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Leseprobe "Der Student: Eine türkische Liebe" von Erdinç Aydın

Es heißt, es gäbe im Universum keine Haltestelle und auch keine Unterkunft, die weiter weg reichen, als die Liebe. Die Macht, die für das Gleichgewicht im Universum sorgt, ist die Liebe. Durch die Liebe finden immer die zueinander, die auch zusammen gehören. Und wieder durch die Liebe, gehen immer die auseinander, die nicht zusammen gehören. Die Liebe ist eine Blume, an der alle Menschen schon gerochen haben, riechen und riechen werden. Nur die Liebe allein ist der Schlüssel zum Glück.

Es heißt, es gäbe im Universum keine Haltestelle und auch keine Unterkunft, die weiter weg reichen, als die Liebe. Die Macht, die für das Gleichgewicht im Universum sorgt, ist die Liebe.

Durch die Liebe finden immer die zueinander, die auch zusammen gehören.

Und wieder durch die Liebe, gehen immer die auseinander, die nicht zusammen gehören.

Die Liebe ist eine Blume, an der alle Menschen schon gerochen haben, riechen und riechen werden.



Nur die Liebe allein ist der Schlüssel zum Glück.

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Taschenbuch<br />

12 x 19 cm<br />

368 Seiten<br />

ISBN: 978-3-7528-1471-2<br />

1


Vorwort<br />

Es gehen alle ihren eigenen Weg. Jeder Mensch für<br />

sich. <strong>Der</strong> Weg ist manchmal, wenn nicht sogar sehr<br />

oft, nicht gerade angenehm.<br />

Die Reise dorthin, wohin es gehen kann und muss,<br />

kann strapazieren. Allein reicht man meistens und<br />

kaum aus. Gemeinsam kann die Reise viel<br />

angenehmer sein.<br />

Geht man aber mit der Liebsten auf die Reise, ja<br />

dann, ist es auch egal, ob ein ganzes Leben eine<br />

einzige Reise sein darf und soll.<br />

Hier in der Geschichte entdecken zwei Menschen<br />

sich gegenseitig. Sie lernen sich kennen, sie reden<br />

miteinander, sie verbringen Zeit zu zweit, sie<br />

tauschen Zärtlichkeiten aus.<br />

Alles spricht dafür, dass es sich hier bei den<br />

Zweien um die Liebe handelt.<br />

Ist die Geschichte ein Fall für die Liebe?<br />

Oder ist es schon die Liebe?<br />

Es war wünschenswert, dem Leser die Erzählung<br />

niederzuschreiben.<br />

Ob es nun die Liebe ist, möchte der Leser doch<br />

bitte selber beurteilen.<br />

2


I. Abschnitt- <strong>Der</strong> Anfang<br />

Er war sehr müde, als er sein Zimmer betrat. Die<br />

Nacht stand bevor. Trotz der Müdigkeit wollte er<br />

noch etwas aufbleiben. In den Wohnungen um ihn<br />

herum brannten nur noch vereinzelt die Lichter. Er<br />

zog sich aus und ging unter die Dusche. Ließ<br />

minutenlang das kalte Wasser über sich laufen.<br />

Dann wieder mal warm, mal lau. Das ging fast eine<br />

ganze Stunde so, trocknete sich ab und kam wieder<br />

ins Zimmer zurück. Zündete sich eine Zigarette an<br />

und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. Er<br />

konnte nichts erkennen. Nur in der Lichtung der<br />

Straßenlaternen konnte er ein Schwarm <strong>von</strong><br />

Fliegen erkennen. Er empfand dem Schwarm der<br />

Fliegen gegenüber nur Ekel, und beobachtete sie<br />

dennoch eine ganze Weile. Sein Zimmer war gut<br />

