soziologie heute Dezember 2009
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42 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Dezember</strong> <strong>2009</strong><br />
Die Arbeit bleibt das Maß aller Dinge<br />
Soziologe Klaus Dörre legt Studienband zur sozialen<br />
Frage im 21. Jahrhundert vor<br />
von Stephan Laudien<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Ein Gespenst geht um in Europa:<br />
die Angst vor dem sozialen Abstieg.<br />
Längst beschränkt sie sich nicht<br />
mehr auf gesellschaftliche Gruppen,<br />
die gemeinhin der Unterschicht zugerechnet<br />
werden. Prekäre Lebensverhältnisse,<br />
wie sie beispielhaft für<br />
Langzeitarbeitslose sind, machen<br />
inzwischen sogar hochgebildeten<br />
Universitätsabsolventen zu schaffen.<br />
Ihre Erscheinungsformen reichen<br />
von Leiharbeit über Beschäftigung<br />
im Niedriglohnbereich bis hin zu<br />
kreativer Arbeit, die weit unter allgemeingültigen<br />
Lohnstandards vergütet<br />
wird.<br />
„Prekäre Lebensverhältnisse lassen<br />
sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen”,<br />
sagt Prof. Dr. Klaus Dörre<br />
von der Friedrich-Schiller-Universität<br />
Jena. Der Soziologe betont jedoch,<br />
dass es neu sei, wie sich prekäre<br />
Arbeits- und Lebensbedingungen<br />
verstetigen. Außerdem lasse sich beobachten,<br />
dass Menschen in prekären<br />
Lebensverhältnissen zunehmend<br />
diskriminiert werden. Hinzu komme<br />
die Tatsache, dass immer mehr<br />
Der Jenaer Soziologe<br />
Prof. Dr. Klaus Dörre.<br />
(Foto: Peter Scheere/FSU )<br />
Gruppen betroffen sind, die bislang<br />
in gesicherten Verhältnissen lebten.<br />
Gemeinsam mit seinem französischen<br />
Kollegen Robert Castel hat<br />
Dörre das Buch „Prekarität, Abstieg,<br />
Ausgrenzung” herausgegeben. Es<br />
trägt den Untertitel „Die soziale Frage<br />
am Beginn des 21. Jahrhunderts”<br />
und greift die Ergebnisse einer Jenaer<br />
Tagung im Jahr 2006 auf. Seinerzeit<br />
war untersucht worden, ob die<br />
französischen Forschungsergebnisse<br />
zu Prekarität verallgemeinerbar<br />
sind. Dabei sprechen die Soziologen<br />
von prekären Erwerbsverhältnissen,<br />
wenn die Beschäftigten aufgrund<br />
ihrer Tätigkeit deutlich unter ein<br />
Einkommens-, Schutz- und das soziale<br />
Integrationsniveau sinken, das<br />
in der Gegenwartsgesellschaft als<br />
Standard definiert und mehrheitlich<br />
anerkannt wird. Prekär ist Erwerbsarbeit<br />
zudem, sofern sie subjektiv<br />
mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten<br />
und Planungsunsicherheit<br />
verbunden ist, die deutlich unter<br />
der Schwelle gesellschaftlicher Standards<br />
liegen.<br />
„Die Verstetigung prekärer Arbeitsund<br />
Lebensverhältnisse hat gravierende<br />
Folgen für die Lebensplanung<br />
der Betroffenen”, sagt Dörre. Doch<br />
nicht nur die familiäre Situation leide<br />
unter den prekären Erwerbsverhältnissen.<br />
Es lasse sich zudem der Verlust<br />
gesellschaftlicher Partizipation<br />
feststellen: Die Menschen reagieren<br />
zunehmend apathisch, sie verlieren<br />
das Interesse an politischer Mitwirkung.<br />
„Der Anteil von Menschen in<br />
prekärer Erwerbslage ist unter den<br />
Nichtwählern signifikant hoch”, weiß<br />
der Jenaer Soziologe.<br />
In Deutschland liegt der Anteil des<br />
Niedriglohnsektors inzwischen bei<br />
22 Prozent, nur noch drei Prozent<br />
unter den USA. Dieser Trend lasse<br />
sich auf ganz Europa übertragen,<br />
haben die Soziologen festgestellt.<br />
Robert Castel/<br />
Klaus Dörre (Hg.):<br />
Prekarität, Abstieg,<br />
Ausgrenzung,<br />
Die soziale Frage<br />
am Beginn des 21.<br />
Jahrhunderts<br />
Campus Verlag<br />
Frankfurt/New York,<br />
<strong>2009</strong><br />
424 Seiten<br />
Preis: Euro 29,90<br />
ISBN 978-3-593-<br />
38732-1<br />
Die Ausnahme bilden die skandinavischen<br />
Länder. Ein weiterer Befund<br />
lässt aufhorchen: Das vielbeschworene<br />
Ende der Arbeitsgesellschaft<br />
hat sich als Chimäre erwiesen. „Die<br />
große Mehrheit der Erwerbsfähigen<br />
sieht die Vollzeitbeschäftigung als erstrebenswert<br />
an”, konstatiert Klaus<br />
Dörre. Spätestens wenn eine Familie<br />
gegründet wird, erweist sich eine<br />
feste Anstellung als Idealvorstellung.<br />
Neu an den prekären Lebensverhältnissen<br />
ist die Tatsache, dass sie in<br />
reichen Gesellschaften für immer<br />
mehr Menschen zum Normalzustand<br />
werden und dass sie - anders<br />
als noch im 19. Jahrhundert - mit gesellschaftlichem<br />
Abstieg verbunden<br />
sind. Hingegen bargen vergangene<br />
Krisenzeiten immer die Hoffnung auf<br />
einen Aufstieg in sich. Hoffnung, so<br />
der Ausblick des vorliegenden Buches,<br />
verspricht der Befund, dass<br />
prekäre Lebensverhältnisse ein globales<br />
Phänomen sind. Lösungen<br />
werden folglich in einem größeren<br />
Rahmen notwendig sein.<br />
Kontakt:<br />
Prof. Dr. Klaus Dörre<br />
Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-<br />
Universität Jena<br />
Carl-Zeiß-Straße 2<br />
D-07743 Jena<br />
Tel.: 03641 / 945520 oder 945521<br />
E-Mail: klaus.doerre@uni-jena.de