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ZESO 2/17

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<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

02/<strong>17</strong><br />

INTERVIEW<br />

Jean-Michel Bonvin<br />

über den Zustand<br />

des Sozialstaats<br />

INTEGRATION<br />

Studie klärt die<br />

Wirksamkeit der<br />

Programme ab<br />

IN-LIMBO<br />

Asylbewerber nutzen<br />

die Wartezeit zum<br />

Lernen und Arbeiten<br />

ARBEITEN IM<br />

SOZIALDIENST<br />

Hohe Anforderungen und immer<br />

breitere Aufgabenpalette – wie<br />

lässt sich das bewältigen?


SCHWERPUNKT<br />

Sozialarbeit in der<br />

Sozialhilfe<br />

Die Anforderungen an<br />

Sozialarbeitende, die in der<br />

Sozialhilfe arbeiten, sind<br />

hoch, die Aufgabenpalette<br />

gross: Lassen sich wirtschaftliche<br />

und persönliche<br />

Unterstützung unter<br />

einen Hut bringen?<br />

Nicht nur für den einzelnen Sozialarbeitenden,<br />

sondern für die Sozialhilfe insgesamt<br />

kann es herausfordernd sein, wirtschaftliche<br />

Hilfe und psychosoziale Beratung<br />

gleichermassen zu gewährleisten, wie die<br />

Beiträge des Schwerpunktes zeigen. Sie<br />

machen aber auch deutlich, dass neue<br />

Konzepte in Gang gebracht werden und<br />

Sozialdienstmitarbeitende trotz allem mit<br />

ihrem Beruf im Durchschnitt relativ zufrieden<br />

sind.<br />

12–23<br />

12–25<br />

14 22<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 5. Juni 20<strong>17</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im September 20<strong>17</strong>.<br />

REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber AUTORINNEN UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Jeremias Amstutz,<br />

Catherine Arber, Barbara Beringer, Heinrich Dubacher, Ruth Gurny, Véréna Keller, David Kieffer, Stephan Kirchschlager,<br />

Carlo Knöpfel, Sarah Madörin, Patricia Max, Karin Meier, Peter Neuenschwander, Thomas Oesch, Caroline<br />

Pulver, Jan G. Scheibe, Ueli Teckblenburg, Nicole Wagner, Susanne Wenger, Daniel Weyermann, Peter Zängl,<br />

TITELBILD Rudolf Steiner LAYOUT Marco Bernet, mbdesign Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK<br />

UND ABOVERWALTUNG Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE<br />

Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />

CHF 25.–.<br />

2 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong>


6<br />

8<br />

INHALT<br />

5 KOMMENTAR<br />

Menschen motivieren, ein erfülltes Leben<br />

zu führen – Kommentar von Nicole Wagner<br />

6 THEMA SOZIALHILFE<br />

Pilotprojekt Grundkompetenzen bringt<br />

positive Resultate<br />

8 INTERVIEW<br />

«Man kann mit der Aktivierung allein<br />

nicht alle Probleme lösen» , sagt Soziologe<br />

Jean-Michel Bonvin<br />

11 Praxis<br />

Ab welchem Zeitpunkt besteht Anspruch<br />

auf Unterstützung?<br />

12–25 SCHWERPUNKT<br />

SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE<br />

14 Wie steht es um die Sozialarbeit in der<br />

Sozialhilfe?<br />

16 Sozialhilfe – ein Arbeitsfeld mit hohen<br />

Qualifikationsanforderungen<br />

18 «Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />

Meinung vieler zu grossen Raum ein».<br />

Nachgefragt bei Roger Pfiffner<br />

20 Psychosoziale Beratung in der Sozialhilfe<br />

in den Fokus rücken<br />

22 Die Praxis muss sich an der Ausbildung<br />

der künftigen Mitarbeitenden beteiligen<br />

24 Die Arbeit in den Sozialdiensten erfordert<br />

Fachwissen und Allrounder-Qualitäten –<br />

zwei Sozialarbeitende erzählen<br />

30<br />

32<br />

36<br />

26 INTEGRATIONSPROGRAMME<br />

Die Wirkung ist schwer zu messen – jetzt<br />

liegt ein validiertes Messinstrument vor<br />

28 FACHBEITRAG<br />

Sekundäre Folgen der Fachkräfteinitiative<br />

30 REPORTAGE<br />

Asylbewerber lernen und Arbeiten<br />

während der langen Wartezeit<br />

32 PLATTFORM<br />

Zivis sind beliebte Hilfskräfte im<br />

Sozialwesen<br />

33 FORUM<br />

Neuorientierung in der Sozialhilfe ist nötig<br />

34 LESETIPPS UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

36 PORTRÄT CHRISTINE HUNZIKER<br />

Unterstützung für Jugendliche mit<br />

Schwierigkeiten in der Lehre<br />

2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />

3


«Man kann mit der Aktivierung allein<br />

nicht alle Probleme lösen»<br />

INTERVIEW Aktivierung und Bildungsprogramme sind Strategien für eine möglichst rasche Rückkehr<br />

von Sozialhilfebeziehenden in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Selbständigkeit. Jean-Michel<br />

Bonvin, Soziologe an der Universität Genf, fordert auch Massnahmen im Arbeitsmarkt.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Bonvin, viel ist in den<br />

letzten Monaten die Rede vom Ende<br />

des Sozialstaats angesichts von Schuldenkrise,<br />

Alterung der Gesellschaft<br />

und Strukturwandel im Arbeitsmarkt<br />

– Wie strapazierfähig ist die soziale<br />

Kohäsion?<br />

Jean-Michel Bonvin: Ich denke nicht,<br />

dass der Sozialstaat wirklich gefährdet ist.<br />

Diese Entwicklungen – die Alterung der<br />

Gesellschaft, die Schwächung der Familienstruktur,<br />

die sich in der zunehmenden<br />

Zahl an Einelternfamilien zeigt, der Strukturwandel<br />

und die damit verbundenen<br />

neuen sozialen Risiken – zeigen im Gegenteil<br />

sehr deutlich, dass es nötig ist, den<br />

Sozialstaat zu erhalten. Gleichzeitig zwingen<br />

uns die unter Spardruck stehenden öffentlichen<br />

Finanzen, die Kosten des Sozialstaats<br />

stabil zu halten. Die Finanzierung<br />

des Sozialstaats stellt vor diesem Hintergrund<br />

natürlich langfristig eine wichtige<br />

Herausforderung dar.<br />

Vor allem für die gesellschaftliche Solidarität.<br />

Nimmt die Solidarität in der<br />

Gesellschaft ab?<br />

Es gibt zahlreiche Signale, die darauf<br />

hindeuten, dass das Gefühl der Solidarität<br />

bei vielen Menschen im Moment abnimmt.<br />

Es handelt sich aber nur um Signale<br />

und keine objektiven Grössen. Ein<br />

Beispiel ist die zunehmende Intensität, mit<br />

welcher die Debatte über den Missbrauch<br />

von Sozialleistungen geführt wird. Sie<br />

nährt das Vorurteil vom Sozialhilfeempfänger<br />

als faulem Menschen, der sich weigert<br />

zu arbeiten, und damit von der Grosszügigkeit<br />

der Allgemeinheit profitiert. Die<br />

Debatte über den Sozialhilfe-Missbrauch<br />

verbreitet die Auffassung, dass die arbeitende<br />

Bevölkerung bezahlen muss, während<br />

andere profitieren. Sie trägt auf diese<br />

Art dazu bei, dass die gesellschaftliche Solidarität<br />

in Frage gestellt wird. Es kommt<br />

hinzu, dass der Sozialhilfemissbrauch für<br />

die steigenden Kosten verantwortlich gemacht<br />

wird. In einem solchen Klima sucht<br />

man nach Schuldigen und findet diese in<br />

den Menschen, die sich angeblich nicht<br />

genügend anstrengen, um wieder alleine<br />

zurechtzukommen.<br />

Hat der Missbrauch real zugenommen?<br />

Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen,<br />

enthalten keine Hinweise, dass der<br />

Sozialhilfebetrug oder -missbrauch zugenommen<br />

hätte. Hingegen wurden die<br />

Bedingungen für den Bezug von Sozialleistungen<br />

erheblich verschärft. Wenn also jemand<br />

die jetzt deutlich strengeren Anforderungen<br />

nicht vollumfänglich erfüllt, ist<br />

schnell einmal von Missbrauch die Rede.<br />

Man kann von daher nicht sagen, dass sich<br />

die Mentalität der heutigen Sozialhilfeempfänger<br />

verschlechtert hat. Tatsache ist<br />

vielmehr, dass sie deutlich mehr Bedingungen<br />

erfüllen müssen.<br />

In der Öffentlichkeit ist die Meinung<br />

weit verbreitet, dass wer keine Arbeit<br />

hat, selbst schuld ist. Kann unser<br />

Arbeitsmarkt theoretisch allen Arbeit<br />

geben?<br />

Der Sozialstaat wurde während der<br />

Jahre des Wirtschaftswunders 1945 bis<br />

1973 massgeblich entwickelt. In einer<br />

Zeit also, in der es kaum Arbeitslosigkeit<br />

oder Menschen gab, die auf Sozialhilfe<br />

oder Leistungen der Invalidenversicherung<br />

angewiesen waren. Die grosse Veränderung<br />

kam dann in den meisten Staaten<br />

in den 70er Jahren mit dem Ende der<br />

Vollbeschäftigung. In Europa stiegen die<br />

Arbeitslosenzahlen plötzlich sehr stark an<br />

– in der Schweiz jedoch erst in den 90er<br />

Jahren. Dies hatte zur Folge, dass sich die<br />

Zahl der auf Leistungen des Sozialstaats<br />

angewiesenen Menschen ebenfalls stark<br />

erhöhte. Paradox daran ist, dass genau in<br />

dem Moment, als die Vollbeschäftigung<br />

nicht mehr garantiert war und die Arbeitslosigkeit<br />

anstieg, der Vorwurf des Missbrauchs<br />

laut wurde. In dem Moment also,<br />

in dem es viel schwieriger geworden war,<br />

eine Arbeit zu finden, wurden die Betroffenen<br />

beschuldigt, faul zu sein und den<br />

Sozialstaat zu missbrauchen.<br />

In der Konsequenz versuchte man mit<br />

Anreizen und Auflagen, mit Fördern<br />

und Fordern, Sozialhilfebeziehende<br />

möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt<br />

zurückzuführen – wie beurteilen<br />

Sie vor diesem Hintergrund das<br />

Konzept der Aktivierung?<br />

Viele Studien zeigen deutlich, dass die<br />

Aktivierung durchaus erfolgreich war, aber<br />

sie konnte die Ursache des Problems nicht<br />

beseitigen: den Mangel an Arbeitsplätzen.<br />

Vor dem Hintergrund der Abwesenheit<br />

jeglicher staatlicher Massnahmen zur konkreten<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen fokussierte<br />

