die Individualisierung<br />

des Lernens gerichtet.<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Marion Gutzmann)<br />

Hamburg<br />

Vorsitzende: Susanne Peters, Günther-<br />

»Hamburger Schuloffensive«,<br />

unter diese Überschrift stellt die<br />

neue Senatorin Frau Goetsch<br />

den breit angelegten Reformprozess<br />

des Hamburger Schulwesens.<br />

Eine Verbesserung des<br />

Unterrichts in Verbindung mit<br />

längerem gemeinsamem Lernen<br />

soll die Schüler besser fördern<br />

und fordern und die Schulen auf<br />

europäischen Standart bringen.<br />

Wichtige Elemente sind:<br />

n Neue Schulstrukturen<br />

Ab 2010 sollen in Hamburg sechsjährige<br />

Primarschulen, Stadtteilschulen<br />

sowie sechsjährige<br />

Gymnasien starten. Von September<br />

2008 bis Mai 2009 finden<br />

in 22 Regionen Schulentwicklungskonferenzen<br />

statt, in denen<br />

Schulleitungen, Vertreter der<br />

Eltern und der Lehrerinnen und<br />

Lehrer sowie bei weiterführenden<br />

Schulen der Schülerinnen<br />

und Schüler der einzelnen Schulen<br />

Empfehlungen erarbeiten für<br />

geeignete Standorte und ein vielfältiges,<br />

nachfrageorientiertes<br />

Bildungsangebot in ihrer Region.<br />

Direkte Beteiligung der Betroffenen<br />

vor Ort zur Vorbereitung der<br />

Behördenentscheidung ist ein<br />

Novum im Hamburger Schulentwicklungsprozess.<br />

Der Einsatz<br />

externer Moderatoren soll helfen,<br />

trotz Konkurrenz einzelner<br />

Standorte zu einvernehmlichen<br />

Vorschlägen zu gelangen. Leider<br />

gibt es für die Vertreter der<br />

Schulen, die an diesem wichtigen<br />

und zeitaufwendigen Planungs-<br />

Bremen<br />

Gemeinsamer Vorsitz: Nina Bodewww.grundschulverband-bremen.de<br />

Fortbildungsreihe<br />

Die Landesgruppe Bremen plant<br />

zurzeit eine Fortbildungsreihe<br />

zum Thema »Pädagogische Leistungskultur«.<br />

An vier verschiedenen<br />

Nachmittagen bieten wir<br />

Ihnen jeweils zwischen 15 und<br />

18 Uhr einen kurzen Einführungsvortrag<br />

zum Thema sowie einen<br />

anschließenden Workshop an,<br />

in dem möglichst viele praktische<br />

Elemente für die Unterrichtsgestaltung<br />

und die Leistungsdokumentation<br />

vorgestellt<br />

und erprobt werden sollen.<br />

Für den Start der Fortbildungsreihe<br />

zum Bereich Deutsch konnten<br />

für den 22. Februar 2009


Grundschulverband <strong>aktuell</strong><br />

… aus den Landesgruppen<br />

straße 10, 22087 Hamburg; susanne.peters@gsvhh.de, www.gsvhh.de<br />

prozess beteiligt sind, keine<br />

zusätzlichen Ressourcen.<br />

n Lehrerfortbildung<br />

Um die Schulen und die Lehrkräfte<br />

auf die Umsetzung der<br />

Schulreform vorzubereiten,<br />

beginnt bereits in diesem Schuljahr<br />

die »Fortbildungsoffensive<br />

2008 – 2012«. Individualisiertes,<br />

selbstständiges Lernen, Kompetenzorientierung<br />

und Teamentwicklung<br />

sollen dabei im Vordergrund<br />

stehen. Es ist zu begrüßen,<br />

dass die vom Grundschulverband<br />

schon lange unterstützte Weiterentwicklung<br />

des Unterrichts<br />

hin zu einer pädagogischen<br />

Leistungskultur intensiv unterstützt<br />

wird. Hoffentlich werden<br />

genügend qualifizierte Fortbildner<br />

zur Verfügung stehen.<br />

