Detroit / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 70 (1/2018)
Das Schicksal der Stadt Detroit erhält seit Jahren große, wenn auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästhetisierung des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffeetable-Books darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökonomische Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt sich in diesen Darstellungen und oszilliert zwischen den Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische Kontext und die Ursachen für diese Entwicklungen sind im Detail weit weniger bekannt. Der Aufgabe, das zu ändern, stellt sich die dérive-Schwerpunktausgabe »Detroit«. Hier erhältlich: https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-70.
Das Schicksal der Stadt Detroit erhält seit Jahren große, wenn auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästhetisierung des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffeetable-Books darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökonomische Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt sich in diesen Darstellungen und oszilliert zwischen den Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische Kontext und die Ursachen für diese Entwicklungen sind im Detail weit weniger bekannt. Der Aufgabe, das zu ändern, stellt sich die dérive-Schwerpunktausgabe »Detroit«. Hier erhältlich: https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-70.
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Jan — März 2018
N o 70
Zeitschrift für Stadtforschung
dérive
dérive
DETROIT
ISSN 1608-8131
8 euro
dérive
Editorial
100 Jahre Oktober Revolution, 100 Jahre Republik Österreich,
50 Jahre 1968, 200. Geburtstag von Karl Marx, 50 Jahre
Le droit à la ville (Recht auf Stadt) … Die letzten und die kommenden
Monate sind von zahlreichen Gedenk- und Jahrestagen
geprägt. Über ein Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, hat die
Regisseurin Kathrin Bygelow einen Film gedreht, der gerade
in unseren Kinos gelaufen ist: Detroit. Im Juli 1967 fanden in
Detroit Riots statt, bei denen sich nach einer Razzia in einer
illegalen Bar Frustration und Zorn gegen den tief verwurzelten
Rassismus, die immense Ungleichheit und die gesellschaftlich
tolerierte Polizeibrutalität ihren Weg bahnten. Die auch als
12th Street Riot in die Annalen der Stadt eingegangenen Ausschreitungen
kosteten 43 Menschen das Leben, über 1.000
Menschen wurden verletzt und mehr als 7.000 verhaftet. Die
Stadt hatte damals schon viel von ihrem Glanz verloren. Zigtausende
Arbeitsplätze in der Automobilindustrie waren aus der
Stadt verschwunden, Arbeitslosigkeit, Armut, elende Wohnverhältnisse
und Polizeibrutalität kennzeichneten den Alltag eines
großen Teils der Bevölkerung. Betroffen waren vor allem die
Schwarzen BewohnerInnen Detroits, die damals 40 Prozent
der Bevölkerung ausmachten, heute sind es 80.
Detroit ist das Thema des Schwerpunkts in diesem
Heft. Das Schicksal der Stadt erhält seit Jahren große, wenn
auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästhetisierung
des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffeetable-Books
darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den
Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökonomische
Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den
Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt
sich in den Darstellungen und oszilliert zwischen den
Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische
Kontext und die Erklärungen dafür, wie aus Detroit
Destroit werden konnte, wie die Stadt nicht ganz unpassend
gelegentlich genannt wird, sind im Detail weit weniger bekannt.
Dem Niedergang der Stadt liegt tatsächlich ein Akt der Zerstörung
zugrunde, der sich – wie in zahlreichen anderen
Städten auch – auf Rassismus gründet. Der so genannte White
Flight aus den heterogenen Innenstädten in die homogenen
Vorstädte wäre ohne rassistische Praktiken im Immobilienhandel
oder bei der Kreditvergabe, kombiniert mit einer spezifischen
Steuerpolitik, nicht möglich gewesen.
Der von Lucas Pohl betreute Schwerpunkt in dieser
Ausgabe von dérive versammelt Beiträge zu unterschiedlichen
Aspekten von Detroits urbaner Gesellschaft: Nach der Einleitung
zum Schwerpunkt stellt der Detroiter Geograf Joshua
Ackers die oben genannten gesellschaftlichen und ökonomischen
Entwicklungen in einem historischen Abriss der letzten
Jahrzehnte der Stadt dar und analysiert die aktuelle Situation
im Zeitalter der Austeritätspolitik.
Eine der sehr konkreten Auswirkungen der neoliberalen Sparprogramme
ist die Wasserversorgung der Bewohner und
Bewohnerinnen Detroits. Seit 2014 wurde über 100.000 Haushalten
das Wasser abgedreht, weil sich die BewohnerInnen
nicht mehr in der Lage sehen, ihre Rechnungen zu bezahlen.
(In Österreich wird übrigens jedes Jahr rund 28.000 Haushalten
wegen offener Rechnungen der Strom abgedreht.) Die
Community-Organisation We the People kämpft seit Jahren
gegen diese Politik und informiert in ihrem Beitrag für diesen
Schwerpunkt über die Situation.
Lucas Pohl wirft in seiner Auseinandersetzung mit
Detroit auch einen Blick auf einige der stadtprägenden Wolkenkratzer,
die für ihn den Fall und Wiederaufstieg sowie die
Machtverhältnisse in der Stadt beispielhaft verkörpern. Darüber
hinaus macht er sich Gedanken um Fragen nach Zeit und
Vergänglichkeit in einer Stadt, die sich wie kaum eine andere
mit ihrem Untergang konfrontiert sah und sieht.
Kerstin Niemann und Alexa Färber sprechen in einem
Interview mit dem Fotografen Camilo José Vergara, der Detroit
seit mehreren Jahrzehnten fotografisch dokumentiert. Durch
seine Arbeit ist er zu einem Chronisten der Stadt geworden, der
im Gegensatz zu anderen FotografInnen keine Ruin-Porn-
Coffeetable-Books produziert, indem er den Verfall ästhetisch
in Szene setzt, sondern mit seinem Schaffen einen stadtforscherischen
Zugang verfolgt.
Medial wird Detroit mit Blick auf die Kunstszene immer
wieder als neues New York oder neues Berlin gehandelt. Nora
Küttel zeigt in ihrem Beitrag, wie es um die Lebensrealität
der Künstler und Künstlerinnen zwischen Kommodifizierung,
Gentrifizierung, sozialem Engagement und Vereinnahmung
tatsächlich steht und wie viel – oder wie wenig – die nach Aufmerksamkeit
heischenden Das-Neue…-Schlagzeilen mit der
Realität der Stadt zu tun haben.