man sich also auf die Arbeitslosen,<br />

Sozialhilfeempfänger, IV-Bezüger und so<br />

weiter und versuchte sie möglichst rasch zu<br />

befähigen, sich wieder in den Arbeitsmarkt<br />

zu integrieren. Das ist wichtig und auch<br />

wirksam. Wenn man sich jedoch darauf<br />

beschränkt, dann wird man dem Problem<br />

nicht gerecht. Denn die Wurzel des Problems<br />

liegt nicht nur beim Angebot – also<br />

den Arbeitsuchenden – sondern auch bei<br />

der Nachfrage – dem Arbeitsmarkt. Wenn<br />

eine Warteschlange von Arbeitssuchenden<br />

existiert und manche von ihnen Weiterbildungsprogramme<br />

absolvieren, dann<br />

rücken sie in der Warteschlange nach vorn<br />

und finden vielleicht schneller eine Stelle,<br />

doch die Länge der Warteschlang bleibt<br />

unverändert, weil ja die Zahl der Arbeitsplätze<br />

nicht wächst. Man ermöglicht also<br />

die Verbesserung individueller Problemlagen,<br />

löst aber das strukturelle Problem<br />

8 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong>


nicht. In der Schweiz ist das Modell der<br />

Aktivierung dennoch etwas erfolgreicher<br />

als in anderen europäischen Ländern, da<br />

der Arbeitsmarkt hier sehr dynamisch ist<br />

und die Arbeitslosigkeit tief.<br />

Der Spardruck im Sozialwesen und<br />

damit auch im Bereich der Sozialhilfe<br />

wird in jedem Fall weiter steigen. Für<br />

die Sozialämter bedeutet das, sie müssen<br />

möglichst viele aus der Abhängigkeit<br />

von der Sozialhilfe führen. Was<br />

bleibt also zu tun?<br />

Es ist natürlich wichtig, diese Menschen<br />

auszubilden und in den Arbeitsmarkt<br />

zurückzubringen, das ist völlig<br />

unbestritten. Aber man muss auch bei<br />

der Nachfrage ansetzen. Ich erachte es im<br />

Übrigen als problematisch, diese Menschen<br />

zu zwingen, irgendeinen Job anzunehmen,<br />

nur um die Sozialhilfekosten<br />

zu dämpfen. Es ist umso fragwürdiger,<br />

als diese Menschen Gefahr laufen, rasch<br />

wieder arbeitslos zu werden und damit<br />

zudem das Entstehen von prekären Arbeitsplätzen<br />

gefördert wird. Man kann<br />

«Es gibt zahlreiche<br />

Signale, die darauf<br />

hindeuten, dass das<br />

Gefühl der Solidarität<br />

bei vielen Menschen<br />

im Moment<br />

abnimmt.»<br />

mit der Aktivierung allein nicht alle Probleme<br />

lösen. Die aktuelle Politik verfolgt<br />

in erster Linie das Ziel zu verhindern,<br />

dass es immer dieselben sind, die von der<br />

Arbeitswelt ausgeschlossen bleiben. Insgesamt<br />

sind etwa 12 bis 15 Prozent der<br />

Schweizer Bevölkerung nicht in den Arbeitsmarkt<br />

integriert. Sie werden von der<br />

ALV, IV oder Sozialhilfe unterstützt. Diese<br />

12 bis 15 Prozent, davon ist auszugehen,<br />

Bilder: Magali Girardin<br />

lassen sich allein mit den Massnahmen<br />

und Strategien der Aktivierung auf der<br />

Angebotsebene nicht reduzieren.<br />

Die Aktivierung ist also für den Einzelnen<br />

effektiv, aber nicht für die öffentlichen<br />

Finanzen?<br />

Es ist schwer zu sagen, ob sich die Aktivierung<br />

für die Allgemeinheit auszahlt<br />

oder nicht. Das sind komplexe Rechnungen.<br />

Sicherlich hat die symbolische<br />

Dimension der Aktivierung einen starken<br />

präventiven Effekt. Jeder weiss, wenn er<br />

Sozialhilfe beziehen will, muss er viel dafür<br />

tun. In diesem Sinne wirkt die Strategie<br />

der Aktivierung und ist, was die Kontrolle<br />

der Kostenentwicklung angeht, sicher<br />

wirksam. Dennoch gibt es Personen, die<br />

aus den verschiedensten Gründen kaum<br />

eine Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt<br />

eine Stelle zu finden. Für diese Leute genügen<br />

die Massnahmen der Aktivierung<br />

nicht. Hier sind andere Lösungen gefragt.<br />

Es ist wichtig, dass der erste Arbeitsmarkt<br />

auch für die Bereitstellung geeigneter Arbeitsplätze<br />

vorbereitet ist. <br />

2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />

9


Aber was müsste geschehen, damit der<br />

Arbeitsmarkt geeignete Arbeitsplätze<br />

bereitstellt?<br />

Das ist wohl die schwierigste Aufgabe.<br />

Der wettbewerbsorientierte Arbeitsmarkt<br />

bietet keinen Platz für alle. Wie sollen also<br />

diejenigen integriert werden, die nicht den<br />

gängigen Produktivitätskriterien eines globalisierten<br />

kompetitiven Marktes entsprechen?<br />

Man könnte sich mehrere Lösungen<br />

vorstellen. Man könnte versuchen, die Logik<br />

des Wettbewerbs im Arbeitsmarkt zu<br />

beeinflussen, indem man Unternehmen<br />

unterstützt, deren Ziele sich nicht allein<br />

nach Profitkriterien richten; eine weitere<br />

Möglichkeit wäre die Schaffung von nachhaltigen<br />

Arbeitsplätzen im sogenannten<br />

zweiten Arbeitsmarkt, der den sozialen<br />

Aspekten mehr Raum gibt; oder aber geschützte<br />

Strukturen auf Verbands- oder<br />

halbstaatlicher Ebene. Diese Arbeit müsste<br />

aber bezahlt sein, um eine Stigmatisierung<br />

zu vermeiden. Es gäbe also viele Optionen.<br />

Es handelt sich dabei nicht um Arbeit, die<br />

den gängigen Marktkriterien zuwiderläuft<br />

,sondern diese ergänzt. Deshalb muss<br />

diese komplementäre Arbeit auch nach<br />

denselben Ansätzen bewertet werden, wie<br />

die anderen Stellen auch.<br />

Der Hauptfokus liegt im Moment auf<br />

der Ausbildung. Mit Bildungsprogrammen<br />

sollen Bildungsdefizite von<br />

Langzeitarbeitslosen behoben werden.<br />

Kann die Bildung alle Probleme lösen?<br />

Das Problem ist die Qualität der Ausbildung.<br />

Wenn man die Leute nur einige<br />

Tage oder Wochen ausbildet, lernen<br />

sie auf diese Art vielleicht ein Motivationsschreiben<br />

oder einen Lebenslauf zu<br />

verfassen. Das ist sinnvoll und kann für<br />

Stellenlose, die bereits über eine gute Ausbildung<br />

verfügen, hilfreich sein. Doch für<br />

diejenigen, die keine Ausbildung haben,<br />

die vielleicht die Schule abgebrochen haben<br />

oder die das Lernen grundsätzlich<br />

ablehnen, sind Programme von derart<br />

kurzer Dauer nicht genug.<br />

Lange dauernde Arbeitslosigkeit, Armut<br />

und in der Folge Abhängigkeit von<br />

der Sozialhilfe gehen häufig einher<br />

mit einer fehlenden Berufsbildung.<br />

Wie kann man diese Defizite auch spät<br />

noch beheben?<br />

Es gibt drei zentrale Voraussetzungen<br />

für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn:<br />

die Fähigkeit zu lernen sowie den Willen<br />

JEAN-MICHEL BONVIN<br />

Jean-Michel Bonvin ist Professor für Soziologie<br />

und Sozialpolitik am Institut für Demographie<br />

und Sozioökonomie an der Universität Genf.<br />

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören<br />

der Wandel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik<br />

sowie Innovationen in Organisationen des<br />

öffentlichen Sektors. Bonvin leitet derzeit den<br />

Schwerpunkt «welfare boundaries» im NCCR<br />

LIVES, einem Forschungsprogramm des Schweizerischen<br />

Nationalfonds, in dem es um prekäre<br />

Lebensverläufe und Vulnerabilität geht.<br />

und auch die Möglichkeit zu lernen. Es<br />

sind also drei Stufen von Massnahmen<br />

nötig. Zunächst muss das Basiswissen vermittelt<br />

werden, die Grundvoraussetzung<br />

für jede Berufsausbildung. Dann gilt es<br />

bei den Betroffenen die Freude am Lernen<br />

zu wecken, am besten mithilfe von wenig<br />

schulischen Ausbildungsformen, die viele<br />

Sozialhilfeempfänger abschrecken. Und<br />

schliesslich müssen die Rahmenbedingungen<br />

geschaffen werden, indem dafür<br />

gesorgt wird, dass der Betroffene über Zeit<br />

und finanzielle Ressourcen verfügt. Spät<br />

noch eine Lehre zu beginnen, bedeutet beispielsweise<br />

häufig zunächst mal einen im<br />

Vergleich mit der Sozialhilfe erheblichen<br />

Einkommensverlust. Mit einem Lehrlingsgehalt<br />

kann man keine Familie ernähren.<br />

Welche Massnahmen schlagen Sie vor?<br />

Das Programm Forjad zum Beispiel im<br />

Kanton Waadt. Es kommt diesem Ideal mit<br />

der Massnahme Scenic Adventure meiner<br />

Meinung nach am nächsten. In Genf entspricht<br />

das Programm «Scène active» der-<br />

selben Logik. Beide Programme unterstützen<br />