n Lehrerausbildung<br />

Die geplante Ausweitung des<br />

Lehramtstudiums für den<br />

Grund-, Haupt- und Realschulbereich<br />

auf 10 Semester sorgt<br />

für eine Gleichwertigkeit der<br />

Ausbildung. Außerdem ist eine<br />

stärkere Verzahnung der Referendarausbildung<br />

der einzelnen<br />

Bereiche einschließlich des<br />

Gymnasialbereichs vorgesehen.<br />

Diese Verzahnung ist unabdingbar,<br />

da an den Primarschulen<br />

in den Klassen 4 bis 6 Grundschul-<br />

und Sekundarstufenlehrkräfte<br />

aller Schulformen gemeinsam<br />

unterrichten werden.<br />

Die Landesgruppe fordert eine<br />

Angleichung der Stundenverpflichtung<br />

und der Bezahlung<br />

Kirchhoff, Inga Weiland;<br />

bereits Erika Brinkmann und<br />

Hans Brügelmann als Referentin<br />

und Referent geworben werden.<br />

Als Expertin für den Bereich<br />

Mathematik wird voraussichtlich<br />

am 15. Mai 2009<br />

ein Fortbildungsblock von<br />

Henny Küppers geleitet.<br />

In weiterer Planung sind<br />

die Bereiche Sachunterricht<br />

(November 2009) und Ästhetik<br />

(Februar 2010). Die Fortbildungen<br />

sollen jeweils an<br />

einem Freitag stattfinden.<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Nina Bode-Kirchhoff)<br />

aller an einer Schulform tätigen<br />

Lehrer. Alle Primarschullehrer<br />

in Hamburg sollten wieder eine<br />

Vergütung nach A 13 erhalten.<br />

n Kostenfreies Vorschuljahr.<br />

Die Landesgruppe begrüßt, dass<br />

bereits ab August 2009 ein kostenloses<br />

Vorschuljahr angeboten<br />

wird, ermöglicht es doch allen<br />

Familien eine frühe Förderung<br />

ihrer Kinder zumindest im Jahr<br />

vor der Einschulung. Der angestrebte<br />

erhöhte Anteil von qualifizierten<br />

Pädagoginnen und Pädagogen<br />

mit Bachelor-Abschluss<br />

in den Kindertageseinrichtungen<br />

wird die Qualität der vorschulischen<br />

Bildung weiter erhöhen.<br />

(für die Landesgruppe Hamburg<br />

Marion Lindner)<br />

Lesung von Frau<br />

Dr. Mechthild Dehn am<br />

26. November 2008<br />

um 19 Uhr im Café<br />

nur für Gäste, Fachbereich<br />

Erziehungswissenschaften<br />

der Universität Hamburg<br />

»Die Netzflickerinnen<br />

und viele Brüder«<br />

Niedersachsen<br />

Senkung des Einschulungsalters<br />

in drei Schritten<br />

In Niedersachsen ist der Trend<br />

beim Einschulungsalter vergleichbar<br />

mit anderen Bundesländern:<br />

Es werden immer weniger<br />

Kinder vom Schulbesuch<br />

zurückgestellt und zudem mehr<br />

Kann-Kinder eingeschult. Dieser<br />

Entwicklung entsprechen auch<br />

die Änderungen der Schulpflichtbestimmungen.<br />

In Niedersachsen<br />

wird damit eine Senkung des<br />

durchschnittlichen Einschulungsalters<br />

weiter begünstigt. Der<br />

Stichtag für die Schulpflicht wird<br />

in drei Schritten vom 30. Juni<br />

eines Jahres auf den 30. September<br />

verlegt. Das Ministerium<br />

möchte, »um den Schulträgern<br />

und Eltern genügend Zeit zu<br />

lassen, sich auf die Veränderung<br />

einzustellen«, die Veränderungen<br />

schrittweise umsetzen. Erstmalig<br />

sollen 2010 Kinder schulpflichtig<br />

sein, die in diesem Jahr<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Vorsitzender: Ralph Grothe, Hasengang 3, 17309 Pasewalk;<br />

