ZESO_1-2015_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
01/15<br />
SOZIALSTAAT sozialstaatliche modelle im vergleich grundbedarf<br />
aktuelle praktiken der kantone Grundrechte und Sozialhilfe Leitfaden mit<br />
praxisbeispielen medienkritik journalist daniel Binswanger im <strong>ZESO</strong>-Interview
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
MITGLIEDERVERSAMMLUNG<br />
SOZIALHILFE – QUO VADIS?<br />
Donnerstag, 28. Mai <strong>2015</strong><br />
FHNW Olten<br />
Die soziale Sicherung und die Sozialhilfe im Besonderen stehen infolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher<br />
Veränderungen auf dem Prüfstand. Die Globalisierung und universelle Mobilität prägen die<br />
Diskussion über die Ausgestaltung der Sozialhilfe ebenso wie die öffentliche und politische Diskussion.<br />
Die Mitgliederversammlung der SKOS beleuchtet die Bedingungen, innerhalb derer die Sozialhilfe zum<br />
Tragen kommt, aus kulturwissenschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Perspektive und liefert<br />
Orientierungspunkte für ihre Weiterentwicklung. In Ergänzung zu diesem Aussenblick werden die<br />
Eckpunkte der laufenden Richtlinienrevision erörtert.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Rechtsberatung für SKOS-Mitglieder<br />
Sozialarbeit ist stark auf juristisches Wissen angewiesen. Viele Fragen können nur von Expertinnen und<br />
Experten beantwortet werden. Die SKOS ermöglicht ihren Mitgliedern einen privilegierten Zugang zum<br />
Beratungszentrum der Zeitschrift «Beobachter», das kompetent und umfassend Auskunft zu Rechtsfragen<br />
gibt, die sich in der Praxis der sozialen Arbeit stellen.<br />
SKOS-Mitgliedern stehen folgende Dienstleistungen des «Beobachters» zur Verfügung:<br />
- Rechtsberatung per E-Mail und Telefon (Montag bis Freitag)<br />
- Dossierstudium<br />
- Zugriff auf die Beratungsplattform HelpOnline.ch rund um die Uhr<br />
- Abonnement der Zeitschriften «Beobachter» und «Beobachter Natur»<br />
Ab 660 Franken pro Jahr. Der Preis orientiert sich an der Anzahl Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und an<br />
den gewünschten Beratungsleistungen.<br />
Jetzt bestellen: www.skos.ch Sozialhilfe und Praxis Dienstleistungen
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
ausbalancieren. verbessern!<br />
IV-Revision, ALV-Revision, Altersvorsorge und Ausgestaltung<br />
der Sozialhilfe: das Gesamtwerk der sozialen Sicherung<br />
muss gepflegt und unterhalten werden. Im aktuellen<br />
Schwerpunkt haben wir uns dem Thema Sozialstaat aus<br />
einer übergeordneten Perspektive angenähert, indem wir<br />
über die Landesgrenzen hinaus nach Deutschland, Frankreich<br />
und den USA blicken. Die vor Ort entstandenen Fachbeiträge<br />
illustrieren die Anfänge dieser Sozialstaaten und<br />
deren Weiterentwicklung bis in die heutige Zeit. Es zeigt<br />
sich, dass diese Staaten ähnliche Entwicklungen wie die<br />
Schweiz durchlaufen haben und dass sie stärker noch als<br />
die Schweiz mit steigenden Kosten und Finanzierungsengpässen<br />
konfrontiert sind.<br />
Was sich auch zeigt ist, dass ein stetiges Ausbalancieren<br />
zwischen dem Nötigen und dem Möglichen als ein gesetzmässiger<br />
Prozess verstanden werden muss und dass die<br />
öffentliche Debatte über die Ausgestaltung des Sozialstaats<br />
immer auch geprägt ist von politischen Meinungen, die den<br />
Umfang, den Sinn und die Wirkung des Sozialstaats unterschiedlich<br />
gewichten. Nationalratspräsident Stéphane<br />
Rossini, ein ausgewiesener Spezialist für Themen der Sozialpolitik<br />
und Sozialarbeit, ruft im einleitenden Beitrag aber<br />
auch in Erinnerung, dass Reformen bei den Sozialwerken<br />
nicht auf Einsparungen reduziert werden dürfen, sondern<br />
immer auf Verbesserungen zielen müssen. Wie diese auf die<br />
Sozialhilfe bezogen aussehen könnten, legen zwei Sozialamtsvorsteherinnen<br />
dar.<br />
Auch die <strong>ZESO</strong> will sich inhaltlich weiterentwickeln. Mit der<br />
neuen Rubrik «Forum» haben wir einen Raum geschaffen<br />
für Meinungen und Diskussionen (Seite 34). Der erste Beitrag<br />
stammt vom Sozialhilfekritiker und Könizer Gemeindepräsident<br />
Ueli Studer.<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 1/15 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT14–25<br />
sozialstaat<br />
Der Schwerpunkt stellt die Ausgestaltung des<br />
Sozialstaats im Allgemeinen und der Sozialhilfe<br />
im Speziellen in ein «internationales» Licht.<br />
Welche Errungenschaften bewähren sich und<br />
welche systemrelevanten Probleme zeigen sich<br />
in anderen industriell hochentwickelten Staaten?<br />
Ergänzend dazu ein Plädoyer von Nationalratspräsident<br />
Stéphane Rossini für eine dynamische<br />
Anpassung der Sozialwerke und Einschätzungen<br />
von zwei Sozialamtsleiterinnen.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Gülcan Akkaya, Sabine Boss,<br />
Dominik Grillmayer, Christin Kehrli, Paula Lanfranconi,<br />
Marie-Christine Mousson, Paul Rechsteiner, Stéphane Rossini,<br />
Renzo Ruf, Mario Stübi, Ueli Studer, Ruth Ziörjen Titelbild Rudolf<br />
Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat<br />
Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Einzelnummer<br />
CHF 25.–. Jahresabonnement ausland CHF 120.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang<br />
Bild: Rudolf Steiner<br />
Erscheinungsdatum: 9. März <strong>2015</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2015</strong>.<br />
2 ZeSo 1/15 inhalt
INHALT<br />
5 Steuerfreiheit des Existenzminimums<br />
statt Sozialhilfe<br />
besteuern.<br />
Kommentar von Paul Rechsteiner<br />
6 13 Fragen an Sabine Boss<br />
8 Praxis: Leben in einer WG – wie<br />
berechnet sich der Grundbedarf?<br />
9 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:<br />
Aktuelle Praktiken bei der<br />
Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
10 «Die Medien sind aggressiver und<br />
ruchloser geworden»<br />
Interview mit Daniel Binswanger<br />
14 SCHWERPUNKT: sozialstaat<br />
16 Die Bedeutung des Sozialstaats<br />
und der Beitrag der Sozialpolitik zur<br />
Gesellschaft<br />
18 Sozialer Schutz in Deutschland und<br />
in Frankreich<br />
21 Der US-amerikanische Sozialstaat ist<br />
sehr dezentral organisiert<br />
23 «Das grösste Problem sind<br />
Personen ohne Berufsausbildung»<br />
Die ERFOLGSREGISSEURIN<br />
Der Kolumnist<br />
GRUNDRECHTE und SOZIALHILFE<br />
Regisseurin Sabine Boss will mit ihren<br />
Filmen einen Beitrag für eine tolerante<br />
Gesellschaft leisten. Für «Der Goalie bin ig»<br />
gewann sie den Schweizer Filmpreis in zwei<br />
Kategorien.<br />
6<br />
Wirtschaftsjournalist und Politik-Beobachter<br />
Daniel Binswanger reflektiert im <strong>ZESO</strong>-<br />
Interview die öffentliche Debatte über die<br />
Sozialhilfe und die schwindende Fähigkeit<br />
der Medien, mit emotionsgeladenen Themen<br />
umzugehen. Und er erklärt, wo er bei der<br />
Sozialhilfe Handlungsbedarf sieht.<br />
10<br />
Die Wahrung von Grund- und<br />
Menschenrechten ist in der Sozialhilfe<br />
grundsätzlich unbestritten. Ihre<br />
konkrete Ausgestaltung und mögliche<br />
Einschränkungen geben in der Praxis aber<br />
immer wieder Anlass zu Diskussionen.<br />
26 Grund- und Menschenrechte in der<br />
Sozialhilfe<br />
28 Drei Praxisbeispiele zum Umgang mit<br />
Grundrechten<br />
30 Was Google nützt, hilft auch<br />
behinderten Usern. Reportage über<br />
die Stiftung «Zugang für alle»<br />
32 Plattform: Dachverband der<br />
Schweizer Jugendparlamente<br />
34 Forum: «Freibeträge für selbstverständliche<br />
Leistungen stehen<br />
quer in der Landschaft»<br />
34 Service: Veranstaltungen und<br />
Lesetipps<br />
36 Porträt: Diane Baatard macht als<br />
Märchchenfee Krankenbesuche<br />
Märchen für Kranke Kinder<br />
26<br />
Die pädiatrische Onko-Hämatologie des<br />
Universitätsspitals Genf ist eine Station,<br />
die man nur mit Schutzkleidung betreten<br />
darf. Mit Geschichten holt Diane Baatard die<br />
jungen Patientinnen und Patienten für einen<br />
Moment aus ihrer Isolation.<br />
36<br />
inhalt 1/15 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Engere Zusammenarbeit<br />
von SKOS und SODK<br />
Die Konferenz der Sozialdirektorinnen und<br />
Sozialdirektoren (SODK) und die SKOS haben<br />
vereinbart, die Zusammenarbeit im<br />
Bereich der Sozialhilfe zu optimieren. Zweck<br />
der Vereinbarung ist, die fachliche und politische<br />
Verantwortung klarer zu trennen und<br />
die politische Legitimation der Richtlinien<br />
zu stärken. Die SKOS wird die Richtlinien<br />
weiterhin unter fachlichen Gesichtspunkten<br />
erarbeiten. Zukünftige Richtlinienrevisionen<br />
wird die SKOS der SODK vorlegen und die<br />
SODK wird diese verabschieden.<br />
Moderate Zunahme<br />
der Fallzahlen<br />
Die Sozialhilfestatistik 2013 des BFS zeigt<br />
eine beinahe unveränderte Sozialhilfequote<br />
von 3,2 Prozent (Vorjahr: 3,1 Prozent). Die<br />
Fallzahlen sind hingegen erneut moderat<br />
angestiegen. 2013 wurden in der Schweiz<br />
rund 257 000 Personen mit Sozialhilfeleistungen<br />
unterstützt, das sind 7000<br />
mehr als im Vorjahr. Die Zunahme ist unter<br />
anderem auf das Bevölkerungswachstum<br />
zurückzuführen. Es zeigt sich aber auch,<br />
dass die Fallzahlen unabhängig von der<br />
Konjunkturlage steigen und auch in Veränderungen<br />
im Arbeitsmarkt, steigenden Lebenshaltungskosten<br />
sowie in Restriktionen<br />
bei den vorgelagerten Leistungssystemen<br />
begründet sind. Weiterhin sind rund ein<br />
Drittel aller Sozialhilfebeziehenden Kinder<br />
und Jugendliche. Daneben sind eine Zunahme<br />
von Einpersonen- und Langzeitfällen<br />
sowie mehr ältere Sozialhilfebeziehende zu<br />
verzeichnen.<br />
Grundlagenpapier zu<br />
Schulden und Sozialhilfe<br />
Schulden und Sozialhilfe sind eng miteinander<br />
verknüpft. Überschuldete Personen<br />
leben oft am oder unter dem Existenzminimum.<br />
Ein Abgleiten in die Sozialhilfe kann<br />
eine Folge davon sein. Der Anreiz, sich wieder<br />
aus der Sozialhilfe abzulösen, ist für verschuldete<br />
Sozialhilfebeziehende gering, da<br />
bei der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />
eine Lohnpfändung droht. Ein SKOS-<br />
Grundlagenpapier beleuchtet Ursachen und<br />
Folgen der Überschuldung bei Sozialhilfebeziehenden,<br />
zeigt Praxiserfahrungen zum<br />
Umgang mit Betroffenen auf und skizziert<br />
Lösungsansätze für die Praxis.<br />
Das SKOS-Co-Präsidium Therese Frösch und Felix Wolffers lancieren gemeinsam mit SODK-<br />
Präsident Peter Gomm (links) die Vernehmlassung zu den SKOS-Richtlinien. Bild: Béatrice Devènes<br />
Die Vernehmlassung der Richtlinien läuft<br />
Die SKOS hat am 30. Januar <strong>2015</strong> im<br />
Beisein von Peter Gomm, Präsident der kantonalen<br />
Konferenz der Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren (SODK), über die verbandsinterne<br />
Vernehmlassung zu den SKOS-<br />
Richtlinien orientiert. Die Vernehmlassung,<br />
die bis Mitte März läuft, bildet den Auftakt<br />
zur geplanten Teilrevision der Richtlinien<br />
auf Anfang 2016. Mit der Vernehmlassung<br />
erhalten die SKOS-Mitglieder die Gelegenheit,<br />
sich zum im Jahr 2005 anlässlich der<br />
letzten Totalrevision eingeführten Anreizsystem<br />
und zur Höhe des Grundbedarfs zu<br />
äussern, der damals um sieben Prozent gesenkt<br />
wurde. Die in der Vernehmlassung<br />
formulierten Fragen basieren auf den Resultaten<br />
zweier Studien (s. unten). Gleichzeitig<br />
nimmt die SKOS in der Vernehmlassung die<br />
von einzelnen Mitgliedern öffentlich geäusserte<br />
Kritik an den Richtlinien auf. So werden<br />
namentlich auch die Sanktionsmöglichkeiten<br />
bei schwerwiegenden Fällen von<br />
Nicht-Kooperation zur Diskussion gestellt.<br />
Nach Abschluss der Vernehmlassung wird<br />
die SKOS Revisionsvorschläge erarbeiten.<br />
Diese werden im Herbst <strong>2015</strong> an einer<br />
Sozialkonferenz diskutiert, zu der die SODK<br />
einladen wird und an der auch der Schweizerische<br />
Gemeindeverband und die Städteinitiative<br />
Sozialpolitik teilnehmen werden.<br />
Anschliessend wird die SODK die Richtlinienänderungen<br />
verabschieden und den<br />
Kantonen zur Umsetzung auf den 1. Januar<br />
2016 empfehlen. •<br />
Studienergebnisse zum Grundbedarf<br />
und zum Anreizsystem liegen vor<br />
Die SKOS hat Anfang 2014 zwei Studien in<br />
Auftrag gegeben, um die Höhe des Grundbedarfs<br />
und das im Jahr 2005 eingeführte<br />
Anreizsystem überprüfen zu lassen. Die<br />
erste Studie hat überprüft, ob der Betrag des<br />
Grundbedarfs noch dem Konsumverhalten<br />
der einkommensschwächsten zehn Prozent<br />
der Schweizer Haushalte entsprechen. Sie<br />
zeigt, dass der Grundbedarf für Haushalte<br />
mit ein oder zwei Personen aktuell rund<br />
hundert Franken zu tief angesetzt ist. In der<br />
zweiten Studie wurden die Anwendung und<br />
Wirkung der Leistungen mit Anreizcharakter<br />
(Einkommensfreibetrag, Zulagen) analysiert.<br />
Diese Studie zeigt, dass die Anreize in<br />
den Kantonen ein breit akzeptiertes Instrument<br />
sind, um Leistungen zu honorieren<br />
oder mangelnde Kooperation zu sanktionieren,<br />
und dass die Anreizelemente sehr differenziert<br />
angewendet werden. Die Wirkung<br />
der Anreizleistungen lässt sich hingegen<br />
nicht eindeutig beurteilen, da sie in hohem<br />
Mass von den Rahmenbedingungen abhängig<br />
ist, beispielsweise vom real vorhandenen<br />
Arbeitsangebot und den Ressourcen<br />
der Betroffenen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse<br />
der beiden Studien, dass das Zusammenspiel<br />
von bedarfsbezogenen Leistungen<br />
und den Anreizelementen grundsätzlich<br />
gut funktioniert. <br />
•<br />
4 ZeSo 1/15 aktuell
KOMMENTAR<br />
Steuerfreiheit des Existenzminimums statt<br />
Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe besteuern<br />
In der abgelaufenen Wintersession hat der<br />
Ständerat einen Vorstoss überwiesen, der<br />
in Zukunft die Sozialhilfe und die Ergänzungsleistungen<br />
besteuern möchte. Es<br />
lohnt sich, die Folgen zu bedenken, falls<br />
das Vorhaben dereinst umgesetzt würde.<br />
Die Steuerfreiheit des Existenzminimums<br />
ist ein altes Anliegen der Armutsbekämpfung.<br />
Wer nicht mehr verdient als das<br />
strikte Minimum, das zum Leben benötigt<br />
wird, soll darauf nicht noch Steuern<br />
bezahlen müssen. Während das Anliegen<br />
auf Bundesebene bei der Bundessteuer<br />
realisiert ist, gibt es noch immer eine Reihe<br />
von Kantonen, die mit dem Steuertarif tief<br />
ins Existenzminimum eingreifen. Allen<br />
voran der Kanton Schwyz, der Einkommen<br />
ab 400 Franken monatlich besteuert.<br />
Vor diesem Hintergrund gibt es schwer zu<br />
denken, wenn politisch jetzt statt der Steuerfreiheit<br />
des Existenzminimums plötzlich<br />
die Besteuerung der Sozialhilfe und der<br />
Ergänzungsleistungen gefordert wird.<br />
Dass Leute, die arbeiten, steuerlich nicht<br />
schlechter gestellt sein sollen als Menschen,<br />
die auf Ergänzungsleistungen oder<br />
Sozialhilfe angewiesen sind, ist gewiss<br />
ein hehres Anliegen. Aber es hilft keinem<br />
sogenannten Working Poor, wenn neu auch<br />
auf der Sozialhilfe und auf den Ergänzungsleistungen<br />
Steuern bezahlt werden sollen.<br />
Vielmehr besteht die Gefahr, dass auf<br />
diesem Weg das soziale Existenzminimum<br />
für alle noch stärker heruntergefahren wird.<br />
Dass die Steuern künftig in die Berechnung<br />
des Grundbedarfs einbezogen werden,<br />
ist unrealistisch. Und ist es wirklich der<br />
Weisheit letzter Schluss, mit den ohnehin<br />
knappen Mitteln der öffentlichen Sozialhilfe<br />
neu auch noch kantonale Steuern zu<br />
finanzieren?<br />
Statt fragwürdigen Experimenten auf dem<br />
Buckel der Armen wäre es an der Zeit, die<br />
Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />
wieder ernsthaft zum Thema zu machen.<br />
Erst zehn Jahre ist es her, seit dieses Anliegen<br />
im seinerzeitigen Steuerpaket auch ins<br />
Steuerharmonisierungsgesetz Eingang fand,<br />
damals mit ausdrücklicher Zustimmung der<br />
Kantone. Gescheitert ist dieses Steuerpaket<br />
2004 in der Volksabstimmung aus <strong>ganz</strong><br />
anderen Gründen. Die Argumente für die<br />
Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />
sind aber seither nicht schlechter geworden.<br />
Dass nun neu die Besteuerung der<br />
Sozialhilfe und der Ergänzungsleistungen<br />
gefordert wird, hat weniger mit Sachargumenten,<br />
sondern vielmehr mit dem verstärkten<br />
Druck auf die Sozialhilfe und die<br />
Ergänzungsleistungen zu tun. Die zuständigen<br />
Organisationen wären gut beraten,<br />
diesem Druck nicht einfach nachzugeben,<br />
sondern auf der berechtigten Forderung<br />
nach Steuerfreiheit des Existenzminimums<br />
zu bestehen.<br />
Paul Rechsteiner<br />
Ständerat SP, Kanton St. Gallen<br />
aktuell 1/15 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Sabine Boss<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Ich bin weder reich geboren, noch werde ich je<br />
ein grosses Vermögen erben. Und auch meine bisherigen<br />
Einkünfte machen mich nicht reich. Aber ich<br />
verdiene anständig, so dass ich mir ab und zu auch<br />
ein schönes Kleid oder ein Möbelstück kaufen kann.<br />
Allerdings leiste ich als Regisseurin ja eigentlich Managerdienste<br />
und führe ein Team von über dreissig<br />
Menschen, dafür ist der Lohn dann doch eher niedrig.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer<br />
mehr auseinander. Der Mittelstand schrumpft, und<br />
ich habe das Gefühl, dass die verschiedenen Gesellschaftsschichten<br />
nicht mehr im Dialog miteinander<br />
stehen. Das ist langfristig eine katastrophale Entwicklung.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Leider nein, aber ich denke, dass ein Land wie die<br />
Schweiz alles dafür tun muss. Reich und privilegiert<br />
Geborene haben mehr Chancen auf Bildung als Kinder<br />
aus ärmeren Verhältnissen. Dem muss man entgegen<br />
wirken. Hier finde ich die Entwicklung, dass<br />
reiche Kinder immer weniger öffentliche Schulen<br />
besuchen und stattdessen in Privatschulen gehen,<br />
sehr bedenklich.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Ich unterhalte in erster Linie. Ich erzähle Geschichten,<br />
die die Zuschauer in eine andere Welt entführen<br />
und die sie im besten Fall die Zeit vergessen<br />
lassen. Es ist eine sehr interessante und vielschichtige<br />
Arbeit, und ich sage immer wieder, dass ich den<br />
schönsten Beruf der Welt ausüben darf. Ich habe<br />
natürlich im weitesten Sinne auch ein politisches<br />
Anliegen: Meine Filme erzählen von Menschen und<br />
ihren Problemen. Damit will ich meinen Beitrag für<br />
eine tolerante Gesellschaft leisten, in der man sich<br />
