E_1930_Zeitung_Nr.022
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N°22 — <strong>1930</strong> AUTOMOBIL-PFVUE 13<br />
EDO<br />
HDuTEILR<br />
Das ist die Zeit der Budenfreiheit, da Madame<br />
Augusta ihr Geschäft ins Freie verlegt<br />
hat, mitten in den Verkehr, dicht bei der<br />
Madeleine. Dort sitzt sie auf ihrem Dreistuhl,<br />
von mittags bis Mitternacht. Am Tage<br />
leuchtet ihr die Sonne, bei Nacht eine Azetylenfunzel,<br />
und wenn sie nicht die ewigen<br />
Sterne über sich hat, dann einen Regenschirm,<br />
Neben dem Schemel stehen schön<br />
gerichtet die Lederschuhe der kleinen Frau,<br />
weil sie vorsorglich ihre Füsse in dicke Filzpantoffeln<br />
gesteckt hat. Auf ihrem Schoss<br />
liegt ein Pappdeckel, und darauf wieder viele<br />
sauber geschnittene, weisse Papierblätter,<br />
wie sie der Krämer etwa zum Einwickeln<br />
immer bereit hat. Tief gebeugt über dieses<br />
Einwickelpapier sitzt Madame Augusta und<br />
schreibt, unaufhörlich wie eine Maschine.<br />
Nie hat ihr jemand ins Auge gesehen, keiner<br />
vermag ihr Gesicht zu erblicken, sie sieht<br />
nicht rechts, sie sieht nicht links, schreibt<br />
und wirft hin und wieder, wenn sie gefragt<br />
wird, einige Antworten unwillig in die Luft,<br />
kurz, knapp, messerscharf aus den Zähnen.<br />
Denn Zeit ist Geld, selbst für Madame Augusta<br />
und ihren Gatten, die mit Wahrsagen und<br />
Hellsehen handeln. Auch in diesem Beruf<br />
hat die Gemütlichkeit und Feierlichkeit ein<br />
Ende genommen und die Rationalisierung<br />
des Betriebes ihren Anfang.<br />
Nacht muss es sein, wenn Augustas Sterne<br />
strahlen. Je später die Stunde, desto grössere<br />
Menschenmassen sammeln sich in dichten<br />
Kreisen, desto besser floriert der Handel.<br />
Versieht ihn die eine Ehehälfte im<br />
Sitzen, so die andere im Stehen und Herumgehen.<br />
Eine kleine Glatze leuchtet auf dem<br />
Haupt des Gatten. Sein ergrauter Schnurrbart<br />
ist stets frisch gewichst, und weil der<br />
Patriotismus immer das Geschäft ein wenig<br />
hebt, trägt Augustas Herr und Gebieter bescheiden<br />
und desto vertrauenerweckender<br />
das Band eines Kriegsordens im Mantelknopfloch.<br />
In der linken Hand hat der kleine<br />
Mann ein Kartenspiel, dessen zweiunddreissig<br />
Blätter unaufhörlich mit dem rechten<br />
Daumen und Zeigefinger aufelnandergeknallt<br />
werden. Bemerkt der Geschäftsführer frischen<br />
Zustrom von Neugierigen, dann lässt<br />
er ein Kartenblatt ziehen, fragt Madame<br />
\ugusta, was das für eine Karte sei und,<br />
wie von einem Maschinengewehr gefeuert,<br />
knallt die richtige Antwort in die Luft. Der<br />
freundliche kleine Herr lässt sich Geldscheine<br />
zeigen, besieht sie, fragt die Seherin, die in<br />
der gleichen Weise den Wert des Scheines,<br />
Drucknummer und die sechsstellige Numerierungsziffer<br />
hervorschleudert. Alles staunt<br />
und ist verblüfft. Immer neue Scheine, immer<br />
neue richtige Antworten. Da ist der<br />
Handel schnell im Schwung. Für drei Franken,<br />
fünfzig Centimes, kann jeder in Gedanken<br />
zwei oder drei Fragen an Madame<br />
EFTR/ORCJ<br />
Die Wahrsagerin an der Madeleine.<br />
