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E_1935_Zeitung_Nr.083

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BERN, DIENSTAG, 15. OKTOBER <strong>1935</strong><br />

III. BLATT DER „AUTOMOBIL-REVUE" No83<br />

Von Richard von Schaukel<br />

Scharf schlägt vom Glockenturm die Uhr<br />

die sechste Abendstunde.<br />

Die Gasse ruht im Dunkel. Nur<br />

von einem düstern Schein die Spur<br />

schwankt die betrübte Runde.<br />

Die schwarzen Bäume ragen leer<br />

im Hof, den Schatten hüllen.<br />

Der Himmel hat kein Sternlein mehr,<br />

ein kalter Hauch schwebt schauernd her,<br />

in Schweigen mich zu hüllen.<br />

%4 de* Wildnis<br />

Von Paul Vetterli<br />

Seit etlichen Tagen trieb er sich draussen<br />

herum. Hungrig und verkommen sah er aus.<br />

Nachts schlich er an die Häuser und Dunghaufen<br />

heran — nach Abfällen suchend. Tagsüber<br />

trottete er im Walde umher oder<br />

drückte sich müde in'den Busch. Immer erweckte<br />

sein Gebaren den Eindruck, als quälte<br />

.ihn das schlechte Gewissen. Sein krauses,<br />

verklebtes Haar, sein graues, über das Gerüst<br />

von Knochen und Rippen straff gespanntes<br />

Fell, das sich so tief in die Flanken einbuchtete,<br />

missfiel. Die Unstetigkeit seines<br />

Auges erfüllte mit Argwohn. Als Köter und<br />

Streuner galt er — der Hausierer-Hund.<br />

Selbst als sein Besitzer noch lebte, erfreute<br />

sich « Grau », wie er allgemein hiess, keiner<br />

Sympathie. Die Nichtachtung, die man seinem<br />

Besitzer entgegenbrachte, traf ebensosehr<br />

auch ihn, vielleich eher noch mehr, da — so<br />

mütmasste man — er nicht einmal seinem'<br />

eigenen Herrn gegenüber die sonst bei Hunden<br />

gewohnte Anhänglichkeit und Treue bewies.<br />

Diese merkwürdige und offen zur<br />

Schau getragene Gleichgültigkeit seiner Gefühle<br />

wirkte auf jene, die mit dem Begriffe<br />

eines Hundes stets die Vorstellungen von<br />

schweifwedelnder Zärtlichkeit und kriechender<br />

Unterwürfigkeit verbanden, empörend<br />

und abstossend.<br />

Es fehlte nicht an Vielwissern, die den<br />

Hund als verkapptes Raubtier bezeichneten<br />

und allen Ernstes glaubten, dass in seinen<br />

Adern «wildes Blut» vorhanden sei. Gerüchtweise<br />

ging umher, sein Urahne sei ein leibhaftiger<br />

russischer Wolf gewesen, mit dem<br />

irgendein Kynologe, um auf diese Weise<br />

einen besonders scharfen Gebrauchshund heranzuzüchten,<br />

Kreuzungsversuche gemacht<br />

habe. So wurde « Grau », gleichgültig ob er<br />

im Geschirr stand und die mit allerlei Waren<br />

beladene Karre über Land zog, oder frei herumlungerte,<br />

stets mit dem Verdacht einer geheimen<br />

Zugehörigkeit zur Wildnis belastet.<br />

Nur einer vertraute dem Hunde, vertraute<br />

ihm ganz — sein Herr. Als Hausierer und<br />

Gelegenheitsarbeiter, häufig krank, fristete er<br />

ein trauriges Dasein. Ihn verlangte nicht nach<br />

Zärtlichkeiten und herzlichen Gefühlsausbrüchen<br />

von Seiten seines vierbeinigen Genossen.<br />

Nur einen Kameraden wollte er besitzen. Vielleicht<br />

brauchte er auch noch einen Helfer<br />

für die Bewältigung seiner beruflichen Arbeit.<br />

Dafür erwies sich der Vierbeiner ebenfalls als<br />

zuverlässig und willig. Darum nannte ihn der<br />

Händler — «Treu».<br />

Jetzt war sein Herr nicht mehr da — war<br />

tot Eines Morgens, als « Treu » wie gewohnt<br />

mit dem Fang nach der über den Bettrand<br />

