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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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-§§§§§<br />

AMAZONIEN<br />

Ein <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong><br />

Susan <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 2


<strong>Amazonien</strong><br />

Konzept, Recherche, <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong> Texte <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />

susangeba@gmail.com<br />

Alle Rechte vorbehalten, copyright <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />

Danke an alle, die mich zu diesem Werk inspirierten <strong>und</strong> sich in<br />

irgend <strong>ein</strong>er Form darin wiederfinden. Danke auch m<strong>ein</strong>er lieben Fre<strong>und</strong>in Vreni Müller.<br />

Sie hat mich immer wieder bestärkt <strong>und</strong> mir den nötigen Mut gegeben.<br />

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Aus dem brasilianischen Amazonas oder M<strong>ein</strong> Amazonas hat Stallgeruch<br />

Was macht <strong>ein</strong>en Reisenden zum Reisenden? João<br />

Meireilles Filho legt in der Einleitung für s<strong>ein</strong><br />

w<strong>und</strong>erbares Buch „Große Expeditionen in den<br />

brasilianischen Amazonas“ die folgenden Kriterien<br />

fest: Ein Reisender ist jener, der durch s<strong>ein</strong>e<br />

Reisen neue Perspektive, <strong>ein</strong>en neuen Blick auf<br />

die Welt ableitet. Wobei er nicht vergisst zu<br />

erwähnen, wie schwer es <strong>ein</strong>em Reisenden fallen<br />

kann, s<strong>ein</strong>e intellektuelle <strong>und</strong> kulturelle<br />

Überlegenheit abzulegen, <strong>und</strong> dass es wohl noch<br />

schwerer ist, nicht zu werten.<br />

Ob Marsten Bates, <strong>ein</strong>er dieser Reisenden, wohl<br />

recht hatte, als er den Amazonas als <strong>ein</strong>e Welt<br />

beschrieb, die sich durch den Menschen weder<br />

verändern, noch dominieren lässt <strong>und</strong> sich<br />

k<strong>ein</strong>em s<strong>ein</strong>er Ziele unterwirft?<br />

Diesen beiden Giganten setze ich selbstbewusst<br />

m<strong>ein</strong>e eigenen Recherchen, Eindrücke <strong>und</strong><br />

Erfahrungen aus dem brasilianischen Amazonas<br />

entgegen. Ein Amazonas, m<strong>ein</strong> Amazonas, <strong>ein</strong><br />

Amazonas mit Stallgeruch. Die Bild- <strong>und</strong><br />

Textsammlung „<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Lesebuch</strong>“ entstand aus dem Wunsch heraus, mir<br />

selber <strong>ein</strong> riesiges Dilemma zu erklären. Das<br />

Klischee<br />

<strong>Amazonien</strong> besser zu verstehen <strong>und</strong> zu<br />

hinterfragen. Den Widerspruch zu hinterfragen,<br />

dass es im Amazonas k<strong>ein</strong>e Menschen gibt, es aber<br />

genau diese Menschen sind, die ihn zerstören. Die<br />

weit verbreitete romantische Vorstellung, das<br />

Klischee des Amazonas, <strong>ein</strong> unberührtes Paradies<br />

gibt es nämlich nicht. Es ist nämlich <strong>ein</strong> Teil der<br />

Welt, der paradoxerweise auf <strong>ein</strong>e hochkomplexe,<br />

hochinteressante Geschichte, sie begann lange vor<br />

der Besitznahme durch die Portugiesen,<br />

zurückblickt. Nicht desto Trotz geistert die<br />

Vorstellung, dass es hier an jeder Ecke<br />

Giftschlangen, menschenfressende Piranhas <strong>und</strong><br />

vielleicht gar Löwen oder gar Zebras gäbe durch<br />

die meisten Köpfe, auch der Brasilianer ….. .<br />

Vervollständigt vom Fixierbild Indio, Pardon, der<br />

indigenen Bevölkerung, die unseren Traum vom<br />

puren unschuldigen Wilden so perfekt<br />

materialisiert, gleichzeitig mythisch <strong>und</strong> von den<br />

unterschiedlichsten Unholden verfolgt.<br />

Über den Amazonas ist schon so viel geschrieben<br />

worden. Aber m<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong> kämmt alle<br />

Klischees gegen den Strich. Zeigt <strong>ein</strong>en Amazonas<br />

außer Reichweite, der Reichweite der schönen,<br />

sich ständig wiederholenden Bilder. M<strong>ein</strong><br />

Amazonas hat Stallgeruch. M<strong>ein</strong> Amazonas zeigt die<br />

Natur, die Menschen, ihre Geschichte, ihre Kultur<br />

<strong>und</strong> ihren Alltag total subjektiv, ich hoffe<br />

respektvoll, so wie ich den Amazonas erlebe.<br />

Einige der Texte, <strong>ein</strong>ige der Themen oder<br />

Anekdoten mögen sich wiederholen. Es war mir<br />

wichtiger, den selben Kontext mehrmals<br />

darzustellen. Besonders die historische Perspektive<br />

sch<strong>ein</strong>t mir unabdingbar. Einen kompletten<br />

historischen Abriss gibt es auf Seite 556-570, Belém<br />

im Auge des Tropensturms.<br />

In Zeiten des Internets sehe ich das Werk als <strong>ein</strong>e<br />

Art Bilder- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong>, <strong>ein</strong> Puzzle, die Summe<br />