für die Belange der anderen interessiert.<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Ich reise eigentlich sehr gern, aber trotzdem<br />
komme ich kaum dazu und verbringe meine Ferien<br />
dann doch eher in der Schweiz. Ich kann mir ehrlich<br />
gesagt kein Treffen oder Ereignis vorstellen, für das<br />
ich ans andere Ende der Welt reisen würde. Ausser<br />
es ginge darum, jemandem zu Hilfe zu eilen, den ich<br />
liebe.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Da ich in meiner Familie miterlebe, wie schwierig<br />
es ist, Freizeitangebote für geistig behinderte Kinder<br />
zu finden, wünsche ich mir mehr Angebote in diesem<br />
Bereich. Ausserdem sind wir Schweizer Weltmeister<br />
im Kritischsein. Ich wünsche uns mehr Offenheit,<br />
mehr Neugierde, mehr Mut, aber auch mehr Selbstbewusstsein.<br />
Wir führen hier ein total privilegiertes,<br />
wunderbares Leben mit unglaublich vielen Möglichkeiten.<br />
Dafür sollten wir dankbar sein und nicht immer<br />
über Kleinkram herumstänkern. Drittens würde<br />
ich den herrschenden Regulierungswahn eindämmen<br />
wollen. Es gibt im Alltag bald kaum mehr einen<br />
Bereich, der nicht normiert und geregelt ist.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Ich kann eigentlich recht gut verlieren. Ich bin<br />
zwar ehrgeizig, schätze mich aber selber nicht so<br />
hoch ein. Deshalb ist für mich jeder Erfolg eine freudige<br />
Überraschung und keine Selbstverständlichkeit.<br />
Mit Niederlagen muss man umzugehen lernen,<br />
sonst wird man ein verbitterter Mensch. Und für<br />
mich gibt es nichts Traurigeres und Abschreckenderes<br />
als Verbitterung.<br />
Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />
Das kommt höchstens einmal im Jahr vor. Ich<br />
trage in der Regel ungebügelte Sachen. Ich besitze<br />
aber ein Bügeleisen und ein Brett, die auf ihren Einsatz<br />
warten. Mein Freund ist darin besser.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität bedeutet für mich, dass man eine Einschätzung<br />
dessen hat, über welche Privilegien man<br />
eigentlich in diesem reichen Land verfügt und dass<br />
man versucht, diese im Rahmen der eigenen Möglichkeiten<br />
weiterzugeben. Solidarität ist aber auch<br />
das, was in Frankreich nach dem schrecklichen Attentat<br />
auf Charlie Hebdo passiert ist, dass man in<br />
Krisenzeiten zusammensteht und Mitgefühl, aber<br />
auch eine klare politische Haltung zeigt.<br />
6 ZeSo 1/15 13 fragen
sabine boss<br />
Bild: zvg<br />
Sabine Boss (49) wurde in Aarau geboren. Sie absolvierte das Fachstudium<br />
Film/Video an der Hochschule der Künste in Zürich. Danach arbeitete sie<br />
als Regieassistentin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Seit 2000<br />
ist sie als freie Autorin und Regisseurin für Film, Fernsehen und Theater<br />
tätig. 2014 erhielt sie für «Der Goalie bin ig» den Schweizer Filmpreis in den<br />
Kategorien «Bester Spielfilm» und «Bestes Drehbuch». Der Film basiert auf<br />
dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Pedro Lenz. Sabine Boss lebt<br />
in Zürich.<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Ich möchte natürlich noch viele Filme machen,<br />
die die Menschen ansprechen und berühren. Zurzeit<br />
habe ich zwei Kinoprojekte auf dem Tisch, mal<br />
schauen, wo sie mich hinführen. Nach dem nationalen<br />
Erfolg von «Der Goalie bin ig» würde ich sehr<br />
gerne einmal eine europäische Koproduktion realisieren,<br />
das wäre mein Traum.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Entschleunigung. Das Wort tönt grossartig, aber<br />
gleichzeitig ist es total überheblich. Entschleunigen<br />
können nur Leute, die nicht ihrem Lohn nachrennen<br />
müssen. Ein anderes Reizwort ist für mich der Begriff<br />
«andenken», der oft im pädagogischen, aber<br />
auch im künstlerischen Umfeld verwendet wird.<br />
Statt etwas anzudenken, sollte man doch einfach<br />
denken − denke ich dann jeweils.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Oh ja, in den letzten Jahren wurde das Durchschlafen<br />
immer schwieriger. Und ich habe auch heftige<br />
Träume. Gerade während Dreharbeiten verarbeite<br />
ich im Schlaf ziemlich viele Ängste. Das kann<br />
sehr unangenehm sein, denn in diesen Träumen<br />
verliere ich komplett die Kontrolle und bin angesichts<br />
einer Katastrophe völlig hilflos. Meistens versagt<br />
meine Stimme oder ich kann meine Beine nicht<br />
bewegen. Das Schöne ist aber, am Morgen aufzuwachen<br />
und zu merken, dass nichts so unlösbar und<br />
schwierig ist, wie es in der Nacht schien.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
Mit der Modeschöpferin Vivienne Westwood. Sie<br />
war und ist eine Pionierin auf <strong>ganz</strong> vielen verschiedenen<br />
Gebieten, nicht nur im Bereich der Mode. Sie<br />
hat sich als ehemalige Lehrerin das Schneidern selber<br />
beigebracht, sich eine riesige Karriere erarbeitet<br />
und <strong>ganz</strong> nebenbei den Punk erfunden. Ausserdem<br />
hat sie mit weit über 70 Jahren immer noch eine<br />
umwerfende modische Frechheit, mischt sich mit<br />
viel Humor in gesellschaftliche Fragen ein, und man<br />
hat das Gefühl, dass sie sich für niemanden und<br />
nichts verbiegt.<br />
13 fragen 1/15 ZeSo<br />
7
Leben in einer Wohngemeinschaft:<br />
Wie berechnet sich der Grundbedarf?<br />
Martin R. lebt in einer Wohngemeinschaft. Wie sein Grundbedarf berechnet wird, hängt davon<br />
ab, ob es sich um eine familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft oder um eine Zweck-<br />
Wohngemeinschaft handelt.<br />
Frage<br />
Martin R. hatte bis vor kurzem Anspruch<br />
auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung.<br />
Mit den monatlichen Leistungen der<br />
Versicherung konnte er seine finanzielle<br />
Existenz sichern. Als die Taggelder der Arbeitslosenversicherung<br />
ausgeschöpft waren,<br />
musste Martin R. einen Antrag auf Sozialhilfe<br />
stellen. Von der zuständigen Sozialbehörde<br />
erhielt er die Weisung, für eine<br />
günstigere Wohnsituation besorgt zu sein.<br />
Martin R. schloss einen Untermietvertrag<br />
in einer Wohngemeinschaft mit insgesamt<br />
drei Personen ab. Er erklärt seiner Sozialarbeiterin,<br />
dass jede Person über ein<br />
eigenes Zimmer verfüge und ein gemeinsames<br />
Wohnzimmer bestehe. Dem Untermietvertrag<br />
lässt sich zudem entnehmen,<br />
dass Küche, Bad, Waschküche und Keller<br />
gemeinschaftlich genutzt werden. Weiter<br />
führt Martin R. aus, dass die Mieter getrennt<br />
einkaufen und kaum je gemeinsame<br />
Mahlzeiten einnehmen würden. Wie berechnet<br />
sich in diesem Fall der Grundbedarf für<br />
den Lebensunterhalt für Martin R.?<br />
Grundlagen<br />
Vorab ist festzustellen, dass ein (Unter-)<br />
Mietvertag nicht für eine abschliessende<br />
Qualifizierung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens<br />
herbeigezogen werden<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
kann. Es muss geprüft werden, ob Martin<br />
R. mit seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern<br />
eine familienähnliche Wohnund<br />
Lebensgemeinschaft bildet oder ob es<br />
sich um eine Zweck-Wohngemeinschaft<br />
handelt.<br />
Als familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
gelten Paare oder Gruppen,<br />
die die Haushaltführung wie Wohnen,<br />
Essen, Waschen und Reinigen gemeinsam<br />
ausüben oder finanzieren. Sie leben zusammen,<br />
bilden aber im Gegensatz zu<br />
Konkubinaten, Geschwistern oder Eltern<br />
mit ihren erwachsenen Kindern keine<br />
Unterstützungseinheit (vgl. SKOS-Richtlinien<br />
B.2.3).<br />
Es geht in erster Linie um ein Zusammenleben<br />
im gleichen Haushalt, wobei<br />
eine geschlechtliche Beziehung oder<br />
eine längerfristige gemeinsame Lebensplanung<br />
keine Voraussetzungen darstellen<br />
(vgl. Claudia Hänzi, Leistungen der<br />
Sozialhilfe in den Kantonen, in Christoph<br />
Häfeli (Hrsg.), Das Schweizerische Sozialhilferecht,<br />
2008, S. 143 f.). Bei einer<br />
Zweck-Wohngemeinschaft handelt es sich<br />
um Personen, die mit dem Zweck zusammenwohnen,<br />
die Miet- und Nebenkosten<br />
gering zu halten. Die Ausübung und die<br />
Finanzierung der Haushaltsfunktionen wie<br />
Wohnen, Essen, Waschen und Reinigen<br />
erfolgen vorwiegend getrennt. Durch das<br />
gemeinsame Wohnen werden neben der<br />
Miete weitere Kosten, die im Grundbedarf<br />
enthalten sind, geteilt und somit verringert;<br />
beispielsweise die Kosten für die<br />
Abfallentsorgung, den Energieverbrauch,<br />
das Festnetz, Internet, TV-Gebühren oder<br />
Zeitungen (SKOS-Richtlinien B.2.4).<br />
Die Grenzziehung zwischen einer familienähnlichen<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
und einer Zweck-Wohngemeinschaft<br />
ist mitunter schwierig und muss in<br />
jedem Fall auf die konkreten Verhältnisse<br />
abgestellt werden (vgl. Hänzi, Leistungen<br />
der Sozialhilfe in den Kantonen, S. 144).<br />
Es muss im Einzelfall entschieden werden,<br />
ob sich durch das Zusammenleben in einer<br />
Wohngemeinschaft die für eine familienähnliche<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft<br />
typischen wirtschaftlichen Vorteile<br />
ergeben. Das zentrale Kriterium, ob eine<br />
Wohngemeinschaft als familienähnliche<br />
Wohn- und Lebensgemeinschaft und damit<br />
als Mehrpersonenhaushalt zu behandeln<br />
ist, ist die gemeinsame Ausübung<br />
und Finanzierung aller oder mindestens<br />
wichtiger Haushaltsfunktionen wie Essen,<br />
Waschen und Reinigen.<br />
Antwort<br />
Aufgrund der Schilderung von Martin R.<br />
ist nicht davon auszugehen, dass die entscheidenden<br />
Haushaltsfunktionen gemeinsam<br />
ausgeübt oder finanziert werden.<br />
Zudem lässt sich unter den Wohnpartnern<br />
keine besondere persönliche Verbundenheit<br />
feststellen, die für ein gemeinschaftliches<br />
Zusammenleben sprechen würden.<br />
Martin R. zieht aus dem Zusammenwohnen<br />
mit seinen beiden Mitbewohnern keinen<br />
erheblichen wirtschaftlichen Vorteil.<br />
Der Spareffekt beim Grundbedarf beschränkt<br />
sich auf den Energieverbrauch<br />
und die laufende Haushaltsführung, beispielsweise<br />
Abfallentsorgung und Putzmittel<br />
sowie Internet und Zeitungsabonnement.<br />
Somit ist der Grundbedarf für den<br />
Lebensunterhalt von Martin R. unabhängig<br />
von der gesamten Haushaltsgrösse festzulegen.<br />
Er bemisst sich nach der Anzahl<br />
Personen der Unterstützungseinheit minus<br />
10 Prozent. Im Budget von Martin R.<br />
werden demnach 887 Franken für den<br />
Grundbedarf berücksichtigt, das entspricht<br />
der Rechnung 986 Franken minus<br />
10 Prozent (= 887 Fr.). •<br />
Ruth Ziörjen<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
8 ZeSo 1/15 praxis
Aktuelle Praktiken bei der<br />
Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
Im Rahmen des Projekts «Monitoring Sozialhilfe» erhebt die SKOS regelmässig Informationen<br />
über die Umsetzung und Ausgestaltung der Sozialhilfe in den Kantonen. Mit Blick auf die laufende<br />
Richtlinien-Vernehmlassung und die Diskussionen über die Höhe der Grundsicherung erscheint die<br />
Auslegeordnung zur kantonalen Anwendung des Grundbedarfs besonders interessant.<br />
Die SKOS hat im vergangenen Jahr begonnen,<br />
eigene Daten zur Umsetzung der Sozialhilfe<br />
in der Schweiz zu erheben, um<br />
Vergleiche über die Ausgestaltung der<br />
Sozialhilfe in den Kantonen und Gemeinden<br />
anstellen zu können. Die folgenden<br />
Informationen basieren auf den Antworten<br />
der kantonalen Sozialämter anlässlich<br />
der ersten Befragungsrunde vom Mai 2014.<br />
Die SKOS empfiehlt in den Richtlinien<br />
einen pauschalen Betrag für den Grundbedarf<br />
in der Höhe von 986 Franken. In der<br />
konkreten Praxis der Kantone existierte im<br />
Jahr 2014 eine Bandbreite von 977 bis<br />
1110 Franken für den Grundbedarf. 16<br />
Kantone operierten mit dem von der SKOS<br />
empfohlenen Betrag, sechs Kantone waren<br />
2013 der Teuerungsanpassung nicht gefolgt<br />
und gewähren einen leicht tieferen<br />
Grundbedarf von 977 Franken. In drei<br />
Kantonen liegt der Grundbedarf über tausend<br />
Franken, wobei zwei dieser Kantone<br />
das in den SKOS-Richtlinien empfohlene<br />
Anreizsystem nur beschränkt umsetzen.<br />
Durch den höheren Grundbedarf kompensieren<br />
diese Kantone den Teil der Unterstützung,<br />
den die meisten Kantone mittels<br />
Anreizleistungen auszahlen.<br />
Fr. 1100<br />
Fr. 1000<br />
Fr. 900<br />
Fr. 800<br />
Fr. 700<br />
Fr. 600<br />
Fr. 500<br />
Fr. 400<br />
GE<br />
SG<br />
TG<br />
SO<br />
BS<br />
LU<br />
NW<br />
SH<br />
AG<br />
BL<br />
Für junge Erwachsene sieht die Sozialhilfegesetzgebung<br />
in zwölf Kantonen einen<br />
um 47 bis 88 Prozent tieferen Ansatz vor.<br />
Die SKOS-Richtlinien empfehlen für die<br />
Unterstützung von Personen zwischen dem<br />
18. und dem 25. Altersjahr, die in einer<br />
Wohngemeinschaft leben, die nicht gleichzeitig<br />
auch eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />
ist, einen Grundbedarf in der Höhe zu gewähren,<br />
wie ihn eine in einem Zweipersonenhaushalt<br />
lebende Person erhalten würde.<br />
Konkret heisst das, 1509 Franken dividiert<br />
durch zwei respektive 754 Franken und<br />
50 Rappen statt 986 Franken. Dies entspricht<br />
einer Kürzung um 76 Prozent.<br />
Sonderregelungen<br />
Einige der kantonalen Gesetzgebungen<br />
beschränken den reduzierten Ansatz auf<br />
besondere Situationen, beispielsweise der<br />
Kanton Aargau auf «unerlaubtes» Alleinwohnen.<br />
Drei Kantone dehnen die Gültigkeit<br />
des reduzierten Ansatzes auf weitere<br />
Personengruppen aus: Der Kanton Thurgau<br />
wendet diesen auf Personen bis 30<br />
Jahre an, der Kanton Genf auf über 25-Jährige<br />
in Erstausbildung, und der Kanton<br />
Basel-Stadt auf Obdachlose. Eine weitere<br />
Höhe des 2014 gültigen Grundbedarfs für Einzelpersonen (blau) und für junge Erwachsene (rot).<br />
NE<br />
BE<br />
FR<br />
TI<br />
VD<br />
AR<br />
GL<br />
JU<br />
OW<br />
SZ<br />
UR<br />
VS<br />
ZG<br />
«Monitoring Sozialhilfe»<br />
Dieser Text ist der zweite im Rahmen einer Serie<br />
von Beiträgen zur konkreten Umsetzung der<br />
Sozialhilfe in den Kantonen. Die Artikelserie<br />
gewährt Einblicke in die Vielfalt der Sozialhilfe in<br />
der Schweiz.<br />
Abweichung, die nicht spezifisch die jungen<br />
Erwachsenen betrifft, hat der Kanton<br />
Luzern eingeführt. Bei Personen, die weniger<br />
als 18 Monate in der Schweiz gearbeitet<br />
haben, wird der Grundbedarf um<br />
15 Prozent bei Einzelpersonen und um<br />
zehn Prozent bei einem Mehrpersonenhaushalt<br />
gekürzt. Unter gewissen Bedingungen<br />
sind Familien und Haushalte von<br />
Erwerbstätigen von dieser Regelung allerdings<br />
wieder ausgenommen.<br />
Die Erhebung hat gezeigt, dass die Kantone<br />
bei der Ausrichtung des Grundbedarfs<br />
die Empfehlungen der Richtlinien nachvollziehen<br />
oder sich in einer an die Empfehlungen<br />
angelehnten Bandbreite bewegen.<br />
Trotz der dargestellten kantonalen Unterschiede<br />
besteht eine grundsätzliche Einheitlichkeit.<br />
Bei jungen Erwachsenen kommt in<br />
zwölf Kantonen ein tieferer<br />
Ansatz zur Anwendung.<br />
Ferner lässt sich aus den<br />
Umfrageergebnissen folgern,<br />
dass der Grundbedarf,<br />
die situationsbedingten<br />
Leistungen und<br />
das Anreizsystem von den<br />
Kantonen zusammenhängend<br />
gehandhabt werden.<br />
<br />
•<br />
ZH<br />
GR<br />
AI<br />
Christin Kehrli<br />
Leiterin Fachbereich<br />
Grundlagen ad interim<br />
MONITORING SOZIALHILFE 1/15 ZeSo<br />
9
«Die Medien sind aggressiver<br />
und ruchloser geworden»<br />
Differenzierte Diskussionen über die Sozialhilfe und andere sozialstaatliche Themen finden in den Medien<br />
immer seltener statt. Wirtschaftsjournalist und Politik-Beobachter Daniel Binswanger reflektiert im<br />
Gespräch die Wirkung von Klickraten auf publizistische Grundsätze und das Muster politischer Strategien<br />
gegen soziale Errungenschaften. Und er erklärt, was er bei der Sozialhilfe verändern würde.<br />
Herr Binswanger, Sie kommentieren<br />
regelmässig das politische Geschehen<br />
in der Schweiz. Wie geht es der<br />
Schweiz zu Beginn des Jahres <strong>2015</strong> mit<br />
Blick auf kommende gesellschaftspolitische<br />
Herausforderungen?<br />
Der Schweiz geht es sehr gut. Die Frage<br />
ist, wie stark dieser Zustand durch politische<br />
und wirtschaftliche Risiken bedroht<br />
ist. Einerseits stehen das Verhältnis zu Europa<br />
und die Zukunft der Personenfreizügigkeit<br />
auf dem Spiel, anderseits steckt die<br />
Eurozone weiterhin in einer tiefen Krise.<br />
Wir Schweizer haben ja immer ein wenig<br />
den Reflex zu denken, dass wir nicht zur<br />
EU gehören und deshalb nicht betroffen<br />
sind von dem, was um uns herum geschieht.<br />
Das ist natürlich eine Illusion. Insbesondere<br />
falls es in Deutschland zu einer<br />
Rezession kommt, wird uns das sehr direkt<br />
betreffen.<br />
Was erwartet uns innenpolitisch?<br />
Gute, tragfähige Lösungen bedingen<br />
einen nationalen Konsens. Die<br />
Debatten zielen aber immer seltener<br />
auf eine gemeinsame Lösungssuche,<br />
dafür werden umso häufiger Eigeninteressen<br />
verfolgt. Verträgt die<br />
Schweiz auf Dauer diese «Amerikanisierung»<br />
der politischen Kultur?<br />
Das Institutionengefüge in Amerika ist<br />
seit dem Erstarken der Tea Party praktisch<br />
nicht mehr funktionsfähig. Diese Entwicklung<br />
lässt sich auf die Schweiz bezogen ein<br />
Stück weit mit dem Aufstieg der Schweizerischen<br />
Volkspartei und mit der Inflation<br />
von Initiativen, die immer radikaler werden,<br />
vergleichen. Die SVP hat sich stark<br />
nach rechts entwickelt und setzt den Bürgerblock<br />
unter Druck. Die Mitte scheint<br />
dadurch desorientiert, und das macht die<br />
Lösungsfindung schwieriger. Aber auch<br />
die SP ist weniger kompromissbereit geworden,<br />
seit sie sich als Anti-Blocher-Partei<br />
profilieren kann.<br />
Ehemalige «Wortführer» wie Economiesuisse,<br />
Gewerbeverband oder<br />
Gewerkschaften spielen heute eher in<br />
Nebenrollen. Wer kämpft hier eigentlich<br />
gegen wen?<br />
Die klassische Links-Rechts-Konfrontation<br />
hat effektiv an Relevanz eingebüsst.<br />
Die entscheidende Auseinandersetzung<br />
findet zwischen Öffnungsbefürwortern<br />
und Öffnungsskeptikern statt. Das sieht<br />
man auch daran, dass sich sowohl links wie<br />
rechts innerhalb der politischen Stammmilieus<br />
immer wieder erstaunliche Widersprüche<br />
auftun. Die Interessenvertreter<br />
der Wirtschaft waren noch nie so uneinig<br />
wie heute, und die Gewerkschaften hätten<br />
beispielsweise auch ein grosses Problem,<br />
wenn die Schweiz mit der EU ein Rahmenabkommen<br />
abschliessen würde, das<br />