Augusta stellen, und sie werden diskreterweise,<br />
wie sich das gehört, schriftlich beantwortet.<br />
Wer seine drei Franken abgeladen<br />
hat, flüstert seinen Vornamen dem Geschäftsführer<br />
ins Ohr, zieht eine Karte, Madame<br />
Augusta nennt die Karte, notiert sie und<br />
dazu den Vornamen, den sie gleichfalls gehellsichtigt<br />
hat. Dies kleine Zwischenspiel, das<br />
sich unaufhörlich wiederholt, macht jedoch<br />
die Sibylle nicht irre. Sie schreibt und<br />
schreibt. Alle zwei — drei Minuten ist ein<br />
Kunde abgefertigt.<br />
„Ecrivez visiblement, Madame!"<br />
«Ercrlvez visiblement, Madame», befiehlt<br />
immer wieder der Gatte, was weniger an<br />
Madame gerichtet ist als an die Kundschaft;<br />
um sie vom Ernst des Geschehens zu überzeugen^<br />
Und sie schreibt Hält alle zwei —<br />
drei Minuten einen Zettel in die Luft, laut<br />
rufend: «Monsieur Jean — Madame Annette<br />
— Madame Yvonne — Monsieur Albert!» Die<br />
Aufgerufenen erhalten ihre Antworten, buchstabieren,<br />
lesen, hie und da lassen sie sich<br />
einige Zeichen erklären, oder Madame bekommt<br />
den Zettel zurück und muss ihn deutlicher<br />
ausfüllen. Neue Kunden, neue Vornamen,<br />
neue Antworten, neues Geld. Ab<br />
und zu unterbricht ein sehr intim, nur von<br />
Mund zu Ohr geführtes Gespräch zwischen<br />
einem besonders bedrückten Kunden und dem<br />
Geschäftsführer den Handel, dann lauscht die<br />
Menschenmasse gespannt, tiefe Stille herrscht<br />
rings im Kreise und nur Augusta lässt sich<br />
nicht stören und schreibt.<br />
Haben die Frager die Antworten gelesen,<br />
so sind sie verblüfft, schütteln den Kopf vor<br />
Staunen, und wenn auch nicht alles haarscharf<br />
zu stimmen scheint, irgendwie ist Augusta<br />
immer auf der richtigen Fährte, gibt<br />
auch manchmal, wenn sie aufgefordert wird,<br />
eine Antwort mündlich und laut, so z. B.:<br />
dass eine Dame einen Brief von ihrer sechzehnjährigen<br />
Tochter aus dem Schweizer<br />
Pensionat erwartet oder dass die Gattin jenes<br />
Herrn im Pelz heute in Nizza sei. Das interessiert<br />
aber den Mann weniger. Er will<br />
erfahren, wo die Getreue gestern war. Augusta<br />
kann das leider nicht beantworten, der<br />
Wahre Eleganz<br />
Ueber wahre Elegana zu sprechen oder zu<br />
schreiben, ist ein illusorisches Thema. Es ist so<br />
wie mit dem Sinn für Musik: wer ihn besitzt, weiss,<br />
was darunter verstanden wird, und wer ihn nicht<br />
hat, vermag ihn nicht zu erlernen. Wer nicht versteht,<br />
wie wahre Eleganz aussieht, wird es auch<br />
aus tausend Worten nicht erlernen. Mais guand<br />
meine...<br />
Es wäre ideal, schreibt die Modeschriftstellerin<br />
der «Prager Presse>, wenn jede Frau mit einei Gestalt<br />
und den körperlichen und geistigen Eigenschaften<br />
ausgestattet wäre, auf denen sich auch die<br />
Eleganz der Kleidung ausbauen Hesse, wie man auf<br />
richtigem Stahlskelett eines Gebäudes die Wände<br />
ausbaut. Es gibt Frauen, denen diese ureigene<br />
Eleganz anhaftet, schon von der Zeit an, da sie<br />
Schulmädel waren, die von ihr sozusagen bis ins<br />
Grab begleitet werden. Jede ihrer Bewegungen hat<br />
