E_1934_Zeitung_Nr.071
E_1934_Zeitung_Nr.071
E_1934_Zeitung_Nr.071
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
verspritzten — sie merkte es gar nicht. Es<br />
war ja so aufregend. Der Mann vergass die<br />
tatsächlich nicht ausgesprochen sportlich<br />
gebildeten Fragen seines Qesponses. Er<br />
hatte den Schirm, um freie Hand zu haben,<br />
in den Boden gesteckt, schlug mit der Faust<br />
auf den Zaun, mit der flachen Hand seiner<br />
drall zu nennenden Nachbarin auf den Rükken,<br />
schrie aus vollem Hals und zitterte<br />
schliesslich in Erwartung des Gewinners so,<br />
dass selbst sein Regenfilzhut auf dem Kopfe<br />
wackelte.<br />
Die Begeisterung war so allgemein, dass<br />
ich erst jetzt zu Hause dazu komme, diese<br />
letzten Zeilen unter die notierten Stichworte<br />
zu setzen.<br />
Ich bin jedoch überzeugt, dass bis in einem<br />
Jahr die Frau bedeutend mehr von Autorennen<br />
versteht und der Gatte sie weder zu<br />
überreden braucht, an den nächsten Grand<br />
Prix mitzukommen — selbst wenn es Bindfaden<br />
regnen würde — noch ihre Begleitung<br />
zu bereuen hat.<br />
Mir aber sei das Schicksal hold, dass ich<br />
dann wiederum ihr Stenograph sein darf.<br />
Und sollten ihnen diese Zeilen zu Gesicht<br />
kommen, so bitte ich im voraus höflichst um<br />
Entschuldigung für die Indiskretion. Aber<br />
schliesslich muss ich meine Eintrittskarte<br />
doch irgendwie herausschlagen, nicht wahr?<br />
Die Kinderschaukel<br />
Von Hans Natonek.<br />
Man kann sich heute kaum vorstellen, dass<br />
der grosse Schauspieler und Lebenskünstler<br />
J. eines Tages am Beginn seiner Karriere<br />
genötigt war, sich fünfzig Franken zu leihen,<br />
weil er fertig, absolut fertig war und nicht<br />
wusste. wovon er morgen leben sollte. An<br />
einem Punkt, der gar nicht weit zurückzuliegen<br />
braucht, hält das Schicksal geheimnisvoll<br />
zögernd den Atem an, als ob es ausknobeln<br />
wollte: Erwähl' ich dich oder nicht, es<br />
zählt gleichsam an den Knöpfen aus: Berühmt<br />
— mittelmässig — unbekannt — und trifft<br />
die Entscheidung.<br />
Nichts trägt besser als ein solider Ruhm;<br />
er trägt einen von der eigenen Vergangenheit<br />
fort; und er hat überdies die famose<br />
Eigenschaft, dass er ganz automatisch wächst<br />
wie ein grosses Kapital. Es kommt immer<br />
noch mehr hinzu. Und in diesem Zustand ver-<br />
gisst man leicht die Bagatelle von gepumpten<br />
fünfzig Franken. Das ist zu fern, zu winzig,<br />
um es noch sehen zu können. Es gibt eine<br />
ganz grosse Zauberapparatur der Seele, eigens<br />
geschaffen, um verschwinden zu lassen,<br />
was einem nicht passt. Jahre, Entfernungen,<br />
Ereignisse schichten sich darüber, über den<br />
Freund, über das kleine Darlehen, über die<br />
Not, über die Dankbarkeit. Weiter, weiter...<br />
Aber nicht auf den grossen J. kommt es<br />
hier an, sondern auf jenen unbekannten<br />
Freund und Darleiher, nennen wir ihn P. —<br />
P. geht es nicht gut; es ging ihm niemals<br />
gut. Warum, das ist ein ebenso grosses Kapitel<br />
wie das andere, in dem zu beschreiben<br />
