Rundbrief der Emmausgemeinschaft - Ausgabe 03|17
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6 | Gastgeschichte<br />
„Seit mir Gott diese Frau geschickt hat,<br />
bin ich ein an<strong>der</strong>er Mensch“<br />
Der „Fetzerl“<br />
Bis zu meinem 30. Lebensjahr hatte ich mich nie mit Randgruppen beschäftigt. Nach<br />
meinem ersten Cursillo (kleiner Glaubenskurs) und Kontakten zu Emmaus St. Pölten<br />
wurde ich 1989 Mitarbeiter bei einem Gefangenen-Cursillo in <strong>der</strong> Justizanstalt Stein.<br />
von Kurt Geiger<br />
Ein tiefgreifendes Erlebnis. Die umwerfende<br />
Ehrlichkeit und die Einblicke<br />
in die Not <strong>der</strong> Gefangenen, aber<br />
auch ihre tiefe Gläubigkeit waren Schlüsselerfahrungen<br />
für mich. Diese Menschen<br />
sind – trotz oft schwerwiegen<strong>der</strong><br />
Delikte – primär keine Verbrecher, son<strong>der</strong>n<br />
leidende Menschen. Etwa einer <strong>der</strong><br />
Kursteilnehmer, ein unscheinbarer Mann<br />
namens „Fetzerl“. Rund um seine Schädeldecke<br />
eine Reihe blutiger Injektionseinstiche.<br />
1979 hatte Fetzerl in Stein eine<br />
Gehirnblutung. Sie ließen ihn<br />
neun Tage liegen. Erst als er<br />
ein Fenster des Anstaltsspitals<br />
zertrümmerte, kam<br />
er nach Wien. Dort rettete<br />
ihn eine siebenstündige<br />
OP am offenen<br />
Gehirn. Da beim<br />
Wie<strong>der</strong>aufsetzen <strong>der</strong><br />
Schädeldecke ein Nerv<br />
eingeklemmt wurde,<br />
bekam Fetzerl vier Wochen<br />
später Schmerzen.<br />
Außerdem verlor er<br />
durch die OP den Geruchs-<br />
und Geschmackssinn.<br />
Die Therapie seit damals:<br />
ein bis zwei Mal pro Woche 10-15<br />
Injektionsstiche in Kopf und Genick – bis<br />
heute insgesamt 29.760 Einstiche. Heute<br />
ist Reinhard – so sein Taufname – über<br />
79 Jahre alt und seit 15 Jahren in Freiheit.<br />
Sein karges und beschwerliches Leben<br />
meistert er mit seiner Mindestsicherung.<br />
Kreuze – immer wie<strong>der</strong> Kreuze …<br />
Was waren die Verbrechen von Reinhard?<br />
Ein psychopathischer Zwang<br />
hatte ihn immer wie<strong>der</strong> auf<br />
Friedhöfe getrieben, wo<br />
er Sakralbil<strong>der</strong> abmontierte.<br />
Erst eine mutige<br />
Frau – die selbst zu den<br />
Diebstahlsopfern gehörte<br />
– erkannte bei<br />
diesem Rechtsbrecher<br />
mit dutzenden Eigentumsdelikten<br />
laut im<br />
Gerichtssaal: „Reinhard<br />
gehört nicht ins Gefängnis,<br />
son<strong>der</strong>n in eine<br />
psychotherapeutische<br />
Einrichtung!“ Nach einigen<br />
Umwegen und Problemen<br />
– die psychologische Behandlung<br />
musste sich Reinhard<br />
hartnäckig erkämpfen<br />
Foto: chronicler/shutterstock.com