jenes undefinierbare Plus, das so viel für die richtige<br />
Bewertung des Menschen bedeutet. Jede Bewegung<br />
der Hand, des Kopfes, der Gang. Dann kommt<br />
die Sprache dazu. Es mag lächerlich klingen, wenn<br />
ich sage, dass es eine elegante Färbung der Sprache<br />
gibt. Es ist vielleicht schwer zu verstehen, aber<br />
manche Leserin wird mich begreifen.<br />
Ich setze voraus, dass es viele Gangarten gibt,<br />
die elegant sein können, und es ist eine schwere<br />
Aufgabe, wenn diese oder jene Frau aus einer<br />
Reihe eleganter Dinge gerade die finden soll, die<br />
mit ihrem^Treigensten Wesen in absoluter Harmonie<br />
sind. Darin liegt, möchte ich fast sagen, das<br />
tiefste Geheimnis. Man stelle sich vor: eine Frau<br />
ist hoch und schlank, mit etwas ungeschickten Bewegungen,<br />
denen nur eine gewisse Nuance absoluter<br />
Grazie mangelt. Bei diesen Proportionen fehlt<br />
'sie fast immer. Diese Frau hat sicherlich allen Anspruch<br />
darauf, elegant zu sein. Sie wird das Kleidungsäquivalent<br />
ihrer Wesenscharakteristik in allem<br />
finden, was weder ausgesprochen englisch noch<br />
ausgesprochen französisch ist, sondern in einer Mischung<br />
der beiden Abarten, deren Namen dazu dienen,<br />
eine allgemeine Vorstellung wachzurufen, obgleich<br />
ich fest davon überzeugt bin, dass es heute<br />
: weder eine rein englische noch eine rein französi-<br />
'sehe Mode gibt. Die Vermengung beider bedeutet<br />
: ; eine gewisse Einfachheit der Linie, zugleich aber<br />
Leichtigkeit und Vollkommenheit der Ausarbeitung<br />
Der Gesamteindruck mnee eher würdUr al« spielerisch<br />
und kokett sein. Eher neutrale als ausgesprochene<br />
Farben, aber ohne alles Nonnenhafte.<br />
Französische Garnierung, beispielsweise feine Ajouren<br />
auf feinstem Material, aus dem Weste, Fichu,<br />
Kragen, Manschetten gearbeitet sind.<br />
Auch ganz junge Damen, die ganz offen tolpatschig<br />
sind, weil der Kanon ihres Körpers noch<br />
nicht die richtigen Proportionen erlangt hat und<br />
die sich gleich, jungen reinrassigen Hunden bewegen,<br />
können dabei vollkommen elegant sein. Aus<br />
den gleichen Gründen wie eben bei diesen jungen<br />
Hunden: durch ihre vollblütige Reinrassigkeit.<br />
Diese Mädchen, die in Abehdgewändern komisch<br />
aussehen, wandeln sich in Tweed und Wollsweater<br />
zum Urbild der jungen Diana. Sie sollten sich vor<br />
einem Hintergrund von Meer und Wald bewegen.<br />
Betriebsleiter fährt dazwischen und sagt, Seherin<br />
könne immer nur den augenblicklichen<br />
Standort bestimmen, und tiefsinnend geht der<br />
Herr im Pelz weiter. ,Es gehen die Strassenmädchen<br />
weiter, die jungen Burschen, die<br />
Droschkenkutscher, die Reichen und die Armen,<br />
die Fremden und die Einheimischen,<br />
neue strömen zu und der Geschäftsführer<br />
vergisst nicht, seine roten gedruckten Zettel<br />
zu verteilen, auf denen die Wohnung von<br />
Augusta und ihre Sprechstunden angegeben<br />
sind. Die Lichtreklame ist längst erloschen,<br />
schliesst Jakob Altmaier seine in einer deutschen<br />
<strong>Zeitung</strong> erschienene Schilderung, es<br />
ist dunkel geworden auf den Boulevards, nur<br />