beleuchtet. Er mochte helle Räume. Das Zimmer<br />

war immer aufgeräumt und sauber. Von seinen<br />

Kommilitonen, die gelegentlich aus- und<br />

eingingen, erntete er aus diesem Grund hier und da<br />

Komplimente und Lobs. Das tägliche Waschen<br />

gehörte zum Programm. Er holte frische<br />

Unterwäsche aus dem Schrank und zog sie an. Es<br />

war schon Mitternacht durch, und trotzdem<br />

verspürte er Appetit auf Kaffee und machte sich<br />

Kaffee. Legte eine Platte auf, zündete eine Kerze<br />

an, die auf dem Tisch stand. Ging ans Fenster und<br />

3


eobachtete wieder die Fliegen an der<br />

Straßenlaterne. Ein ekelhaftes Bild. Es war<br />

Hochsommer, die Nacht schwül und feucht. Sein<br />

Zeichenbrett stand an der einen Ecke des Zimmers.<br />

Es herrschte schon seit Monaten Funkstille<br />

zwischen ihm und dem Zeichenbrett. Die<br />

Zeichnungen, die er begonnen hatte, klebten immer<br />

am Zeichenbrett. Er sah sich die Zeichnungen an.<br />

Die waren gut. Dennoch wurde die Entfernung<br />

zwischen den Zeichnungen und ihm immer und<br />

immer größer. Auch das Rauchen hatte er sich erst<br />

vor kurzem angeeignet. Das Rauchen schmeckte<br />

ihm und deswegen rauchte er immer mehr. An<br />

manchen Tagen eine ganze Packung. Er ging noch<br />

einmal ans Fenster und sah sich die Fliegen an,<br />

merkte, dass in ihm sich etwas veränderte. Er<br />

konnte es aber nicht definieren. Es schwebte etwas<br />

in der Luft, aber er konnte es einfach nicht<br />

einordnen. Das alles geschah, seit dem er<br />

angefangen hatte, den größten Teil der Nacht, wach<br />

zu verbringen. Er schlief erst gegen Morgen ein<br />

und wachte am nächsten Tag gegen Mittag auf. An<br />

den Vorlesungen nahm er kaum noch Teil.<br />

Gelegentlich ließ er sich an der Hochschule sehen,<br />

um sich eben sehen zu lassen. Es war schon oft<br />

vorgekommen, dass er Mitten in der Nacht sich<br />

anzog und eine Runde in der Stadt drehte. Zu Fuß.<br />

Und überhaupt sah er sich manchmal minutenlang<br />

die Blumen an, an denen er vorbeikam. Auch hatte<br />

4


er sich die Angewohnheit angeschafft, den<br />

städtischen Teich zu besuchen und sich die Fische<br />

anzusehen. Er verkehrte wenig mit Menschen, die<br />

er noch vor Monaten fast täglich sah, nahm sich<br />

eine Tasse und goss Kaffee ein. Zündete sich noch<br />

eine Zigarette an und ging wieder ans Fenster. Das<br />

Bild hatte sich nicht geändert. Immer noch flogen<br />

diese Viecher an der Laterne umher. Sein Zimmer<br />

war nicht besonders groß und dennoch hatte er fast<br />

alles dort untergebracht, was er für den Alltag<br />

brauchte. Die Bilder an den Wänden hatte er mit<br />

aller Sorgfalt aufgehangen. Auch die Plakate waren<br />

für ihn ein Symbol der Unruhe und des Aufstandes.<br />

Er war schon im achten Semester in der<br />

Hochschule, also seit vier Jahren in der Stadt.<br />

Kannte hier und da die Gegend, wo er nun lebte,<br />

fand aber auch nicht den Willen und die<br />

Notwendigkeit, die Gegend zu erkunden. Denn sie<br />

war ihm egal. Und Kühe auf den Weiden hatte er<br />