Auch Scott Hocking ist Künstler in Detroit und hat für
dérive einen Essay verfasst, in dem er erzählt, wie er in der
Stadt aufgewachsen ist, sie immer wieder durchwandert hat,
wie er begonnen hat sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen
und sie nachts fotografisch dokumentiert.
Der Magazinteil bringt einen Beitrag des Hamburger
Urbanisten Michael Ziehl, der sich am Beispiel des Hamburger
Gängeviertels, in dem er selbst seit langer Zeit aktiv ist, ansieht,
wie es um die äußerst schwierigen Kooperationen zwischen
BürgerInnen und Stadtverwaltungen steht.
Das Kunstinsert von Cäcilia Brown trägt den schönen
Titel Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster und zeigt
u.a. einen raketenförmigen Anhänger, der dem Wiener Wagenplatz
Treibstoff als Toilette dient.
Christoph Laimer
01
»Das Durchstreifen
von Wolkenkratzern steht
somit sinnbildlich für das Erleben
dessen, wie sich Machtverhältnisse in der Architektur
einer Stadt niederschlagen.«
Lucas Pohl auf S. 13 in dieser Ausgabe.
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Der Beginn einer Epoche
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hohen Portokosten nur in Österreich.
dérive
Zeitschrift für Stadtforschung
www.derive.at
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Inhalt
01
Editorial
CHRISTOPH LAIMER
Schwerpunkt
04 — 05
Eine STADT im Zerfall
Vorwort zum Schwerpunkt Detroit
LUCAS POHL
06 — 12
The DECLINE of Detroit in Three ACTS
JOSHUA ACKERS
13 — 18
Die unsterbliche STADT: Das UNBEHAGEN
in den Wolkenkratzern von Detroit
LUCAS POHL
19 — 26
TRACKING the Transformation of Detroit’s
Cultural Heritage
Interview with the photographer CAMILO
JOSÉ VERGARA
ALEXA FÄRBER,
KERSTIN NIEMANN
27 — 31
ART for whose SAKE? Zwischen
Kommodifizerung, Gentrification und
sozialem Engagement
NORA KÜTTEL
37 — 42
Detroit Nights
SCOTT HOCKING
43 — 45
MAPPING the Water CRISIS
WE THE PEOPLE OF DETROIT
COMMUNITY RESEARCH COLLECTIVE
Kunstinsert
32 — 36
CÄCILIA BROWN
Ausschweifendes Reden ist ein
schöner Laster
Magazin
46 — 50
Zukunftsfähigkeit durch Kooperation –
Ein Laborbericht aus dem Gängeviertel
MICHAEL ZIEHL
Besprechungen
51 — 55
Die neuen Munizipalismen. Soziale
Bewegungen und die Regierung der Städte.
All that is Solid Melts into Air — An Alternative
S. 52
History of the City
Dos Naye Lebn – Birobidschan, das Jerusalem
S. 53
am fernöstlichen Amur
S. 54
Diese Wildnis hat Kultur
S. 55
Das Ringen um die nackte Existenz
60
IMPRESSUM
–
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von
17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
S. 51
03
LUCAS POHL
Eine STADT
im Zerfall
Vorwort zum Schwerpunkt Detroit
»Das Phänomen Stadt zerfällt, indem es sich entfaltet«
— Henri Lefebvre
Foto — Scott Hocking
Das Vorwort zu einem Themenheft über Detroit zu schreiben gestaltet sich in etwa so schwer,
wie die Gestaltung eines solchen Schwerpunktes. Schließlich wurde kaum eine Stadt innerhalb
und außerhalb der Stadtforschung aus so vielen Gründen herangezogen, um urbane Phänomene
in der Geschichte und Gegenwart zu erörtern, dass sich bei einer Zusammenstellung an
Beiträgen über Detroit notwendig die Frage stellt, wie sich die einzelnen Texte zu einem großen
Ganzen verknüpfen lassen.
Als Hochburg der Automobilindustrie avancierte Detroit unter der Federführung von
Henri Ford im 20. Jahrhundert zu einer der prosperierendsten und wohlhabendsten Städte der
USA. Im Zuge der Krise des Fordismus und politischen Unruhen schrumpfte Detroit seit den
1950er Jahren schließlich sukzessive um über die Hälfte der Bevölkerung. Zeitweise verließ alle
48 Minuten eine Familie die Stadt, wie Joshua Akers in seinem überblicksartigen Abriss von Detroits
Entwicklung für diesen Schwerpunkt festhält. Nachdem das Bild der Stadt für einige Zeit
vor allem durch ausgestorbene Wohnviertel, leere Straßenzüge und verfallene Wolkenkratzer
geprägt war, sorgte der Zuzug von jungen Kreativen für einen erneuten Imagewandel. Die Stadt
erfindet sich neu und wird zu einem Anziehungspunkt des Do-It-Yourself-Urbanismus. Dieses
Comeback bringt jedoch einige millionenschwere Investments und Spekulationsvorhaben mit
sich. Ganze Viertel werden abgerissen, neugebaut und saniert, um Platz zu machen für ein neues
04
dérive N o 70 — Detroit
Detroit, dessen Ausmaße sich zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch nicht vorhersagen lassen, doch
von Nora Mariella Küttel in ihrem Beitrag bereits passend mit der Frage Whose Detroit? infrage
gestellt werden.