vorsieht, arbeitsrechtliche Konflikte vor europäischen<br />
Gerichtshöfen zu entscheiden.<br />
Vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />
und erhöhter Mobilität werden<br />
gesellschaftliche Errungenschaften<br />
vermehrt in Frage gestellt. Armut<br />
beispielsweise scheint weniger als<br />
Problem erkannt zu werden, das uns<br />
alle betrifft.<br />
Solidarität als gesellschaftlicher Grundwert<br />
hat an Ansehen eingebüsst. Dazu<br />
hat der aggressive Marktliberalismus beigetragen.<br />
Das zeigt sich etwa daran, dass<br />
die Steuern laufend gesenkt werden. Der<br />
Lebensstandard der Schweizer hat in den<br />
letzten zehn Jahren zwar zugenommen,<br />
aber hauptsächlich nur deshalb, weil pro<br />
Kopf mehr gearbeitet wird. Das bedeutet<br />
mehr Konkurrenz und mehr Druck, und<br />
das überträgt sich auf die Bereitschaft zu<br />
sozialem Ausgleich.<br />
Eine zweite Ursache sind die Angriffe<br />
auf die Sozialversicherungen und auf die<br />
Sozialhilfe. Sie laufen oft über Ausländerthemen.<br />
Zurzeit schiesst sich die SVP<br />
für ihren Wahlkampf ein, indem sie den<br />
Sozialhilfebezug von Eritreern thematisiert.<br />
Dieses Muster wird immer wieder<br />
angewendet: Man aktiviert Kräfte, die die<br />
Zuwanderung ablehnen, um den sozialen<br />
Ausgleich zu torpedieren. Diese politische<br />
Strategie ist sehr effizient.<br />
In der Bundesverfassung steht, «die<br />
Stärke des Volkes misst sich am Wohl<br />
der Schwachen». Ist das eher ein<br />
sozialethischer Grundsatz oder eher<br />
eine ökonomische Weisheit?<br />
Der Gedanke, dass man die Schwachen<br />
unterstützt, ist ein christlicher Wert und in<br />
unserer Gesellschaft tief verankert. Auch<br />
rechtsbürgerliche Kreise würden nie sagen,<br />
dass das falsch sei. Die Frage, wie ein Staat<br />
sein Verhältnis zu den sozial Schwachen gestalten<br />
soll, hat aber auch eine ökonomische<br />
Komponente. Wenn wenig Verdienende<br />
auch konsumieren können, profitiert die<br />
Volkswirtschaft. Eine zu grosse Einkommensungleichheit<br />
richtet ökonomischen<br />
Schaden an. Darauf weist beispielsweise<br />
auch der Internationale Währungsfonds<br />
hin. So betrachtet ist ein vernünftiger Ausgleich<br />
der Einkommensniveaus auch eine<br />
Empfehlung im volkswirtschaftlichen Sinn.<br />
Hat der Staat die Pflicht, für jene zu<br />
sorgen, die nicht arbeiten können?<br />
Eindeutig. Die Debatte wird ja auch<br />
nicht so geführt. Wer findet, dass Leute, die<br />
nicht genug verdienen, selber schuld sind<br />
an ihrer Lage, wird das nicht laut sagen.<br />
Stattdessen werden andere Debatten vorgeschoben,<br />
beispielsweise über «Betrug».<br />
Es mussten «Scheininvalide» herbeigeredet<br />
werden, mit dem Ziel, die Kosten der IV<br />
10 ZeSo 1/15 Interview
Bilder: Meinrad Schade<br />
zu senken. Bei der Sozialhilfe läuft es<br />
ähnlich. Ein paar Betrugsfälle haben es<br />
diesen Kräften ermöglicht, die Sozialhilfe<br />
über eine Missbrauchsdebatte in Misskredit<br />
zu bringen. Aktuell wird mit dem<br />
Argument angegriffen, Sozialhilfe sei zu<br />
luxuriös, insbesondere für Asylsuchende.<br />
Und der nächste Kampfbegriff wurde<br />
mit dem Begriff «Sozial-Industrie» eben<br />
erst lanciert. Er impliziert, dass Geld verschwendet<br />
wird und dass Sozialarbeiter<br />
nur daran interessiert sind, sich gegenseitig<br />
Pöstchen zuzuschieben. Auch darin<br />
schwingt der Vorwurf von unmoralischem<br />
Verhalten bis hin zum Betrug mit. Nur mit<br />
solchen Taktiken lässt sich eine Institution<br />
wie die Sozialhilfe angreifen, von der<br />
niemand ernsthaft sagen kann, dass sie<br />
grundsätzlich schlecht ist.<br />
Die Medien tragen viel dazu bei, dass<br />
die öffentliche Diskussion so prominent<br />
und oft zugespitzt geführt werden<br />
kann. Was läuft falsch in der Berichterstattung,<br />
die diese Art Auseinandersetzungen<br />
mitträgt und verstärkt?<br />
Die Medien sind insgesamt aggressiver<br />
und ruchloser geworden. Klickraten geben<br />
ihnen pausenlos ein direktes Feedback,<br />
was dazu geführt hat, dass sich die publizistischen<br />
Leitziele verändert haben. Es<br />
besteht ein grosser Beschleunigungsdruck,<br />
gleichzeitig steht weniger Personal zur Verfügung,<br />
und es herrscht eine verschärfte<br />
«Die Medien haben<br />
an Fähigkeit<br />
eingebüsst, mit<br />
emotionsgeladenen<br />
Themen vernünftig<br />
umzugehen.»<br />
Konkurrenzsituation. Dadurch haben die<br />
Medien an Fähigkeit eingebüsst, mit emotionsgeladenen<br />
Themen vernünftig umzugehen.<br />
Sind die Medien ein Teil der angesprochenen<br />
Polit-Malaise?<br />
Die Versuchung, laute und unseriöse<br />
Geschichten mit Skandalisierungspotenzial<br />
herauszuhauen, wird nicht kleiner. Kürzlich<br />
wurden im «Fall Hagenbuch» wochenlang<br />
falsche Informationen und Zahlen<br />
herumgeboten, nicht nur vom Blick, sondern<br />
auch von der NZZ am Sonntag und<br />
dem Tagesanzeiger, bevor ein Journalist<br />
nachgeforscht und die Fakten richtigstellt<br />
hat. Und auch danach wurden sie von gewissen<br />
Medien weiter ignoriert. Auch der<br />
«Carlos-Skandal» war insgesamt eine unsägliche<br />
publizistische Fehlleistung. Dem<br />
ist hinzuzufügen, dass innerhalb der Medien<br />
ideologische Kräfte wieder an Einfluss<br />
gewonnen haben.<br />
<br />
Interview 1/15 ZeSo<br />
11
Daniel Binswanger<br />
Daniel Binswanger (Jg. 1969) ist Redaktor beim<br />
Tages-Anzeiger. In seiner Kolumne in der Wochenendbeilage<br />
«Das Magazin» kommentiert er das<br />
aktuelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische<br />
Geschehen. Daniel Binswanger hat Philosophie<br />
und Literaturwissenschaften studiert und lebt in<br />
Zürich und Paris.<br />
Was läuft aus Ihrer Sicht falsch und<br />
was läuft gut in der Sozialhilfe?<br />
Über alles betrachtet macht die Sozialhilfe<br />
einen sehr guten Job. Das liegt zum<br />
einen an der Arbeit, die in den Sozialdiensten<br />
geleistet wird, zum andern an den<br />
stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen.<br />
Unsere sozialen Probleme sind im internationalen<br />
Vergleich klein. Vor diesem Hintergrund<br />
haben wir die Möglichkeit, eine<br />
sehr solide Sozialhilfe zu finanzieren.<br />
Kostet die Sozialhilfe zu viel?<br />
Die Kosten für die Sozialhilfe sind im<br />
Vergleich zu den Summen, um die es bei<br />
den Sozialversicherungen geht, ein kleiner<br />
Posten. Bei der Belastung des Mittelstands<br />
durch die Krankenversicherung oder der<br />
Finanzierbarkeit der Altersvorsorge sehe<br />
ich viel ernsthaftere Probleme.<br />
Sind die Unterstützungsansätze zu<br />
hoch?<br />
Zu den Standards, was die Sozialhilfe<br />
alles finanzieren soll, kann ich mich<br />
nicht im Detail äussern. Aber ich finde es<br />
eine gute Sache, dass wir den Sozialhilfebeziehenden<br />
einen guten Lebensstandard<br />
ermöglichen. Wenn Sie in andern Ländern<br />
unterwegs sind, begegnen Ihnen regelmässig<br />
Obdachlose, Strassenkinder, Alkoholiker.<br />
Jeden Winter erfrieren einige von<br />
ihnen. Und das notabene nicht in Staaten<br />
ohne Sozialsystem. Ich spreche von westlichen<br />
Staaten mit einem Sozialsystem auf<br />
niedrigem Niveau. Analoge Überlegungen<br />
gelten für die Kriminalitätsraten bei uns<br />
und in anderen Ländern. Unsere Sozialhilfe<br />
ist eine Errungenschaft, auf die wir stolz<br />
sein können.<br />
Trotzdem wird die Sozialhilfe immer<br />
wieder kritisiert.<br />
Ich sehe drei Problembereiche, wo<br />
Handlungsbedarf besteht: Bei den Unterstützungsleistungen<br />
für kinderreiche<br />
Familien, bei den Ansätzen für junge Erwachsene<br />
und beim Problem der Schwelleneffekte.<br />
Können Sie das ein wenig ausführen?<br />
Wenn kinderreiche Familien Nettoleistungen<br />
erhalten, die einem Mittelschichtseinkommen<br />
entsprechen, finde<br />
ich das auch stossend. Aber deswegen muss<br />
man die Unterstützungssätze nicht gleich<br />
halbieren. Die SKOS sollte sich überlegen,<br />
wie sich hier vertretbare Reduktionen vornehmen<br />
lassen können, beispielsweise mit<br />
günstigeren Betreuungsstrukturen. Sonst<br />
hat die SKOS ein Akzeptanzproblem, weil<br />
das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung<br />
tangiert ist.<br />
Was schlagen Sie für junge erwachsene<br />
Sozialhilfebeziehende vor?<br />
Es sollten Instrumente geschaffen werden,<br />
mit denen man renitente junge Sozialhilfebezüger<br />
zwingen kann, eine Arbeit<br />
zu suchen. Für diese Gruppe sind die Ansätze<br />
zu hoch, respektive die Anreize, sich<br />
abzulösen, sind nicht wirksam. Natürlich<br />
gibt es immer Menschen, die nicht arbeitsfähig<br />
sind, beispielsweise wegen psychischen<br />
Problemen. Man muss das von Fall<br />
zu Fall genau abklären.<br />
Zum Problem der Schwelleneffekte:<br />
Es wurden Strukturen geschaffen, die die<br />
Leute dazu verleiten, in der Sozialhilfe zu<br />
bleiben. Damit ist niemandem gedient.<br />
Das Problem hier ist, dass die Einstiegswerte<br />
extrem tief angesetzt werden müssen,<br />
um die existierenden Schwelleneffekte<br />
zu eliminieren.<br />
Das Problem bei den Schwelleneffekten<br />
sind eher die Umsysteme. Wenn<br />
man die Problematik wirklich lösen<br />
will, müssten die Mechanismen für die<br />
Besteuerung, das Prämienverbilligungssystem,<br />
die Kriterien für<br />
Stipendien und so weiter angepasst<br />
werden.<br />
Man müsste Möglichkeiten finden,<br />
Steuererlasse zu gewähren oder bei der<br />
Prämienverbilligung nach einem anderen<br />
Modus vorzugehen. Die Prämienverbilligung<br />
ist sowieso eine der grössten sozialpolitischen<br />
Baustellen in unserem Land.<br />
Hier gibt es sehr grosse Ungerechtigkeiten.<br />
Welche?<br />
Dass im Grundsatz alle gleich viel zahlen,<br />
trifft vor allem Einkommensschwache.<br />
Daran ändert die Möglichkeit, sich einen<br />
Teil der Prämie rückerstatten zu lassen, zu<br />
wenig. Für Personen mit tiefem Einkommen<br />
sind auch die reduzierten Prämien<br />
eine gewaltige Belastung. Und Familien<br />
der Mittelschicht, die keinen Anspruch auf<br />
eine Prämienverbilligung haben, zahlen<br />
für die Krankenversicherung schnell einmal<br />
10 000 Franken im Jahr. Das ist ein<br />
happiger Batzen, den nur gut Verdienende<br />
«Ich sehe drei<br />
Problembereiche:<br />
kinderreiche<br />
Familien, junge<br />
Erwachsene und<br />
Schwelleneffekte.»<br />
12 ZeSo 1/15 Interview
locker wegstecken können. Der degressive<br />
Effekt der Pro-Kopf-Prämie führt zu einer<br />
direkten Umverteilung von unten nach<br />
oben.<br />
Wie bringt man Leute, die arbeiten<br />
möchten, denen aber der Einstieg<br />
nicht mehr gelingt, zurück in den<br />
Arbeitsmarkt?<br />
In unserem wirtschaftlichen Umfeld<br />
müsste es für diese Leute möglich sein,<br />
eine Arbeit zu finden. Aber die Bereitschaft,<br />
jemanden einzustellen, der möglicherweise<br />
ein wenig «schwieriger» ist als<br />
andere, ist eher gering. Und dann spielt<br />
hier wohl auch die Personenfreizügigkeit<br />
eine erschwerende Rolle.<br />
Was halten Sie von Anreizen für die<br />
Wirtschaft, diese Leute vermehrt anzustellen?<br />
Braucht es Quoten?<br />
Quoten sind politisch sehr schwierig<br />
durchzusetzen, also ist das unrealistisch.<br />
Ein Anreizsystem für Unternehmen hingegen<br />
wäre zu prüfen. Die öffentliche Hand<br />
könnte einen Teil der Lohnnebenkosten<br />
übernehmen. Das hätte aufgrund der derzeitigen<br />
Sensibilisierung vielleicht sogar<br />
gute Chancen.<br />
Was verstehen Sie persönlich unter<br />
sozialer Gerechtigkeit?<br />
Ich sehe drei Hauptelemente, die soziale<br />
Gerechtigkeit ausmachen: Erstens,<br />
eine Gesellschaft muss sich so organisieren,<br />
dass alle Mitglieder ein menschenwürdiges<br />
Auskommen haben. Zweitens:<br />
Chancengleichheit. Zu ihrer realen Herstellung<br />
muss materiell sehr viel mehr<br />
getan werden, als das in der Regel der Fall<br />
ist. Chancengleichheit beschränkt sich nicht<br />
darauf, den besten Schülern aus einfachen<br />
Verhältnissen mit Stipendien eine Karriere<br />
zu ermöglichen. Chancengleichheit heisst,<br />
dass auch Leute aus bildungsfernen Familien<br />
eine echte Chance erhalten, sich<br />
zu entwickeln. Drittens: Innerhalb einer<br />
Gesellschaft darf es grosse Einkommensdifferenzen<br />
geben. Soziale Gerechtigkeit<br />
orientiert sich nicht am Ideal materieller<br />
Gleichheit. Aber wenn die Differenzen zu<br />
gross werden, wenn sich eine völlig abgehobene<br />
Schicht von Superreichen ausbildet,<br />
ist das kaum mehr gerecht.<br />
Wie kann ein Sozialstaat nach westlichem<br />
Muster trotz globalisierter<br />
Wirtschaftsentwicklung überleben?<br />
Ich hoffe, dass die Staatengemeinschaft<br />
sich zusammenraufen wird und international<br />
gültige Standards durchsetzt, damit<br />
die Standortkonkurrenz abnimmt und die<br />
Staaten weiterhin genügend Einnahmen<br />
generieren können, um solid finanzierte Sozialsysteme<br />
unterhalten zu können. Es wäre<br />
eine Katastrophe, wenn das kaputt ginge. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
Interview 1/15 ZeSo<br />
13
14 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Rudolf Steiner
Die Bedeutung des Sozialstaats und der<br />
Beitrag der Sozialpolitik zur Gesellschaft<br />
Im Zug der regelmässigen Anpassungen bei den Sozialwerken muss darauf geachtet werden, dass<br />
«Reformen» nicht mit «Einsparungen» verwechselt werden. Diese Verwechslung ist gefährlich, weil<br />
sie nicht zur Verbesserung und Neugestaltung, sondern eher zur Abschaffung des Sozialstaats führt.<br />
Das öffentliche Leben ist ein gemeinschaftliches Werk und Gebilde,<br />
das nur im Hinblick auf das Zusammenleben einen Sinn erhält. In<br />
einer Welt, die immer stärker von einem an Profit und Einzelinteressen<br />
orientierten Individualismus geprägt ist, ist das keineswegs<br />
selbstverständlich. Deshalb hat unsere Gesellschaft seit Ende des<br />
19. Jahrhunderts verschiedene Instrumente geschaffen, um die<br />
Solidarität zu organisieren und zu strukturieren. Instrumente, die<br />
gefährdete Bevölkerungsgruppen vor Risiken schützen sollen, die<br />
gesellschaftlich relevant und von allgemeinem Interesse sind.<br />
Dank politischer Entscheide und einer engen Zusammenarbeit<br />
der Sozialpartner, also der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, traten<br />
Sozialversicherungen und Sozialhilfe teilweise oder <strong>ganz</strong> an die<br />
Stelle der einstigen Wohltätigkeit und Sicherheits- und Gesundheitsmassnahmen.<br />
Der Verstand, das Verantwortungsbewusstsein<br />
gegenüber den Schwächsten und die Vorteile des sozialen Friedens<br />
haben zu diesem grossen Fortschritt beigetragen.<br />
In Übereinstimmung mit den jeweiligen Anforderungen der<br />
Zivilgesellschaft, politischen Impulsen und Kräfteverhältnissen<br />
entwickelte die Schweiz ein weitreichendes und qualitativ hochstehendes<br />
soziales Sicherungssystem. Heute werden die Folgen von<br />
Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsausfall<br />
im Alter sowie die Unterstützung von Familien und Mittellosen gemeinsam<br />
von Bund, Kantonen, Gemeinden und über dreitausend<br />
gemeinnützigen Sozialwerken getragen.<br />
Sozialer Zusammenhalt<br />
Als untrennbare Einheit verschaffen Wirtschaft und Gesellschaft<br />
damit der breiten Bevölkerung Zugang zu Wohlstand. Dieses Netz<br />
aus unterschiedlichen Solidaritäten bildet das sogenannte «soziale<br />
Sicherungssystem», das einen unbestrittenen Beitrag zum Wohlergehen<br />
der Bevölkerung leistet. Es ist keine Last, es ist eine Investition<br />
in die Gemeinschaft. Nichts daran ist selbstverständlich oder<br />
gegeben, alles ist errungen. Denn der Sozialstaat, dieses grossartige<br />
Werk im Dienste des Zusammenlebens, wird seit seiner Entstehung<br />
immer wieder in Frage gestellt. Die Grundsätze, Ziele und<br />
Funktionsweisen dieses Werks werden unter dem Einfluss sich<br />
ändernder Lebensweisen und Erwartungen und der jeweiligen<br />
Wirtschaftskraft von Privathaushalten und Unternehmen immer<br />
wieder neu gestaltet. Auch die politischen Akteure beeinflussen<br />
das Werk mit ihren gesellschaftlichen Visionen, Ideologien, Sichtweisen<br />
und ihrer (Un-)Fähigkeit, zu erkennen, welch grosse Bedeutung<br />
die Gesundheits-, Sozial- und Bildungspolitik für den gesellschaftlichen<br />
und nationalen Zusammenhalt haben.<br />
Die Gesundheits-, Alters-, Familien-, Beschäftigungs- und<br />
Integrationspolitik, die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe,<br />
die öffentlichen Akteure, die das Funktionieren der föderalisti-<br />
schen Schweiz garantieren, im Zusammenspiel mit den privaten<br />
Akteuren, die mit der Umsetzung sozialpolitischer Entscheide<br />
betraut sind – sie alle befinden sich im Zentrum eines deutlich<br />
spürbaren Wandels. Man denke nur an die neuen Technologien<br />
und Produktionsweisen oder die demografische Entwicklung,<br />
aber auch an die Veränderung, denen der Lebensstil, die Familie,<br />
unsere Beziehung zum Geld und Werte wie Fairness oder soziale<br />
Gerechtigkeit unterworfen sind.<br />
Wandel und Solidarität<br />
Diese Veränderungen schlagen sich unweigerlich in den Entscheidungsprozessen<br />
nieder. Sie geben die Richtung und die Modalitäten<br />
der Politik vor. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und der<br />
Entwicklung von Analyseinstrumenten hielt eine dynamische<br />
Steuerung Einzug, die sich durch das Primat der Finanzpolitik<br />
auszeichnet. Geprägt durch die Schweizer Sparpolitik der letzten<br />
15 Jahre bringt sie Regelungen hervor, die selbst Hilfeleistungen<br />
an den Kriterien Wirtschaftlichkeit und Effizienz messen. Bei diesem<br />
Ansatz kann leicht etwas Wesentliches vergessen gehen, nämlich<br />
der eigentliche Kern jeder sozialpolitischen Massnahme: die<br />
Solidarität. In welcher Form auch immer sich die Solidarität in den<br />
politisch ausgehandelten institutionellen Konstrukten darstellt, sie<br />
ist und bleibt das Herzstück des Sozialstaats. Ist sie nicht vorhanden,<br />
besteht die Gefahr einer grundlegenden Verzerrung der Politik.<br />
Dennoch wird dieser entscheidende Grundsatz unterschätzt,<br />
oft missverstanden, manchmal in Zweifel gezogen. Bedenklich<br />
ist hierbei die Vermischung von Versicherungs- und Hilfsprinzip,<br />
die sowohl auf politischer Ebene als auch bei den mit der Umsetzung<br />
der Sozialgesetzgebung betrauten Akteuren um sich greift.<br />
Die fundamentalen Unterschiede bezüglich der sozialen Rechte,<br />
der Leistungsberechtigung und der Leistungshöhe werden<br />
heruntergespielt. Die Bestrebungen, die Sozialversicherungen zu<br />
schwächen, indem immer mehr Aufgaben und Kosten hin zur<br />
Sozialhilfe verlagert werden, sind Ausdruck dieses Phänomens.<br />
Die Folgen sind schwer zu bewältigen: Stigmatisierung, Demütigung,<br />