Jugendliche mit einer abgebrochenen<br />

Schullaufbahn, die in hohem Masse gefährdet<br />

sind. Es gilt diese dort abzuholen,<br />

wo sie stehen, ihnen die Freude an der Bildung<br />

zu vermitteln oder ihnen zu helfen,<br />

eine Vision von der Zukunft zu entwickeln.<br />

Jeder hat Freude sich zu bilden, aber nicht<br />

jeder schafft das in einem schulischen Umfeld.<br />

In Genf haben die Jugendlichen acht<br />

Monate lang an einem Theaterstück gearbeitet,<br />

das sie selbst kreiert haben, und es<br />

dann vor mehreren hundert Zuschauern<br />

aufgeführt. Das war eine wichtige Erfahrung,<br />

die in ihnen die Freude geweckt hat,<br />

etwas zu schaffen. Andere etwas konventionellere<br />

Programme zur Vorbereitung auf<br />

eine Lehre liefern ebenfalls sehr ermutigende<br />

Resultate. Dennoch bleibt das Problem<br />

der Nachfrage. Alle diese Programme<br />

haben zum Ziel, das Vertrauen der Betroffenen<br />

in ihre berufliche Zukunft, ihre<br />

Kompetenzen zu stärken, um damit ihre<br />

Attraktivität für potenzielle Arbeitgeber zu<br />

erhöhen. Alle diese Aktivitäten konzentrieren<br />

sich auf die Angebotsseite, die Arbeitnehmer.<br />

Aber nichts garantiert, dass die<br />

Nachfrage nach Arbeitskräften dem folgen<br />

wird, dass es Lehrstellen und Arbeitsplätze<br />

für diese Personen geben wird. Man muss<br />

daher auch auf der Nachfrageseite ansetzen,<br />

was natürlich nicht allein in der Kompetenz<br />

der Sozialdienste liegen kann.<br />

In Europa wird jetzt viel über Sozialinvestitionen<br />

diskutiert. Was bedeuten<br />

diese?<br />

Das Ziel von Sozialinvestitionen ist es,<br />

das produktive Potenzial aller im Sinne des<br />

kollektiven wirtschaftlichen Wohlstands zu<br />

erhöhen. Es geht daher darum, die Stellensuchenden<br />

besser zu qualifizieren und<br />

zwar mit Hilfe von langfristigen Massnahmen,<br />

also beispielsweise mit einer Lehre,<br />

dank der sich Betroffene neue Kompetenzen<br />

aneignen. Diese Strategie verfolgt<br />

eine ehrgeizige Vision der Aktivierung via<br />

die Entwicklung des Humankapitals und<br />

der Bildung. Doch es bleibt auch hier unklar:<br />

Wie kann sichergestellt werden, dass<br />

quantitativ und qualitativ ausreichend Arbeitsplätze<br />

auch für die Schwächsten und<br />

weniger Wettbewerbsfähigen existieren?<br />

Dies, so scheint mir, bleibt die derzeit<br />

wichtigste Herausforderung.<br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

10 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong>


Ab welchem Zeitpunkt besteht<br />

Anspruch auf Unterstützung?<br />

PRAXIS Zwischen der Anmeldung von Frau Meisterhans auf dem Sozialdienst und dem<br />

Leistungsentscheid vergehen drei Wochen. Der Anspruch auf Unterstützung besteht rückwirkend ab<br />

dem Zeitpunkt der erstmaligen Vorsprache. Verfügt die Klientin nicht über genügend Mittel, um die<br />

Zeit bis zum Entscheid zu überbrücken, muss eine angemessene Hilfe geleistet werden.<br />

FRAGE<br />

Frau Meisterhans meldet sich am 15. September<br />

beim Sozialdienst, weil sie Ende Juli<br />

ihre Stelle verloren hat. Die Anspruchsklärung<br />

der Arbeitslosenversicherung wird<br />

einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Septembermiete<br />

konnte sie gerade noch bezahlen,<br />

nun verfügt sie aber über keine Ersparnisse<br />

mehr. Deshalb ist sie bis zum<br />

Entscheid der Arbeitslosenversicherung<br />

auf Sozialhilfe angewiesen. Sie hat sich relativ<br />

spät gemeldet, weil sie bis dahin gehofft<br />

hatte, eine neue Stelle zu finden.<br />

Zwischen der Anmeldung von Frau<br />

Meisterhans auf dem Sozialdienst am 15.<br />

September und dem Leistungsentscheid<br />

der Behörde verstreichen drei Wochen.<br />

Ab welchem Datum besteht ein Anspruch<br />

auf Sozialhilfe und wie erfolgt die Berechnung?<br />

Muss für die Zeit zwischen Anmeldung<br />

und Leistungsentscheid allenfalls<br />

überbrückende Hilfe geleistet werden?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

GRUNDLAGEN<br />

Jeder Mensch, der seine Existenz nicht<br />

rechtzeitig oder hinreichend aus eigener<br />

Kraft sichern kann, hat Anspruch auf Sicherung<br />

einer menschenwürdigen Existenz<br />

und Hilfe in Notlagen durch den<br />

Staat. Dieser Anspruch wird im Kerngehalt<br />

durch Art. 12 der Bundesverfassung<br />

garantiert. Darüber hinaus garantieren die<br />

Kantone ihrer Bevölkerung ein soziales<br />

Existenzminimum in Form von Sozialhilfe.<br />

Für diese wird regelmässig explizit festgehalten,<br />

dass sie rechtzeitig erfolgen<br />

muss.<br />

Zum Grundsatz der Rechtzeitigkeit gehört,<br />

dass unaufschiebbare wirtschaftliche<br />

Hilfe in dringenden Fällen sofort geleistet<br />

werden muss. Unter Umständen besteht<br />

bereits ein Unterstützungsanspruch, wenn<br />

die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

noch nicht vollständig abgeklärt<br />

sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

ein Sozialhilfeanspruch besteht.<br />

Die Organisation der Sozialhilfe in einer<br />

Gemeinde darf nicht dazu führen, dass<br />

notwendige Unterstützung aus formalen<br />

beziehungsweise terminlichen Gründen<br />

nicht rechtzeitig geleistet werden kann.<br />

Entsprechend muss das Verfahren so organisiert<br />

sein, dass die erforderliche Hilfe<br />

rechtzeitig festgesetzt und ausgerichtet<br />

werden kann. Die Gemeinden sind beispielsweise<br />

angehalten, die Entscheidungskompetenz<br />

für Notfälle an den Sozialdienst<br />

zu delegieren.<br />

Ein Gesuch um Sozialhilfe kann in den<br />

meisten Kantonen auch mündlich anhängig<br />

gemacht werden, womit das Verfahren<br />

eingeleitet wird. Kommt die antragstellende<br />

Person danach ihrer Mitwirkungspflicht<br />

nach, besteht ein Anspruch auf<br />

Unterstützung rückwirkend ab dem Zeitpunkt<br />

der erstmaligen Vorsprache. Dies<br />

gilt auch dann, wenn sich die Beschaffung<br />

der notwendigen Unterlagen aus nachvollziehbaren<br />

Gründen verzögert.<br />

Gemäss SKOS-Richtlinien, Kapitel<br />

A.6-2, sind Haushalte unterstützungsbedürftig,<br />

wenn das monatliche Nettoeinkommen<br />

für den Lebensunterhalt nicht<br />

ausreicht. In der Regel werden in der Sozialhilfe<br />

die Einnahmen des Vormonats den<br />

anrechenbaren Ausgaben des laufenden<br />

Monats gegenübergestellt. Dieser Grundsatz<br />

gilt auch bei Neuaufnahmen und zwar<br />

unabhängig davon, ob ein Antrag zu Beginn<br />

oder zum Ende eines Monats gestellt<br />

wird.<br />

ANTWORT<br />

Der Anspruch auf Ausrichtung von Sozialhilfe<br />

besteht grundsätzlich ab dem Zeitpunkt<br />

der Einreichung eines Gesuchs um<br />

wirtschaftliche Unterstützung. Im Fall von<br />

Frau Meisterhans ist dies der 15. September.<br />

Es besteht dabei kein Grund bei der<br />

Anspruchsberechnung von einer Monatsbetrachtung<br />

abzuweichen. Sofern sich eine<br />

Unterstützungsbedürftigkeit als gegeben<br />

erweist, muss der Lebensbedarf von Frau<br />

Meisterhans für den ganzen Monat September<br />

gesichert werden.<br />

Der Anspruch besteht rückwirkend<br />

auch in jenen Fällen, in denen zur Prüfung<br />

des Gesuchs von der Klientin noch<br />

zusätzliche Unterlagen erforderlich sind<br />

oder sich ein Unterstützungsentscheid aus<br />

anderen Gründen verzögert. Sollte Frau<br />

Meisterhans über keinerlei finanzielle<br />

Mittel oder Naturalien mehr verfügen, um<br />

die Zeit bis zum Unterstützungsentscheid<br />

beziehungsweise zur ersten Auszahlung<br />

zu überbrücken, muss bis zu diesem Zeitpunkt<br />

eine angemessene Hilfe geleistet<br />

werden.<br />

•<br />

Heinrich Dubacher und Patricia Max<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />

11


Wie steht es um die Sozialarbeit<br />

in der Sozialhilfe?<br />

Sozialhilfe wird nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden geleistet. Dennoch hat die Sozialarbeit<br />

heute in der Sozialhilfe eine grössere Rolle als früher. Die Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und<br />

persönlicher Unterstützung, die vielerorts im Gang ist, könnte die Chance bieten, dass sich die<br />