Da ein Heft zu Detroit eventuell nahelegt, dass hier ein repräsentatives Bild von der Stadt
gezeichnet werden würde, möchte ich eingangs dafür sensibilisieren, wie unmöglich es ist, ein
solches Bild zu entwerfen. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Synonyme, wie Motor City
oder Motown herhalten konnten, um Detroit hinlänglich zu bezeichnen und auch das Gerede
von Detroit als sterbender Stadt hat ausgedient. Detroit Is No Dry Bones, um den Titel des
neuen Buchs von Camilo José Vergara zu zitieren. Vergara, der in einem Interview mit Alexa
Färber und Kerstin Niemann in dieser Ausgabe darüber reflektiert, wie er die Stadt seit über 25
Jahren dokumentarisch begleitet, gehörte zu den ersten Fotografen, die den Ruinen Detroits ihre
Aufmerksamkeit schenkten. Doch auch wenn der Verfall immer noch omnipräsent das Stadtbild
prägt und bis heute ganze Viertel verfallen und weggerissen werden, stehen gerade in der Innenstadt
Detroits frisch sanierte Hochhäuser und Wohnbauten bereit, um Zugezogene willkommen
zu heißen. Wo vor ein paar Jahren noch Wohnviertel waren, finden sich nun großzügige Grünflächen
und zwischen Ateliers, Cafés und urbanen Gärten wirken Armut und Obdachlosigkeit, die
vor einiger Zeit noch ausschlaggebend für die Debatten rund um Detroit waren, heute eher wie
Randerscheinungen. Diesen zunehmend unsichtbar werdenden AkteurInnen der Stadt widmet
sich Scott Hocking in seinem essayistischen Beitrag. Der Künstler baut seit Jahren Skulpturen
an verlassenen Orten Detroits und gibt einen einzigartigen Einblick in seine nächtliche Arbeit in
den Ruinen.
Detroit ist die Stadt der Widersprüche. Vielleicht ist sie gerade deshalb in den letzten Jahren
zu einem Spielfeld für die kritische Stadtforschung geworden. Während die Geisterstadt zu
einem ikonischen Beweis für die Endlichkeit der kapitalistischen Stadtentwicklung wurde, liefern
die großangelegten Gentrifizierungsprozesse und neoliberale Austeritätspolitik gegenwärtig vor
allem das Material für kritische Reflexionen über aktuelle Trends der kapitalistischen Stadtentwicklung.
Wo sich gestern noch wie nirgends sonst über die Postapokalypse fantasieren ließ,
schreitet heute bereits mit aller Beharrlichkeit die Wiederherstellung des Status Quo voran – ein
Gegensatz, dem ich mich in meinem Beitrag zu diesem Heft durch einen Blick auf die Wolkenkratzerarchitektur
Detroits gewidmet habe.
Über die Schwierigkeit, eine einheitliche Erzählung von der Stadt zu liefern, löst Detroit
damit auf eindrucksvolle Weise ein, was Henri Lefebvre in seiner programmatischen Schrift
La Révolution urbaine aus den 1970er Jahren als Ausgangspunkt für das künftige Denken der
Stadtforschung in Aussicht stellte: die Annahme einer Unmöglichkeit von der Stadt als Ding
sprechen zu können. Während Lefebvres These jedoch vor allem darauf zielte, die Stadt nicht
mehr als lokal abgrenzbaren Gegenstand, sondern als global wirkmächtigen Urbanisierungsprozess
zu verstehen, sensibilisiert Detroit für eine andere Tragweite dieser Unmöglichkeit. Die
Stadt wird zum Unding, doch nicht, weil sie sich grenzenlos ausbreitet, sondern weil sie keine
Einheit darstellt – weder heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.
Was uns Detroit lehrt, ist die inhärente Widersprüchlichkeit des Urbanen. In Detroit zerfallen
mehr als die Gebäude, das Phänomen Stadt selbst zerfällt. Sobald man versucht die Stadt
auf den Begriff zu bringen, entzieht sich ein Teil von ihr dieses Zugriffs. Von Detroit sprechen
heißt demnach immer auch nicht von Detroit zu sprechen. Wie eine glibberige Masse lässt sich
die Stadt nicht festhalten, sodass sie keine zusammenhängende Geschichte, sondern nur einen
Flickenteppich an inkompatiblen Versatzstücken liefert. Anstelle eines übergeordneten Rahmens,
geben die Texte zum Schwerpunkt Detroit einen Einblick in die unterschiedlichen und
teils paradoxen Wirklichkeiten der Stadt, versammelt von ForscherInnen und KünstlerInnen aus
Detroit und anderswo. Und weil kein Bild und kein Text repräsentativ dafürsteht, was Detroit im
Kern ausmacht – weil jedes Narrativ vernachlässigt, ausblendet oder schlicht vergisst – lässt die
Zusammenstellung von Texten, die dieses Themenheft vereint, auch keinen anderen Rahmen zu
als den Namen der Stadt selbst.
Lucas Pohl ist Doktorand am Institut für Humangeographie der Goethe Universität Frankfurt
am Main. Er promoviert zum Leerstand und Verfall von Wolkenkratzern und analysiert in
diesem Zusammenhang, welche Konsequenzen von solchen Objekten in unterschiedlichen
Städten ausgehen. Allgemeiner interessiert er sich für eine Vermittlung von Philosophie,
Psychoanalyse und Stadtforschung mit Fokus auf den Arbeiten von Jacques Lacan, Henri
Lefebvre, Alain Badiou und Slavoj Žižek.
Lucas Pohl — Eine STADT im Zerfall
05
JOSHUA AKERS
The DECLINE
of Detroit in
Three ACTS
housing, austerity, deindustrialization,
subsidies, eviction, racism, suburbs, speculation
Series: Hope starts here;
All photos — Romain Blanquart
On a hot humid day in the middle of August, seven members of Detroit Eviction
Defense quickly packed boxes and loaded a moving truck on the east side of Detroit.
They were aiding a single-mother and her three children who were losing their home
less than seven months after agreeing to purchase it on a land contract. This house, a
three-bedroom colonial in the rough and tumble wilds of a long-neglected neighborhood,
was to be a home for the Morgan family. A site of stability, as Ms. Morgan’s
children chased their aspirations for higher education and a better life. Instead, they
now had no place to live just three weeks before the start of the school year. As the
truck was being loaded it was unclear where they would go.
06
dérive N o 70 — Detroit
LUCAS POHL
Architektur, Stadtgeschichte, Ruin Porn, Wolkenkratzer,
Unsterblichkeit, Machtverhältnisse
Die unsterbliche
STADT
Das UNBEHAGEN in
den Wolkenkratzern von Detroit
Der Book Tower wurde 1926 als Detroits höchstes Gebäude
eröffnet. Foto: Scott Hocking.