komplexe administrative Abläufe sowie die Weigerung, eine<br />
finanzielle oder moralische Schuld gegenüber der Gesellschaft<br />
«Der Sozialstaat ist eine<br />
gemeinschaftliche und<br />
solidarische Antwort auf<br />
die Risiken des Lebens.»<br />
16 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT
sozialstaat<br />
Die Gemeinschaft gibt dem Einzelnen Sicherheit.<br />
Bild: Keystone<br />
einzugehen, führen dazu, dass viele Menschen lieber auf die<br />
Leistungen verzichten und dadurch an den Rand gedrängt werden.<br />
Die Verlagerung zur Sozialhilfe bringt uns wieder zurück zur<br />
Wohltätigkeit, und das in einem Land, das zu den reichsten der<br />
Welt gehört und über ein qualitativ hochstehendes Sozialsystem<br />
verfügt. Was für ein Widerspruch! Hier liegt die grosse, selten<br />
angesprochene Herausforderung für die Entwicklung des schweizerischen<br />
Sozialstaats.<br />
Der Sozialstaat ist eine wirtschaftliche, soziale und politische<br />
Erfolgsgeschichte. Das Sozialsystem ist, entgegen den Behauptungen<br />
seiner Kritiker, keineswegs ein Problem. Es stützt die Konsumfähigkeit<br />
verschiedener Bevölkerungsgruppen und mildert<br />
dadurch die Unwägbarkeiten des Konjunkturverlaufs und die mit<br />
Krankheit oder Alter verbundenen Risiken. Rund 2,4 Millionen<br />
Menschen beziehen gegenwärtig eine AHV-Rente. Mehr als eine<br />
Million erhält eine zusätzliche Rente der beruflichen Vorsorge.<br />
Über 300 000 AHV- und IV-Rentnerinnen und -rentner müssen<br />
dank Ergänzungsleistungen nicht in Armut leben. Rund 32 Milliarden<br />
Franken zahlen Krankenkassen und Unfallversicherungen<br />
im Rahmen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung aus.<br />
Etwa 150 000 Erwerbslose beziehen Leistungen von den regionalen<br />
Arbeitsvermittlungszentren, 230 000 Personen werden<br />
von der IV und 260 000 von der Sozialhilfe unterstützt. Rund<br />
155 Milliarden Franken ermöglichen der Bevölkerung ein würdevolles<br />
Leben in der Gesellschaft und tragen damit direkt zum<br />
sozialen Frieden bei, der wiederum eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />
für den Wohlstand bildet. Das heisst auch: Investitionen<br />
in Milliardenhöhe und Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Der<br />
Sozialstaat ist also kein Problem. Er ist eine gemeinschaftliche<br />
und solidarische Antwort auf die Risiken des Lebens. Er ist ein<br />
starker Wirtschaftssektor, der ausnahmslos allen Mitgliedern und<br />
Akteuren der Gesellschaft zugutekommt.<br />
Dreidimensionale Perspektive<br />
Der Sozialstaat muss sich weiterentwickeln und die dynamische<br />
Anpassung der Sozialwerke, aus denen er sich zusammensetzt,<br />
vorantreiben. Diese Entwicklung sollte zwei Ansätze vereinen. Der<br />
erste setzt auf eine sinnvolle Steuerung der Leistungen im Sinne<br />
des Service public, um so der demokratischen Forderung nach<br />
einer optimalen Ressourcenverteilung gerecht zu werden. Der<br />
zweite soll strukturelle Innovationsprozesse anstossen, um ein zu<br />
komplex gewordenes System zu vereinfachen, in dem verschiedene<br />
Teilentwicklungen Ungleichheiten und unerwünschte Nebeneffekte<br />
hervorgebracht haben. Es zeichnet sich folglich eine dreidimensionale<br />
Perspektive ab: sektorale Anpassung – systemische<br />
Reform – Service public. Nur so kann eine folgenschwere semantische<br />
Sackgasse überwunden werden: die Verwechslung des<br />
Begriffs «Reform» mit «Einsparungen». Diese Verwechslung ist gefährlich,<br />
denn sie führt nicht zur Verbesserung und Neugestaltung,<br />
sondern eher zur Abschaffung des Sozialstaats. Sie lässt ausser<br />
Acht, dass in der sozialen Unsicherheit bedrohliche Entwicklungen<br />
schlummern, beispielsweise die Schwächung der demokratischen<br />
und behördlichen Legitimation, die Rückkehr zu einer willkürlichen<br />
Behandlung bestimmter Bevölkerungsgruppen, die<br />
Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Ungleichheit sowie eine<br />
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entsolidarisierung.<br />
Schliesslich muss eine nachhaltige Vision für den Sozialstaat<br />
junge Menschen noch stärker in Solidaritätsfragen einbinden. Die<br />
Beziehungen zwischen den Menschen, die unsere Gesellschaft<br />
bilden, haben nur einen Sinn und eine Perspektive, wenn sie (sozialen)<br />
Zusammenhalt und die Fähigkeit zum Zusammenleben<br />
hervorbringen. Eine der grössten Herausforderungen, die wir bewältigen<br />
müssen, ist der Entwurf, die Ausarbeitung und die strikte<br />
Umsetzung einer Strategie und eines generationenübergreifenden<br />
Systems für die soziale Sicherheit.<br />
•<br />
Stéphane Rossini<br />
Professor an den Universitäten Genf und Neuenburg<br />
Nationalratspräsident, SP<br />
SCHWERPUNKT 1/15 ZeSo<br />
Sozialer Schutz in Deutschland<br />
und in Frankreich<br />
Der Sozialstaat europäischer Prägung ist unter Druck. Das gilt in besonderem Masse für Frankreich<br />
und Deutschland, wo das Sozialversicherungssystem ähnlich wie in der Schweiz auf dem Boden der<br />
landesspezifischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung auf- und ausgebaut wurde:<br />
Betrachtungen zur Entstehung und zu den Eigenheiten sowie zur Wirkung und den Perspektiven des<br />
deutschen und des französischen Sozialsystems.<br />
Sowohl Deutschland wie Frankreich verfügen im internationalen<br />
Vergleich über eines der höchsten Schutzniveaus. Die Summe der<br />
sozialen Leistungen – überwiegend finanziert über Beiträge von<br />
Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf Erwerbseinkommen –<br />
macht rund jeden dritten Euro der jährlichen Wirtschaftsleistung<br />
aus: aktuell 32 Prozent in Frankreich und 28 Prozent in Deutschland.<br />
Allerdings stellen der Strukturwandel in den westlichen Industrienationen<br />
mit der Entstehung struktureller Arbeitslosigkeit<br />
und die stetig fortschreitende Globalisierung sowie der daraus resultierende<br />
Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft<br />
die langfristige Finanzierbarkeit des sozialen Schutzes zunehmend<br />
in Frage.<br />
Die Ursprünge staatlicher Fürsorge reichen in Deutschland in<br />
das ausgehende 19. Jahrhundert zurück, als Reichskanzler von<br />
Bismarck eine gesetzliche Sozialversicherung einführte, mit der<br />
die Risiken Krankheit (1883), Unfall (1884) und Alter (1889)<br />
abgedeckt werden sollten. Diese Antwort auf die mit der fortschreitenden<br />
Industrialisierung entstandenen sozialen Fragen sollte ein<br />
weiteres Erstarken der Sozialdemokratie verhindern. 1927 kam<br />
die Arbeitslosenversicherung hinzu, und 1995 – unter dem Eindruck<br />
des demografischen Wandels und der zunehmenden Zahl<br />
pflegebedürftiger Menschen – die Pflegeversicherung, so dass in<br />
Deutschland heute fünf Sozialversicherungszweige bestehen.<br />
Das deutsche System baut auf eine gute Konjunkturlage<br />
Da die Einnahmen der Sozialversicherung stark von der Konjunkturlage<br />
abhängen, haben das verlangsamte Wirtschaftswachstum<br />
seit den 1970er-Jahren und Phasen der Rezession die Finanzierung<br />
der einzelnen Sozialversicherungszweige erheblich beeinträchtigt.<br />
Die einfache Gleichung lautet: Weniger Wachstum bedeutet<br />
weniger Beschäftigung und damit auch weniger Einnahmen<br />
für die Sozialversicherung – und das in Zeiten, in denen die Kosten<br />
im Gesundheitswesen wegen des medizinischen Fortschritts<br />
unaufhörlich zunehmen und aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung<br />
die Ausgaben für Renten und Pflege stark anwachsen.<br />
Um dieses Problem zu bewältigen, wurde zunächst auf der Einnahmeseite<br />
angesetzt, indem zum einen die Sozialversicherungsbeiträge<br />
erhöht wurden und zum anderen der Staat höhere<br />
Zuschüsse in die Sozialkassen einschiesst.<br />
Die Grenzen dieser Strategie treten allerdings seit den 1990er-<br />
Jahren deutlich zu Tage. Einerseits macht es der gestiegene internationale<br />
Konkurrenzdruck unmöglich, die Lohnnebenkosten<br />
noch weiter in die Höhe zu treiben, ohne die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Wirtschaft aufs Spiel zu setzen. Andererseits kann die<br />
Querfinanzierung aus Steuermitteln in Anbetracht der hohen<br />
Staatsverschuldung auf Dauer nicht beliebig weiter gehen. Ein<br />
dritter Faktor sind sinkende Wachstumsaussichten vor dem Hintergrund<br />
einer schrumpfenden Bevölkerung. Deshalb hat sich der<br />
Blick in den beiden letzten Jahrzehnten auf die Ausgabenseite verlagert.<br />
Die Folge sind Leistungskürzungen, die Erhöhung von Eigenbeteiligungen<br />
der Versicherten und steigender Effizienzdruck.<br />
Im Jahr 2014 verzeichnete Deutschland aufgrund der guten wirtschaftlichen<br />
Lage zwar ein Rekordhoch an sozialversicherungspflichtig<br />
beschäftigten Menschen (über 43 Millionen), was bei<br />
den verschiedenen Sozialversicherungszweigen für entsprechende<br />
Einnahmen sorgte. Gleichwohl beläuft sich der Bundeszuschuss<br />
zur Rentenversicherung mittlerweile auf über 80 Milliarden Euro<br />
jährlich, was rund einem Drittel der gesamten Rentenausgaben<br />
entspricht (für rund 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner).<br />
Auch in den seit 2009 bestehenden Gesundheitsfonds, aus<br />
dem die Krankenkassen einheitliche Grundpauschalen für ihre<br />
Die Ausbildung von Sozialstaaten war eine Folge der Industrialisierung. <br />
18 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT
sozialstaat<br />
Versicherten erhalten, fliessen neben den Krankenversicherungsbeiträgen<br />
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern jährliche Zuschüsse<br />
des Staates von 10 bis 14 Milliarden Euro ein. Da die<br />
Zahl der Beitragszahler aufgrund der demografischen Entwicklung<br />
langfristig sinkt und gleichzeitig die Ausgaben für Renten,<br />
Gesundheit und Pflege steigen werden, ist mit einer weiteren Erhöhung<br />
der staatlichen Zuschüsse aus Steuermitteln zu rechnen.<br />
Eine 2009 beschlossene Schuldenbremse verbietet dem Bund jedoch<br />
ab 2016 eine Neuverschuldung, so dass kommende Erhöhungen<br />
nur noch moderat ausfallen können.<br />
Ausbau der privaten Vorsorge<br />
Folglich wird die Verantwortung zunehmend auf die Bürgerinnen<br />
und Bürger verlagert, die auch privat vorsorgen sollen, um sich<br />
gegen Lebensrisiken abzusichern. Um hierfür Anreize zu schaffen,<br />
fördert der Staat bereits seit Anfang der 2000er-Jahre private<br />
Zusatzversicherungen und Sparpläne. Der Einstieg erfolgte mit<br />
der sogenannten «Riester-Rente». Parallel dazu wurde eine Obergrenze<br />
für die Höhe der Rentenbeiträge und damit die schrittweise<br />
Absenkung des Rentenniveaus beschlossen. Die gesetzliche<br />
Rentenversicherung wird in Zukunft daher in vielen Fällen nur<br />
noch eine Basisrente finanzieren, die durch Betriebsrenten und<br />
private Sparpläne aufgestockt werden muss.<br />
Diese Strategie zur Verhinderung drohender Altersarmut ist allerdings<br />
umstritten. Als Kritik wird zum einen ins Feld geführt,<br />
Bild: Krupp-Werk Essen, 1865 / Keystone<br />
dass gerade Geringverdiener, die am meisten auf eine private Zusatzrente<br />
angewiesen wären, nicht über die notwendigen Ressourcen<br />
verfügen, um den Eigenanteil für einen entsprechenden Sparplan<br />
aufzubringen. Zum anderen ist die Rendite vieler privater<br />
Sparpläne derzeit denkbar schlecht. Daher ist davon auszugehen,<br />
dass in Zukunft immer mehr Menschen aufgrund ihrer geringen<br />
gesetzlichen Rente staatliche Hilfe benötigen. Mit der «Grundsicherung<br />
im Alter und bei Erwerbsminderung» werden seit Januar<br />
2003 niedrige Alterseinkünfte unter Berücksichtigung von Einkommen<br />
und Vermögen aus Steuermitteln aufgestockt.<br />
Reformen haben das Armutsrisiko erhöht<br />
Mehr Eigenverantwortung wird seit den Arbeitsmarktreformen<br />
von 2003 bis 2005 auch Arbeitslosen abverlangt. Vor dem Hintergrund<br />
hoher Arbeitslosigkeit und knapper Kassen führte die Regierung<br />
Schröder strengere Regeln für die Inanspruchnahme von<br />
Sozialleistungen ein, um den Anreiz zu erhöhen, eine Beschäftigung<br />
aufzunehmen. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds wurde<br />
gesenkt (auf in der Regel zwölf Monate), und die Arbeitslosenhilfe<br />
mit der Sozialhilfe zur sogenannten Grundsicherung für<br />
Arbeitssuchende («Hartz IV») verschmolzen. Deren Regelsatz liegt<br />
aktuell bei 399 Euro im Monat. Hinzu kommen die Kosten für<br />
(eine angemessene) Unterkunft und Heizung. Die Zahl der Hartz-<br />
IV-Empfänger beläuft sich derzeit trotz guter Konjunktur auf über<br />
sechs Millionen, darunter 4,3 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte<br />
sowie 1,7 Millionen Menschen, die im Haushalt eines<br />
Arbeitssuchenden leben, überwiegend Kinder unter 15.<br />
Parallel zu diesen Massnahmen wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert<br />
– unter anderem durch die Einführung von nicht sozialversicherungspflichtigen<br />
Minijobs mit einem monatlichen Entgelt von<br />
maximal 450 Euro und durch die Deregulierung von Temporärarbeit<br />
– um damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass (vor allem<br />
geringqualifizierten) Arbeitssuchenden auch eine Beschäftigungsmöglichkeit<br />
angeboten werden kann. Des Weiteren wurden das System<br />
der Arbeitsvermittlung reformiert und der Weiterbildungssektor<br />
gestärkt. Auf die Resultate dieser Politik kann hier nicht näher<br />
eingegangen werden. Nur soviel: Die Reformen haben fraglos dazu<br />
beigetragen, den deutschen Arbeitsmarkt aufnahmefähiger zu machen,<br />
gleichzeitig aber das Armutsrisiko von Arbeitslosen deutlich<br />
erhöht.<br />
Da die Einnahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung ebenfalls<br />
bei weitem nicht ausreichen, um die Ausgaben zu decken, und eine<br />
signifikante Erhöhung der Beiträge nicht in Frage kommt, werden seit<br />
2013 auch private Pflegezusatzversicherungen gefördert («Pflege-<br />
Bahr», nach dem damaligen Gesundheitsminister Daniel Bahr).<br />
Frankreich setzt stärker auf steuerfinanzierte Elemente<br />
Die Sécurité sociale, die französische Sozialversicherung, ist deutlich<br />
jünger als die deutsche. Mitte 19. Jahrhundert entwickelten<br />
sich zunächst genossenschaftliche Vereinigungen («Mutuelles»)<br />
zur gemeinschaftlichen Übernahme von Lebensrisiken der Arbeiter,<br />
während ein vom Staat geleisteter sozialer Schutz lange Zeit<br />
SCHWERPUNKT 1/15 ZeSo<br />
<br />
19<br />
nicht realisiert werden konnte. Nach mehreren Anläufen zur Einführung<br />
einer Sozialversicherung kam es erst nach Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs zur Schaffung der Sécurité sociale, die sich einerseits<br />
an der Bismarck-Logik einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung<br />
orientierte und gleichzeitig Elemente des vom britischen<br />
Lord Beveridge entworfenen Systems einer steuerfinanzierten sozialen<br />
Grundsicherung übernahm. Der Kraftakt, den aufgrund der<br />
berufsständischen Organisation der Mutuelles entstandenen<br />
Wildwuchs an Sozialkassen zu beseitigen, ist damals allerdings<br />
nicht gelungen. So besteht heute ein allgemeines System für die<br />
grosse Mehrheit der Arbeiter und Angestellten neben Sondersystemen<br />
für bestimmte Berufsgruppen (Landwirte, Selbständige) und<br />
Unternehmen, beispielsweise die französische Staatsbahn SNCF.<br />
Das Ziel, alle Bevölkerungsschichten unter dem Schirm der Sozialversicherung<br />
zu vereinen, wurde in den ersten Nachkriegsjahrzehnten<br />
und unter den Bedingungen der Vollbeschäftigung jedoch<br />
weitgehend erreicht. Parallel erfolgte ein kontinuierlicher<br />
Ausbau der Leistungen bis in die 1970er-Jahre.<br />
Parallelen und Besonderheiten der Systeme<br />
Die Sécurité sociale umfasst – wie in Deutschland – die Kranken-,<br />
eine Renten- und eine Unfallversicherung. Eine französische Besonderheit<br />
ist hingegen die Familienkasse, die nach dem Krieg vor<br />
allem aus bevölkerungspolitischen Motiven als Sozialversicherungszweig<br />
etabliert wurde und die einen Lastenausgleich schaffen<br />
sollte. Heute liegt der Schwerpunkt der Familienkasse auf der<br />
Armutsprävention und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.<br />
Die 1958 geschaffene Arbeitslosenversicherung finanziert sich<br />
zwar ebenfalls aus Sozialbeiträgen, wurde offiziell aber nicht in das<br />
System der Sécurité sociale integriert. Die Leistungen für pflegebedürftige<br />
Menschen werden aus Steuermitteln finanziert.<br />
Im Gegensatz zu Deutschland sah die französische Krankenversicherung<br />
von Anfang an eine Eigenbeteiligung der Versicherten<br />
vor («ticket modérateur»). So entstand die für Frankreich typische<br />
Kombination von gesetzlicher Basisversicherung und individuellem<br />
Zusatzschutz. 1999 erfolgte die Einführung einer steuerfinanzierten<br />
Krankenversicherung für Geringverdiener und Arbeitslose<br />
(Couverture maladie universelle, CMU), wobei das Modell<br />
von Basis- und Zusatzversicherung übernommen wurde: Bleiben<br />
die Jahreseinkünfte unter einer bestimmten Schwelle (für einen<br />
Einpersonenhaushalt knapp 8700 Euro), so werden alle Gesundheitskosten<br />
ohne Eigenbeteiligung übernommen.<br />
Im Bereich der Alterssicherung bestehen in Frankreich erhebliche<br />
Unterschiede zwischen den Rentenkassen der Privatwirtschaft<br />
und Sondersystemen des öffentlichen Sektors, die sich in<br />
abweichenden Altersgrenzen und Berechnungsformen und weiteren<br />
Sonderregelungen äussern. Anders als Deutschland setzt Frankreich<br />
nahezu exklusiv auf die gesetzliche Rentenversicherung<br />
und versucht seit etlichen Jahren, die dauerhafte Finanzierbarkeit<br />
eines gleich bleibend hohen Rentenniveaus durch eine schrittweise<br />
Erhöhung der für eine volle Rente erforderlichen Beitragsjahre<br />
und zuletzt auch durch eine Anhebung der Altersgrenzen zu gewährleisten.<br />
Die staatliche Förderung privater Vorsorge spielt entsprechend<br />
kaum eine Rolle. Die Defizite der Rentenkassen konnten<br />
aber nicht beseitigt werden, so dass weiterhin Reformbedarf<br />
besteht.<br />
Seit 1956 existiert im Weiteren ein steuerfinanziertes Mindesteinkommen<br />
für Bedürftige, das als «Minimum vieillesse» lange<br />
Zeit eine Reihe verschiedener Beihilfeformen beinhaltete, und an<br />
dessen Stelle zum 1. Januar 2006 die Allocation de solidarité aux<br />
personnes agées (ASPA) getreten ist. Wenn die Alterseinkünfte unter<br />
einer bestimmten Schwelle (rund 800 Euro) liegen, werden sie<br />
vom Staat aus Steuermitteln aufgestockt.<br />
Die Leistungen der französischen Arbeitslosenversicherung,<br />
die von den Sozialpartnern alle zwei Jahre neu verhandelt werden,<br />
sind bislang deutlich grosszügiger als in Deutschland, sowohl was<br />
die Dauer als auch die Höhe des Leistungsbezugs anbelangt. Angesichts<br />