schon reichlich gesehen. In den letzten Monaten<br />

verbrachte er die Zeit meist alleine, stellte fest,<br />

dass ihm das gefiel. Er ging hier und da ein und<br />

aus, doch waren die einsamen Momente beinahe<br />

die schönsten Momente. Er sah, ob am Morgen, ob<br />

am Mittag oder ob am Abend, ja sogar in der<br />

Nacht, immer mehr aus dem Fenster und genoss<br />

den Ausblick, trotz dass da nichts Besonderes zu<br />

sehen war. Nachts die Fliegen und tags die Kühe<br />

auf der Weide. Er hatte einen kleinen Fernseher,<br />

5


den er gelegentlich einschaltete und sich davor saß.<br />

Auch hatte er das Gerät schon seit Tagen, ja sogar<br />

vielleicht seit Wochen nicht eingeschaltet. So war<br />

er auch über die aktuellen Themen im Lande und<br />

der Welt nicht informiert. Nur wenn er zum<br />

Bahnhof ging, warf er einen Blick auf die<br />

Zeitungen, die da so schön an dem Zeitungsstand<br />

zu lesen waren. Das war noch vor ein paar Wochen<br />

ganz anders. Da hat das Fernsehen beinahe zu<br />

jedem gemütlichen Abend dazugehört. Er nahm ein<br />

Schluck <strong>von</strong> seinem Kaffee und zog an der<br />

Zigarette. Beides schmeckten ihm. Auch dachte er<br />

an die nahenden Klausuren, hatte sich auf sie so<br />

gut wie nicht vorbereitet. Vielleicht würde er<br />

sich wieder abmelden. Doch hatten nun die<br />

Gedanken, die unmittelbar mit seinem Studium zu<br />

tun hatten, nicht mehr so viel Gewicht. Irgendwie<br />

waren sie nicht mehr so intensiv und so wichtig. Er<br />

hatte Pink Floyd aufgelegt und hörte gerade The<br />

Wall. Irgendwie fand er das Stück so faszinierend,<br />

so bewegend und so schwer, dass er es hundert<br />

Mal hintereinander hätte hören können; ging an<br />

sein Bücherregal und blätterte einige Bücher auf<br />

und zu. Da war das Buch der Ergonomie. Da war<br />

das Buch der Arbeitswissenschaft. Da, das der<br />

Arbeitsorganisation. Er warf auf jedes Buch ein<br />

Blick und blieb stehen bei dem Buch, welches er<br />

so toll fand. Er kannte den Namen des Autors<br />

nicht. Hatte noch nie <strong>von</strong> ihm etwas gehört. Doch<br />

6


der Titel gab dem Buch den Reiz, den ihn mitriss.<br />

"Menschliches- Allzumenschliches". Er legte das<br />

Buch wieder an seinen Platz. Mitternacht war<br />

längst vorüber. Er empfand nicht die<br />

Notwendigkeit, auf die Uhr zu sehen. Trank seinen<br />

Kaffee, rauchte seine Zigarette und ging<br />

schließlich ins Badezimmer und putzte sich die<br />

Zähne. Das Zimmer war sehr hell beleuchtet. Er<br />

machte das Licht aus und ging ins Bett, war sehr<br />

müde und schlief ohne langes Warten ein.<br />

Gegen Mittag klingelte es an der Tür. Er lag noch<br />

im Bett, drehte sich auf die andere Seite und<br />

schlief weiter, trotz dass er das Klingeln gehört<br />

hatte. Nach einer kurzen Weile klingelte es noch<br />

einmal. Er ignorierte es wieder. Stand auf, öffnete<br />

aber dennoch nicht die Tür. Es klingelte ein letztes<br />

Mal. Es ist bestimmt Paul, dachte er sich, der<br />

wieder Mal etwas brauchte. Cem fand ihn<br />

irgendwie doch unangenehm. Er, den Paul, seinen<br />

Nachbar. Seit dem er mit seinem Studium<br />