1
Inwiefern Lefebvres
Lesart mit einer
psychoanalytischen
Sichtweise auf (vertikale)
Architektur korrespondiert,
habe ich in einem anderen
Beitrag näher erläutert
(Pohl 2018).
Die Psyche der Stadt
Kaum etwas zeugt derart eindrucksvoll vom Aufstieg,
Fall und Wiederaufstieg Detroits wie dessen Wolkenkratzer.
Während zehntausende Gebäude in den letzten Jahren verfallen,
verbrannt und weggerissen worden sind, verweilen sie als
Zeugen einer Stadt, die einmal zu den reichsten und prosperierenden
Metropolen der Welt gehörte; die durch Schlagzeilen als
ärmste, kriminellste und schließlich sterbende Stadt weltweit
Berühmtheit erlangt hat; und die vielleicht eines Tages als
umfangreichstes Projekt einer städtischen Wiederauferstehung
in die Stadtentwicklungsgeschichte eingehen wird.
Während sich ein Großteil der gebauten Umwelt stetig
verändert, wohnt Wolkenkratzern eine eigenartige Zeitlosigkeit
inne. Doch nur, weil wir uns durch sie einen Zugang zur
Geschichte einer Stadt verschaffen können, sollte nicht vergessen
werden, dass uns solch schlafende Giganten nicht einfach
die Geschichte der Stadt erzählen. Weder erhalten wir durch sie
einen allgemeinen Blick auf die städtische Geschichte, noch ist
es eine beliebige Geschichte, die Wolkenkratzer erzählen. Wolkenkratzer
sind architektonische Manifestationen von Größe
und Imposanz und somit von Grund auf Ausdruck und
Zeugnis eines politischen Stadtverhältnisses. Henri Lefebvre
führt an einer Stelle seines Hauptwerkes La production de
l‘espace in einem psychoanalytisch inspirierten Vokabular aus:
»Die arrogante Vertikalität von Wolkenkratzern ... führt ein
phallisches oder genauer ein phallokratisches Element in den
Bereich des Visuellen ein; der Zweck dieser Darstellung,
diesem Bedürfnis zu beeindrucken, ist, den Zuschauenden
einen Eindruck von Autorität zu vermitteln. Vertikalität und
Höhe waren schon immer der räumliche Ausdruck von potentiell
gewaltiger Macht.« (Lefebvre 1974, S. 117) 1
Das Durchstreifen von Wolkenkratzern steht somit
sinnbildlich für das Erleben dessen, wie sich Machtverhältnisse
in der Architektur einer Stadt niederschlagen. Wolkenkratzer
sind der materialisierte Ausdruck dessen, wie sich Macht in
einer Stadt wortwörtlich zur Schau stellt – eine »Bühne aus
Beton, Stahl und Glas«, um es mit den Worten des Soziologen
Lucas Pohl — Die unsterbliche STADT: Das UNBEHAGEN in den Wolkenkratzern von Detroit
13
ALEXA FÄRBER, KERSTIN NIEMANN
documenting, photography, image-making, historization,
ruin porn, segregation, investment
TRACKING the
Transformation of
Detroit’s Cultural Heritage
Interview with the photographer
Camilo José Vergara
Tribute to street artist Nekst, by New Zealand artist Askew One;
Photo — Camilo José Vergara
The slow decay of urban architectures and infrastructures, derelict buildings,
wasteland, urban wilderness, and scrapped homes in Detroit’s city center
contributes to the common image of the deindustrialized city. Yet citizens
have adapted to and survived this long-term process of depopulation
and economic downfall over the last six decades. Derelict buildings and
structures become landmarks, gradually approaching the status of historical
monuments and points of orientation over time. A new building boom
driven by investment in private developments has led to the (re)building of
some downtown areas. This process of (re)invention, known as the New
Renaissance, is giving way to yet another future for the city, which has been
in a constant state of renewal since its Golden Age in the 1940s and 1950s.
Alexa Färber & Kerstin Niemann — TRACKING the Transformation of Detroit’s Cultural Heritage
19
NORA KÜTTEL
Visual arts, Gentrifizierung, socially engaged art,
Instrumentalisierung, Prekariat
ART for
whose SAKE?
Zwischen Kommodifizierung,
Gentrification und sozialem
Engagement
Blick auf einen südlichen Teil der
Packard Automotive Plant; Foto — Nora Küttel
Motor City, Motown, The D – Detroit trägt nicht
nur viele Namen, um die Stadt kursieren auch
zahlreiche Narrative. Während die erste Hälfte
des 20. Jahrhunderts vor allem vom wirtschaftlichen
Aufstieg Detroits geprägt gewesen ist –
Detroit als Synonym des American Dream, Detroit
als Arsenal of Democracy –, nehmen in den darauffolgenden
Jahren vor allem Erzählungen vom
Niedergang den Platz ein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts
münden diese in Artikeln, Büchern und
Zeitungsberichten mit den eingängigen Titeln wie Is
Detroit Dead? (Eisinger 2013), If Detroit is Dead,
Some Things Need to Be Said at the Funeral (Tabb
2015) oder Detroit – An American Autopsy (LeDuff
2013). Wie passend es ist, im Kontext einer Stadt,
in der immer noch Menschen leben, wohnen und
arbeiten, von Tod zu sprechen, sei an dieser Stelle
einmal dahingestellt. Viel mehr ist hier interessant,
dass etwa seit den 2010er Jahren wiederum eine
neue Richtung der Erzählung eingesetzt hat. Sie
dreht sich um die Zukunft Detroits und darum,
welche Rolle KünstlerInnen in ihr einnehmen.
Hierbei wird immer wieder ein Zusammenhang
hergestellt zwischen KünstlerInnen und einer
Renaissance oder einem Comeback Detroits. Das
geschieht einerseits eher fragend: »Can Detroit’s
Vibrant Arts Scene Save the City?« (La Force
2014), »Can the Arts Save Detroit?« (Tolf 2014),
andererseits mit einer klareren Aussage: »Detroit –
The Dream is Now. The Design, Art and Resurgence
of an American City« (Arnaud 2017). Doch
solche Artikel werfen meist eher Fragen auf als
dass sie Antworten finden. Wer sind also diese
KünstlerInnen, die vielleicht in der Lage wären,
Detroit zu retten? Wie sähe solch eine Rettung
überhaupt aus? Und welche Spannungen und
Widersprüche verbergen sich in Detroit hinter der
vielleicht auch glorifizierten Rolle von KünstlerInnen
und Kunst in der Stadtentwicklung?