einer seit Jahren hohen Arbeitslosigkeit ist das Defizit der<br />
Assurance chômage allerdings mittlerweile auf 21,4 Milliarden<br />
Euro angewachsen. Wenn kein Anspruch auf Arbeitslosengeld<br />
(mehr) besteht, greift die steuerfinanzierte Mindestsicherung<br />
(Revenu de solidarité active, RSA). Sie beträgt derzeit 509 Euro.<br />
Staatliche Zuschüsse zur Miete werden teilweise mit dem RSA verrechnet.<br />
Angesichts wachsender Defizite sah sich auch die französische<br />
Politik ab Mitte der 1970er-Jahre zu einer schrittweisen Transformation<br />
der Sozialsysteme gezwungen. Wie in Deutschland<br />
entschloss man sich dazu, die Einnahmeseite über Beitragserhöhungen<br />
zu verbessern und die Ausgaben über Leistungseinschränkungen<br />
zu reduzieren. In teilweiser Abkehr vom Bismarck-Prinzip<br />
wurde zu Beginn der 1990er-Jahre zudem eine neue Steuer, die<br />
Contribution sociale généralisée (CSG) eingeführt, die in die Sozialkassen<br />
fliesst und nicht nur auf Gehälter, sondern auch auf Kapitalerträge<br />
und Renten erhoben wird.<br />
Der Reformstress hält an<br />
Abschliessend lässt sich festhalten, dass Frankreich und Deutschland<br />
seit mehr als zwei Jahrzehnten faktisch unter Reformdauerstress<br />
sind: Beide wollen an den Grundprinzipien ihres Sozialstaats<br />
festhalten, müssen aber Leistungen kürzen oder begrenzen,<br />
um seine Finanzierbarkeit zu erhalten. Das schafft Unbehagen in<br />
der Bevölkerung. Für die Sozialsysteme beider Länder spielt die<br />
Konjunktur die Schlüsselrolle. Wir erleben gerade in Deutschland,<br />
wie sehr Wachstum und steigende Beschäftigung die Situation<br />
entspannen, während Frankreich seit einigen Jahren unter geringem<br />
Wachstum und einer hohen Arbeitslosigkeit leidet, wodurch<br />
sich die Finanzlage der Sozialversicherung weiter verschärft hat.<br />
Wenn es Frankreich gelingt, die strukturellen wirtschaftlichen<br />
Probleme zu überwinden, könnte die Sécurité sociale – wenngleich<br />
in etwas abgespeckter Form – aufgrund der günstigen<br />
demografischen Entwicklung (2,1 Kinder pro Frau) durchaus<br />
wieder ins Gleichgewicht kommen und langfristig stabilisiert<br />
werden. Gelingt es nicht, mittelfristig wieder auf einen stabilen<br />
Wachstumspfad zurückzukehren, muss das System hingegen<br />
grundlegend in Frage gestellt werden.<br />
In Deutschland werden – unabhängig von der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung – der durch den demografischen Wandel bedingte<br />
Rückgang der Erwerbsbevölkerung und die Alterung der Gesellschaft<br />
die Belastung der Sozialkassen in den kommenden Jahrzehnten<br />
massiv erhöhen. Wenn dieser Rückgang nicht im Rahmen<br />
gehalten werden kann, etwa durch höhere Erwerbsquoten<br />
von Frauen und Älteren und durch qualifizierte Einwanderung,<br />
ist das System langfristig nicht mehr finanzierbar. •<br />
Dominik Grillmayer<br />
Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg<br />
20 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT
sozialstaat<br />
Der US-amerikanische Sozialstaat ist sehr<br />
dezentral organisiert<br />
Die Gliedstaaten verfügen über viel Handlungsspielraum bei der Definition der Vergabekriterien für<br />
Sozialleistungen und deren Bemessung. Nach der Machtübernahme der Republikaner im Kongress<br />
hat sich die Debatte über die Wirksamkeit von staatlichen Unterstützungsprogrammen zugespitzt.<br />
Die USA gelten als Land, in dessen Sozialnetz grosse Löcher klaffen.<br />
In den Augen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung) hingegen gibt es zwischen dem<br />
Sozialstaat amerikanischer Prägung und dem Schweizer Modell,<br />
das in den Augen einer breiten Öffentlichkeit als eines der am besten<br />
ausgebauten gilt, keinen grossen Unterschied. Die Sozialausgaben<br />
der öffentlichen Hand beliefen sich im Jahr 2014 in beiden<br />
Ländern auf gut 19 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das sind<br />
Quoten, die deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegen.<br />
Dass das soziale System der USA einen schlechten Ruf hat, mag<br />
an der Entstehungsgeschichte des modernen amerikanischen<br />
Staates liegen: dem Sozialstaat schlägt in weiten Kreisen der Bevölkerung<br />
grosse Skepsis entgegen – aus sozialen, politischen und<br />
häufig auch aus rassischen Gründen. Eine andere Erklärung für<br />
die Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung des amerikanischen<br />
Sozialstaats kann darin gesucht werden, dass es sich um<br />
ein dezentrales Gebilde handelt. Zwar gibt «Washington» die Richtung<br />
vor und bestimmt in jeweils harzigen Budgetverhandlungen,<br />
wie viel Geld ins Sozialbudget fliesst. Abgerechnet wird aber über<br />
mehr als 125 staatliche Kassen, die in verschiedenen Ministerien<br />
angesiedelt sind. Zudem besitzen die 50 Bundesstaaten einen<br />
grossen Handlungsspielraum bei der Definition der Vergabekriterien.<br />
Zwischen einer Familie, die in Honolulu (Hawaii) auf staatliche<br />
Unterstützung angewiesen ist, und einem vergleichbaren<br />
Haushalt in Jackson (Mississippi) bestehen deshalb auffallend<br />
grosse Gegensätze. Und weil es sich bei den USA um einen zutiefst<br />
föderalistischen Staat handelt, bestimmen ungezählte lokale<br />
Programme die Ausprägungen der einzelnen Sozialsysteme mit.<br />
Die Denkfabrik Cato in Washington, die dem Sozialstaat kritisch<br />
gegenübersteht, berechnete kürzlich, dass sich die Einnahmen<br />
eines Sozialhilfebezügers auf Hawaii auf bis zu 49 200 Dollar<br />
pro Jahr summieren könnten, während der Maximalbetrag, der in<br />
Mississippi ausbezahlt wird, bei knapp 17 000 Dollar läge. Zum<br />
Vergleich: Im Mittel beläuft sich das Einkommen eines amerikanischen<br />
Haushalts gemäss der nationalen Volkszählungsbehörde<br />
auf knapp 52 000 Dollar (Stand 2013).<br />
<br />
Sozialhilfe the American way: Eine armutsbetroffene New Yorkerin beim Einkauf mit einer Electronic Benefit Transfer Card, die im Volksmund «Food<br />
Stamps» (Lebensmittelmarken) genannt werden.<br />
Bild: Keystone<br />
SCHWERPUNKT 1/15 ZeSo<br />
Das Basissystem<br />
Der amerikanische Sozialstaat baut auf mehreren stabilen Pfeilern<br />
auf. Am bekanntesten ist dabei die klassische und per Definition<br />
temporäre Sozialhilfe TANF (Temporary Assistance for Needy<br />
Families), die während maximal 60 Monaten bezogen werden<br />
kann. Eine wichtige Rolle spielt auch das Supplemental Nutrition<br />
Assistance Program (SNAP), der finanzielle Zuschuss an die Haushaltskasse,<br />
der im Volksmund immer noch Lebensmittelmarken<br />
genannt wird – obwohl die Auszahlung schon lange über Plastikkarten<br />
erfolgt. Hinzu kommen die staatlichen Krankenkassen für<br />
sozial Schwache (Medicaid), für Kinder (CHIP) und für Senioren<br />
(Medicare), die Arbeitslosenversicherung und die Altersversicherung<br />
(Social Security). Grosse Bedeutung kommen schliesslich<br />
auch den Steuergutschriften für Kleinverdiener und Familien<br />
(Earned Income Tax Credit) zu.<br />
Die genannten Programme – eine unvollständige Aufzählung<br />
– ergänzen sich, werden aber dezentral verwaltet und weisen unterschiedliche<br />
Kriterien bei der Vergabe und der Bemessung der<br />
Beiträge auf. Bei Medicaid und CHIP sind – nach der Umsetzung<br />
der Gesundheitsreform Obamacare – mehr als 68,5 Millionen<br />
Amerikanerinnen und Amerikaner eingeschrieben (Stand: Oktober<br />
2014). Damit kommen 21,4 Prozent der US-Bevölkerung in<br />
den Genuss einer (fast) kostenfreien Krankenversicherung. SNAP<br />
wiederum betreut 46,7 Millionen Menschen in 22,9 Millionen<br />
«Krieg gegen die Armut»<br />
Der vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson am 8. Januar<br />
1964 ausgerufene «Krieg gegen die Armut» hatte einen massiven<br />
Ausbau des Sozialstaates zur Folge, oftmals allerdings dem Prinzip<br />
von «trial and error» folgend. Zahlreiche dieser Programme überlebten<br />
die vergangenen fünf Jahrzehnte deshalb nicht, andere wurden unter<br />
den Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama angepasst. In den<br />
Augen der meisten Demokraten hat sich der Feldzug gegen die Armut<br />
gelohnt. Sie bemängeln höchstens, dass die öffentliche Hand just den<br />
<strong>ganz</strong> armen Amerikanerinnen und Amerikanern zu wenig unter die<br />
Arme greift. Konservative Amerikaner hingegen verweisen darauf, dass<br />
die öffentliche Hand nunmehr fast 1000 Milliarden Dollar pro Jahr für<br />
die Armutsbekämpfung ausgebe, dies aber nur geringen Einfluss auf<br />
die Armutsquote habe. Tatsächlich sind gemäss offizieller Statistik<br />
derzeit rund 15 Prozent aller Amerikaner arm und haben Anspruch<br />
auf staatliche Transferzahlungen – ähnlich hoch war die Quote schon<br />
Mitte der Sechzigerjahre. Allein: Dabei handelt es sich ein Stück weit<br />
auch um Zahlenakrobatik. Fachleute bemängeln schon lange, dass die<br />
Volkszählungsbehörde wichtige Pfeiler des Sozialstaates, zuvorderst<br />
Medicaid und Medicare sowie die Steuergutschriften, nicht in ihre Berechnungen<br />
einbeziehe. Alternative Berechnungen wie jene von Bruce<br />
Meyer (University of Chicago) und James Sullivan (University of Notre<br />
Dame) kommen zu anderen Ergebnissen. Gemäss ihren Zahlen ist<br />
die Armutsquote von 31,6 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1960 auf<br />
8,2 Prozent im Jahr 2012 gesunken. Anderseits gibt es auch Anzeichen<br />
dafür, dass der Sozialstaat tatsächlich immer häufiger sein Ziel verfehlt.<br />
Im Jahr 2011 gingen bloss 29,5 Prozent aller TANF-Bezüger nach zwei<br />
Jahren wieder einer geregelten Arbeit nach. Dabei sieht das Gesetz<br />
vor, dass bei Nicht-Erfüllen solcher obligatorischen «work activities»<br />
(arbeitsähnliche Aktivitäten, die von einer Lehre über gemeinnützige<br />
bis hin zu bezahlter Arbeit reichen) Sanktionen drohen.<br />
Haushalten, an die pro Monat «Lebensmittelmarken» im Wert von<br />
durchschnittlich 260 Dollar ausbezahlt werden. Temporäre Sozialhilfe<br />
wiederum bezogen 2014 im monatlichen Durchschnitt<br />
820 000 Erwachsene und 2,7 Millionen Kinder. Und bei der<br />
nationalen Arbeitslosenversicherung waren Ende Dezember<br />
2014 2,5 Millionen Menschen registriert – obwohl gleichzeitig<br />
gemäss Statistik 8,7 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner<br />
keiner bezahlten Arbeit nachgingen. Hier ist allerdings anzufügen,<br />
dass die Arbeitslosenversicherung in den USA recht niedrige<br />
Beträge bezahlt. Selbst in Massachusetts, dem Bundesstaat mit der<br />
grosszügigsten Ausgestaltung, erhält ein Arbeitsloser höchstens<br />
698 Dollar pro Woche ausbezahlt.<br />
Kakofonie von Meinungen<br />
Dieses Meer von Zahlen erschwert den Durchblick. Selbst Experten<br />
streiten sich über den Nutzen der staatlichen Programme, die ihre<br />
Wurzeln im «Krieg gegen die Armut» haben, der 1964 von Präsident<br />
Johnson ausgerufen worden war (siehe Kasten). In der Kakofonie der<br />
Meinungen lassen sich dennoch zwei Konstanten festmachen: Unter<br />
den Klientinnen und Klienten des amerikanischen Sozialstaats sind<br />
Bevölkerungsminderheiten überproportional stark vertreten – weil<br />
Afroamerikaner, Latinos, aber auch Amerikanerinnen und Amerikaner<br />
asiatischer Herkunft häufiger in einer ökonomisch schwierigeren<br />
Situation leben als die meisten weissen Amerikaner. Und die Republikanische<br />
Partei, die nicht <strong>ganz</strong> zu Unrecht als die Partei der weissen<br />
Amerikaner porträtiert wird, will den Sozialstaat beschneiden oder<br />
zumindest das Ausgabenwachstum bremsen. In den Worten des<br />
konservativen Vordenkers Paul Ryan klingt dies folgendermassen:<br />
Washington habe es in den vergangenen Jahren versäumt, den bedürftigen<br />
Amerikanern einen Weg aufzuzeichnen, wie sie sich aus<br />
dem Teufelskreis der Armut befreien könnten. Stattdessen sei in der<br />
Hauptstadt «ein komplexes Netz» von Sozialhilfeprogrammen entstanden.<br />
Einige dieser Angebote seien hilfreich, räumt der Republikaner<br />
ein. Andere aber machten Familien bloss abhängig von staatlichen<br />
Zahlungen. Auf letztere hat es Ryan, Abgeordneter im<br />
Repräsentantenhaus, abgesehen. Nach dem Sieg seiner Partei bei der<br />
Parlamentswahl im letzten Herbst kündigte er eine «Welfare Reform<br />
2.0» an, eine Anspielung auf den umstrittenen Umbau des Sozialstaates<br />
unter Präsident Clinton in den Neunzigerjahren.<br />
Mit politischem Widerstand gegen dieses Programm ist zu<br />
rechnen. In den Augen der meisten Demokraten gibt es wenig<br />
Sparpotenzial – bei der massiven Aufstockung der Sozialausgaben<br />
im Nachgang zur Finanzkrise habe es sich um einen notwendigen<br />
Schritt gehandelt. So stieg das Budget für das SNAP-Programm<br />
von 34,9 Milliarden im Jahr 2007 auf 82,5 Milliarden Dollar<br />
im Jahr 2013. Auch Präsident Obama kündigte bereits an, das<br />
Veto gegen allzu radikale Sparvorschläge der Republikaner einzulegen.<br />
Angesichts der Blockade in Washington wird sich die<br />
Aufmerksamkeit wohl bald in die einzelnen Bundesstaaten verlegen.<br />
Bereits haben konservative Gouverneure wichtiger Staaten<br />
im Mittleren Westen angekündigt, den Zugang zu den staatlichen<br />
Sozialhilfeprogrammen zu begrenzen. Und der letzte Schrei unter<br />
den konservativen Reformen ist die Forderung, dass zuerst einen<br />
Drogentest bestehen muss, wer staatliche Unterstützungsgelder<br />
erhalten will. Bereits gibt es solche rechtlich und politisch höchst<br />
umstrittene Verknüpfungen in zwölf der 50 Bundesstaaten. •<br />
Renzo Ruf, Korrespondent in Washington<br />
22 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT
«Das grösste Problem sind Personen<br />
ohne Berufsausbildung»<br />
sozialstaat<br />
Gespräch mit Françoise Jaques, Leiterin des Sozialamts des Kantons Waadt, und Nicole Wagner,<br />
Leiterin der Sozialhilfe Basel, über den Sozialstaat, die Akzeptanz der Sozialhilfe in der Bevölkerung und<br />
die bevorstehende Richtlinienrevision.<br />
Frau Jaques, Frau Wagner, wo drückt in Ihrem Kanton<br />
der Schuh in sozialen Fragen am meisten?<br />
Françoise Jaques: Bevor ich auf Probleme zu sprechen<br />
komme, möchte ich festhalten, dass sich die Situation im Kanton<br />
Waadt im Vergleich zu vor zehn Jahren verbessert hat. Die<br />
Zahl der Sozialhilfebeziehenden hat sich stabilisiert, der Kanton<br />
hat seine Schulden abgebaut und der Wirtschaft geht es gut. Ein<br />
grosses soziales Problem ist der Zugang zu günstigem Wohnraum.<br />
Die Hälfte der Sozialhilfekosten sind Mietkosten. Für Personen,<br />
die wenig oder kein Einkommen haben, ist die Situation extrem<br />
schwierig. Ein zweites grosses Problem sind Personen ohne Berufsausbildung.<br />
Betroffen sind insbesondere junge Sozialhilfebeziehende<br />
und Working Poor.<br />
Nicole Wagner: In Basel verzeichnen wir in den letzten Jahren<br />
eine leichte, aber stetige Zunahme der Sozialhilfebeziehenden.<br />
Unser grösstes Problem dabei sind die Niedrigqualifizierten. Sie<br />
haben kaum Chancen, eine Arbeit zu finden, von der sich leben<br />
lässt. Die Ausgangslage in Basel wird dadurch erschwert, dass<br />
die ansässige Industrie vor allem mittel- und hochqualifizierte<br />
Arbeitskräfte sucht. Dass sich Niedrigqualifizierte oft weder in<br />
Deutsch noch in Französisch oder Englisch ausdrücken können,<br />
kommt erschwerend hinzu. Die Problematik auf dem Wohnungsmarkt<br />
kennen wir natürlich auch. Und auch hier gilt: Wer mehrfach<br />
benachteiligt ist, hat noch grössere Probleme.<br />
Die Leistungen des Schweizer Sozialstaats werden im<br />
aktuellen politischen Klima immer mehr hinterfragt. Wie<br />
nehmen Sie in Ihrem Kanton die Stimmung gegenüber der<br />
Sozialhilfe wahr?<br />
Wagner: Vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass wir in Basel kein<br />
Akzeptanzproblem haben. Seit in den Medien vermehrt über die<br />
Sozialhilfe geschrieben wird, wird die Sozialhilfe und ihre Leistungen<br />
vermehrt in Frage gestellt. Durch die meist negativen Berichte<br />
scheint es heute fast ein wenig so, als ob die Sozialhilfe für alle<br />
möglichen Probleme zuständig sei.<br />
Jaques: Ich erlebe das ähnlich. Die Sensibilität gegenüber Sozialhilfethemen<br />
hat zugenommen, die Toleranz hat abgenommen.<br />
Das bedingt eine regelmässige und transparente Kommunikation<br />
über unsere Kontroll- und Integrationsprogramme – das sind<br />
die beiden wirksamsten Massnahmen in der Sozialhilfe. Aber ich <br />
Françoise Jaques (links) und Nicole Wagner im Gespräch über aktuelle sozialstaatliche Herausforderungen. <br />
SCHWERPUNKT 1/15 ZeSo<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
«Ich würde einen<br />
schweizweiten<br />
Ausgleich begrüssen,<br />
der in allen<br />
Sozialsystemen<br />
zur Anwendung<br />
gelangt.»<br />
Nicole Wagner<br />
<br />
denke, die Bevölkerung ist sich nach wie vor bewusst, dass es in jeder<br />
Gesellschaft Solidarität und sozialen Zusammenhang braucht.<br />
Bei der Abstimmung über die Ergänzungsleistungen für Familien<br />
beispielsweise erzielte die Vorlage rund 65 Prozent Zustimmung.<br />
Wagner: Wir haben viele Medienanfragen. Da werden wir<br />
dahingehend gefragt, ob wir die Leute «verwöhnen». Ich erkläre<br />
dann, dass die Ursache für die steigende Sozialhilfequote nicht bei<br />
der Sozialhilfe selbst liegt. Das lässt sich beispielsweise anhand<br />
der Arbeitslosenquote zeigen. Während es vor ein paar Jahren<br />
im Durchschnitt ein Jahr dauerte, bis man eine Arbeit gefunden<br />
hatte, die der Qualifikation entspricht, dauert es heute mehr als<br />
anderthalb mal so lang. Nach zwei bis drei Jahren verlieren viele<br />
Leute aber sowohl ihre beruflichen als auch sozialen Kompetenzen.<br />
So potenzieren sich die Probleme gegenseitig, und das<br />
wirkt sich dann auf die Sozialhilfequote aus.<br />
Je komplexer die Zusammenhänge, desto schwieriger ist<br />
die Kommunikation?<br />
Jaques: Dass wir die Zusammenhänge und unsere Massnahmen<br />
immer wieder erklären, hilft, den Druck zu vermindern. Drei<br />
Massnahmen haben <strong>ganz</strong> besonders dazu beigetragen, Druck von<br />
der Sozialhilfe wegzunehmen: Die Überbrückungsleistungen für<br />
ausgesteuerte Arbeitslose kurz vor der Pensionierung. Die Massnahme<br />
zielt darauf ab, ihnen eine vorzeitige Pensionierung ohne<br />
Abstriche bei der Rente zu ermöglichen. Mit den Ergänzungsleistungen<br />
für Familien unterstützen wir Working-Poor-Familien, die<br />
nicht in die Sozialhilfe gehören. Die dritte wichtige Massnahme<br />
zielt darauf ab, jungen Sozialhilfebeziehenden eine Ausbildung<br />
oder ein Stipendium zu ermöglichen.<br />
Wagner: Bei uns bewährt sich in dem Zusammenhang, dass<br />
wir eine interinstitutionelle Strategiegruppe zur Verhinderung<br />
von Jugendarbeitslosigkeit haben. Wir versuchen, Problemfälle<br />