ralphgrothe@aol.com<br />

Treffen mit dem<br />

Grundschulreferenten<br />

Am 26. August traf sich in der<br />

<strong>Grundschule</strong> »Karsten Sarnow«<br />

in Stralsund der Vorstand der<br />

Landesgruppe mit dem Leiter<br />

des Referats <strong>Grundschule</strong>n<br />

des Bildungsministeriums,<br />

Herrn Nickel.<br />

Im Mittelpunkt des dreistündigen<br />

Gesprächs stand die Novellierung<br />

des Schulgesetzes<br />

zum kommenden Schuljahr.<br />

Die Änderungen im Sinne der<br />

pädagogischen Zielsetzung<br />

umfassen die Stärkung des Erziehungsauftrages<br />

der Schule und<br />

einen besseren Schutz der Kinder.<br />

Individuelle Förderpläne, die<br />

aufeinander aufbauen und eine<br />

bessere Förderung der Kinder<br />

ermöglichen sollen, sind ebenfalls<br />

Bestandteil der Novellierung.<br />

Das Schulgesetz schafft die Voraussetzungen<br />

für die Umsetzung<br />

der schülerbezogenen Lehrer-<br />

Kontakt: Dr. Eva Gläser, Fasanenstr. 1, 38102 Braunschweig; www.gsv-nds.de<br />

am 31. Juli das sechste Lebensjahr<br />

vollendet haben, 2011 wird<br />

dann der Stichtag der 31. August<br />

sein und 2012 der 30. September.<br />

stundenzuweisung ab dem<br />

kommenden Schuljahr.<br />

Die freie Schulwahl wird für die<br />

Kinder nach der <strong>Grundschule</strong><br />

möglich. So bleibt eine wohnortnahe<br />

Beschulung der Kinder in<br />

ihrer Grundschulzeit gesichert.<br />

Weitere Gesprächsthemen<br />

waren die Weiterführung des<br />

Lehrerpersonalkonzeptes<br />

und die damit verbundenen<br />

Proble me in der Einstellung<br />

junger Lehrerinnen und Lehrer.<br />

Anhörung zum kostenfreien<br />

Mittagessen an <strong>Grundschule</strong>n<br />

Der Landtag des Landes Mecklenburg-Vorpommern<br />

führte<br />

eine Anhörung zum kostenfreien<br />

Mittagessen an den <strong>Grundschule</strong>n<br />

des Landes durch, an<br />

der sich die Landesgruppe in<br />

schriftlicher Form beteiligte.<br />

Der Text der Stellungnahme der<br />

Landesgruppe ist unter www.<br />

gsv-mv.de nachzulesen.<br />

(für die Landesgruppe: Ralph Grothe)<br />

Veränderte Ausbildung –<br />

eigenes Realschullehramt<br />

Niedersachsen hat ein eigenständiges<br />

Lehramt für Realschulen<br />

eingeführt und die bisherige<br />

kombinierte Ausbildung für<br />

Grund-, Haupt- und Realschulen<br />

mit entsprechender Schwerpunktsetzung<br />

beendet. Dies<br />

verwundert, da diese Neuregelung<br />

eine breite Kritik hervor rief:<br />

Kritisch äußerten sich sowohl<br />

der VBE als auch die GEW, die<br />