Outdoor Gallery des Grand River Creative Corridor,
diverse KünstlerInnen; Foto — Nora Küttel
Nora Küttel — ART for whose SAKE?
27
Kunstinsert:
Cäcilia Brown
Ausschweifendes Reden
ist ein schöner Laster
Cäcilia Brown beschäftigt sich mit dem öffentlichen Raum und seinen Ordnungen und Hierarchien.
Sie wählt dafür das Medium der Skulptur mit dessen ihm ganz eigenen Ordnungen und
Hierarchien. Manche davon sind ganz profan – Gewicht, Volumen, Können, Farbe, Schmutz –
und manche Luxusprobleme, wie sie unlängst eine Einzelausstellung betitelt hat. Die Werktitel in
jener Ausstellung lauteten dementsprechend: Aktivbürger, Aktivbürger (Kopie), Innerstädtischer
Grillgeruch, Er zieht ein und ich zieh aus und auch Ohne Titel (ein typisches Luxusproblem der
Gegenwartskunst in ihrem Bemühen die Welt zu fassen und für prekäre Momente ein organischer
Teil von ihr zu werden).
Cäcilia Brown schweißt und gießt Stahl, Beton und Gips zu teilweise beweglichen Objekten,
die Elementen des städtischen Raumes ähneln, wie Mistkübeln, Zäunen, Toren und Mauern.
Doch auch destruktive Akte wie Verbrennen oder Aus-dem-Fenster-Werfen sind Teil ihrer
Methoden, ebenso wie die Kopie (s.o.) und die Sammlung.
Ihr Beitrag für dérive startet mit einer Installationsansicht aus dem Leopold Museum in
Wien, wo derzeit eine umfangreiche Installation von ihr zu sehen ist. Im Bildvordergrund sehen
wir Auftürmungen gebogener Wachsobjekte, die hängend Raum okkupieren und den Spanngewichten
von Stromleitungen nachempfunden sind. Dahinter einen raketenförmigen Anhänger,
der dem Wiener Wagenplatz Treibstoff als Toilette dient. Als letztes Bild ihres Beitrags sehen
wir Cäcilia Brown selbst, die ein halbfertiges Traggerüst in Augenschein nimmt. Derzeit hat der
Wagenplatz Treibstoff bestehend aus rund einem Dutzend Wagen einen temporären Platz (mit
Toiletten) im 12. Bezirk gefunden. Auf Betreiben des Bezirksvorstehers wohl nur für kurze Zeit,
obwohl der Grundstückseigentümer einer längeren Zwischennutzung zustimmen würde. Daher
die museale Zwischennutzung des voll funktionalen Objekts, das in größtmöglichem Kontrast
zu den gediegenen Museumsräumen steht, deren dunkler Holzboden und steinverkleidete Foyers
den Geist des Wiener Fin de Siècle evozieren sollen.
Holzverkleidungen ganz anderer Art verwendet Brown für eine weitere aktuelle Arbeit,
deren Nahsicht sie für die folgende Doppelseite gewählt hat. Ihre Sammlung von Fotos öffentlicher
Toiletten in Tokio ist auf Sperrholzplatten montiert, die als Träger von Wahlkampfplakaten
dienten. Deren teils idealisierte, teils gehässige Botschaften sind zur Wand gedreht, die im Raum
der Zeitschrift illusorisch und papierdünn erscheint. Auf der Folgeseite schließlich sind Fragmente
von Gesprächen zu lesen, die Brown mit befreundeten KünstlerInnen zu Themen wie Pünktlichkeit,
Politik und Alltagsritualen führte.
Cäcilia Browns Arbeit ist noch bis 26. Februar 2018 im Rahmen der Ausstellung Spuren
der Zeit im Leopold Museum in Wien zu sehen.
Andreas Fogarasi
32
dérive N o 70 — Detroit
SCOTT HOCKING
Detroit Nights
abandonment, sounds, walking, sculpture,
locations, materials
Photos — Scott Hocking
For the first 12 years of my life, I lived on a dirt street. Trucks would periodically
come by and oil it, to keep the dust down. We had ditches, a rotating
assortment of broke down cars being repaired that covered both the driveway
and lawn, and a couple of big trees in the front yard – the bigger one
was whitewashed at the trunk. It was a working-class neighborhood; kids
everywhere. Our parents would yell our names at dinnertime, or at dark, or
whenever we had to come home – because we were always outside, somewhere.
We lived in an 800-square foot house, which sold for 800 bucks a
couple of years ago. A handful of houses down the street, running perpendicular
to it, was the industry-lined C & O Railroad. Ziebart Rustproofing, Profile
Steel and Wire – whose giant front lawn we used for baseball games; the
signpost that read »No Ball Playing« was home plate – and further east, a
sprawling 7-Up Bottling Plant. There was a pedestrian walkway between
the steel and pop factories, allowing people to walk to and from the railroad.
On the other side of the tracks, the streets were paved.
Scott Hocking — Detroit Nights
37
WE THE PEOPLE OF DETROIT COMMUNITY RESEARCH COLLECTIVE
MAPPING the
Water CRISIS
The We the People of Detroit Community Research Collective
was formed in 2015 by a group of academics, community
members, and community activists from We the People of
Detroit, a community-led organization that has assisted Detroiters
in their struggles for a right to the city and its resources.
The impetus for the formation of our research collective was
the severe impacts of austerity policies on Detroit’s communities
and, in particular, on the working-class and disadvantaged
African-American communities that comprise the majority of
the city’s population. Our collective has been dedicated to documenting
the social consequences of austerity policies, focusing
on the racial inequities of those policies and the way in which
those policies have perpetuated systematic and structural forms
of racism that shape the allocation of wealth, jobs, security,
education, health, and many other social and economic rewards
and resources.