sehr früh zu erkennen und Jugendliche bei der Suche nach einer<br />
Ausbildung oder Lehrstelle zu begleiten. Dazu wurden viele unterschiedliche<br />
Brückenangebote für Jugendliche geschaffen, die<br />
es ihnen erlauben, sich sprachliche und schulische Kompetenzen<br />
anzueignen. Damit erzielen wir sehr gute Resultate.<br />
Mit solchen Massnahmen kann man die Sozialhilfe<br />
entlasten, dafür fallen anderswo «Sozialkosten» an. Nun<br />
herrscht in der Schweiz ein breiter Konsens darüber, dass<br />
der Staat seine Kosten im Griff haben sollte. Haben Sie<br />
eine Idee, wie sich das Dilemma zwischen sozialem und<br />
ökonomischem Handeln überwinden lässt?<br />
Jaques: Das muss kein Dilemma sein. Beides sind wichtige<br />
Kriterien, um eine stabile Situation zu erhalten. Wenn wir ein<br />
gutes System haben, das die sozialen Risiken abfedert, schafft das<br />
ein Gleichgewicht, von dem auch die Wirtschaft profitiert. Auf der<br />
anderen Seite schafft eine gesunde Wirtschaft die Voraussetzung<br />
dafür, das Funktionieren unseres sozialen Systems zu garantieren.<br />
Und die Unternehmen sind die ersten Ansprechpartner der Sozialhilfe,<br />
wenn es darum geht, Massnahmen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt<br />
und Berufsausbildungen zu ermöglichen.<br />
Wagner: Die Investitionen in die soziale Sicherheit sind eine Investition<br />
in das Funktionieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft.<br />
In Basel haben wir allerdings eine spezielle Situation, weil<br />
die grossen Arbeitgeber internationale Industrieunternehmen sind.<br />
Die Möglichkeiten, mit ihnen zu verhandeln, sind beschränkt. Wir<br />
müssen deshalb auf langfristige Investitionen setzen, etwa indem<br />
wir Niedrigqualifizierten Weiter- und Nachholbildungen ermöglichen.<br />
Solche Massnahmen zeigen keine kurzfristigen Resultate. Ihr<br />
Erfolg ist deshalb schwierig zu kommunizieren.<br />
Wie beurteilen Sie die aktuelle Diskussion über die<br />
SKOS-Richtlinien?<br />
Wagner: Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Diskussion<br />
über die Richtlinien zu mehr Akzeptanz bei den Kantonen und<br />
Gemeinden führt. Das ist enorm wichtig für unsere Arbeit.<br />
24 ZeSo 1/15 SCHWERPUNKT
sozialstaat<br />
«Für ein wirksames<br />
Anreizsystem<br />
braucht<br />
es einen Fächer<br />
von gezielten<br />
Integrationsangeboten.»<br />
Françoise Jaques<br />
In welche Richtung soll die Revision gehen?<br />
Wagner: Ich denke, die Anreizsysteme müssen reflektiert werden.<br />
Die neuste Studie kommt zum Schluss, dass die kantonalen<br />
Unterschiede gross sind und dementsprechend ihre Wirkung<br />
nicht überall und in allen Bereichen den Erwartungen entspricht.<br />
In Basel werden die Integrationszulagen sehr zurückhaltend gesprochen.<br />
Das erhöht den Anreiz, eine Arbeit zu suchen. Wenn<br />
ausserdem jeder Kanton die Anreizmöglichkeiten anders definiert,<br />
ist das der allgemeinen Akzeptanz der Richtlinien kaum<br />
zuträglich.<br />
Die Waadt hat die letzte Revision von 2005, mit der das<br />
Anreizsystem eingeführt wurde, nicht umgesetzt. Was<br />
erwarten Sie, Frau Jaques, von der aktuellen Richtlinienrevision?<br />
Jaques: Ein Grund, weshalb der Kanton Waadt das Anreizsystem<br />
nicht eingeführt hat, war, dass wir damals nicht über die nötigen<br />
Integrationsangebote verfügten. Heute sieht das anders aus:<br />
Wir haben zahlreiche Integrations- und Ausbildungsprogramme<br />
entwickelt und wir haben die Empfehlungen der SKOS im Hinblick<br />
auf die Integration junger Sozialhilfebezüger übernommen.<br />
Sie erhalten einen reduzierten Grundbedarf, und sie werden bei<br />
der Suche nach einer Anstellung oder einem Ausbildungsplatz aktiv<br />
unterstützt. Für ein wirksames Anreizsystem braucht es einen<br />
Fächer von gezielten Integrationsangeboten.<br />
Solche Programme zu unterhalten, ist die Aufgabe der<br />
Kantone, nicht der SKOS.<br />
Wagner: Man kann die Kantone nicht zu Massnahmen und<br />
Angeboten zwingen, dazu bräuchte es ein Bundesrahmengesetz.<br />
Das Wichtigste ist, dass wir die Unterwanderung des gemeinsamen<br />
Konsenses stoppen können. Die SKOS-Richtlinien sollten<br />
die gleiche Akzeptanz erlangen wie die SIA-Normen in der Architektur,<br />
über die auch nicht immer wieder diskutiert wird.<br />
Braucht es eher eine grössere oder eher eine geringere<br />
Verbindlichkeit der Richtlinien?<br />
Jaques: Ein Wettbewerb auf der Ebene der Sozialleistungen ist<br />
äusserst schädlich. Trotzdem muss jeder Kanton die Möglichkeit<br />
haben, eine Sozialpolitik zu entwickeln, die seinen wirtschaftlichen<br />
und politischen Rahmenbedingungen entspricht.<br />
Was können die Deutschschweizer vom Westschweizer<br />
Ansatz und umgekehrt die Westschweizer vom Deutschschweizer<br />
Ansatz lernen?<br />
Jaques: In den französischsprachigen Kantonen gibt es Finanzierungsmodelle<br />
für die Sozialhilfe, die zum einen auf einer Kostenteilung<br />
zwischen Kanton und Gemeinden und zum anderen<br />
auf einem Lastenausgleich unter den Gemeinden basieren. Damit<br />
wird verhindert, dass eine einzelne Gemeinde zu hohe Sozialhilfekosten<br />
tragen muss.<br />
Wagner: Als urbane Stadtgemeinde wachsen unsere Probleme<br />
stärker als an anderen Orten. Die Auswirkungen beispielsweise<br />
von ALV- und IV-Revisionen spüren wir viel stärker und schneller.<br />
Ich würde eine Kostenverteilung auf Bundesebene begrüssen,<br />
einen schweizweiten Ausgleich, der in allen Sozialsystemen zur<br />
Anwendung gelangen würde. Dass die Sozialhilfe nicht auf der<br />
gleichen Staatsebene behandelt wird, ist ein grosses Handicap.<br />
Was könnte die Romandie von den Deutschschweizer<br />
Kantonen lernen?<br />
Jaques: Mich interessieren Präventionsmassnahmen im Gesundheitsbereich<br />
und Ansätze zum interinstitutionellen Austausch<br />
zum Wohl der Klienten, die es in verschiedenen Deutschschweizer<br />
Kantonen gibt. <br />
•<br />
Gesprächsleitung<br />
Michael Fritschi<br />
Grund- und Menschenrechte<br />
in der Sozialhilfe<br />
Die Sozialhilfe sichert bedürftigen Menschen ein Überleben in Würde. Damit dient sie der Verwirklichung<br />
fundamentaler Grund- und Menschenrechte. Während diese Funktion grundsätzlich unbestritten ist,<br />
bietet die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe in der Praxis Anlass zu Diskussionen.<br />
Sozialhilfe und Grundrechte eröffnen in<br />
der Praxis immer häufiger ein Spannungsfeld.<br />
Der jüngste Ruf nach Aufhebung des<br />
Datenschutzes oder nach dem «gläsernen»<br />
Klienten, die Forderung nach einem Verbot<br />
des Autobesitzes für Sozialhilfebeziehende<br />
oder drakonischen Strafen für Sozialhilfebetrug<br />
sind Beispiele dafür. Nicht<br />
wenige öffentlich erhobene Forderungen<br />
müssen als klare Absage an verfassungsmässig<br />
garantierte Grundrechte gedeutet werden<br />
und lassen jede Verhältnismässigkeit<br />
vermissen. Auch dürfen die Grundrechte<br />
von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern<br />
nicht aus Spargründen eingeschränkt<br />
werden: Grundrechtsschutz kostet. Dieser<br />
Grundsatz scheint von der Öffentlichkeit<br />
in anderen Bereichen wie etwa bei Massnahmen<br />
zur Gleichstellung von Menschen<br />
mit einer Behinderung oder im Strafvollzug<br />
bereitwilliger akzeptiert zu werden als<br />
in der Sozialhilfe.<br />
In der öffentlichen Sozialhilfe werden<br />
jährlich zehntausende Verfügungen erlassen,<br />
die das Leben von Menschen betreffen,<br />
die ihren Lebensunterhalt nicht aus<br />
eigener Kraft bestreiten können. Viele dieser<br />
Entscheide verbinden staatliche Leistungen<br />
mit Eingriffen in die Grundrechte.<br />
Auflagen, Weisungen und Sanktionen gehören<br />
zum sozialarbeiterischen Alltag.<br />
Für Behörden und Fachleute in der Praxis<br />
der sozialen Arbeit stellen sich damit<br />
immer wieder heikle Fragen: Wann rechtfertigt<br />
eine Massnahme den Eingriff in<br />
ein Grundrecht? Welche Voraussetzungen<br />
müssen gegeben sein? Wie steht es mit der<br />
Güterabwägung? Wie kann ein gewünschtes<br />
Verhalten eingefordert werden? Welche<br />
Sanktionen sind zulässig? Solche Fragen<br />
lassen sich nicht immer einfach beantworten<br />
und sie stellen die Verantwortlichen vor<br />
schwierige Entscheidungen.<br />
Die Sozialhilfe hat zunächst die Aufgabe,<br />
jene Menschen zu unterstützen<br />
und ihnen Hilfe zu gewähren, die sich in<br />
einer Notlage befinden und die ihren Lebensunterhalt<br />
nicht aus eigenen Kräften<br />
bestreiten können. Sie sichert ihnen ein<br />
Überleben in Würde und dient damit der<br />
Verwirklichung fundamentaler Grundund<br />
Menschenrechte. Der in diesem Zusammenhang<br />
zentrale Artikel 12 der Bundesverfassung<br />
garantiert den Anspruch auf<br />
Existenzsicherung von Menschen, die sich<br />
Ein Leitfaden für die<br />
Praxis<br />
Das auf diesen Seiten reflektierte Zusammenspiel<br />
von Grund- und Menschenrechten und<br />
Sozialhilfe gibt Inhalte des im März erscheinenden<br />
Praxis-Leitfadens «Grund- und Menschenrechte<br />
in der Sozialhilfe» wieder. Darin<br />
werden im ersten Teil die relevanten rechtlichen<br />
Grundlagen dargelegt und die Stellung<br />
des öffentlichen Interesses, Fragen der Verhältnismässigkeit,<br />
Verfahrensfragen und die materiellen<br />
Grundrechte wie die Menschenwürde,<br />
das Recht auf Hilfe in Notlagen, das Recht auf<br />
persönliche Freiheit usw. diskutiert. Im zweiten<br />
Teil werden wichtige Handlungsinstrumente<br />
der Sozialhilfe thematisiert wie Auflagen,<br />
Weisungen und Sanktionen. Anhand verschiedener<br />
Fallbeispiele werden Herausforderungen<br />
für die Praxis besprochen und Lösungsansätze<br />
aufgezeigt (siehe Seiten 28 und 29).<br />
Der gemeinsam von der SKMR und der HSLU<br />
erarbeitete Leitfaden wird den Abonnentinnen<br />
und Abonnenten des SKOS-Newsletters kostenlos<br />
und elektronisch zur Verfügung gestellt.<br />
Literatur<br />
Schweizerische Kommission für Menschenrechtsfragen,<br />
Hochschule Luzern Soziale<br />
Arbeit (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in<br />
der Sozialhilfe – Ein Leitfaden für die Praxis,<br />
Interact-Verlag, <strong>2015</strong>.<br />
in einer Notlage befinden und sich nicht<br />
aus eigenen Kräften helfen können. Die<br />
Wahrung der Menschenwürde (Art. 7 BV)<br />
ist das Ziel, das allen Grundrechten übergeordnet<br />
ist. Dieser Kern ist unantastbar.<br />
Die ordentliche Sozialhilfe, wie sie in<br />
den kantonalen Sozialhilfegesetzen geregelt<br />
ist, geht über diesen Kern hinaus. Sie<br />
sieht Leistungen vor, die ein soziales Existenzminimum<br />
sichern sollen. Zudem hat<br />
die Sozialhilfe auch die sozialpolitische<br />
Funktion der Armutsbekämpfung und der<br />
Integration Armutsbetroffener in die Arbeitswelt<br />
und die Gesellschaft. Nicht alle<br />
Leistungen und Standards der Sozialhilfe<br />
sind grundrechtlich begründet. Die ordentliche<br />
Sozialhilfe geht über das verfassungsmässige<br />
Minimum hinaus.<br />
Die Grundrechte sind immer zu achten<br />
Grund- und Menschenrechte haben aber<br />
auch im Bereich der ordentlichen Sozialhilfe<br />
eine grosse Bedeutung. Zunächst sind<br />
Grundrechte wie etwa die Glaubens- und<br />
Gewissensfreiheit, die Niederlassungsfreiheit,<br />
der Schutz der Persönlichkeit oder das<br />
Diskriminierungsverbot in jedem Fall zu<br />
beachten. Sie gelten unabhängig von kantonalen<br />
Regelungen oder von der Höhe der<br />
Leistungen. Sozial Tätige und Behördenmitglieder<br />
sind stets an die Grundrechte<br />
gebunden und verpflichtet, zu deren Verwirklichung<br />
beizutragen (Art. 35 Abs. 2<br />
BV). Diese Verpflichtung ist umfassend<br />
und schliesst die Pflicht mit ein, allgemeine<br />
Erlasse auf ihre Übereinstimmung mit<br />
den Grundrechten zu überprüfen.<br />
Doch auch bei den Grundrechten kann<br />
es Einschränkungen geben. So ist eine Verweigerung<br />
der Arbeitssuche unter Berufung<br />
auf die Glaubens- oder Gewissensfreiheit<br />
ebenso unmöglich wie eine Ablehnung<br />
der Auflage, eine ärztliche Untersuchung<br />
vornehmen zu lassen. Wann immer jedoch<br />
Grundrechte eingeschränkt werden, müssen<br />
gewisse Voraussetzungen – etwa die<br />
26 ZeSo 1/15 GRUNDRECHTE
ein grundrechtswidriges Verhalten. Aber<br />
ab wann liegt eine Rechtsverzögerung vor?<br />
Schon wenn ein überlasteter Sozialdienst<br />
Termine für ein Erstgespräch erst viele<br />
Wochen später anbietet? Die Missachtung<br />
des Rechts auf rechtliches Gehör kann zur<br />
Aufhebung von Entscheiden durch die<br />
Oberinstanzen führen und Frustration auslösen,<br />
da das Verfahren wiederholt werden<br />
muss.<br />
Nicht jede Sozialberatung verläuft konfliktfrei. Unter welchen Voraussetzungen rechtfertigt eine Massnahme<br />
den Eingriff in ein Grundrecht? <br />
Bild: Rudolf Steiner<br />
Achtung der formalen Grund- und Menschenrechte<br />
– gegeben sein.<br />
Vier Voraussetzungen für<br />
Einschränkungen<br />
Eine Einschränkung der Grundrechte ist<br />
nur gerechtfertigt, wenn vier Voraussetzungen<br />
erfüllt sind: Sie braucht zunächst eine<br />
gesetzliche Grundlage. In den vergangenen<br />
Jahren haben die meisten Kantone im<br />
Rahmen von Gesetzesrevisionen neue Bestimmungen<br />
eingeführt, so dass heute die<br />
rechtlichen Grundlagen zumeist gegeben<br />
sind. Als Zweites braucht es ein öffentliches<br />
Interesse an einer Massnahme. Das<br />
Kindeswohl beispielsweise zielt auf die<br />
Vermeidung von Armut oder Missbräuchen.<br />
Aber auch die öffentliche Ordnung<br />
oder Gesundheit können solche Interessen<br />
sein. Massnahmen müssen zudem notwendig<br />
und verhältnismässig sein, weil der Ermessensspielraum<br />
gross und die Gefahr<br />
von willkürlichen Entscheiden nicht unerheblich<br />
ist. Schliesslich dürfen Auflagen<br />
und Weisungen das Grundrecht nicht in<br />
seinem Kern aushöhlen.<br />
Im Sozialhilfealltag sind weitere Grundrechte<br />
von zentraler Bedeutung. Zu nennen<br />
sind etwa die Verbote der Rechtsverweigerung<br />
und der Rechtsverzögerung<br />
auf der Basis des Rechts auf rechtliches<br />
Gehör. Die Praxis, Gesuche um Sozialhilfe<br />
nicht entgegenzunehmen, sondern die<br />
Gesuchsteller informell abzuweisen, ist<br />
Besonderheit der Sozialhilfepraxis<br />
Hier sieht sich die Praxis der Sozialhilfe zudem<br />
einer Besonderheit im Verhältnis zum<br />
Recht ausgesetzt. Ein zentraler Bezugspunkt<br />
für die soziale Arbeit bleibt der Hilfsprozess.<br />
Dieser ist ständigen Veränderungen<br />
der äusseren Verhältnisse unterworfen<br />
und bedingt eine enge Interaktion von<br />
Sozialarbeitenden und Hilfesuchenden. So<br />
können sich beispielsweise Einkommensverhältnisse<br />
oder der Bedarf an Leistungen<br />
der Klienten sehr rasch verändern. Diesen<br />
Besonderheiten steht eine Rechtsordnung<br />
gegenüber, die weniger den dynamischen<br />
Prozess betrachtet als vielmehr eine statische<br />
Ordnung von Rechten und Pflichten,<br />
die es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu<br />
beurteilen gilt.<br />
Zum Zeitpunkt der Beurteilung einer<br />
Rechtslage, beispielsweise durch eine Rechtsmittelinstanz,<br />
können sich die Verhältnisse<br />
bereits verändert haben und es kann eine<br />
Neubeurteilung der Leistungen nötig sein.<br />
Während im Sozialversicherungsrecht ein<br />
Rentenanspruch unabhängig von der Finanzlage<br />
des Antragstellers beurteilt werden<br />
kann – gegebenenfalls in einem länger<br />
dauernden Verfahren –, muss die Sozialhilfe<br />
als letztes Netz der sozialen Sicherung<br />
den grundrechtlich garantierten<br />
Lebensunterhalt Bedürftiger auch während<br />
eines strittigen Verfahrens sicherstellen<br />
und sich so jederzeit mit neu geltend gemachten<br />
Sachverhalten auseinandersetzen.<br />
Dies führt in der Praxis zu einer anspruchsvollen<br />
Wechselwirkung zwischen Sachverhalt<br />
und rechtlicher Beurteilung. •<br />
Gülcan Akkaya<br />
Institut für Soziokulturelle Entwicklung<br />
Hochschule Luzern Soziale Arbeit<br />
GRUNDRECHTE 1/15 ZeSo<br />
27
Fallbeispiel 2<br />
Kürzung des Grundbedarfs<br />
bei Familien<br />
Ein Vater hat verschiedene Termine beim regionalen Arbeitsvermittlungszentrum<br />
nicht wahrgenommen. Aufgrund der mangelnden<br />
Kooperation wird seiner Familie, zu der neben ihm seine Frau<br />
und ein Kind gehören, der Grundbedarf für den Lebensunterhalt<br />
für ein Jahr um 15 Prozent gekürzt.<br />
Fragestellungen<br />
Ist es zulässig, dass Frau und Kinder für das Fehlverhalten des<br />
Familienvaters mitbestraft werden? Handelt es sich bei einer solchen<br />
Praxis um Sippenhaft? Müssen die Interessen der minderjährigen<br />
Kinder besonders berücksichtigt werden? Müssten in einer<br />
solchen Situation die Frau und das Kind als eigene Unterstützungseinheit<br />
betrachtet werden?<br />
Rechtliche Beurteilung<br />
In der Sozialhilfe wird eine Familie als Unterstützungseinheit behandelt.<br />
Massgebend für die Leistungen ist der Bedarf der gesamten<br />
Familie. Die Grundrechte indes stehen jedem einzelnen Mitglied<br />
zu. Entsprechend ist bei Kürzungen wegen mangelnder<br />
Kooperation zunächst zu prüfen, inwiefern sie neben dem Verursacher<br />
andere Familienmitglieder treffen. Besonders zu berücksichtigen<br />
sind dabei die Interessen der Kinder (Art. 11 BV). Wenn die<br />
Familienmitglieder einer zu sanktionierenden Person mittels einer<br />
Leistungskürzung mitbestraft werden, kommt es zu einer «Sippenhaftung»,<br />
die weder im Gesetz noch in der Verfassung eine Grundlage<br />
hat. Im vorliegenden Fall geht es darum, den Vater für sein<br />
Fehlverhalten verantwortlich zu machen. Bei individuellen Pflichtverletzungen<br />
widerspricht die kollektive Sanktionierung der<br />
gesamten Familie dem verwaltungsrechtlichen Störerprinzip. Mit<br />
Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip und das Störerprinzip<br />
ist sie sogar äusserst problematisch. Wie in jedem Fall einer Sanktion<br />
ist auch hier die Verhältnismässigkeit mit Blick auf die Unterstützungseinheit<br />
zu prüfen. Gemäss SKOS-Richtlinien kann unter<br />
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit der Grundbedarf<br />
für den Lebensunterhalt für die Dauer von zwölf Monaten<br />
um höchstens 15 Prozent gekürzt werden. Zudem können Leistungen<br />
mit Anreizcharakter, wie der Einkommensfreibetrag, die<br />
Integrationszulagen und die Minimalen Integrationszulagen<br />
gekürzt werden. Die Situation der mitbetroffenen Unterstützungseinheit<br />
ist dabei angemessen zu berücksichtigen. Auch besteht die<br />
Möglichkeit der Direktzahlung, etwa von Ausbildungsbeiträgen<br />
für die Kinder an die entsprechenden Institutionen.<br />
Handlungsempfehlungen<br />
Im konkreten Fall ist zu prüfen, wie sich die Kürzungen auf die Familie<br />
