Ausgabe 02-2008 als PDF vonhundert_2008-02_komplett.pdf
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„Zur bildenden Kunst kam ich über eine Lüge“<br />
⁄ Gespräch mit Ricoh Gerbl<br />
Ricoh Gerbl lebt seit Ende der achtziger Jahre in Berlin, wo sie<br />
erst nach längerer Anlaufphase ihre Arbeit <strong>als</strong> bildende Künstlerin<br />
im Medium Fotografie aufgenommen hat. Außerdem<br />
schrieb sie einen Roman (Henri. Eine Verpuffung, 2005) sowie<br />
eine Sammlung von Kurzgeschichten (Leben im Luxus, 2006)<br />
und arbeitet parallel zu ihrer literarischen Tätigkeit weiter<br />
<strong>als</strong> bildende Künstlerin. Zuletzt waren ihre Arbeiten, die teils<br />
auch eigene Texte inkorporieren, bei „Visite ma tente“ und im<br />
Kunstverein Tiergarten zu sehen.<br />
Barbara Buchmaier ⁄ Wie unterscheidet sich in Deiner<br />
Praxis das Konzipieren und Schreiben von Texten vom Entwerfen<br />
und Produzieren eines physischen Kunstwerks, z.B.<br />
eines Fotos? In welcher Atmosphäre arbeitest Du? Wie unterscheiden<br />
sich die Voraussetzungen, um überhaupt kreativ<br />
werden zu können?<br />
Ricoh Gerbl ⁄ Der auffälligste Unterschied zwischen dem<br />
Schreiben und dem Fotografieren ist, dass das Fotografieren<br />
draußen stattfindet, außerhalb meiner Wohnung, in einer<br />
Welt, in die ich mich hinein bewegen muss. Beim Schreiben<br />
passiert das Gegenteil, ich ziehe mich zurück, heraus aus der<br />
Welt, versuche soviel Außenwelt wie möglich von mir fern<br />
zu halten. Wenn ich fotografiere, gibt es meist äußere Bedingungen,<br />
die ich lernen muss zu steuern. Ich muss das Wetter<br />
verstehen oder Körperhaltungen von Menschen studieren.<br />
Und wenn die Idee klar ist, muss ich, bevor ich den Auslöser<br />
drücke, nur an Sachen denken, die mechanisch, praktisch,<br />
lösbar sind. Das Resultat ist von meinem Gefühlszustand unabhängig.<br />
Beim Schreiben ist das nicht so, zum einen muss<br />
ich „Welt“ von mir fern halten, zum anderen muss ich selbst<br />
ein möglichst unaufgeladenes neutrales Teilchen sein, bevor<br />
ich mich an den Schreibtisch setzen kann. Dazu kommt,<br />
dass ich, wenn ich dann am Schreibtisch sitze, viel stärker<br />
mit mir selbst konfrontiert bin <strong>als</strong> beim Fotografieren. Und<br />
ich muss dieser Konfrontation mit dem Alleinseins und<br />
dem Alleinbleiben standhalten können. Ich kann ja nicht,<br />
wenn ich schreiben will, und feststelle, dass ich mich nicht<br />
aushalte, ständig sagen, gut, dann gehe ich jetzt ins Kino,<br />
spazieren, oder treffe mich mit Jemandem. Beim Schreiben<br />
muss ich mich nicht nur mit dem Text herumschlagen, mit<br />
dem Inhalt, der Schreibweise, sondern auch mit mir, um<br />
überhaupt an den Text heranzukommen.<br />
Buchmaier ⁄ Wie kam es bei Dir zum Übergang vom Status<br />
der bildenden Künstlerin hin zur Schriftstellerin? Warum<br />
hast Du ursprünglich angefangen Kunst zu machen und wie<br />
kamst du dann zum Schreiben? Stichworte: Lebensphasen,<br />
Voraussetzungen, Widerstände, Coming out.<br />
Gerbl ⁄ Zur bildenden Kunst bin ich über eine Lüge gekommen.<br />
Ich hatte den Wunsch, in einem großen leeren<br />
Raum zu leben. Ich wusste, dass Künstler in solchen Räumen<br />
lebten und bewarb mich auf eine Anzeige für einen<br />
60 qm-Raum in einer Ateliergemeinschaft. Als die mich<br />
fragten, was ich denn künstlerisch mache, spürte ich, dass<br />
ich nicht sagen konnte: Nichts, ich möchte nur in so einem<br />
Raum sein dürfen. Also erfand ich künstlerische Vorhaben.<br />
Aber auch damit waren sie nicht zufrieden. Sie meinten,<br />
meine Vorhaben seien zu klein. Dafür bräuchte ich keinen<br />
so großen Raum. Ich log wieder und bekam den Raum, war<br />
aber nur kurze Zeit glücklich. Jeden Tag klopften Künstler<br />
bei mir und wollten wissen, woran ich arbeite. Eine Weile<br />
log ich weiter, sagte, ich wäre noch nicht soweit, etwas herzuzeigen.<br />
Um in Ruhe gelassen zu werden, fing ich dann<br />
doch an, Kunst zu machen. Als ich feststellte, dass das, was<br />
sie von mir zu sehen bekamen, ankam, machte ich weiter.<br />
In der Literatur unterlag ich der Vorstellung, dass eine Autorin<br />
schon von Anfang an besser schreiben kann <strong>als</strong> ich,