angefangen und hier in diesem<br />

<strong>Student</strong>enwohnheim wohnte, konnte er morgens<br />

nicht frühstücken. Er nahm die Milch aus dem<br />

Kühlschrank und trank. Viel. Fast ein halbes Liter.<br />

Das war sein Frühstück. Warf einen Blick auf das<br />

Zeichenbrett. Es erschien ihm sehr verlassen. Er<br />

hatte noch so vieles zu zeichnen. Sah sich seine<br />

Zeichnungen an, die um das Zeichenbrett herum an<br />

7


der Wand hingen. Sie waren gut. Er wusste, dass er<br />

das gut konnte. Aber dennoch herrschte schon seit<br />

Wochen eine Ruhe zwischen den beiden. Er nahm<br />

sich vor, heute Abend doch etwas zu zeichnen.<br />

Vielleicht würde er die Explosionszeichnung heute<br />

noch zu Ende machen. Vielleicht.<br />

An dem städtischen Teich und an der<br />

Handelsschule vorbei, ging er in die Stadt. Hatte<br />

sich frisch rasiert und auch versucht, sich<br />

akzeptabel anzuziehen. Das war für ihn wichtig.<br />

Dass Kleider Leute machen, wusste er schon seit<br />

seiner Jugend. Also gab er sich auch Mühe, trotz<br />

seiner finanziellen Notlage, nicht arm und herunter<br />

gekommen auszusehen. Sein Kleiderschrank war<br />

fast leer. Er hatte nicht besonders viel. Man kann<br />

sogar sagen, er hatte nichts. Ein paar Hemden,<br />

zwei Hosen, ein paar Unterwäsche und ein Paar<br />

Schuhe. Das Geld, was ihm monatlich zur<br />

Verfügung stand, gab er aus, für die Miete, Strom,<br />

Telefon und für die Nahrung. Für Klamotten blieb<br />

so gut wie nichts übrig. Das Bisschen, was er<br />

besaß, hatte er <strong>von</strong> seiner Mutter bekommen. Seine<br />

Klamotten waren schon alt, aber er achtete darauf,<br />

dass sie immer sauber waren. Unterwegs zündete<br />

er sich eine Zigarette. Das Wetter war angenehm<br />

warm. Leicht windig. Er kam an der Bibliothek<br />

vorbei. Ging aber nicht hinein. An der Bank hob er<br />

etwas Geld <strong>von</strong> seinem Konto ab und setzte sich in<br />

8


der Stadt in eine italienische Eisdiele und bestellte<br />

eine Tasse Kaffee. Er war der einzige Gast in der<br />

Eisdiele. Nur eine Kellnerin, die mit der Frau<br />

hinter der Theke sich auf italienisch unterhielt und<br />

beide dabei laut lachten. Trank seinen Kaffee und<br />

dachte sich, dass die Italiener die besseren<br />

Kaffeemacher seien. Er war geistig abwesend. Saß<br />

zwar in der Eisdiele, doch in Wirklichkeit war er<br />

ganz woanders. Es waren zwei Wochen vergangen,<br />

seit dem er sie gesehen hatte. Ihren Namen kannte<br />

er nicht. Er wusste nur, dass er Tag und Nacht an<br />

sie denken musste. Sie hatte sehr schöne lange<br />

Beine, einen sehr weiblichen Hintern. Auch die<br />

Brüste waren nach seinem Geschmack. Er hatte sie<br />

genau vor zwei Wochen in dem Tante-Emma-<br />

Laden gesehen. Gott, was war er <strong>von</strong> ihr angetan;<br />

er hatte sie hinter der Theke ganz heimlich<br />

minutenlang beobachtet, ja sogar angestarrt. Jetzt<br />

saß er hier in der Eisdiele und war in den<br />

Gedanken wieder mit ihr beschäftigt. Wie mag sie<br />

wohl heißen? Bestimmt hat sie einen sehr schönen<br />