herabhängenden Hand stiess, um Herrchen<br />

zu wecken, blieb die Hand unbeweglich und<br />

kalt<br />

Nie mehr sprach die bekannte Stimme zu<br />

ihm. Wie lauschten seine Ohren — umsonst.<br />

Wie suchten seine Augen umher — vergeblich.<br />

Jedem Winkel und Windzug nahm er<br />

mit seiner feinen Nase die Witterung ab —<br />

um ihn zu entdecken. Er fühlte: Herrchen<br />

war nicht mehr da, war weg. Eine weite<br />

Ferne hatte sich plötzlich zwischen ihn und<br />

seinen Gebieter geschoben.<br />

Dann nahmen sich fremde Hände seiner<br />

an. An eine Kette wurde er gelegt Futter<br />

stellte man ihm hin. Nein, Hunger leiden<br />

sollte er nicht — die wenigen Tage, die er<br />

noch zu leben hatte. Schliesslich war er ein<br />

Geschöpf. Ein Hund! Hat vielleicht allerlei<br />

durchgemacht. vSoll ja mehrmals den Besitzer<br />

gewechselt haben.<br />

Gleich nach dem Tode des Hausierers<br />

wurde im Dorfe herumgefragt, ob jemand<br />

« Grau » in Besitz nehmen wolle. Wenn nicht,<br />

dann würde der Landjäger mit der Beseitigung<br />

des Tieres betraut. Letzteres wurde allgemein<br />

gutgeheissen. Denn schliesslich handelt<br />

es sich ja hier um einen herrenlosen<br />

Köter, der, weil von keinem Besitzer beansprucht,<br />

keinen Beschützer hat.<br />

Stumpf, als wären seine früher so scharfen<br />

Sinne im Dahinsiechen abgestumpft, lag<br />

« Treu » an der Kette. Es wurde eifrig darüber<br />

disputiert, ob der Hund sein bevorstehendes<br />

Ende vorauszuahnen vermöge. Sein<br />

apathisches Verhalten wurde ebensosehr als<br />

Beweis für diese Meinung wie auch dagegen<br />

erwähnt. Einig waren sich die Leute erst, als<br />

er eines Tages sein Halsband zerriss und<br />

Reissaus nahm. Dann bestand kein Zweifel<br />

mehr: « Grau » wusste, was ihm bevorstand,<br />

darum seine Flucht<br />

mit<br />

Seit diesem Tage war er verschwunden.<br />

Man hörte aber von ihm. Schlimmes; sehr<br />

Schlimmes. Bei einem Bauern sprang er<br />

nachts durch das halbgeöffnete Küchenfenster,<br />

leerte eine Schüssel voll Milch und riss<br />

einen Laib Brot in Stücke. Der Einbruch in<br />

einen Hühnerhof wurde ebenfalls — ob mit<br />

Recht, konnte niemand beweisen — auf sein<br />

Konto gesetzt. Eine Katze wurde zerfleischt<br />

auf dem Felde gefunden.<br />

Mörder, orakelten alle. Als der Hund des<br />

Gemeindevorstehers mit blutigen Keulen und<br />

aufgeschlitztem Behang von einer Streiferei<br />

zurückkam, fiel der Verdacht selbstverständlich<br />

nur auf den einen — den Ausreisser. In<br />

allen Tonarten wurde über ihn geschimpft<br />

Keine Frist hätte man ihm nach dem Ableben<br />

des Hausierers schenken sollen, war doch<br />

hinreichend bekannt, welche Bestie sich unter<br />

diesem grauen Balge barg. Nun war er der<br />

Schrecken aller.<br />

Eine unheilvolle Veränderung, in wenigen<br />

Tagen unter dem gewaltigen Einfluss des<br />

Schicksals wachgerufen, hatte sich im Innern<br />

dieses Hundes vollzogen. Als hätte das Fernbleiben<br />

des einen, der ihm noch gut war, genügt,<br />

um ihn den letzten Kontakt mit allen<br />

andern Menschen verlieren zu lassen, flüchtete<br />

er von dannen. Aus der gewohnten Umgebung<br />

von Hütte und Herd rettete er sich<br />

in die dunkle Weite der Wälder hinaus.<br />

Schneller als irgendeiner seiner Sippe fand er<br />

früher Schutz vor Regen und Wind. Ja, aber<br />

mitten in der Dickung, vom Wipfel eines<br />

Ueberhälters geschützt, fühlte er sich nicht,<br />