auswirken. Insbesondere sind die Interessen der Frau und<br />
des Kindes zu berücksichtigen. Für das Fehlverhalten des Vaters<br />
können sie nicht verantwortlich gemacht werden. Es stellt sich die<br />
Frage, ob gezielt dem Vater zu Gute kommende situationsbedingte<br />
Leistungen gestrichen werden können oder ob einzelne situationsbedingte<br />
Leistungen für die Frau und das Kind direkt übernommen<br />
werden. Je nach Situation könnte es erforderlich sein, die Frau<br />
und das Kind als eigene Unterstützungseinheit zu behandeln. •<br />
Fallbeispiel 3<br />
Weisung zur Teilnahme<br />
am Arbeitsabklärungsplatz<br />
Ein ausgesteuerter Mann mittleren Alters bezieht seit einigen Monaten<br />
wirtschaftliche Sozialhilfe. Alle Versuche, eine geeignete Arbeitsstelle<br />
zu finden, sind fehlgeschlagen. Es wird ihm die Auflage<br />
gemacht, an einem Arbeitsabklärungsplatz teilzunehmen, um seine<br />
Motivation und Fähigkeiten abzuklären. Der Mann weigert<br />
sich, am Programm teilzunehmen. Er brauche Arbeit, keine Abklärung.<br />
Zudem wolle er sich nicht in einem Programm, in dem er unterfordert<br />
sei, ausnutzen lassen und für ein Taschengeld arbeiten.<br />
Fragestellungen<br />
In Fällen wie diesem muss geklärt werden, welche Eingriffe in die<br />
persönliche Freiheit eines Sozialhilfeempfängers zulässig sind: Wie<br />
verhält es sich mit der Wirtschaftsfreiheit des Klienten? Wie soll der<br />
Auftrag, Menschen in Not wieder sozial und beruflich einzugliedern,<br />
mit der Massnahme erfüllt werden? Wie chancenreich ist der<br />
Besuch eines Programms wider Willen? Geht es wirklich um eine<br />
Potenzialabklärung und bestehen wirklich Chancen, dank des Programms<br />
eine Arbeit zu finden – oder soll nur die Arbeitsbereitschaft<br />
getestet werden? Ist die Anordnung eine verkappte Sanktion?<br />
Rechtliche Beurteilung<br />
Grundsätzlich dürfen Auflagen zur Teilnahme an einem Arbeitsprogramm<br />
unter folgenden Voraussetzungen gemacht werden:<br />
gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit<br />
und Subsidiaritätsprinzip. Zulässig sind laut Bundesgericht<br />
Verpflichtungen zur Wiederherstellung oder Stärkung der Chancen<br />
zur Erwerbsaufnahme. Mithin sind auch Qualifikationsprogramme<br />
Massnahmen, die angeordnet werden dürfen. Es kann für<br />
eine sozialhilfebedürftige Person durchaus von Nutzen sein, ausserfachliche<br />
Fähigkeiten, wie das Einfügen ins Team, Zuverlässigkeit<br />
und Pünktlichkeit, zu prüfen. Liegt der befristete Einsatz in<br />
einem Bereich, der den Sozialhilfebezüger zwar unterfordert, ihm<br />
aber ermöglicht, eine geeignete Anschlusslösung zu finden, so ist<br />
die Anordnung einer Teilnahme durchaus geeignet, die Aussichten<br />
auf berufliche Integration zu verbessern (BGE 130 I 71 und BGE<br />
139 I 218 E. 4.4).<br />
Handlungsempfehlungen<br />
Aus verschiedenen Gründen – etwa wegen psychischer oder körperlicher<br />
Beeinträchtigungen oder einer geringen beruflichen Qualifikation<br />
– können oder wollen nicht alle Menschen, die auf Sozialhilfe<br />
angewiesen sind, an Beschäftigungsprogrammen teilnehmen.<br />
Widerstände sind deshalb nicht selten. In solchen Fällen sollte die<br />
Auflage sorgfältig im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit, Eignung<br />
und Zumutbarkeit geprüft werden. Wenn die Hilfe suchende Person<br />
trotz zahlreicher Bewerbungen die Erfahrung macht, auf dem<br />
ersten Arbeitsmarkt keine Stelle zu finden, hat dies Auswirkungen<br />
auf das Selbstvertrauen. Oft liegt ein längerer, erfolgloser Prozess<br />
der Arbeitsvermittlung und Aussteuerung hinter ihr. In solchen Fällen<br />
sollte der Fokus auf die Qualifizierungsmassnahmen gelegt und<br />
die Bildungschancen der Betroffenen verbessert werden. Möglicherweise<br />
gilt es, die Sozialkompetenz zu stärken und Vertrauen<br />
aufzubauen. Ein persönliches Coaching kann hier helfen. •<br />
GRUNDRECHTE 1/15 ZeSo<br />
29
«Was Google nützt, hilft auch<br />
behinderten Usern»<br />
98 Prozent aller Websites sind für Menschen mit Behinderung nur schwer oder gar nicht nutzbar.<br />
Die Stiftung «Zugang für alle» engagiert sich für Barrierefreiheit und beschäftigt Betroffene als<br />
Softwaretester, denn viele Barrieren können nur durch Betroffene aufgedeckt werden.<br />
Auf den ersten Blick sehen die Räume der<br />
Stiftung «Zugang für alle» aus wie viele andere<br />
Grossraumbüros. Doch die Stimmung<br />
scheint lockerer, es weht eine Art Pioniergeist.<br />
Hier, sagt Accessibility-Tester Daniele<br />
Corciulo in breitem Berndeutsch, gehe es<br />
nicht um Umsätze und Börsenkurse. Sondern:<br />
«Ich weiss, wofür ich jeden Tag aufstehe.<br />
Hier kann ich etwas weitergeben, von<br />
dem ich als Betroffener auch wieder profitiere.»<br />
Der heute 30-Jährige mit Wurzeln in<br />
Apulien ist von Geburt an blind. Trotzdem<br />
schaffte er eine vierjährige Handelsschule,<br />
hängte noch die Berufsmatura an und liess<br />
sich vor sechs Jahren bei der Stiftung<br />
«Zugang für alle» zum Accessibility-Tester<br />
ausbilden. IT interessierte den smarten Jugendlichen<br />
schon früh, weil diese Technologie<br />
für ihn die Schnittstelle zur Aussenwelt<br />
sei. «Und», fügt er mit Vehemenz bei, «es<br />
geht auch um Selbstbestimmung.»<br />
Doch Betroffene, moniert er, stossen<br />
auf zahllose Hürden. So seien viele Websites<br />
nur mit der Maus bedienbar. Und<br />
zahlreiche amtliche Formulare existierten<br />
immer noch bloss in Papierform, etwa jene<br />
für Ergänzungsleistungen oder Hilflosenentschädigungen.<br />
Aber auch bei digitalisierten<br />
Formularen kommen Betroffene<br />
oft nicht weiter: «Zum Beispiel bei Kostenaufstellungen,<br />
weil die Spalten technisch<br />
nicht definiert sind.» Corciulo benützt<br />
als Hilfsmittel einen Screenreader, eine<br />
Software, die ihm den Text in den ausgewählten<br />
Bildschirmbereichen vorliest. Der<br />
Screenreader steuert zudem die Braillezeile<br />
an – ein Gerät, das den Bildschirminhalt in<br />
Punktschrift tastbar darstellt. Man staunt,<br />
wie souverän der junge Mann über den<br />
Bildschirm navigiert. Bei 98 Prozent aller<br />
Websites deckt er mehr oder weniger hohe<br />
Barrieren auf.<br />
Corciulo geht auf die Website eines Netzwerks<br />
von wissenschaftlichen Bibliotheken<br />
und klickt das Einschreibeformular an.<br />
30 ZeSo 1/15 reportage<br />
Die Braillezeile übersetzt in Punktschrift.<br />
Zentral für die<br />
Barrierefreiheit ist,<br />
dass für jeden<br />
grafischen Inhalt<br />
eine Textalternative<br />
zur Verfügung steht.<br />
«Stern Eingabefeld», liest der Screenreader<br />
vor. Doch damit Blinde wissen, was sie<br />
hier einzutippen haben, müsste der Reader<br />
«Name Eingabefeld» lesen. «Hier fehlt die<br />
logische Verknüpfung von Beschriftung<br />
und Formularfeldern», erklärt Corciulo.<br />
Wäre die betreffende Organisation Kunde<br />
der Stiftung «Zugang für alle», bekäme<br />
sie nun Empfehlungen zur barrierefreien<br />
Gestaltung ihrer Website. «Aber es gibt<br />
auch Vorreiter», lobt der Tester und klickt<br />
auf die Website von Postfinance. Obwohl<br />
die Site recht komplex ist, aber hierarchisch<br />
klar strukturiert, finden hier auch<br />
Menschen mit Behinderung rasch die gesuchten<br />
Unterkategorien und können zum<br />
Beispiel ihre Zahlungen per E-Banking<br />
abwickeln – eine grosse Erleichterung im<br />
Alltag, die sich Daniele Corciulo auch für<br />
Onlineshops wünscht.<br />
Betroffene decken Barrieren auf<br />
Tatsächlich bietet die Informationstechnologie<br />
nie dagewesene Möglichkeiten, weil<br />
sie Inhalte sowohl optisch wie auch akustisch<br />
oder taktil vermitteln kann. Zentral<br />
für die Barrierefreiheit ist, dass für jeden<br />
grafischen Inhalt auch eine Textalternative<br />
zur Verfügung steht. «Wird dieses Potenzial<br />
nicht genutzt, wirkt sich die omnipräsente<br />
IT für behinderte oder ältere Menschen<br />
kontraproduktiv aus», sagt Bernhard<br />
Heinser, Geschäftsleiter der Stiftung. Bis<br />
zu 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung<br />
sind laut Bundesamt für Statistik in irgendeiner<br />
Form behindert. Vielen von ihnen<br />
bleibt der barrierefreie Zugang zu Bildungsangeboten,<br />
dem Arbeitsmarkt oder<br />
Kulturangeboten verwehrt. Um diese Diskriminierung<br />
abzubauen, engagiert sich<br />
die gemeinnützige Stiftung seit 15 Jahren<br />
für behindertengerechte Technologienutzung.<br />
Sie erhält keine Subventionen und finanziert<br />
sich über Dienstleistungserträge,<br />
Forschungsbeiträge und Spenden. Inzwischen<br />
arbeiten in den Oerlikoner Büros<br />
zehn IT-Spezialistinnen und Spezialisten,<br />
darunter fünf mit Seh-, Hör oder Sinnesbehinderungen.<br />
«Viele Barrieren können nur<br />
durch Betroffene aufgedeckt werden» sagt<br />
Heinser.<br />
Firmen lassen sich zertifizieren<br />
Zu den Dienstleistungen der Stiftung gehören<br />
die Beratung von Behörden und<br />
Firmen und die Zertifizierung von barrierefreien<br />
Websites aufgrund der internationalen<br />
Web Content Accessibility
Guidelines WCAG 2.0. Auch bei amtlichen<br />
Websites bleibt in dieser Hinsicht<br />
noch viel zu tun: Obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz<br />
die öffentliche Hand<br />
verpflichtet, ihre Webseiten barrierefrei zu<br />
gestalten, sei die grosse Mehrheit noch völlig<br />
ungenügend, gerade auf Gemeindeebene,<br />
stellte die Stiftung 2011 in ihrer<br />
Accessibility-Studie fest. Hauptgrund: Die<br />
Zahl der Menschen mit Behinderungen<br />
wird stark unterschätzt.<br />
Ein wichtiges aktuelles Projekt ist das<br />
Zugänglichmachen von Büchern, Word-<br />
Dokumenten und PDFs. «Solche Dokumente»,<br />
sagt Bernhard Heinser, «sind für<br />
Schülerinnen und Schüler mit besonderem<br />
Bildungsbedarf sehr oft nicht zugänglich.»<br />
Die Stiftung erarbeitet auch Hilfsmittel<br />
und Standards und ist Forschungspartnerin<br />
von Hochschulen und Universitäten.<br />
Ein weiterer Aufgabenbereich gilt der Ausbildung<br />
von jungen Menschen mit Behinderung.<br />
Just am Morgen unseres Besuchs<br />
beginnt Zina Indermaur ihre Ausbildung<br />
zum Accessibility Consultant. Die junge,<br />
technikaffine blinde Frau bringt schon<br />
einige Erfahrung mit. «Nun aber geht es<br />
darum, die künftige Testerin dafür zu sensibilisieren,<br />
dass punkto Barrierefreiheit<br />
noch viel mehr möglich ist, als sie bereits<br />
weiss», sagt Daniele Corciulo, der für ihre<br />
Ausbildung zuständig ist.<br />
An Grenzen gehen<br />
Das Standardargument, Barrierefreiheit<br />
sei zu teuer, ärgert Corciulo: Wenn man<br />
von Anfang an darauf achte, hielten sich<br />
die Mehrkosten in Grenzen, sagt er und<br />
schiebt ein einleuchtendes Argument nach:<br />
Barrierefreiheit bedeute auch Suchmaschinenoptimierung,<br />
denn Google gehe<br />
ähnlich vor wie ein Blinder. «Websites, die<br />
barrierefrei, also hierarchisch klar strukturiert<br />
sind, generieren mehr Suchtreffer.»<br />
Als Sehende fragt man sich, woher<br />
Menschen wie Daniele Corciulo den Mut<br />
nehmen, auch scheinbar unüberwindliche<br />
Hindernisse anzugehen. Er sei jemand, der<br />
bewusst an Grenzen gehe, denn wer sich<br />
der Technologie verweigere, nehme unnötige<br />
Einschränkungen in Kauf, antwortet<br />
der junge Mann, der sich sogar schon mal<br />
auf einen Tandem-Gleitschirmflug wagte.<br />
Angst? Im Gegenteil: «Du spürst jenen weiten<br />
Horizont, von dem Sehende auf einem<br />
Berg immer reden – die Freiheit.» Wovor<br />
er aber wirklich Angst habe, sei der Bahnübergang<br />
vor seinem Haus: «Wenn die<br />
Barriere hochgeht, stürmen die Leute los.<br />
Ohne zu schauen oder zu bremsen.» •<br />
Paula Lanfranconi<br />
www.access-for-all.ch<br />
Accessibility-Tester Daniele Corciulo mit der Auszubildenden Zina Indermaur. <br />
Bilder: Ursula Markus<br />
reportage 1/15 ZeSo<br />
31
Ein Jugendparlamentarier wurde<br />
auch schon Bundesrat<br />
In Jugendparlamenten können sich Jugendliche für ihre Anliegen politisch engagieren und so in<br />
ihrer Freizeit ein praxisnahes Demokratieverständnis entwickeln. Der Dachverband Schweizer<br />
Jugendparlamente DSJ unterstützt sie mit diversen Projekten.<br />
Das milizbasierte und direktdemokratische<br />
politische System der Schweiz kann<br />
langfristig nur funktionieren, wenn der politische<br />
Nachwuchs gefördert wird. So wie<br />
es im sportlichen und kulturellen Bereich<br />
sehr breit angelegte Fördermassnahmen<br />
für Jugendliche gibt, sollte es auch Fördermassnahmen<br />
im politischen Bereich geben.<br />
Die Freizeitaktivitäten im Jugendalter<br />
prägen einen Menschen fürs <strong>ganz</strong>e Leben.<br />
Wenn Jugendliche sich für den Gemeinsinn<br />
engagieren, wächst die Chance, dass<br />
sie dies auch später tun, beispielsweise in<br />
einem politischen Amt in ihrer Gemeinde.<br />
Diese politische Jugendförderung sollte<br />
aber nicht bloss einen gesellschaftlichen<br />
Mehrwert mit sich bringen, sondern den<br />
Jugendlichen auch wirklich die Möglichkeit<br />
geben, etwas zu bewirken.<br />
Keine inszenierte Partizipation<br />
Die rund 60 in der Schweiz bestehenden<br />
Jugendparlamente sind eine bewährte<br />
politische Partizipationsform, wo Jugendliche<br />
sich für ihre Anliegen engagieren und<br />
etwas bewirken können. Hier können sie<br />
unbürokratisch ihre Ideen und Projekte<br />
diskutieren, verhandeln und entscheiden.<br />
In Jugendfragen sind sie Ansprechpartner<br />
für Behörden und Politik und lernen dabei<br />
auch, wie es mit diesen umzugehen gilt.<br />
Jugendparlamente bieten die konkrete<br />
Möglichkeit, sehr unterschiedliche Projekte<br />
umzusetzen. Die Jugendlichen übernehmen<br />
Verantwortung und erwerben dadurch<br />
politische, soziale und organisatorische Fähigkeiten.<br />
Jugendparlamente bieten eine<br />
praxisorientierte politische Bildung und<br />
milizpolitische Ausbildung.<br />
Da Jugendparlamente auch Anliegen<br />
gegenüber Behörden und Politikern vertreten,<br />
sollten sie über rechtlich verankerte<br />
Pflichten und Rechte verfügen, wie dies<br />
bei 25 Jugendparlamenten bereits der Fall<br />
ist. Damit ist gewährleistet, dass es sich<br />
weder um eine inszenierte Partizipation<br />
handelt noch dass sie von Erwachsenen abhängig<br />
sind. Die Erfahrungen zeigen, dass<br />
Jugendparlamente dort etwas bewirken<br />
können, wo die Politik den Mut hat, dem<br />
Jugendparlament rechtlich verbindliche<br />
Kompetenzen zu geben. Dies geht von<br />
einer offenen Sporthalle am Freitagabend<br />
(Köniz) über die Einführung von Nachtbussen<br />
(Luzern) bis zur Mitwirkung bei<br />
einer Schulgesetzrevision (Kanton Waadt).<br />
Das Ziel des Dachverbands Schweizer<br />
Jugendparlamente (DSJ) ist es, neben der<br />
Unterstützung der bestehenden Jugendparlamente<br />
das Modell Jugendparlament<br />
oder Jugendrat zu fördern. Viele aktive<br />
Politikerinnen und Politiker haben ihr<br />
Rüstzeug in Jugendparlamenten erlangt,<br />
beispielsweise auch Alt-Bundesrat Moritz<br />
Leuenberger, der Genfer Regierungsrat<br />
Pierre Maudet oder Matthias Reynard,<br />
der jüngste Nationalrat in der aktuellen<br />
Legislatur. Hier haben sie eine politische<br />
Diskussionskultur erlernen können, die<br />
hart in der Sache ist, aber ohne persönliche<br />
Angriffe und Anfeindungen auskommt.<br />
Das Jugendparlament Berner Oberland<br />
Ost ist ein gutes Beispiel für die positiven<br />
Auswirkungen von Jugendparlamenten<br />
auf das politische Milizsystem der Schweiz.<br />
So sind in Interlaken, der grössten Gemeinde<br />
des Einzugsgebiets, drei ehemalige<br />
Jugendparlamentarier in der Exekutive<br />
der Gemeinde Interlaken tätig. In<br />
den letzten zehn Jahren wurden zudem<br />
zehn Ehemalige aus dem Jugendparlament<br />
in den Grossen Gemeinderat von<br />
Interlaken (Legislative) gewählt.<br />
Über psychische Krankheiten sollte mehr<br />
gesprochen werden.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können. In dieser<br />
Ausgabe dem Dachverband Schweizer Jugendparlamente.<br />
Jugendparlamentarierinnen<br />
und Jugendparlamentarier<br />
beim Abstimmen.<br />
Bild: zvg<br />
32 ZeSo 1/15 plattform
Abstimmungshilfe Easyvote<br />
Zum politischen Engagement von Jugendlichen<br />
in der Schweiz gibt es wenig<br />
Forschung. Bisherige Arbeiten zeigen, dass<br />
75 Prozent der Jugendlichen zwischen 18<br />
und 25 Jahren schon mindestens einmal<br />
abstimmen gegangen sind und dass rund<br />
die Hälfte an politischen Themen normal<br />
bis sehr interessiert ist. Zehn Prozent der<br />
Jugendlichen geben an, dass sie sich aktiv<br />
in einer Jungpartei oder einem Jugendparlament<br />
engagieren möchten. Diese politisch<br />
interessierten Jugendlichen müssen<br />
mit entsprechenden Massnahmen frühzeitig<br />
abgeholt und gefördert werden. Zwei<br />
Studien bilden die Grundlage für die Weiterentwicklung<br />
des Projekts «Easyvote» sowie<br />
zur Entwicklung der Webplattform<br />
«Scoop-it», mit der der DSJ eine Bürgerbeteiligungsplattform<br />
für Jugendliche aufbauen<br />
möchte. «Easyvote» wurde ins Leben<br />
gerufen, damit neben der milizpolitischen<br />
Kultur der Schweiz auch das direktdemokratische<br />
System gefördert wird. Jugendliche<br />
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger<br />
sollen vermehrt von ihrem Stimm- und<br />
Wahlrecht Gebrauch machen, indem die<br />
Politik näher an die Jugendlichen gebracht<br />
wird. Denn nach wie vor beteiligen sich<br />
junge Erwachsene in der Schweiz weniger<br />
stark und vor allem weniger häufig an<br />
Wahlen und Abstimmungen als ihre älteren<br />
Mitbürgerinnen und Mitbürger.<br />
Eine wichtige Ursache für die tiefe<br />
Stimmbeteiligung ist, dass der Wahl- und<br />
Abstimmungsprozess sowie die Wahl- und<br />
Abstimmungsunterlagen nicht jugendgerecht<br />
sind. Dies möchte der DSJ ändern<br />
und erstellt dafür seit 2011 die Easyvote-<br />
Abstimmungshilfe, die von Jugendlichen<br />
selber produziert wird. Die Abstimmungshilfe<br />
informiert einfach, verständlich und<br />
politisch neutral über Abstimmungsvorlagen<br />
und Wahlen und kann von Gemeinden,<br />
Schulen oder Privatpersonen abonniert<br />
werden.<br />
Weiter werden durch verschiedene Sensibilisierungsmassnahmen<br />
Jugendliche<br />
mithilfe von herkömmlichen und neuen<br />
Kommunikationskanälen zum Abstimmen<br />
und Wählen mobilisiert. So produziert der<br />
DSJ seit 2013 Clips zu den nationalen<br />
Vorlagen. Zudem wurde ein «Vote-Wecker»<br />
entwickelt, der per SMS oder E-Mail an<br />
bevorstehende Abstimmungen erinnert.<br />
Für die Eidgenössischen Wahlen im kommenden<br />
Oktober sind diverse Massnahmen<br />
und Kampagnen geplant, um noch<br />
mehr Jungwählerinnen und -wähler an die<br />
Urne zu bewegen.<br />
•<br />
Mario Stübi<br />