Namen. Ob er sie erobern kann? Wo und wie lebt<br />

sie? Was hört sie nur für eine Musik? Wo macht sie<br />

Urlaub? Liebt sie vielleicht jemanden? Hat sie<br />

mich bemerkt? Er saß in der Eisdiele und rauchte<br />

eine Zigarette nach der anderen. Er musste sie<br />

noch einmal sehen. Musste noch einmal in den<br />

Laden. Sie beobachten, sie anstarren, sie sondieren.<br />

Hatte das Gefühl, dass er etwas ganz Besonderes<br />

9


entdeckt hatte. Die Kellnerin kam und leerte den<br />

Ascher. Er sah sie nicht. Musste noch einmal<br />

dahin. Und zwar so schnell wie nur möglich.<br />

Lange saß er in der Eisdiele. Nach und nach kamen<br />

andere Gäste, tranken, aßen Eis oder Kuchen und<br />

gingen. Er saß an seinem Platz, dachte an das<br />

Mädchen aus Bonn. Gott, was war sie doch<br />

hübsch. Er war neben dem Mädchen, auch mit<br />

seinen Finanzen beschäftigt, die alles andere, als in<br />

Ordnung waren. Er hatte nie Geld. Oder anders<br />

ausgedrückt; das Geld war bei ihm immer schon<br />

ein sehr knappes Gut. Das musste sich ändern. Sein<br />

Vater hatte ihm angeraten, den<br />

Personenbeförderungsschein zu machen, um<br />

anschließend, gelegentlich Taxi fahren zu können.<br />

Das leuchtete ihm ein. Und genau seit einer Woche<br />

beschäftigte ihn auch dieses Vorhaben, was er so<br />

schnell wie möglich, in Angriff nehmen wollte.<br />

Die Kellnerin kam auf ihn zu und fragte, ob er<br />

noch etwas wünsche. Er verneinte und zündete sich<br />

noch eine Zigarette an. Wie heißt sie nur?<br />

Vielleicht Canan? Vielleicht Fatma? Vielleicht<br />

auch Aischa? Wie heißt sie nur? Seit genau einem<br />

Semester hatte er kaum an den Vorlesungen<br />

teilgenommen. Das passte ihm auch nicht. Er hatte<br />

Angst, dass dieser Zustand ihn um den Diplom<br />

bringen könnte, musste sich mehr mit seinem<br />

Studium auseinandersetzen. Schließlich kam er in<br />

dieser Stadt, um zu studieren. Abgesehen da<strong>von</strong>,<br />

10


konnte man in dieser Stadt auch nur studieren.<br />

Nachtleben oder alternative Möglichkeiten zur<br />

Unterhaltung gab es so gut wie nicht. Die Stadt<br />

war nach Ladenschluss so wie ohnmächtig. Nichts<br />

lief und nichts ging. Ein Kaufhausblock bildete das<br />

Zentrum der Stadt. Hier und da gab es ein paar<br />

Kneipen. Doch waren diese so überfüllt, dass man<br />

<strong>von</strong> einem gemütlichen Abend mit einem Glas Bier<br />

nicht reden konnte. Gelegentlich ging er in die<br />

Spielhalle. Das nur deshalb, weil er hier für eine<br />

Tasse Kaffee das wenigste Geld in der Stadt<br />

ausgeben musste. <strong>Der</strong> Kaffee schmeckt vorzüglich<br />

und kostete nur ein Viertel <strong>von</strong> dem, was er in<br />

dieser Eisdiele kostete. So allmählich wurde die<br />

Eisdiele voll. Es gab keine freien Tische mehr. Die<br />

Gäste kamen, aßen, tranken und gingen. Er saß<br />

immer noch an seinem Platz. Er saß ... saß ... und<br />

saß. Mit den Gedanken bei dem Mädchen aus<br />

Bonn und bei dem Personenbeförderungsschein<br />

und etwas an seinem Studium. Nach circa drei<br />

Stunden rief er die Kellnerin, bezahlte die<br />