weniger geborgen. ,<br />

Der Magen! Der Hunger? Zu bestimmter<br />

Zeit, zweimal des Tages, erhielt er ehedem<br />

von seinem Meister das nötige Futter. Selten,<br />

dass er darbte. Und nun? In der dritten Nacht<br />

schlich er zu den Häusern der Menschen und<br />

holte sich dort seine Nahrung — Milch und<br />

Brot. Aber eine folternde Angst trieb ihn<br />

hinweg, ehe er seinen leeren Leib gefüllt.<br />

Dann wagte er sich wieder heran, der Finsternis<br />

vertrauend, wühlte, da er geschlossene<br />

Türen und Fenster fand, in den Dunghaufen<br />

herum, hielt sich an Luder und Aas.<br />

Da stach ihm die Witterung einer Katze<br />

in die Nase. Dem Fuchs ähnlich, der den<br />

mummelnden Hasen erpirscht, beschlich er<br />

sein Opfer. Als besässe er das Wissen seines<br />

Urahnen, des Wolfes, als eignete ihm dessen<br />

heute<br />

dem A&dcucke. unseees<br />

neuen<br />

Wie<br />

®ie!B<br />

Jacinta<br />

Zw. Tlxwaids&rfe&ws<br />

UT,T!i<br />

eutstZZötutdvtW<br />

am<br />

Können in Sprung und Griff, erwischte er<br />

die flüchtige Mieze und brach ihr das Rückgrat<br />

dicht hinter dem Hälfe. Ein paar Bissen<br />

schlang er herunter, fast widerwillig.<br />

Dieses Erlebnis entschied! Die kurze Hetze<br />

hinter der Beute, das glückliche Zufassen,<br />

der Dunst des Blutes, das alles wies « Grau »<br />

den Weg auf die Wildbahn. Er fasste Vertrauen<br />

zu der Schnelligkeit seiner Läufe, zur<br />

«Grau» ist der Wucht seines Ansturmes und zur Gewalt seiner<br />

Kinnladen. Dadurch war die letzte Beziehung<br />

zum Menschen gelöst: ausgetilgt<br />

jene Hörigkeit, die mit den Wohlgerüchen<br />

des Fressnapfes zusammen in die Hundeseele<br />

eingeatmet wurde.<br />

Mit geringerer Mühe als sein Vetter in den<br />

Tundren verschaffte « Grau » sich seine tägliche<br />

Nahrung. Kaninchen, Hasen, Rehe und<br />

Hirsche hausten im Wald. Vom ängstlich sich<br />

drückenden Kitz weg hetzte er die Ricke, die<br />

Mutter. Stumm jagte er auf ihrer Fährte.<br />

Ohne Lärm riss er sie nieder.<br />

Ueberall wurden Klagen laut. Am meisten<br />

bei den Oberförstern. Dahin wurden die Wildverluste<br />

gemeldet. Dort wurde aber nicht nur<br />

geflucht, sondern auch gehandelt. Mit allen<br />

Mitteln, die der Jägerei zu Gebote standen,<br />

mit Giftbrocken, Fallen und Schusswaffen,<br />

gingen diensteifrige und um ihr Wild besorgte<br />

Beamte gegen das Ungeheuer vor.<br />

Drück- und Treibjagden wurden abgehalten.<br />

Man läppte Dickungen ein, pirschte an den<br />

Waldsäumen entlang, setzte sich tagelang<br />

sich in seiner neuen Umwelt zurecht. Verborgene<br />

Kräfte, geheime, von Generation zu<br />

Generation angewölfte Bindungen an jahrtausendferne<br />

Tage der Wildnis wurden in ihm Luder und frischgerissenem Wilde an. Uner-<br />

auf Blössen und Lichtungen bei hingelegtem<br />

lebendig, bereicherten seinen Instinkt und bestimmten<br />

sein Handeln. In seinem armen Nächte auf den Hochsitzen um die Ohren.<br />

müdliche Jäger schlugen sich die mondhellen<br />

Hundegehirn dämmerte die Erkenntnis für Keiner dachte an Ruhe und Schlaf, solange<br />

seine Freiheit.<br />

dieser graue Teufel wütete. Die Arbeit jahrelanger<br />

Hege stand auf dem Spiel. Schussprä-<br />

Ja, das Halsband schnürte ihn nicht mehr!<br />

Keine Kette klirrte und legte sich mit eiserner<br />

Schwere auf seine Läufe. Lag er einmal verbänden für die Erlegung des Würgers iestmien<br />