Oppositionsfraktionen der SPD<br />

und der GRÜNEN sowie kommunale<br />

Spitzenverbände, der Landeselternrat<br />

und auch Hochschulen.<br />

Unklar bleibt, warum<br />

unterschiedliche Lehrämter für<br />

die Sekundarstufe bei der geringen<br />

Trennschärfe zwischen Realschul-<br />

und Hauptschullehramt<br />

notwendig sind. Vor allem da<br />

dies auch den Entwicklungen im<br />

Schulwesen entgegen steht!<br />

Weitere Vergleichsarbeiten<br />

in Deutsch und Mathematik<br />

Mai 2009<br />

Auch im Schuljahr 2008/2009<br />

werden niedersächsische Schülerinnen<br />

und Schüler weitere<br />

Vergleichsarbeiten schreiben<br />

müssen. Für die Vergleichsarbeiten<br />

im dritten Schuljahrgang<br />

sind folgende Termine<br />

geplant: Vergleichsarbeit für<br />

das Fach Deutsch am 12. 5. 2009<br />

und eine Vergleichsarbeit im<br />

Fach Mathematik am 14. 5. 2009.<br />

Nähere Hinweise zu den Inhalten<br />

bzw. zur Durchführung<br />

dieser zentralen Vergleichsarbeiten<br />

erhalten die Schulen<br />

im Laufe des Schuljahres.<br />

(für die Landesgruppe: Dr. Eva Gläser)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008<br />

31


Grundschulverband <strong>aktuell</strong><br />

… aus den Landesgruppen<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Vorsitzende: Gisela Cappel, Habichtstr. 1d, 58285 Gevelsberg<br />

VERA und kein Ende –<br />

Vergleichsarbeiten in Klasse 3<br />

Neben der bekannten und an<br />

verschiedenen Stellen mehrfach<br />

geäußerten Kritik an den vielfachen<br />

Ungereimtheiten der Vergleichsarbeiten<br />

wird die Durchführung<br />

in NRW dieses Jahr noch<br />

durch eine weitere Absurdität<br />

ergänzt: So erhielten die Schulen<br />

kurz nach Bekanntgabe der<br />

landes- und vergleichsgruppenbezogenen<br />

Auswertung eine<br />

Nachricht vom Schulministerium,<br />

in der darauf hingewiesen<br />

wurde, dass im Fach Mathematik<br />

die Aufgabenformate im<br />

Bereich ›Zahlen und Operationen‹<br />

in vielen Schulen noch nicht<br />

im Unterricht behandelt worden<br />

seien und daher ein Vergleich<br />

unzulässig sei. Demzufolge sollten<br />

Lehrerinnen und Lehrer auch<br />

auf eine Rückmeldung der individuellen<br />

Ergebnisse der Schülerinnen<br />

und Schüler an die Eltern<br />

verzichten. Einmal mehr stellt<br />

sich da doch die Frage nach einer<br />

dringend notwendigen Korrektur<br />

(oder Abschaffung) dieses<br />

insgesamt höchst fehlerbehafteten<br />

Instrumentariums.<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Neuorganisation der Lehrerausbildung<br />