Rechnung und ging.<br />

Wieder kam er an der Bibliothek vorbei. Sah<br />

hinein, ging aber nicht hinein. Er glaubte, noch nie<br />

an der Bibliothek vorbeigegangen zu sein, ohne ein<br />

Blick reinzuwerfen. Den Berg hoch an dem Teich<br />

vorbei, war er wieder in seiner Höhle. Wieder zu<br />

Hause, legte eine Platte auf, schmiss sich auf das<br />

11


Sofa und schloss die Augen. Wieder kam sie ihm in<br />

den Sinn. Es hörte nicht auf. Er musste<br />

ununterbrochen an sie denken. Er lag eine ganze<br />

Weile. Sah auf den Zeichenbrett, überwand mit<br />

Mühe und Not seinen inneren Schweinehund und<br />

nahm die Tusche in die Hand. Die<br />

Explosionszeichnung war sehr umfangreich. Genau<br />

38 Einzelteile. Bis spät in den Abend stand er vor<br />

dem Zeichenbrett und zeichnete. <strong>Der</strong> Appetit war<br />

ihm abhanden gekommen. Den ganzen Tag aß er<br />

kein Scheibchen Brot. Erst als die Zeichnung zu<br />

Ende war, schmiss er ein paar Fischstäbchen in die<br />

Pfanne und aß sie. Zum Trinken hatte er nur Milch<br />

zu Hause. Kein Wasser, kein Saft, kein Bier, kein<br />

Wein. Nur eine Flasche Raki, die ihm irgendwoher<br />

zugeflogen kam, stand seit Monaten ungeöffnet in<br />

seinem Kühlschrank. Die Dunkelheit war schon<br />

längst hereingebrochen, als er nach einer sehr<br />

langen Zeit den Fernseher wieder einschaltete. Er<br />

sprang <strong>von</strong> einem Sender zum anderen. Fand nichts<br />

und schaltete das Gerät wieder aus. Ging ans<br />

Fenster und sah wieder diese blöden Fliegen an der<br />

Laterne und um die Laterne herumfliegen. Ein<br />

ekelhaftes Bild, dachte er sich. Das Mädchen aus<br />

Bonn muss in meinem Alter sein, vielleicht ein<br />

paar Jahre jünger. Sie ist schön groß. Beinahe so<br />

groß wie ich. Wenn sie hohe Absätze trägt, sehe ich<br />

aber alt aus. Dann guckt sie mir ja auf den Scheitel.<br />

Gott, was war sie hübsch. Er verbrachte die Zeit<br />

12


entweder zu Hause oder in der Stadt. Nach zehn<br />

Tagen hatte er alle Formalitäten für den<br />

Personenbeförderungsschein erledigt und auch<br />

einen Taxiunternehmer gefunden, der ihn zunächst<br />

über die Wochenenden fahren ließ. Meist fuhr er in<br />

der Nachtschicht. Das ist besser, dachte er sich. In<br />

der ersten Nacht als Taxifahrer musste er diverse<br />

Lokale der Stadt anfahren, irgendwelche<br />

Betrunkene abholen und nach Hause fahren.<br />

Manche konnten gar nicht mehr reden, sondern<br />

lallten ihm die Adresse, die er gerade noch<br />

verstehen konnte. Zweimal fuhr er Fluggäste zum<br />

Flughafen. Er war mit dem, was er in dieser ersten<br />

Nacht verdient hatte, doch schon zufrieden und<br />

einverstanden. Cem hatte Angst, dass irgendein<br />

Beamter vom Bafögamt ihn beim Taxifahren<br />

erkennt und das die Kürzung, womöglich die<br />

Streichung seines Bafögs mit sich bringen würde.<br />

Das war der Grund, warum er sich für die<br />

Nachtschicht entschieden hatte. Er fuhr einen sehr<br />

neuen Wagen. <strong>Eine</strong>n Mercedes der neuesten Serie.<br />

Er fuhr den Wagen gern. Erlaubte sich, den Wagen<br />