wäre, warum es J. so gut geht. Man nenne<br />
es Glück, Chance, Zufall, Sicherheit, Kraft,<br />
— Name ist Schall und Rauch, also Stoff von<br />
jenem Element aus dem der Ruhm gemacht<br />
ist. Leute, die P. in seiner besten Zeit kannten,<br />
behaupten, dass er sehr begabt gewesen<br />
sei: aber eben nicht glücklich begabt, weil<br />
er keinen Glauben an sich selbst hatte. Und<br />
das ist eine wichtige Voraussetzung. Er<br />
rutschte nämlich von ersten Rollen in kleine<br />
Chargen und duckte sich zuletzt in der Statisterie.<br />
Wer im Theater ins Rutschen kommt,<br />
dem hilft kein Hergott, denn der hilft nur<br />
den Steigenden. P. verliess zeitweilig das<br />
Theater, versuchte sich auf anderen Gebieten,<br />
sank ab in das widerstandslose, eben noch<br />
vegetierende Kunstproletariat, und kehrte,<br />
vom bösen, saugenden Zauber des Theaters<br />
immer wieder angezogen, zur Bühne zurück,<br />
das heisst zu dem, was der Film von ihr noch<br />
übriggelassen hat.<br />
So kam es, dass er, wenige Jahre nachdem<br />
er J. fünfzig Franken geliehen hatte, in dessen<br />
Komparserie ungekannt spielte, in der<br />
Atemnähe des Grossen. Für einen Taglohn<br />
von sieben Franken stand er da, der P., in<br />
irgend einer bärtigen Maskerade, vor sich den<br />
ehemaligen Freund und Kollegen, der mit<br />
seiner Gage von tausend Franken täglich für<br />
den Statisten P. ein Kapital verkörperte. Aber<br />
den rührte es nicht an, o nein. Er sah nur zu,<br />
ergötzte sich, und sein armes Herz wurde<br />
weit. Er trat in der Pause nicht zu ihm, o<br />
nein. Er sagte nicht: «Kollege, erinnerst du<br />
dich noch...» Er apnelierte nicht an Dankbarkeit,<br />
die bekanntlich Zinseszinsen trägt.<br />
Er hätte vielleicht, wenn jener sich erinnert<br />
hätte, was keineswegs fessteht, eine Karriere<br />
AUTOMOBIL-REVUE <strong>1934</strong> - N»71<br />
machen können, am starken Arm eines so<br />
mächtigen Freundes. Aber P. war schon so<br />
tief gesunken und in seinem Elend vielleicht<br />
schon zu weise, um noch auf diese Art seinen<br />
Weg machen zu wollen. Er sagte nichts. "Er<br />
kassierte nichts, weder Geld, noch Dank,<br />
noch Gefühle. Es bereitete ihm ein heimliches,<br />
närrisches Vergnügen, Gläubiger des grossen<br />
J. zu sein. Es machte ihn, den verlorenen<br />
Schwächling, stärker, still zu bleiben, als sich<br />
zu melden.<br />
Nur ganz selten, im Kreis Gleichgesinnter,<br />
in ärmlichen Lokalen, in denen der leere<br />
Abend Schicksalsgenossen zusammenfegt,<br />
kommt über seine Lippen, fast schüchtern<br />
die Prahlerei, von der sein innerstes Leben<br />
zehrt. «Der grosse J; schuldet mir fünfzig<br />
Franken...» Das bedeutet: Damals war ich<br />
oben und jener unten... Kinderschaukel des<br />
Lebens...<br />
Dieses Darlehen und der Verzicht, es einzukassieren,<br />
ist die Prothese eines zerbrochenen<br />
Rückgrats. Und der gute, liebe J.<br />
ahnt nichts. Und gäbe er dem armen P. auf<br />
der Stelle tausend Franken für die fünfzig<br />
von damals, er würde ihm alles nehmen, was<br />
er noch besitzt<br />
Bunte Chronik<br />