die Azetylenlampe erhellt den Umkreis^ der<br />
Wind pfeift und die Sterne strahlen.<br />
Namentlich Wald. Ihre Rauheit ist einer ihrer<br />
.grössten Reize. Und den Parketten sollten sie ausweichen,<br />
solange sie nicht ganz herangereift sind.<br />
Frauen mit lateinischem Temperament und lateinischen<br />
Proportionen, die eher gebrechlich als<br />
elastisch sind, pflegen oft die Quintessenz der Eleganz<br />
zu sein; ihre Lebendigkeit, ihre Staccato-Bewegungen<br />
widerlegen die bekannte Behauptung<br />
nicht, dass eine ruhige und vielleicht etwas müde<br />
aussehende Frau eleganter wirke. Das zarte Gerippe<br />
der lateinischen Frauen, ihre zierlichen Proportionen<br />
und die nervöse, manchmal etwas affektierte<br />
Mimik passt am besten zu duftigen, wehenden<br />
Stoffen, weichen, langhaarigen Fellen, zu Volants<br />
und allgemeiner Bauschigkeit, die allerdings, man<br />
missverstehe mich nicht, mit der duftigen Tüllzierlichkeit<br />
sechzehnjähriger Debütantinnen nichts Gemeinsames<br />
hat. An dieser Frauentype kommt am<br />
besten die besondere absichtliche Schönheitspflege<br />
zur Geltung; wenn sie nur die geringste Neigung<br />
zu Banalität und einer gewissen Unabgeschlossenheit<br />
haben, wird die absichtliche Glätte der Haartracht,<br />
die Unauffälligkeit des Schmuckes und eine<br />
pastellfarbige Toilette dazu verhelfen, das Gesamtbild<br />
mit seinen etwas allzulebhaften Farben gleich<br />
einer Sordine zu dämpfen: die Melodie sanfter und<br />
Tuhiger erklingen zu lassen.<br />
Auch grosse, junonische Gestalten können elegant<br />
sein, ihr Stil ist aber eng begrenzt, und jede<br />
Versündigung muss unbarmherzige Folgen zeitigen.<br />
Diese grossen, starken (nicht dicken!), proportioneil<br />
gewachsenen Frauen sehen am besten in Gewändern<br />
von strengem Schnitt aus, die gut und verlässlich<br />
gearbeitet sind. Homespun und schwere<br />
Seidenstoffe, Leinen und massive Pelze, In strengen,<br />
anschmiegenden, kaum geschmückten Hüten.<br />
Kein leichtes und billiges Detail; auch der Schmuck,<br />
von dem solch eine rrosse Gestalt mehr tragen kann<br />
als jede andere, mnss massiv und gediegen sein.<br />
All das hier Gesagte erscheint schrecklich selbstverständlich,<br />
aber wenn man offenen Auges um sich<br />
blickt, rieht man auf jeden Schritt und Tritt Frauen<br />
mit allen Voraussetzungen nnd Möglichkeiten, elrgant<br />
va. sein, die sich selbst in unbegreifliche«<br />
Welse missverstehen.<br />
Die heiratslustigen Rumäninnen.<br />
Vor einigen Wochen erschien fn Buforester<br />
Blättern in auffallendem Druck ein«<br />
Anzeige, wonach 413 in eine öde Kolonie<br />
verschlagene junge Engländer 413 Mädchen<br />
zur Ehe suchen. Angebote seien an das Kolonialministerium<br />
in London zu richten. Ein©<br />
Annonce am nächsten Tag Hess erkennen,<br />
dass es sich um eine Reklamenotiz für einen<br />
neuen Film in den Bukarester Lichtspie'-<br />
theatern handelte. Gross war aber das Erstaunen<br />
im Bukarester Aussenministerium,<br />
als dort dieser Tage eine offizielle Zuschrift<br />
der englischen Foreign' Office eintraf, worin<br />
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