Dachverband Schweizer Jugendparlamente DSJ<br />
Bild: Keystone<br />
Dachverband Schweizer<br />
Jugendparlamente<br />
Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente<br />
fördert seit 1995 die politische Partizipation von<br />
Jugendlichen. Er vereinigt zurzeit 39 Jugendparlamente<br />
der Schweiz und des Fürstentums<br />
Liechtenstein. Der DSJ kümmert sich um Ausbildung,<br />
Support und Vernetzung der Jugendparlamentarier<br />
und fördert und begleitet die Gründung<br />
neuer Jugendparlamente. Bei allen Tätigkeiten<br />
des DSJ gilt das Motto «Von der Jugend für<br />
die Jugend». Das Durchschnittsalter auf der<br />
Geschäftsstelle beträgt derzeit 24 Jahre, jenes<br />
im neunköpfigen Vereinsvorstand 22 Jahre. Die<br />
Arbeit des DSJ wird durch eine Leistungsvereinbarung<br />
mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen,<br />
durch den Verkauf eigener Produkte<br />
und Dienstleistungen sowie mit Beiträgen von<br />
öffentlichen und privaten Förderern finanziert.<br />
www.dsj.ch<br />
www.jugendparlamente.ch<br />
www.easyvote.ch<br />
plattform 1/15 ZeSo<br />
33
FORUM<br />
Freibeträge für selbstverständliche Leistungen<br />
stehen quer in der Landschaft<br />
Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für<br />
sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und<br />
Betreuung. Die Bundesverfassung garantiert<br />
die Mittel, die für ein menschwürdiges Dasein<br />
notwendig sind, das absolute Existenzminimum.<br />
Diese Garantie ist Ausgangspunkt<br />
meiner Vision. Die SKOS definiert Sozialhilfe<br />
mit dem Recht auf Existenzsicherung,<br />
gemeint ist das soziale Existenzminimum.<br />
Damit bin ich gar nicht einverstanden. In den<br />
letzten zwanzig Jahren ist daraus abgeleitet<br />
eine Haltung erwachsen, wonach auf das<br />
soziale Existenzminimum ein unbedingtes<br />
Anrecht bestehe. Dies führt nun in einem<br />
nächsten Schritt zu der für mich absolut nicht<br />
nachvollziehbaren Forderung nach bedingungslosem<br />
Grundeinkommen.<br />
Sozialhilfe ist Hilfe in Not, kein Einkommensersatz<br />
und keine Versicherung mit Leistungsansprüchen.<br />
Es darf nicht sein, dass die zwanzig<br />
Prozent einkommensschwächsten, nicht<br />
unterstützten Personen gleichviel oder gar<br />
weniger zur Verfügung haben als unterstützte<br />
Personen mit Zulagen. Sozialhilfe weiter denken<br />
beginnt für mich in diesem Spannungsfeld.<br />
Wir müssen auf viele Fragen Antworten<br />
finden, auch auf jene, wie vermieden werden<br />
kann, dass Mitmenschen in Not geraten, wie<br />
berufliche und damit wirtschaftliche (Re-)<br />
Integration in Gang gesetzt, beschleunigt<br />
sowie allenfalls erzwungen werden kann, und<br />
wie mehr Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten<br />
für Leistungsschwächere bereitgestellt werden<br />
können. Integrationszulagen und Einkommensfreibeträge<br />
für selbstverständliche<br />
Leistungen Unterstützter scheinen mir völlig<br />
quer in der Landschaft zu stehen. Wer nicht<br />
unterstützt wird und einkommensschwach<br />
ist, muss seinen finanziellen Verpflichtungen<br />
auch nachkommen, unbesehen davon, ob<br />
Einschränkungen bei Ferien, Wohnen usw.<br />
die Folge sind – ohne jeden finanziellen<br />
Anreiz. Wenn die Sozialhilfe beim absoluten<br />
Existenzminimum startet, ist der Anreiz weit<br />
grösser, dass die erwähnten, selbstverständlichen<br />
Anstrengungen zur Integration geleistet<br />
werden. Nachhaltige berufliche Integration<br />
setzt auch soziale, gesellschaftliche und<br />
kulturelle Integration voraus, wofür nicht das<br />
soziale Existenzminimum Voraussetzung ist,<br />
sondern Verpflichtungen wie die Erlernung<br />
der Sprache oder die Anpassung an die<br />
schweizerische Kultur. Letzteres bedingt den<br />
Wechsel vom Multikulti-Denken zu einer<br />
Leitkultur. Passen sich Migrantinnen und Migranten<br />
dieser Leitkultur nicht an, verweigern<br />
sie die Integration. Dies ist der Solidarität der<br />
Schweizer Bevölkerung ebenso abträglich wie<br />
Missbräuche und nicht nachvollziehbares<br />
Wachstum bei den Sozialkosten usw.<br />
Zu meiner Vision Sozialhilfe gehört auch, die<br />
Sozialhilfe wieder stärker in der Bevölkerung<br />
zu verankern. Die Solidarität der Bevölkerung<br />
umfasst nicht das soziale Existenzminimum,<br />
sondern Nothilfe. Weiter sind die Kompetenzen<br />
wieder hin zu den Gemeinden zu<br />
verschieben. Dort wird Hilfe in der Not am<br />
effizientesten geleistet, die Bevölkerung<br />
wird über die Sozialbehörde involviert und<br />
der Hilfeumfang der Umgebung angepasst.<br />
Akzeptanz muss in der Bevölkerung wachsen<br />
und nicht mit einem Bundesgesetz erzwungen<br />
werden. Angesichts der ungebremsten Kostenexplosion<br />
müssen Grundsätze der Sozialhilfe<br />
und wesentliche Positionen der Unterstützungsansätze<br />
– wieder – von den kantonalen<br />
Parlamenten festgelegt werden. Die Stärkung<br />
von Sozialbehörden in den Gemeinden und<br />
der Einbezug kantonaler Parlamente ist ein<br />
Gebot der Stunde.<br />
•<br />
Ueli Studer<br />
Gemeindepräsident Köniz, SVP<br />
An dieser Stelle schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
veranstaltungen<br />
Instrumente im Kindes- und<br />
Erwachsenenschutz<br />
Der Fokus der Tagung ist auf Abklärungsinstrumente<br />
im Kindes- und Erwachsenenschutz gerichtet.<br />
Das Wissen über Abklärungsinstrumente<br />
ist auch in der Mandatsführung von Nutzen,<br />
beispielsweise wenn es um die Frage der Notwendigkeit<br />
oder Abänderung von Massnahmen<br />
geht. Neben Aspekten rund um Abklärung und<br />
Diagnostik werden auch Faktoren der Zusammenarbeit<br />
thematisiert sowie aktuelle Gesetzesrevisionen<br />
im Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
beleuchtet.<br />
Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
7. Mai <strong>2015</strong>, Luzern<br />
www.hslu.ch<br />
Rechtsprechung im<br />
Sozialversicherungsrecht<br />
Das Sozialversicherungsrecht befindet sich<br />
in ständiger Entwicklung. Primär steuert die<br />
Gesetzgebung diese Entwicklung, doch oft verändert<br />
die Rechtsprechung Entscheidendes. Die<br />
diesjährige Sozialversicherungsrechtstagung des<br />
Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis<br />
der Universität St. Gallen richtet sich <strong>ganz</strong> auf die<br />
Rechtsprechung des Bundesgerichts aus. Diese<br />
wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln thematisiert,<br />
eingeordnet und gewürdigt.<br />
Sozialversicherungsrechtstagung<br />
9. Juni <strong>2015</strong>, Luzern<br />
www.irp.unisg.ch/de/weiterbildung/tagungen<br />
Übergänge in der sozialen<br />
Arbeit<br />
Am Kongress der Schweizerischen Gesellschaft<br />
für Soziale Arbeit (SGSA) stehen theoretische<br />
und anwendungsorientierte Fragen und Zugänge<br />
zu Übergängen in der Sozialarbeit im Zentrum.<br />
Das Thema wird auf vier miteinander verschränkten<br />
Ebenen diskutiert. Beleuchtet werden gesellschaftliche<br />
Übergänge, institutionsbezogene<br />
und professionelle Übergänge sowie solche, die<br />
sich auf die Biografie der Adressaten der sozialen<br />
Arbeit beziehen.<br />
Internationaler Kongress SGSA<br />
3./4. September <strong>2015</strong>, Zürich<br />
www.sozialearbeit.zhaw.ch/kongress<br />
34 ZeSo 1/15 FORUM
lesetipps<br />
Stimmen zur<br />
Migrationspolitik<br />
Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Die<br />
Migrantinnen und Migranten erbringen rund<br />
einen Drittel des Arbeitsvolumens und tragen<br />
zum Wohlstand des Landes entscheidend<br />
bei. Dennoch werden sie oft für strukturelle<br />
Probleme verantwortlich gemacht: am Mangel<br />
an bezahlbarem Wohnraum, an Engpässen im<br />
Verkehrswesen oder an steigenden Sozialhilfekosten.<br />
Der Caritas-Sozialalmanach befasst<br />
sich im Schwerpunkt mit dem Thema Zuwanderung<br />
und lässt zwanzig Persönlichkeiten aus<br />
Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft zu<br />
Wort kommen, die sich in persönlichen Beiträgen<br />
für eine offene Schweiz einsetzen.<br />
Kritik an der aktivierenden<br />
Sozialpolitik<br />
Von erwerbslosen Personen wird erwartet, dass<br />
sie hr Handeln an bestimmten Normen ausrichten,<br />
beispielsweise Leistungsorientierung,<br />
Eigenverantwortung, Funktionstüchtigkeit und<br />
Selbststeuerungskompetenz. Dem liegt die<br />
Vorstellung zugrunde, dass alle erwerbslosen<br />
Personen diesen Standard erfüllen können. Die<br />
Sozialwissenschaftlerin Bettina Wyer kritisiert<br />
in ihrer Studie, dass diese Annahme der unterschiedlichen<br />
Leistungsfähigkeit der Klienten<br />
nicht Rechnung trage und andere Faktoren wie<br />
Belastungen durch lange Arbeitslosigkeit oder<br />
biografisch bedingte Probleme vernachlässigt<br />
werden.<br />
Strategieentwicklung in der<br />
Kinder- und Jugendhilfe<br />
Am Beispiel der Stadt Zürich wird aufgezeigt,<br />
wie fachliche Trends und neue Erkenntnisse<br />
aus Theorie und Forschung in die Praxis der<br />
Kinder- und Jugendhilfe integriert werden können.<br />
Grundlage ist eine Studie, die die Sozialen<br />
Dienste Zürich für ihre Strategieentwicklung in<br />
diesem Bereich in Auftrag gegeben haben. Die<br />
Ausrichtung und Qualität der Leistungen wurden<br />
systematisch evaluiert und diskutiert. Dabei<br />
wurde der Fokus auch auf die Veränderungen im<br />
gesellschaftlichen, fachlichen und rechtlichen<br />
Umfeld gelegt.<br />
Caritas (Hrsg.), Sozialalmanach<br />
<strong>2015</strong>, Herein. Alle(s)<br />
für die Zuwanderung,<br />
Caitas-Verlag, 2014,<br />
216 Seiten, CHF 34.−<br />
ISBN: 978-3-85592-134-8<br />
Bettina Wyer, Der standardisierte<br />
Arbeitslose, Langzeitarbeitslose<br />
Klienten in der<br />
aktivierenden Sozialpolitik,<br />
UVK, 2014, 248 Seiten,<br />
CHF 50.−<br />
ISBN: 3-86764-557-4<br />
A. Jud, J. M. Fergert, M.<br />
Schlup (Hrsg.), Kinder- und<br />
Jugendhilfe im Trend,<br />
Veränderungen im Umfeld<br />
der Kinder- und Jugendhilfe<br />
am Beispiel der Stadt<br />
Zürich, Interact, 2014, 168<br />
Seiten, CHF 38.−<br />
ISBN 978-3-906036-17-5<br />
Soziale Versorgung im<br />
Ländervergleich<br />
Soziale Versorgung bedeutet, Leistungen für<br />
hilfebedürftige Menschen in einem Gemeinwesen<br />
zur Verfügung zu stellen. Ihre Gestaltung ist<br />
eng verknüpft mit gesellschaftlichen Funktionssystemen,<br />
der Steuerung von und zwischen<br />
Organisationen und methodischem Handeln.<br />
Das Buch gibt einen Überblick über die aktuelle<br />
Diskussion zum Thema im deutschsprachigen<br />
Raum. Es zeigt theoretische Entwicklungen,<br />
Forschungsergebnisse sowie praktische Anwendungen<br />
auf und ermöglicht so länderübergreifende<br />
Vergleiche.<br />
Den kompetenten Umgang mit<br />
Geld und Konsum lernen<br />
Kinder und Jugendliche wachsen heute in<br />
einer Welt des Konsums auf. Wer sich in dieser<br />
Konsumkultur zurechtfinden will, braucht einiges<br />
Rüstzeug, um nicht in die Schuldenfalle zu<br />
stolpern. Die Beiträge im Bericht der Eidgenössischen<br />
Kommission für Kinder- und Jugendfragen<br />
(EKKJ) thematisieren, wie Kinder und<br />
Jugendliche einen kompetenten Umgang mit Geld<br />
und Konsum lernen, welche Werbestrategien bei<br />
ihnen angewendet werden und welche Methoden<br />
der Schuldenprävention sich bewährt haben. Die<br />
EKKJ stellt zudem sechs politische Forderungen<br />
auf, die den Handlungsbedarf aufzeigen.<br />
Gehörlose Menschen erzählen<br />
aus ihrem Leben<br />
Menschen mit einer Hörbehinderung sind in ihrer<br />
Wahrnehmung stark visuell orientiert. Sie erleben<br />
die Welt grundlegend anders als Hörende.<br />
Und Hörende haben praktisch keine Vorstellung<br />
davon, wie gehörlose Menschen leben. Dabei<br />
gibt es viele Fragen, die es sich zu stellen lohnt:<br />
Wie lernt ein gehörloses Kind Lautsprache sprechen?<br />
Warum bleibt Deutsch für viele Gehörlose<br />
eine Fremdsprache? Und warum gibt es allein<br />
in der Schweiz drei verschiedene Gebärdensprachen?<br />
Die Autorin hat acht Menschen zu<br />
ihrem Leben mit Gehörlosigkeit befragt und ihre<br />
Geschichten aufgezeichnet.<br />
Bernadette Wüthrich, Jeremias<br />
Amstutz, Agnès Fritze<br />
(Hrsg.), Soziale Versorgung<br />
zukunftsfähig gestalten,<br />
Springer VS, <strong>2015</strong>,<br />
448 Seiten, CHF 38.−<br />
ISBN 978-3-658-04073-4<br />
EKKJ (Hrsg.), Selbstbestimmt<br />
oder manipuliert?<br />
Kinder und Jugendliche als<br />
kompetente Konsumenten,<br />
2014, 86 Seiten, kann<br />
kostenlos bestellt werden<br />
unter www.ekkj.admin.ch -><br />
Dokumentation<br />
Johanna Krapf, Augenmenschen,<br />
Gehörlose<br />
erzählen aus ihrem Leben,<br />
Rotpunktverlag, <strong>2015</strong>,<br />
220 Seiten, CHF 32.−<br />
ISBN 978-3-85869-645-8<br />
service 1/15 ZeSo<br />
35
Diane Baatard: «Eine Geschichte kann die Kinder auf eine Reise entführen.»<br />
Bild: Ruedi Flück<br />
Die Märchenfee<br />
Wochenende für Wochenende begibt sich Diane Baatard ins Universitätsspital Genf, um kranke<br />
Kinder mit Märchen aufzuheitern. Im geschlossenen Universum des Spitals kann die Fantasie der<br />
Märchenfee Gedankenfenster öffnen.<br />
Leichten Schrittes kommt Diane Baatard<br />
daher, entschuldigt sich für die Verspätung:<br />
«Hier muss man sich Zeit nehmen<br />
können», erklärt sie. «Hier», das ist die pädiatrische<br />
Onko-Hämatologie des Universitätsspitals<br />
Genf. Eine Station, die man nur<br />
mit Schutzkleidung, Maske und Handschuhen<br />
betreten darf und in der Materialien<br />
wie Papier, Holz und Karton nicht erlaubt<br />
sind, weil man sie nicht angemessen<br />
desinfizieren kann.<br />
Die jugendliche Ausstrahlung von<br />
Diane Baatard kontrastiert mit den Falten<br />
in ihrem Gesicht. In ihrem klaren,<br />
freundlichen Blick erkennt man eine<br />
spitzbübische und zugleich tiefsinnige<br />
Person. «Meine Aufgabe hier ist es, Geschichten<br />
zu erzählen, doch ich spreche<br />
mit den Kindern auch über andere Dinge,<br />
damit sie einen Augenblick ihre Isolation<br />
vergessen. Eine Geschichte kann die Kinder<br />
auf eine Reise entführen und bietet<br />
Gelegenheit, zusammen einen geselligen<br />
Moment zu verbringen», erklärt Diane<br />
Baatard. «Wenn ich ein Kind zum ersten<br />
Mal treffe, dann lasse ich es klar und deutlich<br />
wissen, dass es mir sagen darf, wenn<br />
ihm nicht nach Geschichten zumute ist.<br />
Bei der medizinischen Behandlung haben<br />
sie ja keine Wahl. Darum versuche<br />
ich, den Kindern ein bisschen Wahlfreiheit<br />
zu geben.»<br />
Die Märchenfee scheut keine Mühe, trotz<br />
der krankheitsbedingten Grenzen Träume<br />
wahr werden zu lassen. Ein junges Mädchen,<br />
das bald ein Jahr auf der Station isoliert<br />
war, träumte von einem Ausflug in den<br />
Spitalgarten. Die Ärzte konnten auf ihren<br />
Wunsch aber nicht eingehen. Also brachte<br />
Baatard bei ihrem nächsten Besuch eine<br />
CD mit Geräuschen aus der Natur und ein<br />
Plastiktischtuch mit und organisierte ein<br />
fröhliches Picknick im Krankenzimmer<br />
des Mädchens.<br />
Schläuche und piepsende Maschinen<br />
Auf die Idee, Kinder im Spital mit Geschichten<br />
aufzumuntern, kam Baatard vor<br />
15 Jahren am Krankenbett ihres Gottenkindes.<br />
Damals liess sich die professionelle<br />
Tänzerin gerade in der Kunst des Geschichtenerzählens<br />
ausbilden. «Ich habe<br />
die Spitalleitung kontaktiert, aber sie lehnten<br />
mein Angebot ab. Sie wollten keine<br />
ehrenamtlichen Mitarbeiter auf der Pädiatrie.»<br />
Doch so schnell gab Baatard nicht auf.<br />
Sie gründete die Stiftung «Au Fil de la<br />
Parole» und machte sich auf die Suche<br />
nach Geldgebern. Ihr Engagement und ihre<br />
Ausdauer zahlten sich aus: Als 2005 der<br />
Kiwanis Club Genf-Carouge dem Unispital<br />
Genf anbot, zwei Projekte zu finanzieren,<br />
entschied sich das Spital für das<br />
Projekt von Diane Baatard.<br />
Als Baatard zum ersten Mal ein steriles<br />
Spitalzimmer betrat, fühlte sie sich in<br />
Gegenwart eines todkranken Kindes, umgeben<br />
von Schläuchen und ständig piepsenden<br />
Maschinen, wie gelähmt. Doch<br />
mit der Unterstützung des medizinischen<br />
Teams fand sie schnell den nötigen Halt.<br />
Sich aufs Wesentliche konzentrieren<br />
Dank der Stiftung besitzt die Station unterdessen<br />
eine Sammlung von CDs, DVDs,<br />
Gesellschafts- und Videospielen, die die<br />
strengen Hygienestandards der speziellen<br />
Krankenhausabteilung erfüllen. Zudem<br />
wird vor den Fenstern der Station ein<br />
Garten angelegt, in dem drei Beete mit saisonalem<br />
Gemüse und Blumen den Kindern<br />
eine Idee von der aktuellen Jahreszeit<br />
geben.<br />
In diesem kleinen Park schlendert<br />
Diane Baatard an einer Eselsstatue vorbei<br />
und erzählt dabei ihre Lieblingsgeschichte<br />
«Eselshaut», die schildert, warum Tränen<br />
salzig schmecken. Das Schwierigste an<br />
dieser Arbeit sei für sie, dass sie mit dem<br />
Tod von Kindern konfrontiert ist, sagt<br />
Diane. «Statistisch gesehen überlebt eines<br />
von fünf Kindern die Krankheit nicht. Das<br />
ist hart, aber es lehrt mich auch, mich auf<br />
das Wesentliche zu konzentrieren.» •<br />
Marie-Christine Mousson<br />
36 ZeSo 1/15 porträt
Master of Advanced Studies<br />
MAS Arbeitsintegration<br />
Certificate of Advanced Studies<br />
CAS Arbeitsintegration<br />
Strukturen, Modelle und Praxis<br />
CAS Supported Employment<br />
Schwerpunkt Berufsbildung<br />
CAS Supported Employment<br />
Schwerpunkt Integration in die Arbeit<br />
Fachseminar<br />
FS Grundlagen Sozialversicherungen<br />
in der Arbeitsintegration<br />
Weitere Informationen unter www.hslu.ch/weiterbildung-sozialearbeit<br />
Immer aktuell informiert: www.hslu.ch/newsletter-sozialearbeit<br />
Weiterbildung für die Kompetenzen von morgen<br />
Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW bietet wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Weiterbildungen<br />
mit hohem Qualitätsstandard an. Sie verbindet Praxisnähe und Anwendungsorientierung mit<br />
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– Change Management – Kinder und Jugendliche – Sozialmanagement<br />
– Eingliederungsmanagement – Methoden – Sozialplanung<br />
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Kontakt und Information<br />
weiterbildung.sozialearbeit@fhnw.ch | T +41 848 821 011 | www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW | Hochschule für Soziale Arbeit | 4053 Basel und 4600 Olten
Weiterbildung, die wirkt!<br />
Weiter<br />
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Professionelle Kindeswohlabklärungen<br />
– Einführung in<br />
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Luzern – Soziale Arbeit.<br />
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8 Kurstage, Mai bis Juni <strong>2015</strong>,<br />
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