– Qualitätsgewinn<br />

für <strong>Grundschule</strong>n?<br />

Das geplante neue Lehrerausbildungsgesetz<br />

wirft für die <strong>Grundschule</strong>n<br />

Fragen hinsichtlich einer<br />

qualifizierten Begleitung der<br />

Studierenden in den neuen und<br />

in den Details noch ungeklärten<br />

Praktika auf. Auch wenn der<br />

Grundschulverband grundsätzlich<br />

die Neuordnung begrüßt,<br />

darf diese nicht zu einer zusätzlichen<br />

Belastung der Schulen führen,<br />

und die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen<br />

für die<br />

zukünftigem Lehrerinnen und<br />

Lehrer müssen durch die Bereitstellung<br />

entsprechender Ressourcen<br />

gewährleistet sein.<br />

Anschrift: Werner Lang, Am Win gertsberg 8, 67756 Hinzweiler<br />

Fortbildungen<br />

Pädagogische Leistungskultur und<br />

die neue Grundschulordnung – so<br />

lautet das Thema der derzeitigen<br />

Fortbildungsreihe der Landesgruppe<br />

RLP. Angesichts der katastrophalen<br />

Informationspolitik<br />

des Ministeriums spricht die<br />

Landesgruppe aus Sicht des<br />

Verbandes die Aspekte einer<br />

pädagogischen Leistungskultur<br />

an, stellt mögliche praxisbezogene<br />

Antworten vor und zeigt<br />

auf, welche Chancen und Verpflichtungen<br />

die neue Grundschulordnung<br />

in dieser Hinsicht<br />

enthält. Das große Interesse an<br />

der Thematik belegen die etwa<br />

20 offenen und schulinternen<br />

Fortbildungen mit insgesamt<br />

weit mehr als 600 TeilnehmerInnen,<br />

die bereits stattgefunden<br />

haben. Diese Veranstaltungsreihe<br />

soll 2009 fortgesetzt werden.<br />

Infos: www.wl-lang.de (Grundschulverband<br />

/ Fortbildungen).<br />

Grundschultag 2009<br />

Basierend auf dem Leitprinzip<br />

<strong>Grundschule</strong> auf dem Weg zur<br />

neuen Lernkultur wird<br />

am Dienstag, den<br />

3. März 2009 an der<br />

Universität Koblenz-<br />

Landau, Campus Landau,<br />

der nächste Grundschultag<br />

mit dem Schwerpunkt Kunst<br />

– Musik – Bewegung stattfinden.<br />

Ab Dezember werden<br />

auf der Homepage der Landesgruppe<br />

(s. o.) weitere Informationen<br />

zu finden sein.<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Konstanze Rosinus)<br />

Fachtagung Übergang Kindergarten<br />

– <strong>Grundschule</strong><br />

Konkrete Verabredungen zur<br />

Kooperation zwischen Kindergärten<br />

und <strong>Grundschule</strong>n waren<br />

ein Ziel der Veranstaltung, die<br />

der Arbeitskreis KiGaGs der<br />

Stadt Dinslaken in Kooperation<br />

mit dem Grundschulverband-<br />

NRW durchgeführt hat. Die<br />

stellvertretende Bundesvorsitzende,<br />

Maresi Lassek, hat in<br />

ihrem Referat für die Vertreter<br />

der Dinslakener Tageseinrichtungen<br />

und <strong>Grundschule</strong>n den<br />

<strong>aktuell</strong>en Stand der fachlichen<br />

und bildungspolitischen Diskussion<br />

verständlich, klar und<br />

anregend zusammengefasst.<br />

Unter den mehr als 80 TeilnehmerInnen<br />

waren auch interessierte<br />

KollegInnen aus der Nachbarstadt<br />

Duisburg. So konnten<br />

am Ende nicht nur die Verabredungen<br />

zwischen den Einrichtungen<br />

innerhalb der Stadt<br />

Dinslaken dargestellt werden<br />

– auch zwischen den Arbeitskreisen<br />

der beiden Städte bahnt<br />

sich eine Kooperation an.<br />

Mehr Informationen zu <strong>aktuell</strong>en<br />

Themen auf unserer Homepage<br />

www.grundschulverband-nrw.de<br />

(für die Landesgruppe: Beate Schweitzer)<br />

Schleswig-Holstein<br />

Vorsitzende: Beate Blaseio, Am Binnenhafen 52, 25813 Husum;<br />

www. grundschulverband-sh.de<br />

Schulanfangstagung in der<br />

Universität Flensburg<br />

In der letzten Sommerferienwoche<br />

nahmen Hunderte von<br />

Lehrkräften das Angebot einer<br />

Fortbildungsveranstaltung wahr,<br />

die hochwertige Vorträge und<br />

Workshops zum Anfangsunterricht<br />

in der <strong>Grundschule</strong> bot. Die<br />

Landesgruppe war eingeladen,<br />

sich als Kooperationspartner der<br />

Universität Flensburg sowie der<br />

so genannten EULE zu präsentieren.<br />

Im Eingangsvortrag machte<br />

Frau Prof. Dr. Ursula Carle von<br />

der Universität Bremen anhand<br />

der Ergebnisse von Studien über<br />

Modellversuche jahrgangsübergreifenden<br />

Unterrichts deutlich,<br />

dass die untersuchten Klassen<br />

in Bezug auf die Leistung<br />

im Schnitt mit anderen gleichlagen,<br />

jedoch im Sozialverhalten<br />

und ihrer Lernmotivation besser<br />

abschnitten. Die Besucher und<br />

Besucherinnen der anschließenden<br />

Workshops waren dankbar<br />

über methodische und ganz<br />

praktische Tipps für die Umsetzung<br />

des jahrgangsübergreifenden<br />

Unterrichts, der in diesem<br />

Schuljahr an weiteren Schulen<br />

des Landes Einzug gehalten hat.<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Sabine Jesumann, Andrea Klimmek)<br />