Sozialarbeit auf freiwillige Beratung konzentrieren kann.<br />

Kann man heute in der Sozialhilfe noch Sozialarbeit leisten oder<br />

dominieren die materiellen und administrativen Aspekte? Es ist interessant,<br />

dass die Frage oft so gestellt wird: sie impliziert, dass<br />

«früher» «richtige» Sozialarbeit praktiziert wurde und dass materielle<br />

und administrative Aspekte nicht dazu gehören. Diese Sichtweise<br />

entspricht nicht den Tatsachen. Der Bereich Sozialhilfe ist<br />

hoch dynamisch und die Sozialarbeit ist vielleicht gerade und erstmalig<br />

dabei, in diesem Bereich einen gebührenden Platz zu erlangen.<br />

Sozialarbeit, ein junger, nicht geschützter Beruf<br />

Was heute als Sozialarbeit bezeichnet wird, ist in vielen Ländern<br />

des industrialisierten Nordens seit Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

entstanden. In der Schweiz hat sich Sozialarbeit ab den 1950er-<br />

Jahren im Zuge der Entwicklung des Sozialwesens langsam als Beruf<br />

durchgesetzt. Die entsprechenden Ausbildungen sind allerdings<br />

erst seit rund 20 Jahren bundesweit systematisiert und<br />

anerkannt, dies insbesondere im Kontext der neugeschaffenen<br />

Fachhochschulen. So ist Sozialarbeit ein noch junger Beruf, dessen<br />

Ausübung aber − im Gegensatz zu verwandten Berufen wie der<br />

Pflege, der Psychologie oder des Lehramts − nicht reglementiert<br />

ist. So können Personen ohne entsprechende Ausbildung als Sozialarbeitende<br />

angestellt werden, und es sind deren viele: Nur rund<br />

die Hälfte der in der Sozialen Arbeit Tätigen verfügen über eine<br />

entsprechende Ausbildung. Dieser Zustand ist nicht neu und kann<br />

nicht mit den aktuellen Sparprogrammen erklärt werden. Er ist<br />

hochproblematisch: Wie soll man denn Sozialarbeit ohne Sozialarbeitende<br />

leisten können? AvenirSocial, der Berufsverband der<br />

Fachpersonen der Sozialen Arbeit, lanciert deshalb ab Sommer<br />

20<strong>17</strong> die nationale Kampagne «Eine Ausbildung in Sozialer Arbeit<br />

bürgt für Qualität» und fordert 100 Prozent in Sozialer Arbeit<br />

ausgebildetes Fachpersonal.<br />

Sozialarbeit hat viele Formen und verschiedenste Aufgabenbereiche,<br />

die sich in zahlreichen organisationalen und politischen<br />

Kontexten stetig verändern. Es gibt nicht die eine Sozialarbeit.<br />

Was heute als Sozialarbeit gilt, war gestern vielleicht Aufgabe der<br />

Polizei und kann morgen vom Gesundheits- oder Bildungsbereich<br />

übernommen werden. Insofern ist jeder Bezug auf «wirkliche Sozialarbeit»<br />

problematisch und idealisierend. Ausserdem gehören<br />

materielle, wirtschaftliche und administrative Hilfen seit ihren ersten<br />

Anfängen zur Sozialarbeit. Sie werden heute zu oft abgewertet.<br />

Sozialarbeit war und ist zudem immer vielschichtig. Sie erfüllt gegensätzliche<br />

Mandate von Hilfe und Kontrolle. Sie steht zwischen<br />

der Ermächtigung von Einzelnen oder Gruppen und gesellschaft-<br />

licher Normalisierung, zwischen Emanzipation und Reproduktion<br />

− Verwaltung − von Ungleichheiten, insbesondere von Armut.<br />

Das gilt nicht nur in der Sozialhilfe, ist dort aber besonders deutlich<br />

sichtbar. Dies ist eigentlich ein Vorteil, denn ein benanntes<br />

Spannungsfeld kann angegangen werden. So viel zur Sozialarbeit<br />

allgemein. Wie steht es nun um die Sozialarbeit in der Sozialhilfe?<br />

Immer mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe<br />

Was heute als Sozialhilfe bezeichnet wird, geht auf jahrhundertealte,<br />

immer wieder erneuerte Formen des Umgangs mit Armut zurück.<br />

Alle Gesellschaften mussten Massnahmen finden für ihre<br />

Mitglieder, die nicht für sich sorgen konnten und Hilfe brauchten.<br />

Diese Hilfe ist unabdingbar für eine gewisse Stabilität und Sicherheit,<br />

denn zu grosse Armut bedroht die Gesellschaft insgesamt.<br />

Die Armenhilfe − Fürsorge nach der früheren Terminologie −<br />

wurde in der Schweiz bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

von verschiedensten Berufsgattungen wahrgenommen, teilweise<br />

auf ehrenamtlicher Basis. Kirchenleute, Verwaltungsangestellte,<br />

politische Mandatsträger, Behördenmitglieder, Lehrer und<br />

Juristen waren darunter – grossen teils Männer. Sozialarbeit kam<br />

14 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

erst später dazu. In kleineren Gemeinden der ganzen Schweiz,<br />

aber auch etwa in der Stadt Basel wurde Sozialarbeit sogar erst im<br />

letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in der Sozialhilfe eingeführt.<br />

Auch heute noch sind vielerorts politisch gewählte Behördenmitglieder<br />

− also a priori keine Fachpersonen − in der Sozialhilfe tätig.<br />

Sozialhilfe alias Fürsorge ist demnach sehr viel älter als Sozialarbeit.<br />

Es gibt heute mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe als «früher».<br />

Allerdings wird Sozialhilfe nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden<br />

geleistet.<br />

Persönliche Hilfe ohne Zwang<br />

Der Typ der Fachpersonen, die eine sozialstaatliche Leistung erbringen,<br />

sagt etwas aus über die der Leistung zugrunde liegende<br />

Philosophie. So deutet eine Sozialhilfe, die von Sozialarbeitenden<br />

gewährt wird, auf das Prinzip Wohltätigkeit hin: Leistungen werden<br />

von Fall zu Fall abgeklärt und auf das Verhalten des Bezügers<br />

abgestimmt. Ein Rechtsanspruch hingegen kann von administrativen<br />

oder von juristischen Fachpersonen zugesprochen werden −<br />

wir kennen das von den Renten und anderen (Versicherungs-)Leistungen.<br />

Insofern ist die Einführung der Sozialarbeit nicht<br />

Persönliche Hilfe ist nötig, damit Klienten wieder<br />

aus der Armut herausfinden.<br />

Bild: Keystone<br />

zwingend, wenn es denn um den Rechtsanspruch auf finanzielle<br />

Leistungen des Sozialstaates geht. Nun besteht aber Sozialhilfe ja<br />

nicht nur aus finanziellen Leistungen. Persönliche Hilfe – Sozialarbeit<br />

– ist eine Notwendigkeit, wenn Sozialhilfe Menschen wirklich<br />

darin unterstützen soll, ihre Armutssituation zu überwinden<br />

beziehungsweise einigermassen in Würde damit fertig zu werden.<br />

Sozialarbeit ist massgeschneidert: Sie gründet auf einer sorgfältigen<br />

Analyse der Ressourcen der Klienten und unterstützt sie darin,<br />

ein für sie gutes Leben zu führen.<br />

Mehrere Kantone und grosse Städte (z.B. Waadt, Genf, Zürich,<br />

Basel) haben in den letzten Jahren eine vollständige oder<br />

teilweise Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und persönlicher<br />

Unterstützung vollzogen, indem erstere von Sachbearbeitenden<br />

und letztere von Sozialarbeitenden wahrgenommen wird. Grund<br />

dieser Reorganisationen war vorab der Druck zunehmender<br />

Fallzahlen, gleichzeitig waren sie Gelegenheit dafür, die Arbeitsteilung<br />

in der Sozialhilfe neu zu denken. Oft braucht es weitere<br />

Spezialisierungen, um die breite Spanne von Bedürfnissen der<br />

Adressatinnen und Adressaten abzudecken, beispielsweise in den<br />

Bereichen beruflicher Wiedereinstieg, Ausbildung, Kinderbetreuung,<br />

Schuldensanierung oder Wohnfragen.<br />

Diese neuen Modelle werden von Weiterbildungen begleitet,<br />

in welchen die Rollen und Aufgaben der jeweiligen Fachpersonen<br />

reflektiert werden. Sie müssen sorgfältiger evaluiert werden. Es<br />

kann sein, dass damit Leistungen abgebaut werden und den Sozialhilfebeziehenden<br />

weniger gut geholfen wird. Es mag aber auch<br />

sein, dass so eine Sozialarbeit ermöglicht wird, die sich auf freiwillige<br />

Beratung konzentrieren kann. Selbige ist respektvoller und<br />

nachhaltiger als Sanktionen und Zwang. Bedingung dafür ist, dass<br />

qualifizierte Fachpersonen in leicht zugänglichen Sozialdiensten<br />

genügend Zeit zur Verfügung stellen können. Diese Bedingung ist<br />

heute nicht überall erfüllt: Eine Vollzeit angestellte Sozialarbeiterin<br />

mit einer angenommenen Fallbelastung von 60 Dossiers kann<br />

jedem Dossier im Jahr 16 Stunden widmen. Da in vielen Sozialdiensten<br />

wesentlich höhere Fallbelastungen üblich sind, besteht<br />

dringender Handlungsbedarf, um wirksame Hilfe zu ermöglichen.<br />

•<br />

Véréna Keller<br />

Emeritierte Professorin der Haute Ecole de Travail Social et de la Santé<br />

(EESP) in Lausanne & Vizepräsidentin von AvenirSocial<br />

SCHWERPUNKT 2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />


«Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />

Meinung vieler zu grossen Raum ein»<br />

NACHGEFRAGT Die Arbeitszufriedenheit in Sozialen Diensten ist im Durchschnitt<br />

relativ hoch. Zu schaffen machen den Sozialdienstmitarbeitenden aber die fehlende<br />

gesellschaftliche Anerkennung ihres Berufes, der grosse Verwaltungsaufwand und fehlende<br />

Aufstiegsmöglichkeiten, sagt Roger Pfiffner, Dozent an der Berner Fachhochschule. Er hat eine<br />