wurden von den Behörden und Jagd-<br />

auf einem Strohsack, so ruhte er jetzt im gesetzt. Doch alle Anstrengungen schienen<br />

trockenen Altlaub. Vier Wände boten ihm umsonst zu sein.<br />

Der Schwendisee bei Wildhaus im oberen Toggen-<br />

Burg, dem Geburtsort Zwingiis.<br />

Man verstand nicht mehr, wie das zuging.<br />

Der Aberglaube etlicher Nimrode wetteiferte<br />

mit dem Jägerlatein anderer Weidgenossen,<br />

um die geheimnisvollen Hintergründe dieser<br />

Geschehnisse in richtige Deutungen zu fassen<br />

und so dem Laiengemüte am Biertisch<br />

verständlich zu machen.<br />

Da heckte ein pfiffiger Kopf noch eine letzte<br />

Möglichkeit zur Uebertölpelung des Freibeuters<br />

aus. Man suchte in den Räumen des<br />

Hausierers nach Kleidungsstücken, nach dem<br />

Kittel und den Hosen, den Schuhen und<br />

Socken, • die er zuletzt getragen hatte. Das<br />

alles wurde zusammengeschnürt in den Wald<br />

gebracht. Den ganzen Weg entlang, der den<br />

Forst durchschneidet, zog der Kundige die<br />

Kleider auf dem Boden hinter sich her, —<br />

bis zum versteckten Hochsitz, in dessen Nähe<br />

er die Lumpen liegen Hess. Dann setzte sich<br />

der Jäger auf seinen Lugaus und wartete,<br />

das Gewehr in der Faust Hie und da pfiff<br />

er eine kleine Weise, die jedesmal in den Ruf<br />

des Pirols ausklang. Diese Töne hatte er zu<br />

oft aus dem Munde des Hausierers vernommen,<br />

um sie nicht nachahmen zu können.<br />

Sollte der Hund vielleicht noch um diese<br />

Laute wissen? Gita-düdlio! Weich und einschmeichelnd<br />

hallte das Werben der Goldamsel<br />

durch den Bestand, als wäre dem<br />

Rufer nur um Liebe zu tun.<br />

« Grau » döste — .ein Tier* das den Tag<br />

verschläft und die Nacht zum Raube wählt.<br />

Aber jetzt trieb ihn der Hunger schon vor<br />

der Dunkelheit aus dem Lager. Gähnend, die<br />

weitgeöffneten Kiefer vorstossend, erhob er<br />

sich. Ein behagliches Recken und Strecken<br />

des geschmeidigen Körpers. Ein federndes<br />

Wiegen der Hinterhand, kurzes, wildes Peitschen<br />

mit der Rute — dann setzte er sich<br />

in Gang. Von der Schönung wechselte er in<br />

das rajime Holz. Ueber den Weg führte sein<br />

Pass. Da wurde sein Schritt gehemmt, sein<br />

Tritt gebannt. Mitten in der Fährte blieb er<br />

stehen und windete. Die Nähe des Wildes,<br />

von seiner Nase entdeckt pflegte er so zu<br />

vermerken. Jetzt lag eine andere Witterung<br />

in der Luft. Gierig sog er sie ein, a*ls wollte<br />

er seinem Innern damit Kunde bringen, Botschaft<br />

von einem, der plötzlich aus der Ferne<br />

zurückgekommen, wieder da war Bebend<br />

durchfuhr es seinen Leib. Glanz, wie<br />

von innen entzündet, schimmerte aus seinen<br />

Augen.<br />

Mit tiefer Nase folgte er der Spur, eilig,<br />

immer eiliger. Jetzt jubelte es in seinen Lauschern:<br />

gita-düdlio-didlio! Sein Herz sprang<br />

voran und riss den Körper unaufhaltsam mit,<br />

aus aller Wildnis und ihren Gesetzen heraus,<br />

hinein ins Verderben!<br />

Ein Schrothagel, dem gleich noch einmal<br />

Blitz und Blei und Donner folgten, prasselte<br />

auf «Grau » herab und warf ihn im Feuer<br />

zusammen — dicht vor dem Kleiderbündel.<br />

Dieser Hund hiess — « Treu ».<br />

so<br />

Broschüre<br />

KURANSTALT*<br />

FOFPRHFIM

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