32 GS <strong>aktuell</strong> <strong>104</strong> • November 2008


An den<br />

Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Niddastraße 52 · 60329 Frankfurt / Main · Fax 0 69 / 7 07 47 80<br />

oder per Internet: www.grundschulverband.de<br />

Beitrittserklärung<br />

Für Ihren Beitritt zum Grundschulverband ·<br />

Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V. halten wir<br />

folgendes Werbeangebot für Sie bereit:<br />

(Bitte nur eine der beiden Möglichkeiten ankreuzen!)<br />

Name<br />

Als neues Mitglied im Grundschulverband ·<br />

Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V. wünsche ich mir<br />

den Band<br />

als Aufnahmegeschenk.<br />

Nebenstehend genanntes Mitglied habe<br />

ich für den Grundschulverband · Arbeitskreis<br />

<strong>Grundschule</strong> e. V. geworben. Als Werbe prämie<br />

senden Sie mir bitte den Band<br />

an folgende Anschrift:<br />

Ich beantrage die Mitgliedschaft im Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Als Mitglied erhalte ich jährlich zwei neue Mitgliedsbände aus der Reihe »Beiträge zur Reform der<br />

<strong>Grundschule</strong>« sowie die 32-seitige Vierteljahreszeitschrift »Grundschulverband <strong>aktuell</strong>« jeweils<br />

nach Fertigstellung kostenfrei zugesandt.<br />

Den angekreuzten Betrag<br />

Mitgliedsbeitrag 55,– €<br />

Ermäßigter Beitrag (bitte belegen!) 33,– €<br />

(für Studierende, Arbeitslose, Lehramts anwärter/innen<br />

sowie für Teilzeitbeschäftigte in den neuen Ländern)<br />

Förderbeitrag, mindestens 33,– €<br />

(keine Mitgliedsbände, nur Zeitschrift – für Pensionäre, die weiterhin <strong>aktuell</strong> informiert werden<br />

wollen und andere Förderer, die die Arbeit des Grundschulverbandes unterstützen möchten)<br />

zahle ich nach Erhalt der Jahresrechnung zahle ich per Bankeinzug vom<br />

Konto Nr.<br />

Bankleitzahl<br />

Name<br />

Straße und Hausnummer<br />

bei<br />

Straße und Hausnummer<br />

PLZ und Ort<br />

PLZ und Ort<br />

E-Mail<br />

Datum und Unterschrift<br />

Tel.


Pädagogische Leistungskultur<br />

Die Bücher zum Projekt des Grundschulverbandes<br />

(zum Teil mit Arbeitshilfen auf CD)<br />

Mit dem Projekt Pädagogische<br />

Leistungskultur wollen wir jenseits<br />

von VERA ein deutliches Zeichen für<br />

eine ermutigende Leistungsförderung<br />

aller Kinder setzen, die individuelle<br />

Lernentwicklungen im Blick behält und<br />

die Kinder dialogisch einbezieht.<br />

Band 118<br />

ISBN 3-930024-87-X<br />

Best.-Nr. 1076<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />

Band 119 (5 Hefte im Schuber / mit CD)<br />

ISBN 3-930024-88-8<br />

Best.-Nr. 1077<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />

Band 124 (5 Hefte im Schuber / mit CD)<br />

ISBN 3-930024-96-9<br />

Best.-Nr. 1082<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />

Band 121 (5 Hefte im Schuber / mit CD)<br />

ISBN 3-930024-94-2<br />

Best.-Nr. 1079<br />

17,– € / f. Mitgl. 13,– €

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