Studie zum Thema verfasst.<br />

Herr Pfiffner, was zeichnet eine zufriedene Mitarbeiterin oder einen<br />

zufriedenen Mitarbeiter aus?<br />

Zufrieden ist ein Mitarbeiter meistens dann, wenn er seine<br />

Arbeitsstelle als erfüllend wahrnimmt. Dies ist der Fall, wenn<br />

er das Gefühl hat, durch die Arbeit seine Ziele, Bedürfnisse und<br />

Werte verfolgen und erreichen zu können. Zufriedene Mitarbeiter<br />

sind durch die Erfahrungen, die sie im Arbeitsalltag machen,<br />

in einem positiven emotionalen Zustand. Die Folge sind<br />

hohe Motivation und Leistungsbereitschaft.<br />

Wie zufrieden sind Personen, die in der öffentlichen Sozialhilfe tätig<br />

sind?<br />

Unsere Studie zeigt, dass sich die durchschnittliche Arbeitszufriedenheit<br />

von Sozialdienstmitarbeitenden im mittleren bis<br />

positiven Bereich bewegt. Auffällig ist, dass sich die Zufriedenheit<br />

individuell stark unterscheidet. Bei drei Viertel der Personen<br />

ist die Arbeitszufriedenheit relativ hoch. Auf der anderen<br />

Seite sind rund ein Viertel der Mitarbeitenden unzufrieden mit<br />

ihrer Arbeitsstelle.<br />

Was gefällt Sozialdienstmitarbeitenden an ihrem Beruf?<br />

Sie bewerten vor allem ihre Tätigkeit positiv: Diese wird als<br />

interessant, herausfordernd und vielseitig beschrieben. Und<br />

sie empfinden ihre Arbeit als sinnvoll. Weitere positive Aspekte<br />

sind für viele Selbstbestimmtheit und Entscheidungsautonomie.<br />

Auch die Weiterbildungsmöglichkeiten und die Zusammenarbeit<br />

mit dem Team und den Vorgesetzten werden positiv<br />

bewertet.<br />

Welche Faktoren werden negativ bewertet?<br />

In erster Linie sind das organisatorische Aspekte. Mit den<br />

Aufstiegsmöglichkeiten und dem Gehalt ist man nur teilweise<br />

zufrieden. Der Verwaltungsaufwand nimmt nach Meinung vieler<br />

einen zu grossen Raum ein und auch die Work-Life-Balance<br />

wird eher kritisch bewertet. Am wenigsten zufrieden sind die<br />

Sozialdienstmitarbeitenden mit der gesellschaftlichen Anerkennung<br />

ihres Berufes.<br />

Wie wird die Arbeitsbelastung eingeschätzt?<br />

Die subjektiv empfundene Arbeitsbelastung ist sehr unterschiedlich.<br />

Fast die Hälfte der befragten Personen findet die<br />

Arbeitsbelastung hoch oder sehr hoch. Da ist aber die Sozialhilfe<br />

kein Spezialfall, ähnliche Werte findet man in vielen Berufen.<br />

Was aber in der Sozialhilfe dazu kommt: Es arbeiten viele<br />

Personen mit eher wenig Berufserfahrung in diesem Bereich.<br />

Auch Berufsanfänger müssen jedoch rasch die übliche Anzahl<br />

an Dossiers übernehmen. Dieser Einstieg wird von vielen als<br />

nicht einfach empfunden.<br />

Sind Mitarbeitende in grossen oder kleinen Diensten zufriedener?<br />

Um dies genau beantworten zu können, wäre weitere Forschung<br />

notwendig. Sowohl grosse wie kleine Dienste haben<br />

Vor- und Nachteile. In der Tendenz lässt sich sagen: Administrative<br />

Mitarbeitende fühlen sich eher in kleinen Organisationen<br />

wohl. Es ist persönlicher und das Ergebnis der eigenen<br />

Arbeit ist sichtbarer. Bei Sozialarbeitenden zeigt die Tendenz<br />

hingegen eher in die andere Richtung. Vermutlich weil in städtischen<br />

und stadtnahen Diensten die Vermittlungsmöglichkeiten<br />

von Klienten in Beschäftigungsprogramme etc. besser<br />

sind. Das kann die Arbeit erleichtern und die Selbstwirksamkeit<br />

wird als besser wahrgenommen.<br />

Führen die negativ bewerteten Faktoren zu Kündigungen?<br />

Arbeitszufriedenheit und Fluktuation haben einen starken<br />

Zusammenhang. Der Teil der Personen, der unzufrieden ist,<br />

wird wahrscheinlich früher oder später kündigen. Die negativ<br />

bewerteten Aspekte wie Aufstiegsmöglichkeiten, administrativer<br />

Aufwand, Work-Life-Balance und fehlende gesellschaftliche<br />

Anerkennung haben dabei sicher einen Einfluss.<br />

Es können im Einzelfall aber auch andere Faktoren sein. Auch<br />

die Personalstruktur führt zu Kündigungen: In der Sozialhilfe<br />

arbeiten viele Personen, die zwischen 30 und 39 Jahren Jahre<br />

alt sind. Diese sind auf dem Arbeitsmarkt gesucht und befinden<br />

sich gleichzeitig in einer Lebensphase, in der man sich<br />

häufig noch umorientiert.<br />

Was bedeutet das für die Sozialdienste? Ist das Ausmass der<br />

Fluktuation belastend?<br />

Die Fluktuationsquote ist nicht dramatisch hoch. Kündigungen<br />

gibt es überall. Die Sozialhilfe ist aber ein Bereich, in<br />

dem ein Fachkräftemangel herrscht und es gerade in ländlichen<br />

Diensten nicht immer einfach ist, Stellen zu besetzen.<br />

18 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong> SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

Auffällig ist auch, dass Sozialdienstmitarbeitende im Vergleich<br />

zu Arbeitnehmenden in anderen Bereichen, bedeutend weniger<br />

lang an einer Arbeitsstelle bleiben. Zudem suchen diejenigen,<br />

die gehen, mehrheitlich nicht eine Stelle in einem anderen<br />

Sozialdienst, sondern wollen ausserhalb der Sozialhilfe arbeiten.<br />

Das macht die Situation anspruchsvoll.<br />

ROGER PFIFFNER<br />

Bild: zvg<br />

Roger Pfiffner ist Dozent an der Berner Fachhochschule. Er forscht<br />

und lehrt vor allem in den Bereichen Organisation und Management<br />

Sozialer Dienste und Schulsozialarbeit.<br />

Im Rahmen der Studie «Soziale Dienste – Attraktivität als Arbeitgebende<br />

und Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden» hat Roger<br />

Pffiffner zwischen Sommer und Herbst 2015 insgesamt 942 Sozialarbeitende,<br />

Berufsbeistände und Sachbearbeitende online befragt.<br />

Wie liesse sich die Fluktuation vermindern?<br />

Entwicklungspotenzial gibt es beispielsweise bei der Zusammenarbeit<br />

zwischen Sozial- und Sachbearbeitenden. Manche<br />

Gemeinden investieren bereits in zusätzliche Administrationsstellen,<br />

um die Sozialarbeitenden zu entlasten. Auch<br />

wenn die Führungspersonen durchschnittlich positiv bewertet<br />

werden, sind auch sie ein entscheidender Faktor. Deshalb ist<br />

die Schulung von Kaderpersonen sehr wichtig. Einen weiteren<br />

Ansatzpunkt sehe ich in der Grösse der Sozialdienste. Bei<br />

einem Sozialdienst mit nur drei Mitarbeitenden kann es schnell<br />

zu Problemen mit Ferienvertretungen kommen oder es wird<br />

äusserst schwierig, wenn Stellen nicht fristgerecht besetzt<br />

werden können. Auch Aufstiegsmöglichkeiten gibt es in kleinen<br />

Diensten kaum. Und schliesslich müsste die Attraktivität<br />

des Tätigkeitfelds insgesamt erhöht werden, was nicht zuletzt<br />

eine Verbesserung der öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />

voraussetzt.<br />

Identifizieren sich Sozialdienstmitarbeitende zu wenig mit ihrem<br />

Arbeitgeber und dem Tätigkeitsfeld?<br />

Etwa die Hälfte der befragten Personen identifiziert sich<br />

mit dem Arbeitgeber und die andere Hälfte nur teilweise oder<br />

gar nicht. Bei rund 25 Prozent sind sogar Anzeichen einer Resignation<br />

zu erkennen. Diese Personen haben bei ihrer Arbeit<br />

keine grossen Ziele oder Erwartungen mehr. Die Identifikation<br />

mit dem rechtlichen und politischen Kontext der Sozialhilfe ist<br />

noch tiefer. Beispielsweise haben wir untersucht, ob Sozialdienstmitarbeitende<br />

die aktuellen Reformen in der Sozialhilfe<br />

befürworten. Etwa die Hälfte findet, dass durch die Reformen<br />

die Wirksamkeit der Sozialhilfe für die Klienten, aber auch für<br />

die Gesellschaft verschlechtert wird.<br />

•<br />

SCHWERPUNKT 2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />

Das Gespräch führte<br />

Regine Gerber<br />

19<br />


Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe<br />

FACHBEITRAG Wie wirken Integrationsprogramme in der Sozialhilfe? Und welche Faktoren spielen<br />

für die Wirkung eine Rolle? In einer Studie der Berner Fachhochschule wird diesen Fragen seit<br />

2014 intensiv nachgegangen. Nun liegt ein validiertes Messinstrument vor, das die Wirkungen von<br />

Integrationsprogrammen sowie die Einflussfaktoren erfasst und zuverlässig misst.<br />