Our work started with one of the most basic of those
resources: water. We started with water because the communities
we work in, work with, and work for are currently contending
with a water crisis instigated by a campaign to shut off
water to households with unpaid water bills. The narrative of
the Detroit Water and Sewerage Department (DWSD) and
municipal officials is that water is shut off at homes where
water bills aren’t being paid. Water shut-offs, for the DWSD
and these officials, are not a crisis, but simply a responsible
business practice. The research of our collective, however, tells
a different story.
Our research shows how water bills in Detroit go unpaid
not because water customers are irresponsible, but because
water is unaffordable. While the U.S. Environmental Protection
Agency recommends that access to water and sewers should
cost no more than 2.5% of a family’s income, we show that many
Detroiters are faced with bills that amount to 10% or even more
of their income. We also document how water rates in Detroit
have increased even as public assistance to the city’s most impoverished
residents has been cut and even as unemployment levels
in the city have rose—both factors leading to water bills consuming
ever and ever greater shares of the income of the city’s
most disadvantaged families and communities.
Our research shows that, in Southeastern Michigan, the
severity of policie affecting customers who are late on their
water bills corresponds to the race of a water authority’s customers,
so that water authorities in white-majority suburban
municipalities offer much more lenient late-payment options
Detroit Light Brigade protest against
mass water shut-offs in front of
Michigan Central Station, Detroit.
Photograph by Shanna Merola.
than the DWSD offers its customers. Our research also shows
that some suburban water authorities do not even allow water
to be shut off at all—almost as if they understand that water is
a human right as well as a commodity.
Our research shows that the DWSD, a public agency
paid for by the citizens of Detroit, has for decades funded water
infrastructure that has supported the growth of white-majority
suburban municipalities around Detroit. Officials in these
municipalities have consistently accused African-American
majority Detroit of overcharging for water, even as the DWSD
sells water at reduced rates to suburban water authorities, who
then mark up that water, sell it to their customers, and retain
the price difference.
Our research shows how the regionalization of Southeastern
Michigan’s water system is shifting control of
the DWSD from African-American majority Detroit to the
white-majority suburban region that the department has ended
up serving, how suburban officials initially resisted regionalization
because of what they called the delinquency of Detroit’s
water customers, how the DWSD responded to these concerns
by accelerating water shut-offs to delinquent customers, and
how these accelerated shut-offs apparently convinced suburban
municipalities to agree to a regional water authority.
Perhaps most consequentially, our research shows that
what the DWSD and suburban officials present as sound business
practice is, on the ground, a practice that is displacing
working-class and disadvantaged African-American families
and communities for whom water bills are unaffordable
expenses. We document how the DWSD’s program to put
unpaid water bills on property taxes is materially contributing
We the People of Detroit Community Research Collective — MAPPING the Water CRISIS
43
MICHAEL ZIEHL
Kooperation in
der KRISE
Das Gängeviertel in Hamburg
als Reallabor zur Koproduktion
urbaner Resilienz
Kooperation, Selbstverwaltung, Resilienz,
Paternalismus, Projektentwicklung, Reallabor,
Governance, Gängeviertel
Magazin
Hamburg, 22. August 2009. Rund 200 KünstlerInnen und AktivistInnen
besetzen das Gängeviertel, ein denkmalgeschütztes Ensemble
aus zwölf leerstehenden Gebäuden in der Hamburger Innenstadt.
Zuvor war es nach zehnjährigem Leerstand von der Freien und Hansestadt
Hamburg (FHH) an einen Investor verkauft worden, der es
entwickeln sollte. Für rund 50 Millionen Euro sollten Wohnungen,
Büros und Gewerbeflächen entstehen, wofür die FHH den Abriss
von großen Teilen der Bausubstanz genehmigte. Doch diese »neoliberale
Erneuerungsstrategie« (Breckner 2016, S. 192) scheiterte. Der
Investor geriet in Folge der um sich greifenden Finanzkrise ab 2009
in Zahlungsschwierigkeiten. Diese Situation nutzten die AktivistInnen
um mit der Besetzung gegen den geplanten Abriss zu protestieren.
In diesem Zuge kritisierten sie auch die Stadtentwicklungspolitik des
Hamburger Senats, denn sie sahen darin die zentrale Ursache für
eine weitgehende Verödung der Innenstadt und für die Gentrifizierung
von Wohnquartieren. Vor allem die Verdrängung von KünstlerInnen
und Kulturschaffenden bei gleichzeitiger Selbstdarstellung der
FHH als kreative und tolerante Stadt standen in der Kritik. Viele der
BesetzerInnen waren selbst von steigenden Mietpreisen oder Verdrängung
in Folge von Projektentwicklungen betroffen. Daher forderten
sie die Entwicklung des Gängeviertels als selbstorganisiertes
Quartier für künstlerische Nutzungen mit günstigen Mieten. Um ihren
Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurde die Besetzungsaktion
künstlerisch inszeniert und stadtweit mit dem Slogan Komm in die
Gänge beworben (Gängeviertel e.V. 2012, S. 45ff.).
Fabrique im Gängeviertel nach der
Sanierung 2015.
Alle Fotos — Franzi Holz
46
dérive N o 70 — Detroit
Besprechungen
Die Neuerfindung der
Demokratie
Elke Rauth
Munizipalismus lautet das aktuelle Buzz-
Word für viele an einem tiefgreifenden
Wandel der urbanen Gesellschaft interessierte
linke Bewegungen, die unter den
Auswirkungen der Dauerkrise seit 2007 an
einer solidarischen Praxis für den städtischen
Alltag arbeiten. Gemeint ist damit
eine neue Form des Regierens, die den
leeren Hallen der Demokratie wieder
echtes Leben einhauchen möchte. Entstanden
aus den Bewegungsinitiativen und in
den Nachbarschaften betrachten die
munizipalistischen Regierungen auch nach
der Eroberung der institutionellen Macht
eben diese als ihre PartnerInnen in der
Formung und Umsetzung ihrer politischen
Agenda einer offenen, solidarischen und
gerechten Gesellschaft.
Viele der munizipalistischen Ansätze
fußen dabei auf weiter zurückreichende
Theorien wie etwa Murray Bookchins
System eines libertären Kommunalismus,
doch für die Praxis fungiert insbesondere
Spanien mit den Aushängeschildern
Barcelona und Madrid als leuchtende Inspirationsquelle.