auch schnell zu fahren, wenn keine Fahrgäste drin<br />

saßen. Sobald jemand einstieg, entwickelte er sich<br />

zu einem Musterverkehrsteilnehmer der Stadt.<br />

Auch verwöhnte Kinder der höheren Schichten<br />

waren eingestiegen. Irgendwie hatte er nichts<br />

gegen sie. Er wünschte sich sogar, auch reiche<br />

Eltern zu haben, um nicht die Leute durch die<br />

13


Gegend zu fahren, sondern um sich durch die<br />

Gegend fahren zu lassen. Nun gut, ein Träumer war<br />

er doch etwas.<br />

Die nächsten Wochen fuhr er immer Freitag- und<br />

Samstagabend. Seine Schicht ging <strong>von</strong> 18.00-6.00<br />

Uhr. Also den ganzen Abend und die ganze Nacht.<br />

Nach nur vier Wochen hatte er soviel verdient, dass<br />

er sich neue Klamotten kaufen konnte. Er kaufte<br />

sich ein paar T-Shirts, ein paar Hemden, zwei<br />

Hosen und ein Paar Schuhe. Keine<br />

Namensprodukte, keine Imitationen. Die Schule<br />

würde er vergessen, wenn er nicht jeden Tag seine<br />

Studienbücher und seinen Zeichenbrett sehen<br />

müsste. Betreten hatte er die Schule das letzte Mal<br />

vor Monaten. Egal war sie ihm nicht. Nur, in den<br />

letzten Wochen und Monaten fand er keine Zeit für<br />

die Schule, obwohl er doch im Besitz der Zeit war.<br />

Es gab irgendetwas, was ihn da<strong>von</strong> abhielt, den<br />

Hörsaal zu betreten. Irgendetwas, was ihn da<strong>von</strong><br />

abhielt, die Mensa zu betreten, ja sogar das<br />

Grundstück zu betreten. Er war immatrikuliert. Das<br />

war es aber auch. Wollte und brauchte im Moment<br />

mehr das Geld als die Schule. Und immer kam das<br />

Mädchen aus dem Tante-Emma-Laden ihm in den<br />

Sinn. Er hätte sie so gern wieder gesehen. Auch<br />

seinen Fernseher hätte er am liebsten weggeräumt.<br />

Doch ein Apartment, ohne ein Fernseher? Nein,<br />

das geht nicht. Nur um einen Fernseher im Zimmer<br />

14


zu haben, ließ er das Gerät an seinem Platz. Seine<br />

vier Blumen behütete er wie seine leiblichen<br />

Kinder. Jeden Tag befühlte und betastete er den<br />

Boden der Blumentöpfe. Den Kaktus mochte er am<br />

meisten. Im wahrsten Sinne des Wortes, war sein<br />

Zimmer seine Höhle, sein Reich und seine Heimat.<br />

Er fühlte sich wohl in seinem Zimmer, ja sogar<br />

sehr wohl. Hier war er, er selber. Hier war er der,<br />

den er wusste zu sein. Manchmal stand er mitten<br />

im Zimmer und bewegte sich minutenlang nicht<br />

<strong>von</strong> der Stelle. Das konnte er nirgendwo als in<br />

seinem Zimmer machen. Manchmal stand er an<br />

seinem Zeichenbrett, hatte nichts an und zeichnete<br />

ganz nackt. Manchmal stellte er sich vor dem<br />

Spiegel in seinem Badezimmer und führte laute<br />

Gespräche mit seinem Spiegelbild. Manchmal<br />

bereitete er sich auf die Prüfungen vor, in dem er<br />

gute Pfuschzettel entwarf. Im übrigen hatte er in<br />

seinem achtsemestrigen Studium noch nie an einer<br />

Prüfung oder Klausur teilgenommen, ohne extra<br />

für diese Klausur ein Pfuschzettel vorbereitet und<br />

sie in die Klausur mitgenommen zu haben.<br />

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