Die Berner Fachhochschule (BFH) hat in<br />

einer Studie die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe systematisch<br />

untersucht. Für die Studie wurde eine<br />

Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />

in drei Befragungswellen durchgeführt.<br />

Die Studie zeigte in der ers ten Befragungswelle,<br />

wie sich Teilnehmende von<br />

Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe<br />

in vielen Dimensionen deutlich von anderen<br />

Bevölkerungsgruppen unterscheiden.<br />

Bei den Auswertungen wurde zwischen<br />

Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />

Integration (SI) und solchen, die mittelfristig<br />

eine berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt<br />

anstreben (BIP), unterschieden.<br />

Das Profil der befragten Programmteilnehmenden<br />

Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit<br />

sind bei den befragten Programmteilnehmenden<br />

mit einem Anteil<br />

von 38 Prozent gegenüber einem Ausländeranteil<br />

von rund 25 Prozent in der ständigen<br />

Wohnbevölkerung (BFS 20<strong>17</strong>a)<br />

deutlich übervertreten. Die Hälfte der Teilnehmenden<br />

von Integrationsprogrammen<br />

wurde entweder im Ausland geboren oder<br />

besitzt eine ausländische Staatsangehörigkeit.<br />

47 Prozent haben weder eine Lehre<br />

abgeschlossen noch eine weiterführende<br />

Schule (z.B. Gymnasium) absolviert. Bei<br />

den 25- bis 64-Jährigen in der Schweiz beträgt<br />

der gleiche Anteil 12 Prozent (BFS<br />

20<strong>17</strong>b). Die Hälfte der Teilnehmenden<br />

hat Schulden. Die Teilnehmenden beziehen<br />

im Durchschnitt seit 28 Monaten Sozialhilfe<br />

und sind seit 20 Monaten keiner<br />

Arbeit mehr nachgegangen. Ein Drittel der<br />

Teilnehmenden hat bereits früher an einem<br />

Integrationsprogramm teilgenommen.<br />

Bei den SI-Teilnehmenden ist es die<br />

Hälfte, die bereits Erfahrungen in Integrationsprogrammen<br />

sammelte.<br />

Neben diesen soziodemografischen<br />

und ökonomischen Indikatoren zeigt sich,<br />

dass es den Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />

gesundheitlich deutlich<br />

schlechter geht als Personen der ständigen<br />

Wohnbevölkerung, insbesondere auch<br />

als armutsbetroffenen Personen (vgl. Abbildung<br />

1). Der eigene Gesundheitszustand<br />

wird von den 18- bis 64-Jährigen<br />

in der Schweiz auf einer Skala von 1 (sehr<br />

schlecht) bis 5 (sehr gut) mit gut bis sehr<br />

gut bewertet (ø = 4.3). Dies zeigen Aus-<br />

wertungen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung<br />

für das Jahr 2012. Armutsbetroffene<br />

Personen, d.h. Personen,<br />

deren Haushaltseinkommen kleiner ist<br />

als 50 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens<br />

(Median), stufen ihren Gesundheitszustand<br />

mit 4.0 etwas schlechter<br />

ein als die Schweizerische Bevölkerung.<br />

Ein Vergleich mit den durchschnittlichen<br />

Werten der Teilnehmenden zu Beginn des<br />

Integrationsprogramms zeigt, dass sie ihren<br />

Gesundheitszustand noch schlechter<br />

einstufen als armutsbetroffene Personen.<br />

Die Auswertungen machen weiter deutlich,<br />

dass die Teilnehmenden auch weniger<br />

zufrieden sind mit ihrem Gesundheitszustand<br />

als die Durchschnittsbevölkerung.<br />

Die Programmteilnehmenden erzielen auf<br />

einer Skala von 0 (gar nicht zufrieden) bis<br />

10 (vollständig zufrieden) durchschnittliche<br />

Werte von 5.7 (SI) respektive 7.4<br />

(BIP). Zusätzlich fühlen sie sich stärker<br />

durch gesundheitliche Probleme eingeschränkt.<br />

Weiter zeigen die Ergebnisse, dass<br />

die Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />

in der Sozialhilfe einer hohen<br />

psychischen Belastung ausgesetzt sind.<br />

ABB. 1: GESUNDHEITSRELEVANTE INDIKATOREN DER PROGRAMMTEILNEHMENDEN ZU BEGINN DES PRO-<br />

GRAMMS IM VERGLEICH MIT DURCHSCHNITTSWERTEN FÜR DIE SCHWEIZERISCHE BEVÖLKERUNG<br />

Gesundheitszustand<br />

Zufriedenheit mit der Gesundheit<br />

Energie und Vitalität (EVI)<br />

Psychische Belastung (DET PSY)<br />

3.5<br />

3.9<br />

4.0<br />

4.3<br />

5.7<br />

51.0<br />

62.4<br />

66.4<br />

71.6<br />

63.4<br />

61.2<br />

78.0<br />

83.1<br />

7.4<br />

7.8<br />

8.1<br />

1.0 2.0 3.0 4.0 5.0<br />

1 = sehr schlecht, 2 = eher schlecht,<br />

3 = mittelmäsig, 4 = gut, 5 = sehr gut<br />

0.0 2.0 4.0 6.0 8.0<br />

0 = gar nicht zufrieden bis<br />

10 = vollständig zufrieden<br />

Quelle: Online-Befragung der Programmteilnehmenden<br />

(2015/2016), BFS (SGB/SILC 2012); Berechnungen BFH<br />

10.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0<br />

0 = sehr tief bis 100 = sehr hoch 0 = sehr hoch bis 100 = sehr tief<br />

SI-Teilnehmende<br />

Armutsbetroffene CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />

BIP-Teilnehmende CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />

26 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>17</strong>


Dies kommt durch durchschnittliche Indexwerte<br />

von 63.4 respektive 61.2 als<br />

Mass für die psychische Belastung (DET<br />

PSY) zum Ausdruck. Aus einer klinischen<br />

Sicht besteht ein starker Zusammenhang<br />

zwischen psychischen Störungen und<br />

Werten kleiner oder gleich 52. Bei Werten<br />

zwischen 53 und 72 sind psychische Störungen<br />

wahrscheinlich. Höhere Werte verweisen<br />

auf eine gute psychische Gesundheit<br />

(BFS 2014). Ein weiterer Index zeigt<br />

zudem, dass die Programmteilnehmenden<br />

bei Programmbeginn über weniger Energie<br />

und Vitalität verfügen als Armutsbetroffene<br />

und Durchschnittsschweizer.<br />

Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />

Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />

bei den Programmteilnehmenden wurden<br />

mit Hilfe von 40 Indikatoren erhoben.<br />

Der Fokus des Indikatorensets liegt neben<br />

Schlüsselindikatoren zur beruflichen und<br />

materiellen Situation auf weichen Faktoren<br />

wie zum Beispiel der Grad der sozialen Integration<br />

oder der psychischen Stabilität einer<br />

Person.<br />

Nach der Datenbereinigung konnten<br />

die Angaben von 101 Programmteilnehmenden<br />

ausgewertet werden. Davon haben<br />

94 Personen die Programme vollständig<br />

absolviert. Sieben Personen haben die<br />

Programme aus unterschiedlichen Gründen<br />

vorzeitig verlassen. Ob diese Personen<br />

als Vergleichsgruppe verwendet werden,<br />

um die mögliche Entwicklung der Teilnehmenden<br />

zu beschreiben, falls sie nicht<br />

am Programm teilgenommen hätten, wird<br />

nach Abschluss der Fokusgespräche entschieden.<br />

Bei den vorliegenden Ergebnissen<br />

wird die Veränderung in den Indikatoren<br />

zwischen der Erhebung am Ende des<br />

Programms und der Befragung zu Beginn<br />

des Programms als Wirkung interpretiert.<br />

Bei den BIP-Teilnehmenden sind die<br />

grössten Veränderungen im Bereich der<br />

harten Faktoren, der beruflichen und materiellen<br />

Situation, eingetreten. 26 Prozent<br />

haben eine Lehrstelle oder eine Arbeitsstelle<br />

gefunden, weitere 26 Prozent ein<br />

Praktikum. Bei rund der Hälfte der Teilnehmenden<br />

findet keine berufliche Veränderung<br />

statt. Rund 9 Prozent konnten sich<br />

nach Beendigung des Programms von der<br />

Sozialhilfe ablösen und die Schuldenhöhe<br />

ist im Durchschnitt um 3900 Franken gesunken.<br />

Die Zahl der Bewerbungen stieg<br />

im Durchschnitt nur unwesentlich von 23<br />

Bewerbungen in sechs Monaten auf 25.<br />

Die Zahl der Vorstellungsgespräche blieb<br />

praktisch unverändert. Neben diesen Wirkungen<br />

bei den harten Faktoren zeigen<br />

sich die grössten Veränderungen in der<br />

Gruppe der BIP-Teilnehmenden bei der<br />

Tagesstruktur. Die Teilnehmenden stehen<br />

während des Programms im Durchschnitt<br />

eine Stunde früher auf als zuvor. Sie nehmen<br />

auch mehr Mahlzeiten zu sich als<br />

vor dem Programm. Der Indikator zu den<br />

Zukunftsaussichten zeigt zudem, dass die<br />

Unsicherheit bei den BIP-Teilnehmenden<br />

tendenziell abnimmt.<br />

Die grössten Veränderungen sind bei<br />

den SI-Teilnehmenden im Bereich der<br />

Gesundheit auszumachen. Sie fühlen sich<br />

durch gesundheitliche Probleme weniger<br />

stark eingeschränkt und ihre Zufriedenheit<br />

mit der Gesundheit steigt. Der<br />

durchschnittliche Wert dieses Indikators<br />

erhöht sich von 5.7 auf 6.9 Punkte. Die<br />

Teilnehmenden erreichen damit ein mit<br />

den BIP-Teilnehmenden vergleichbares<br />

Niveau. Diese gesundheitliche Verbesserung<br />

schlägt sich auch in der Anzahl der<br />

Arztbesuche nieder. Vor dem Programm<br />

suchten die SI-Teilnehmenden in einem<br />

halben Jahr 7 Mal eine Ärztin oder einen<br />

Arzt (ohne Zahnarzt) auf. Während des Programms<br />

senkt sich dieser Durchschnittswert<br />

auf fünf Arztbesuche. Die SI-Teilnehmenden<br />

fühlen sich bei Programm ende<br />

zudem weniger häufig einsam, was darauf<br />