Bei den spanischen
Kommunalwahlen 2015 führten – nach
den Platzbesetzungen der 15M-Bewegung
2011 und den Erfolgen der Bewegung
gegen Zwangsräumungen PAH – zahlreiche
Wahlkämpfe munizipalistischer Plattformen
in einer ganzen Reihe spanischer
Städte zum Sieg. Seither befinden sich die
Bewegungs-Plattformen, die ganz im
Gegensatz zu Podemos keine hierarchische
Parteienstruktur anstreben, in einem ebenso
schwierigen wie hoffnungsvollen Prozess
der Aneignung der Institutionen des Politischen
und der »Erprobung einer neuen Institutionalität«
durch das Zusammendenken
von sozialen urbanen Bewegungen, Nachbarschaften
und politischen Institutionen.
Einiges ist dazu im Netz bereits publiziert
worden und auch die dérive-Ausgabe
69 zum urbanize! Festival Demokratie und
Stadt im Herbst 2017 hat sich intensiv mit
der munizipalistischen Idee beschäftigt.
Ende 2017 ist dazu nun eine weitere Publikation
erschienen, die sich unter dem Titel
Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen
und die Regierung der Städte aufmacht,
eine kritische Analyse der munizipalistischen
Praxen in Spanien, ihrer
Erfolge und Fallstricke zu liefern. Gut zwei
Jahre nach dem unerwarteten David-gegen-Goliath-Sieg
der munizipalistischen
Plattformen betrachtet der schmale Band,
erschienen bei transversal texts, in acht
Beiträgen den Status Quo: Was ist bisher
geschehen, welche Erfahrungen – und
welche Fehler – wurden gemacht und
welche Erkenntnisse und Notwendigkeiten
ergeben sich daraus? Die HerausgeberInnen
Christoph Brunner, Niki Kubaczek,
Kelly Mulvaney und Gerald Raunig lassen
dabei die PraktikerInnen in den neuen
Stadtregierungen ebenso zu Wort
kommen, wie sie einen Blick von außen
liefern, der die Entwicklungen zu theoretisieren
versucht.
Gleich mit dem Einführungsartikel Die
politische Neuerfindung der Stadt liefern
Niki Kubaczek und Gerald Raunig einen
spannenden Überblick, der von den un mittelbaren
Wurzeln der munizipalistischen
Bewegungen und ihrem urbanen Terrain
bis zu den Prozessen, Ansprüchen, Forderungen
und Zielen reicht. Das Munizipalistische
Manifest versammelt gemeinsame
Positionen, die im Juli 2016 auf der
1. Tagung zu Munizipalismus, Selbstverwaltung
und Gegenmacht diskutiert
wurden. Dabei wird auch klar, dass mit der
Verlagerung des Politischen auf die Ebene
von Städten und Gemeinden keineswegs
der Rückzug ins Lokale gemeint ist; ganz
im Gegenteil verfolgt der Munizipalismus
die globale Vernetzung solidarischer
Städte als gemeinsames Bollwerk gegen
die EU-weite Austeritätspolitik des Sozialabbaus
und der geschlossenen Grenzen
sowie die Macht der Konzerne.
Wie anders sich das munizipalistische
Politikverständnis gestaltet, wird insbesondere
in den Artikeln aus der Praxis klar:
Übersetzt von Gerald Raunig erläutert
etwa Montserrat Galcerán Huguet, Philosophie-Professorin
und seit 2015 Gemeinderätin
in Madrid, die Erfolge und Schwierigkeiten
im »Kampf für den sozialen
Wandel und seine Ankunft in den Institutionen«,
während sie gemeinsam mit ihrem
Ahora Madrid-Kollegen, dem Geschichtswissenschafter,
Aktivisten und Gemeinderat
Pablo Carmona Pascual, Die Zukünfte
des Munizipalismus entlang von Feminisierung
der Politik und demokratischer Radikalisierung
analysiert. Auch Manuela
Zechner arbeitet nah an der Praxis und
liefert mit Let‘s play wichtige Überlegungen
zu neuen Formen von Subjektivität
und Kollektivität, sowie den Ein- und Ausschlüssen
eines behaupteten Wir.
Insgesamt schafft der Band eine wertvolle
Bestandsaufnahme für das Echtzeit-Labor
Munizipalismus, in dem Theorie
und Praxis tastend entwickelt und erprobt
werden. Dazu gehört wohl ebenso, dass es
für die Zukunft einer Sprache und Übersetzungsleistung
bedarf, die auch den theoretischen
Diskurs für unterschiedliche
Milieus zugänglich macht. Aber noch ist
das letzte Wort ja nicht geschrieben.
—
Christoph Brunner, Niki Kubaczek, Kelly Mulvaney,
Gerald Raunig (Hg.)
Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die
Regierung der Städte.
transversal texts, 2017
140 Seiten, 10 Euro.
Auch erhältlich als Gratisdownload unter transversal.at
Besprechungen
51
Zeitschrift für Stadtforschung
ISSN 1608-8131
8 euro
dérive
Okt — Dez 2017
N o 69
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Alle Inhaltsverzeichnisse und zahlreiche Texte sind auf der dérive-Website nachzulesen.
