Ausgabe 02-2008 als PDF vonhundert_2008-02_komplett.pdf
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Paris, Palimpsest<br />
⁄Eugène Atget im Martin-Gropius-Bau<br />
Seit 2004 befindet sich in Berlin ein Museum, das sich ganz<br />
der Fotografie verschrieben hat, trotzdem war es in den letzten<br />
Jahren eine andere Institution, die die großen Ausstellungen<br />
zu wesentlichen Positionen ebenso historischer wie<br />
zeitgenössischer Fotografen im Programm hatte: der Martin-Gropius-Bau.<br />
Keineswegs soll an dieser Stelle allzu euphorisch<br />
Werbung betrieben werden, ließe sich dieses doch<br />
im Grunde bequeme, zugleich freilich erfolgversprechende<br />
Konzept der vielbetriebenen Übernahme durchaus sorgfältig<br />
kuratierter Retrospektiven anderer Häuser sehr leicht <strong>als</strong><br />
wenig risikofreudig kritisieren. Bei der aktuellen, anlässlich<br />
des 150. Geburtstags des Künstlers ausgerichteten Schau von<br />
Eugène Atget, der neben Blossfeldt oder Sander zur fotografischen<br />
Avantgarde gezählt wird, ist man gerne bereit, derartige<br />
Unmutsäußerungen hinten an zu stellen.<br />
„Man kann ohne jeden Zweifel behaupten, dass niemand anderes<br />
eine größere Rolle gespielt hat, um die Tradition in der<br />
Fotografie zu begründen und den Beweis zu erbringen, dass<br />
Fotografie eine Kunst ist“, so äußerte sich die Fotografin Berenice<br />
Abbott über Atget, dessen Berühmtheit nicht unwesentlich<br />
dieser Frau zu verdanken ist. Sie hatte ihn und sein<br />
Werk durch Man Ray kennengelernt, der wiederum Atgets<br />
Bilder in den Zirkel der Surrealisten schleuste, welche besonders<br />
die Ästhetik der Alltagswelt in der Serie „Paris Pittoresque“<br />
zu schätzen verstanden. So fügt es sich trefflich, dass<br />
die Anhängerin der „Straight Photography“ nicht nur nach<br />
seinem Ableben 1929 sein hinterlassenes Werk betreute, sondern<br />
auch ‚das‘ Porträt von Atget anfertigen durfte. Es zeigt<br />
einen gealterten Mann, dessen Blick trotz der introvertierten<br />
Haltung eines Einzelgängers von jener Neugierde zeugt, die<br />
sich in Atgets Art zu fotografieren wieder findet.<br />
Als ehemaliger Schauspieler nimmt er nun zweifellos die Rolle<br />
des „Metteur en scène“ ein, wenn er <strong>als</strong> suchender Flaneur<br />
gleichsam die Physiognomie des alten Paris einzufangen<br />
und zugleich dem archivarischen Impetus eines manischen<br />
Sammlers zu folgen versucht: Oberflächen, Baustrukturen,<br />
Abnutzungen, Arrangements werden <strong>als</strong>o nicht bloß registriert,<br />
sondern wie mit Morellischer Aufmerksamkeit für das<br />
unscheinbare Detail <strong>als</strong> Beleg für die Authentizität dieser<br />
Orte festgehalten. Dabei emanzipiert sich die Stadt wie in<br />
Victor Hugos „Notre Dame de Paris“ regelrecht <strong>als</strong> Protagonistin,<br />
was nicht unwesentlich der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
einsetzenden Haussmannisierung, <strong>als</strong>o dem rigiden<br />
Eingriff in urbane (Lebens-)Räume geschuldet ist. Sie sollte<br />
dem Stadtbild neue Akzente verschaffen, wofür freilich andere<br />
Charakterzüge, ja ganze Viertel eliminiert wurden. Der<br />
oftm<strong>als</strong> verklärende Blick auf die atmosphärischen Darstellungen<br />
jenes Paris ist <strong>als</strong>o nicht bloß der gegenwärtig unsrige,<br />
sondern rührt tatsächlich von einer melancholischen<br />
Nostalgie, die sich dam<strong>als</strong> angesichts der allzu absehbaren<br />
Endlichkeit der aufgenommenen Realität über dieses ca.<br />
1895 bis 1927 entstandene Bilderkonglomerat legte. Wie ein<br />
memento mori erscheinen da die Schichten der markanten<br />
Reklameplakate, die häufig an den Häuserwänden zu erkennen<br />
sind.<br />
Die Ordnung der Berliner Ausstellung geht weitgehend motivisch<br />
vor, was sich durch die serielle Arbeit des Fotografen<br />
erklärt: Nach dem Prinzip der Ähnlichkeit schuf er Alben<br />
in erster Linie für historische Sammlungen, ebenso nutzten<br />
zeitgenössische Illustratoren die Bilder von stimmungsvollen<br />
Straßenwinkeln, idyllischen Parkansichten oder auch<br />
ornamentalen Details <strong>als</strong> Vorlage. Aus der Reihe fallen am<br />
ehesten die Interieurfotografien, in denen Atget – wie in den<br />
auch sonst überwiegend menschenleeren Szenerien – anhand<br />
der Ausstattung ein nur implizit ersichtliches Individuum<br />
zur Geltung bringt (auch seine eigenen Wohn- und<br />
Arbeitsräume sind zu sehen, die er jedoch nicht <strong>als</strong>o solche<br />
auszeichnet). Im letzten Kämmerchen schließlich gelangt<br />
man zu den wohl berühmtesten Fotografien jener eingangs<br />
erwähnten Serie, die sich den (auch im übertragenen Sinne<br />
Spiegelbilder liefernden) Schaufenstern und deren teils skurril<br />
anmutenden Warenästhetik sowie dem Jahrmarktstreiben<br />
oder der Welt des Boudoirs widmet. Angesichts dieser<br />
faszinierenden Impressionen des Gewöhnlich-Entlegenen<br />
diagnostizierte Walter Benjamin nicht nur eine „heilsame<br />
Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch“, sondern ließ<br />
sich auch zu folgender Aussage bewegen: „Die photographischen<br />
Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im<br />
historischen Prozess zu werden. Das macht ihre verborgene<br />
politische Bedeutung aus.“ Naoko Kaltschmidt<br />
Eugène Atget – Retrospektive, Martin-Gropius-Bau,<br />
Niederkirchnerstraße 7, 28.9.2007–6.1.<strong>2008</strong>