hinweist, dass auch in der Dimension der<br />

sozialen Integration Veränderungen ausgelöst<br />

werden. Die Auswertungen zeigen<br />

auch, dass sich die Zukunftsaussichten der<br />

Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />

Integration verbessern.<br />

Die Veränderungen in den einzelnen<br />

Indikatoren können standardisiert und<br />

zusammengefasst auf der Ebene von sechs<br />

Wirkungsdimensionen ausgewiesen werden<br />

(vgl. Abb.2). Die Netzdiagramme für<br />

die zwei Untersuchungsgruppen zeigen,<br />

dass bei den BIP-Teilnehmenden die<br />

grössten Wirkungen in der Dimension «Berufliche<br />

und materielle Situation» auszumachen<br />

sind. Bei den SI-Teilnehmenden<br />

ist es die Dimension «Physische und psychische<br />

Gesundheit». Dabei handelt es<br />

sich mit durchschnittlichen Werten nach<br />

Cohens d von 0.37 (BIP) respektive 0.26<br />

(SI) um eher kleine Veränderungen. An<br />

zweiter Stelle im Hinblick auf positive Veränderungen<br />

folgt in beiden Gruppen die<br />

Wirkungsdimension Gesundheitsverhalten<br />

und Tagesstruktur. Aus Abbildung 2<br />

wird auch deutlich, in welchen Dimensionen<br />

kaum Veränderungen eingetreten<br />

sind. So konnten weder die BIP- noch die<br />

SI-Teilnehmenden ihre Sprach- und Ar- <br />

ABB. 2: EFFEKTSTÄRKE AUF EBENE DER DIMENSIONEN<br />

FÜR SI- UND BIP-TEILNEHMENDE<br />

Ein Cohens d zwischen 0.2<br />

und 0.5 bedeutet einen<br />

kleinen, zwischen 0.5 und 0.8<br />

einen mittleren Effekt. d grösser<br />

als 0.8 bedeutet einen<br />

starken Effekt. Quelle: Online-<br />

Befragung der Programmteilnehmenden<br />

(2015/2016);<br />

Berechnungen BFH<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

2/<strong>17</strong> <strong>ZESO</strong><br />

27


eitskompetenzen markant verbessern.<br />

Auch in der Dimension «Motivation und<br />

Zukunftsperspektiven» lassen sich keine<br />

bedeutenden Veränderungen feststellen.<br />

In der Dimension «Soziale Integration» ist<br />

bei den SI-Teilnehmenden ein positiver<br />

Ausschlag zu verzeichnen.<br />

Die Programme<br />

wirken vor allem<br />

im physischen<br />

und psychischen<br />

Bereich positiv<br />

Multivariate Auswertungen<br />

Welche individuellen Faktoren beeinflussen<br />

die Wirkungen der Integrationsprogramme?<br />

Dieser Frage wurde mit Hilfe<br />

von multivariaten Analysen nachgegangen.<br />

Mit Blick auf die berufliche Integration<br />

kann festgehalten werden, dass sich bei<br />

den BIP-Teilnehmenden Migranten weniger<br />

gut integrieren als Schweizerinnen<br />

und Schweizer. Hingegen spielt bei den<br />

BIP- Teil neh menden weder das Alter, das<br />

Geschlecht, der Zivilstand noch die Dauer<br />

des Sozialhilfebezugs sowie die frühere<br />

Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />

eine Rolle dabei, ob sie eine Anschlusslösung<br />

finden. SI-Teilnehmende mit einem<br />

Abschluss der Tertiärstufe finden häufiger<br />

eine Praktikumsstelle als Personen mit einer<br />

Berufsbildung. SI-Teilnehmende, die<br />

während der Programmlaufzeit heiraten,<br />

treten weniger häufig nach Programmende<br />

eine Praktikumsstelle an. Neben diesen<br />

Zusammenhängen lassen sich vereinzelt<br />

Geschlechter- und Alterseffekte feststellen.<br />

Beispielsweise steigt die Zufriedenheit<br />

mit der Gesundheit bei den älteren<br />

Teilnehmenden im SI-Programm stärker,<br />

während dieser Effekt bei den BIP-Teilnehmenden<br />

ein negatives Vorzeichen hat.<br />

In der Gruppe der BIP-Teilnehmenden<br />

kann festgestellt werden, dass sich Frauen<br />

gegenüber Männern in zwei Indikatoren<br />

zur Tagesstruktur (Mahlzeiten, Verlassen<br />

des Hauses) stärker verbessern.<br />

Die multivariaten Auswertungen zeigen,<br />

dass sich biografische Ereignisse<br />

während des Programmbesuchs auf die<br />

Gesundheit auswirken können. So hat<br />

zum Beispiel sowohl bei den SI- wie auch<br />

bei den BIP-Teilnehmenden der Tod eines<br />

Haustiers einen negativen Einfluss auf die<br />

Zufriedenheit mit der Gesundheit. Lassen<br />

sich BIP-Teilnehmende scheiden, fühlen<br />

sie sich stärker durch gesundheitliche Probleme<br />

eingeschränkt. BIP-Teilnehmende,<br />

die heiraten, reduzieren ihren Alkoholkonsum<br />

stärker und SI-Teilnehmende<br />

verlassen im Fall einer Heirat häufiger<br />

das Haus, stehen aber im Durchschnitt<br />

später auf. Diese Ergebnisse zeigen, dass<br />

Veränderungen in den gemessenen Wirkungsdimensionen<br />

nicht nur durch den<br />

Programmbesuch, sondern auch durch<br />

biografische Ereignisse ausgelöst werden<br />

können. Umso wichtiger ist es, solche negativen<br />

oder positiven Lebensereignisse<br />

mithilfe des Messinstruments zu erfassen.<br />

Positive Wirkungen<br />

Die vorliegenden Ergebnisse weisen darauf<br />

hin, dass die Integrationsprogramme positive<br />

Wirkungen entfalten. Am deutlichsten<br />

sind diese Effekte in der Dimension «Physische<br />

und psychische Gesundheit» bei den<br />

SI-Teilnehmenden nachzuweisen. Bei den<br />

BIP-Teilnehmenden treten die deutlichsten<br />

Effekte in der Dimension «Berufliche<br />

und materielle Situation» auf. Die weiteren<br />

Auswertungen der dritten Befragungswelle<br />

und der Fokusgruppen werden zusätzliche<br />

Informationen zur Wirkung von Integrationsprogrammen<br />

beisteuern und das hier<br />

skizzierte Wirkungsprofil von SI- und BIP-<br />

Programmen vervollständigen. •<br />

Thomas Oesch<br />

Berner Fachhochschule,<br />

Fachbereich Soziale Arbeit<br />

Peter Neuenschwander<br />

Berner Fachhochschule,<br />

Fachbereich Soziale Arbeit<br />

DIE STUDIE<br />

Die BFH führte die Untersuchung in Zusammenarbeit<br />

mit der Beratungsfirma socialdesign sowie<br />

fünf bernischen Programmanbietern durch. An<br />

der Studie beteiligten sich AMI-Aktive Integration,<br />

die GAD-Stiftung, das Kompetenzzentrum Arbeit,<br />

der Verein maxi.mumm sowie das Schweizerische<br />

Arbeiterhilfswerk. Die Ergebnisse beruhen auf<br />

einer Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />

in diesen fünf Institutionen: 290 wurden<br />

in einer ersten Befragungswelle bei Programmeintritt<br />

zwischen März bis Ende November 2015<br />

befragt und 137 zum Zeitpunkt des Programmaustritts<br />

zwischen Juni 2015 und Ende Mai 2016<br />

(2. Befragungswelle). Zudem konnte ein Teil der<br />

Befragten zirka ein Jahr nach Programmaustritt<br />

telefonisch befragt werden (3. Befragungswelle).<br />

Diese Nachbefragung soll zeigen, ob die Wirkungen<br />

der Integrationsprogramme nachhaltig<br />

sind. Zusätzlich wurden vier Fokusgruppen mit<br />

Teilnehmenden von Integrationsprogrammen<br />

durchgeführt, um die quantitativen Umfrageergebnisse<br />

mit qualitativen Aussagen von<br />

Programmteilnehmenden zu vertiefen.<br />

In der von der Kommission für Technologie und<br />

Innovation (KTI) geförderten Untersuchung<br />

wurde zwischen zwei Teilnehmergruppen<br />

unterschieden. Bei Teilnehmenden mit dem Ziel<br />

der sozialen Integration (SI) steht die soziale<br />

Stabilisierung im Vordergrund. Die berufliche<br />

Integration ist bei ihnen kein explizites Ziel. BIP-<br />

Teilnehmende hingegen streben mittelfristig eine<br />

berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt an.<br />

Um die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe systematisch zu untersuchen,<br />

hat die BFH in Zusammenarbeit mit socialdesign<br />

ein umfassendes Wirkungsmodell erarbeitet.<br />

Darin werden sämtliche relevanten Faktoren, die<br />

einen Einfluss auf die beabsichtigten Wirkungen<br />

haben, abgebildet. Neben den Voraussetzungen,<br />

welche die Teilnehmenden beim Eintritt in das<br />

Programm mitbringen (Income), wurden die eingesetzten<br />

Ressourcen (Input) sowie verschiedene<br />

Leistungselemente wie Coachings und<br />

Beratungsgespräche (Output) bei den Anbietern<br />

erfasst. Der Schwerpunkt der Erhebung lag auf<br />

der Erfassung der Wirkungen der Programme<br />

bei den Teilnehmenden (Outcome). Auf dieser<br />

Ebene wurden zum Beispiel Informationen<br />

zur beruflichen und materiellen Situation, zur<br />

sozialen Integration, zur Gesundheit und zu Arbeitskompetenzen<br />

der Teilnehmenden erhoben.<br />

Ob Integrationsprogramme Wirkungen entfalten<br />

oder nicht, hängt nicht zuletzt auch von<br />

programmexternen Bedingungen ab. Einschneidende<br />

biografische Ereignisse während der<br />

Laufzeit des Programms (zum Beispiel der Tod<br />

einer nahestehenden Person oder eine Heirat)<br />

wurden aus diesem Grund ebenfalls erfasst, um<br />

allfällige Zusammenhänge mit Wirkungsindikatoren<br />

abbilden zu können.<br />

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Zeit der Schwebe sinnvoll nutzen<br />

REPORTAGE Während der Wartezeit im Asylverfahren lernen und arbeiten: Das ist die Devise<br />

des neuen Beschäftigungsprogramms In-Limbo, das von Büren an der Aare aus in den<br />