dérive
dérive
dérive Nr. 1 (01/2000)
Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs,
Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff;
Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der »Operation
Spring«
dérive Nr. 2 (02/2000)
Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und
Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/
Politik und Straße
dérive Nr. 3 (01/2001) (vergriffen)
Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft
dérive Nr. 4 (02/2001)
Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie
dérive Nr. 5 (03/2001)
Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier,
räumen und gendern, Kulturwissenschaften und Stadtforschung,
Virtual Landscapes, Petrzalka,
Juden/Jüdinnen in Bratislava
dérive Nr. 6 (04/2001)
Schwerpunkt: Argument Kultur
dérive Nr. 7 (01/2002)
Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit, Plattenbauten,
Feministische Stadtplanung,
Manchester, Augarten/Hakoah
dérive Nr. 8 (02/2002)
Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring,
Tokio, Antwerpen, Graffiti
dérive Nr. 9 (03/2002)
Schwerpunkt in Kooperation mit dem
Tanzquartier Wien: Wien umgehen
dérive Nr. 10 (04/2002) (vergriffen)
Schwerpunkt: Produkt Wohnen
dérive Nr. 11 (01/2003)
Schwerpunkt: Adressierung
dérive Nr. 12 (02/2003)
Schwerpunkt: Angst
dérive Nr. 13 (03/2003)
Sampler: Nikepark, Mumbai,
Radfahren, Belfast
dérive Nr. 14 (04/2003) (vergriffen)
Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen
dérive Nr. 15 (01/2004)
Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten
dérive Nr. 16 (02/2004)
Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness,
Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering,
Ein Ort des Gegen
dérive Nr. 17 (03/2004)
Schwerpunkt: Stadterneuerung
dérive Nr. 18 (01/2005)
Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen,
Kathmandu, Architektur in Bratislava
dérive Nr. 19 (02/2005)
Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus
dérive Nr. 20 (03/2005)
Schwerpunkt: Candidates and Hosts
dérive Nr. 21/22 (01-02/2006)
Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst
dérive Nr. 23 (03/2006) (vergriffen)
Schwerpunkt: Visuelle Identität
dérive Nr. 24 (04/2006)
Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware
dérive Nr. 25 (05/2006) (vergriffen)
Schwerpunkt: Stadt mobil
dérive Nr. 26 (01/2007)
Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright,
Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der phantastischen
Stadt, Spatial Practices as a Blueprint for
Human Rights Violations
dérive Nr. 27 (02/2007)
Schwerpunkt: Stadt hören
dérive Nr. 28 (03/2007)
Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale Technokratie
und Stadtpolitik, Planung in der Stadtlandschaft,
Entzivilisierung und Dämonisierung, Stadt-Beschreibung,
Die Unversöhnten
dérive Nr. 29 (04/2007)
Schwerpunkt: Transformation der Produktion
dérive Nr. 30 (01/2008) (vergriffen)
Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film
dérive Nr. 31 (02/2008) (vergriffen)
Schwerpunkt: Gouvernementalität
dérive Nr. 32 (03/2008)
Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion
dérive Nr. 33 (04/2008)
Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen Kapitalismus,
Pavillonprojekte, Hochschullehre,
Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau,
Keller, James Ballard
dérive Nr. 34 (01/2009)
Schwerpunkt: Arbeit Leben
dérive Nr. 35 (02/2009)
Schwerpunkt: Stadt und Comic
dérive Nr. 36 (03/2009)
Schwerpunkt: Aufwertung
dérive Nr. 37 (04/2009)
Schwerpunkt: Urbanität durch Migration
dérive Nr. 38 (01/2010)
Schwerpunkt: Rekonstruktion
und Dekonstruktion
dérive Nr. 39 (02/2010) (vergriffen)
Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung
dérive Nr. 40/41 (03+04/2010)
Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung
dérive Nr. 42 (01/2011)
Sampler
dérive Nr. 43 (02/2011)
Sampler
dérive Nr. 44 (03/2011)
Schwerpunkt: Urban Nightscapes
dérive Nr. 45 (04/2011)
Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen
dérive Nr. 46 (01/2012)
Das Modell Wiener Wohnbau
dérive Nr. 47 (02/2012)
Ex-Zentrische Normalität:
Zwischenstädtische Lebensräume
dérive Nr. 48 (03/2012)
Stadt Klima Wandel
dérive Nr. 49 (04/2012)
Stadt selber machen
dérive Nr. 50 (01/2013) (vergriffen)
Schwerpunkt Straße
dérive Nr. 51 (02/2013)
Schwerpunkt: Verstädterung der Arten
dérive Nr. 52 (03/2013)
Sampler
dérive Nr. 53 (04/2013)
Citopia Now
dérive Nr. 54 (01/2014)
Public Spaces. Resilience & Rhythm
dérive Nr. 55 (02/2014)
Scarcity: Austerity Urbanism
dérive Nr. 56 (03/2014) (vergriffen)
Smart Cities
dérive Nr. 57 (04/2014)
Safe City
dérive Nr. 58 (01/2015)
Urbanes Labor Ruhr
dérive Nr. 59 (02/2015)
Sampler
dérive Nr. 60 (03/2015)
Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt
dérive Nr. 61 (04/2015)
Perspektiven eines kooperativen Urbanismus
dérive Nr. 62 (01/2016)
Sampler
dérive Nr. 63 (02/2016)
Korridore der Mobilität
dérive Nr. 64 (03/2016)
Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung
dérive Nr. 65 (04/2016)
housing the many Stadt der Vielen
dérive Nr. 66 (01/2017)
Judentum und Urbanität
dérive Nr. 67 (02/2017)
Nahrungsraum Stadt
dérive Nr. 68 (03/2017)
Sampler
dérive Nr. 69 (04/2017)
Demokratie
57
Impressum
ABONNEMENT
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
dérive – Verein für Stadtforschung
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth
ISSN 1608-8131
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz
Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung
von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den
Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden
Fragen. Besondere Berücksichtigung sollen dabei
inter- und transdisziplinäre Ansätze finden.
Grundlegende Richtung:
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als
interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Redaktion
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Tel.: +43 (01) 946 35 21
E-Mail: mail@derive.at
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Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr
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Schwerpunktredaktion: Lucas Pohl
Redaktion / Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Johanna Betz, Andreas
Fogarasi, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer,
Silvester Kreil, Axel Laimer, Iris Meder, Erik Meinharter, Sabina
Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo.
AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser
Ausgabe: Joshua Ackers, Thomas Ballhausen, Alexa Färber,
Andreas Fogarasi, Rixta Hoekstra Scott Hocking, Nora Küttel,
Kerstin Niemann, Lucas Pohl, Ursula Maria Probst, Paul
Rajakovic, Elke Rauth, Camilo José Vergara, We the People of
Detroit Community Research Collective, Michael Ziehl.
Mitgliedschaften, Netzwerke:
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IG Kultur, INURA – International Network for Urban
Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.
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Genehmigung des Herausgebers gestattet.
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Outreach Ministries. 3323 Gratiot Avenue, Detroit, 2015.