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Lebenswert 1/2017

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Mehr Wissen<br />

Gedanken sind –<br />

nichts als Gedanken<br />

Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen hält seine Gedanken für den ultimativen Ratgeber in allen<br />

Lebenssituationen. Aber Achtung: Glauben Sie nicht alles, was Sie denken!<br />

Wenn du denkst, du denkst, dann<br />

denkst du nur, zu denkst“, sang<br />

Juliane Werding in einem Schlager<br />

der 70er-Jahre. Tatsächlich<br />

denken wir andauernd, der denkende<br />

Zustand ist die Grundhaltung des Homo<br />

sapiens, des „verstehenden, wissenden“<br />

Menschen. Wir denken auch, während wir<br />

schlafen. Unser Gehirn ist nie abgeschaltet<br />

(außer vielleicht bei einigen Meistern<br />

des Zen-Buddhismus): Es ist eine Schaltzentrale<br />

der Superlative, die mit einer<br />

minimalen Leistungsversorgung von umgerechnet<br />

20 Watt auskommt. „Allein<br />

über die Augen prasseln pro Sekunde Datenmengen<br />

von etwa 5 Mrd. Bit auf uns<br />

ein. Eine Größenordnung, die der Denkapparat<br />

jeden Tag mühelos bewältigt!“<br />

(aus: TK aktuell)<br />

Die 100 Mrd. Nervenzellen des Gehirns<br />

sorgen dafür, dass Informationen von den<br />

einen Synapsen zu anderen transportiert<br />

werden und an der richtigen Hirnregion<br />

andocken. Reines Faktenwissen wird zum<br />

Beispiel im linken Gehirnareal gespeichert,<br />

in der rechten Gehirnhälfte gibt es<br />

einen speziellen Speicherplatz für Erinnerungen.<br />

Dafür werden entsprechende<br />

Nervenverbindungen gewertet und sortiert,<br />

vor allem aussortiert: Von den Tausenden<br />

Informationen, die das Gehirn in<br />

jeder Sekunde aufnimmt, können nur 2 %<br />

verarbeitet werden. Davon gespeichert<br />

wird nur ein minimaler Anteil, nämlich der,<br />

dem eine Bedeutung zugewiesen wird.<br />

Das Ding mit dem Ich<br />

Der Sprung von den Proteinen des Gehirns<br />

zu dem, was unter Sinn verstanden<br />

wird, ist gewaltig. Hirnforscher beschäftigen<br />

sich mit Neuronenströmen, Signalübertragung,<br />

elektrischen Ladungen<br />

usw., aber der Mechanismus, der Geist,<br />

Sinn und Verstand erzeugt, ist noch<br />

längst nicht erforscht. Am Ende langer Gedankengänge<br />

– die Neuronen bilden eine<br />

5,8 Mio. km lange Autobahn – kommt der<br />

denkende Mensch an dem Punkt an, an<br />

dem Sokrates sagte: Ich weiß, dass ich<br />

nichts weiß. Der Mensch, der zur absoluten<br />

und letzten Gewissheit über sich und<br />

die Welt vorstoßen wollte, war zwei Jahrtausende<br />

später René Descartes. Nach<br />

vielen Überlegungen kam er zum Schluss:<br />

Cogito ergo sum – „Ich denke, also bin<br />

ich“. Woher weiß ich, wer ich bin? Durch<br />

mein Denken, so seine Überzeugung. Die<br />

Psychologie des 20. Jahrhunderts verabschiedete<br />

sich vom Logozentrismus<br />

des Ich-Begriffs, vielleicht am radikalsten<br />

Jacques Lacan: „Ich denke da, wo ich nicht<br />

bin, also bin ich da, wo ich nicht denke.“<br />

Kurzschlüsse<br />

Da stellt sich die Frage: Wo bin ich denn<br />

wirklich? Sich mit der Masse der Denkprozesse<br />

zu identifizieren, die in jeder Sekunde<br />

das Hirn fluten, führt auf alle Fälle in<br />

die Irre. Denn unser „Dachstübchen“ ist<br />

voll von gespeicherten Erfahrungen, Erlebnissen,<br />

Vorstellungen, Irrungen, (Trug-)<br />

Bildern. Dazu legen hier die vielen Ich-<br />

Zustände ihre Daten ab: das Körper-Ich,<br />

das perspektivische Ich, das Kontroll-Ich,<br />

das autobiografische Ich, das moralische<br />

Ich, das reflektierende Ich mit seinem<br />

Selbstkonzept (wie nehme ich mich<br />

wahr?) und das Selbstwertgefühl (wie<br />

schneide ich dabei ab?). Zu allen Ich-Zuständen<br />

lassen sich Störungen feststellen,<br />

so wie sie der Neurologe Oliver Sacks<br />

in seinem Buch „Der Mann, der seine Frau<br />

mit einem Hut verwechselte“ beschreibt.<br />

Doch es müssen nicht gleich psychische<br />

Leiden sein, auch so macht uns das Denken<br />

schon genügend Ärger. Zum Beispiel,<br />

wenn wir einer falschen Überzeugung aufsitzen.<br />

Bis die Wahrheit erkannt ist, ist es<br />

oft zu spät, siehe Romeo, der sich vergiftet,<br />

weil er denkt, dass seine Julia tot sei.<br />

Die Macht von Gedanken, die nicht<br />

hinterfragt werden, ist so groß, dass sie<br />

selbst Materie bewegen können. So werden<br />

Menschen durch Placebos geheilt;<br />

andere, denen man eine Fehldiagnose<br />

gestellt hat, erkranken. Was Gedanken<br />

anrichten können, die sich andauernd im<br />

Kreis drehen, kann derjenige bestätigen,<br />

der sich durch ständiges Zweifeln und<br />

Schwarzsehen Rückenschmerzen oder<br />

Depressionen einhandelt. Das Denken ist<br />

keineswegs immer ein guter Ratgeber. Es<br />

hat vielmehr etwas von einem sehr komplexen<br />

Werkzeug an sich, das praktisch<br />

ist, aber auch seine Tücken hat. Man<br />

muss damit umgehen können.<br />

lebenswert 25

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