Kollektivunterkünften des Seelands derzeit eingeführt wird. Die Asylsuchenden machen durch das<br />

Programm einen ersten Integrationsschritt in den Schweizer Arbeitsmarkt, können ihre erworbenen<br />

Kenntnisse aber auch bei einer allfälligen Rückkehr in die Heimat brauchen.<br />

Es ist unüblich ruhig an diesem Donnerstag<br />

vor Ostern. In der Kollektivunterkunft<br />

Lyss, wo viele Familien leben und ansonsten<br />

ein reges Gewusel im und um das Haus<br />

herrscht, sind heute viele Asylsuchende am<br />

Fasten und bleiben ruhig in ihren Zimmern.<br />

Auf dem Gelände um das Haus im<br />

Lysser Industrieviertel befinden sich ein<br />

Volleyballfeld, begrünte Hochbeete und<br />

ein Sandkasten. Das Besondere daran ist:<br />

Die Asylsuchenden haben sich all dies selber<br />

gebaut − aus Material, das nicht mehr<br />

gebraucht wurde. So fertigten sie aus alten<br />

Holzpalletten die Hochbeete und benutzten<br />

die Holzplatten eines nicht mehr benutzten<br />

Gartenhauses für den Sandkasten.<br />

Auch die Gartenplatten haben sie selber<br />

verlegt. Sie haben dies im Rahmen des Beschäftigungsprogrammes<br />

In-Limbo getan.<br />

Dieses wurde zunächst im vergangenen<br />

Jahr in der Kollektivunterkunft Büren a.A.<br />

angeboten und wird nun nach und nach<br />

auf die anderen von Asyl Biel & Region<br />

(ABR) betriebenen Unterkünften im Seeland<br />

und in Enggistein eingeführt.<br />

Bereits ab dem zweiten Tag<br />

In-Limbo ist in seiner Art neu. Das Programm<br />

bietet Flüchtlingen nicht nur Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />

sondern beinhaltet<br />

auch Bildung. Speziell daran ist,<br />

dass die Asylsuchenden bereits ab dem<br />

zweiten Tag nach ihrer Ankunft in der Kollektivunterkunft<br />

mitmachen können − unabhängig<br />

davon, ob sie in der Schweiz bleiben<br />

oder in ihr Heimatland zurückkehren.<br />

Dabei ist der Name Programm: Die Teilnehmer<br />

sollen die ungewisse Zeit der<br />

Schwebe während ihres hängigen Asylverfahrens<br />

sinnstiftend nutzen können. Sei es<br />

als erster Integrationsschritt in den Schweizer<br />

Arbeitsmarkt oder als Basis für eine<br />

existenzsichernde Tätigkeit in der Heimat.<br />

Jonas Beer hat ein erstes Programm zusammen<br />

mit anderen von der unkonventionellen<br />

Business-schule Kaospilots entwickelt.<br />

Ein Zivildienstleistender, der in der<br />

Kollektivunterkunft Büren a.A. arbeitete,<br />

hatte sie dazu geholt, um einen Business<br />

Plan zu entwickeln, wie mit Asylsuchenden<br />

Produkte hergestellt werden könnten. Daraus<br />

haben Markaus Schneider, Leiter der<br />

Kollektivunterkunft Büren a.A., und Jonas<br />

Beer das In-Limbo-Konzept entwickelt.<br />

Sie dachten dabei vor allem darüber nach,<br />

welchen Mehrwert es für alle bringen würde,<br />

wenn die teils lange Zeit des Wartens<br />

mit Arbeit und Bildung verbracht werden<br />

könnte.<br />

Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit<br />

Heute ist Jonas Beer Verantwortlicher Organisationsentwicklung<br />

bei In-Limbo. Das<br />

Programm kommt gut an: In Büren a.A.,<br />

wo 90 Menschen wohnen, machen drei<br />

Viertel bei In-Limbo mit. Das ist nicht<br />

selbstverständlich, wird doch von den Asylsuchenden<br />

auch so einiges verlangt. Sagen<br />

sie nach einer kurzen Probezeit zu, ist ihre<br />

Teilnahme verbindlich. Das Programm ist<br />

in drei Phasen aufgeteilt: In einer ersten,<br />

drei Monate dauernden Phase kommen<br />

die Asylsuchenden in Berührung mit der<br />

hiesigen Sprache und besuchen Workshops<br />

zum Leben in der Schweiz. «Sie lernen<br />

nebst Geografie und Ähnlichem auch<br />

Praktisches zum alltäglichen Leben in der<br />

Schweiz, etwa wie man ein Billett am Automaten<br />

löst», erklärt Jonas Beer. In dieser<br />

ersten Zeit sind die Asylsuchenden unter<br />

anderem mit dem Putzen der Asylunterkunft<br />

beschäftigt. Ihnen werden wichtige<br />

Grundwerte des schweizerischen Arbeitsmarktes<br />

vermittelt, wie Pünktlichkeit und<br />

Zuverlässigkeit. Zu Beginn habe er diese<br />

erste Phase als nicht so wichtig erachtet, erinnert<br />

sich Beer. «Doch das Gegenteil ist<br />

der Fall.» In diesen ersten Wochen klären<br />

die In-Limbo-Mitarbeitenden auch das Potential<br />

der Asylsuchenden ab. Nach diesen<br />

Lernen statt warten − die Asylsuchenden<br />

erwerben in der Manufaktur praktische<br />

Kompetenzen.<br />

Bilder: Annette Boutellier<br />

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STEIGENDE SOZIALHILFE-<br />

KOSTEN IM ASYLBEREICH<br />

Bund, Kantone und Gemeinden sind mit<br />

wachsenden Sozialhilfekosten im Asylbereich<br />

konfrontiert. Nach Auslaufen der Pauschalabgeltung<br />

des Bundes nach fünf respektive sieben<br />

Jahren müssen die Kantone und Gemeinden die<br />

Sozialhilfe übernehmen. Die SKOS geht in ihren<br />

Berechnungen mittelfristig von einer jährlichen<br />

Steigerung von 4 Prozent der Sozialhilfeaufwendungen<br />

von Kantonen und Gemeinden aus, allein<br />

aufgrund der Entwicklungen im Asylwesen. Oft<br />

entsprechen die Kenntnisse der Landessprache<br />

und die beruflichen Qualifikationen von Personen<br />

aus dem Asylbereich nicht den Anforderungen<br />

des Arbeitsmarktes. Denn gesucht sind fast<br />

ausschliesslich Fachkräfte, zu integrieren sind<br />

jedoch meist junge Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene<br />

oder Flüchtlinge mit wenig Schulbildung<br />

und Arbeitserfahrung. Zahlen zeigen, dass<br />

nach fünf Jahren in der Schweiz die Erwerbstätigenquote<br />

von Flüchtlingen bei 31 Prozent und bei<br />

vorläufig Aufgenommenen bei 16 Prozent liegt.<br />

Trotzdem sind viele auf ergänzende Sozialhilfe<br />

angewiesen. Das Beschäftigungsprogramm<br />

In-Limbo hat deshalb zum Ziel, die Erwerbstätigenquote<br />

bei Personen aus dem Asylbereich zu<br />

erhöhen und damit längerfristig die Sozialhilfeausgaben<br />

zu reduzieren. (car)<br />

Einführungswochen können die Asylsuchenden<br />

ihre Arbeit in einer der diversen<br />

Projektgruppen aufnehmen, beispielsweise<br />

in der Velowerkstatt, Gärtnerei, Näherei,<br />

Imkerei oder der Manufaktur. In einer dritten<br />

Phase können die Personen individuell<br />

für externe Arbeitseinsätze vermittelt werden.<br />

«Da sehen wir ein grosses Potenzial»,<br />

sagt Jonas Beer. Indes ist dies aus rechtlichen<br />

Gründen her schwierig umzusetzen,<br />

da viele Asylsuchende den N-Ausweis besitzen<br />

und deshalb noch nicht als reguläre Arbeitskraft<br />

eingesetzt werden dürfen.<br />

Arbeit motiviert<br />

«Tu was du liebst», steht auf dem kleinen<br />

Block geschrieben, der in die Hülle aus<br />

Kaffeesackstoff gelegt werden kann. Die<br />

Asylsuchenden aus Eritrea, Syrien und<br />

Äthiopien stehen in der Manufaktur um einen<br />

Tisch. Sie stellen Umschläge für Agenden<br />

oder Blöcke her und scheinen ihre Arbeit<br />

zu mögen. Konzentriert schneiden sie<br />

den Stoff nach der Vorlage des Schnittmusters<br />

zu, kleben eine Verstärkung auf. Der<br />

33-jährige Ibrahim Agri, der vor zweieinhalb<br />

Jahren aus Syrien in die Schweiz floh,<br />

kennt das Leben in der Asylunterkunft nur<br />

zu gut. «Früher gab es keine Kurse», erinnert<br />

er sich. «Viele Menschen langweilten<br />

sich und verbrachten zwölf Stunden am<br />

Tag mit Schlafen.» Dank In-Limbo hätten<br />

sie nun die Möglichkeit, etwas zu tun und<br />

zu lernen, Erfahrungen zu sammeln. Das<br />

sei gut für die Motivation. Er selber bekam<br />

vor einem Jahr einen positiven Asylent-<br />

scheid und kann nun als Praktikant in der<br />

Kollektivunterkunft in Büren arbeiten.<br />

Ibrahim Agri, der nebst Deutsch auch Kurdisch,<br />

Arabisch, Türkisch, Englisch und<br />

Französisch spricht, träumt davon, eines<br />

Tages als Sozialarbeiter in der Schweiz arbeiten<br />

zu können. Auch die 23-jährige Hamida<br />

aus Afghanistan ist sehr motiviert. Ihre<br />

beiden Kinder spielen unweit des<br />

Arbeitstisches mit Legos. Sie selber ist in<br />

die Arbeit vertieft und möchte noch rasch<br />

ihren Arbeitsschritt beenden, bevor sie sich<br />

mit den andern in die Pause begibt. •<br />

Catherine Arber<br />

www.in-limbo.ch<br />

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