Die Todesbrille.<br />
Während die Gangsters Europas in ihren<br />
Mitteln immer noch ein gewisses Mass von<br />
Konservativismus nicht übersteigen, zeigt sich<br />
in Asien, dass dort auch dem Verbrecher eine<br />
andere Gedanken- und Gefühlswelt eigen ist<br />
als dem Europäer. Seine Phantasie nimmt<br />
eine andere Richtung. Bei uns genügen noch<br />
Schusswaffen, Gift und Beil. In Asien bedient<br />
man sich aber des wissenschaftlichen Fortschrittes,<br />
um ihn mit morgenländischer Phantasie<br />
als Mordwaffe zu verwenden. In Kalkutta<br />
beginnt ein Prozess, der weit über die<br />
Grenzen Indiens hinaus Aufsehen zu erregen<br />
imstande ist. Kurz bevor der Inder Amarendra<br />
Chandra Pandey starb, verdächtigte er<br />
seinen Stiefbruder. Pandeys Leichnam wurde<br />
von drei indischen Aerzten untersucht, der<br />
ordnungsgemässe Totenschein ausgestellt,<br />
und dann verbrannte man die Leiche so eilig,<br />
dass der Argwohn von Pandeys Neffen bestätigt<br />
wurde, dem der Sterbende seinen ungeheuerlichen<br />
Verdacht mitgeteilt hatte. Der<br />
Neffe erstattete die Anzeige. Angeklagt wurden<br />
der Stiefbruder Benoyendra Chandra Pandey<br />
und drei Aerzte. Es stellte sich heraus, dass<br />
verzweifelte Anstrengungen gemacht worden<br />
waren, um Amarendra am Leben zu erhalten,<br />
aber der Kranke hatte immer nur geflüstert:<br />
«Ich weiss, dass mein Bruder fest entschlossen<br />
ist, mich zu töten. Es hat keinen Zweck,<br />
etwas dagegen zu unternehmen...» Der Lebenswille<br />
erlosch allmählich, und so 'halfen<br />
auch die Bemühungen seiner Freunde nichts<br />
mehr. Einer der angeklagten Aerzte verordnete,<br />
wie ein anderer Zeuge angab, erst kurz<br />
vor dem Ableben des Patienten eine Kur, zu<br />
der aber niemand mehr Vertrauen hatte. Das<br />
fürchterlichste Detail, das der Prozess an den<br />
Tag brachte, ist die Tatsache, dass Amarendra<br />
Pandey tatsächlich umgebracht wurde,<br />
und zwar dadurch, dass man die Innenseite<br />
seiner Brille mit Pestbazillen bestrich. Von<br />
dort gelangten die Bakterien in den Blutkreislauf.<br />
Pandey erkrankte auch an Pest,<br />
erholte sich aber anscheinend einigermassen,<br />
so dass sich sein Bruder Benoyendra um seinen<br />
Erfolg betrogen sah. Er Hess sich daher<br />
aus Bombay eine Kultur von Bazillen kommen,<br />
die in Kalkutta unbekannt sind. Nachdem<br />
er eine grosse Anzahl gezüchtet hatte,<br />
füllte er sie in Injektionsnadeln und brachte<br />
seinem Bruder eine Reihe von « zufälligen »<br />
Nadelstichen bei, durch die der Todeskeim in<br />
das Blut gelangte. Jetzt war der Erfolg des<br />
Mörders grösser: Amarendra erkrankte. Und<br />
diesmal war der Verbrecher schlauer, aber<br />
auch noch grausamer. Er benützte die<br />
Schwächezustände des Vergifteten, um ihm<br />
noch während des langsamen, unendlich qualvollen<br />
Dahinsterbens neue Injektionen mit<br />
dem unbekannten Bazillus zu "verabreichen.<br />
Angeblich sollen sich auch die drei Aerzte an<br />
diesen verbrecherischen Handlungen aktiv beteiligt<br />
haben.<br />
, 5er »erfd)tmn5ef<br />
glü