von vielen kl<strong>ein</strong>en Einzelteilen, die man gerne auch<br />

<strong>ein</strong>zeln lesen kann.<br />

Viel Vergnügen!<br />

Die Autorin<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 13


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 14


Prolog<br />

Ribeiro, Ribeirinho<br />

Ribeiro, Ribeirinho<br />

Do sempre e do mesmo<br />

ano sim, ano não.<br />

O rio sobe, o rio desce,<br />

visto ou não visto a mãe d´água.<br />

Avistas, não avistas as beiras dos mares,<br />

dos rios, submersas nas águas<br />

acinzeladas pelas chuvas,<br />

ano sim, ano não.<br />

Do sempre e do mesmo<br />

ano sim, ano não.<br />

As águas chegando, as águas irão,<br />

visto ou não visto a cobra, a grande.<br />

Avisto, não avisto o verde tenso<br />

assim não tão denso<br />

lá longe, nas margens verdes<br />

desde sempre, eternamente,<br />

regadas, não regadas,<br />

ano sim, ano não, in<strong>und</strong>adas.<br />

O tempo é o mesmo<br />

ano sim, ano não.<br />

As águas sobem, as águas descerão.<br />

Visto ou não visto as bocas d´água,<br />

não tão gulosas assim.<br />

Desde sempre, para sempre<br />

e os mortos enterrados logo ali<br />

onde as águas não sobem,<br />

não sobem jamais.<br />

Ano sim, ano não.<br />

Ribeiros, ribeirinhos descansarão.<br />

Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />

vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />

Der Fluss steigt, der Fluss fällt,<br />

hat man die Mutter der Wasser gesehen oder nicht.<br />

Erhascht oder nicht die Grenzen der Meere,<br />

der Flüsse, untergetaucht unter die Wasser,<br />

von den Regen angegraut,<br />

Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus.<br />

Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />

vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />

Die Wasser kommen, die Wasser gehen,<br />

gesehen oder nicht gesehen die Schlange, die große.<br />

Erblickt oder nicht das kompakte Grün.<br />

Eigentlich gar nicht so dicht<br />

die grünen Ufer, weit weg.<br />

Seit immer schon, seit Ewigkeiten,<br />

geflutet, nicht geflutet,<br />

überschwemmt, <strong>ein</strong> Jahr ja, das andere nicht.<br />

Die Zeit ist die gleiche<br />

<strong>ein</strong> Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />

Die Wasser steigen, die Wasser fallen.<br />

Hat man den Schl<strong>und</strong> des Wassers<br />

gesehen oder nicht.<br />

Gar nicht so gierig,<br />

seit immer schon <strong>und</strong> für immer<br />

<strong>und</strong> die Toten genau dort begraben,<br />

wo die Wasser nicht hinkommen,<br />

niemals so hoch steigen.<br />

Ein Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />

Ribeiro, Ribeirinho, ruh dich aus.<br />

Do sempre e do mais<br />

ano sim, ano não.<br />

Como sempre e mais do mesmo.<br />

O tempo chegará, virá.<br />

Visto ou não visto o peixe, o boi.<br />

Avisto, não avisto no espelho d’ ‘agua<br />

assim não tão f<strong>und</strong>o<br />

no f<strong>und</strong>o as almas penadas.<br />

Ano sim, ano não.<br />

Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />

vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />

Wie immer <strong>und</strong> noch mehr.<br />

Die Zeit wird kommen, wird sie kommen?<br />

Gesehen oder nicht gesehen die Seekuh.<br />

Kann sie, sehe sie nicht im Spiegel der Wasser,<br />

gar nicht so tief<br />

auf dem Gr<strong>und</strong> die Seelen der Verdammten.<br />

Ein Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />

.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 15


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 16


Inhalt<br />

Aus dem brasilianischen Amazonas oder<br />

M<strong>ein</strong> Amazonas hat Stallgeruch<br />

Prolog<br />

Ribeiro, Ribeirinho 16<br />

Im Flug<br />

Einleitung<br />

M<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong> - Versuch <strong>ein</strong>er Einleitung<br />

Klimaschock<br />

Erste Eindrücke 29/30<br />

Von den Hitzen 32/33<br />

Von den Wassern 36/37<br />

Nicht Regen, Sintfluten 42<br />

Tropenregnen 48<br />

Konzert im Regen 52<br />

Unberührt 54<br />

Babyrosa 57<br />

<strong>Amazonien</strong> – grüne Hölle<br />

oder Paradies?<br />

Überwältigens Immergrün 65/66<br />

Ökosystem Festes Land/Terra Firme 67<br />

Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün 76/77<br />

Natur pur – von wegen! 85/86<br />

Amazonische Savannen 93<br />

Tropennutzwald 103<br />

S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro 106<br />

Von der Paranuss bis zum Kumarin - die<br />

«Drogas do Sertão» 109/110<br />

Der Schokoladenbaum 112<br />

Holz, das nach Rosen riecht 116-120<br />

Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften 122/123<br />

Nachhaltigkeit ja, aber wie? 126/127<br />

Zauberwort Biotechnologie 128<br />

Curupira, der Beschützer des Regenwalds 130<br />

Das Messer 140<br />

Ihre Majestät 146/147<br />

Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung 152<br />

Von den Wassern<br />

Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong><br />

Schwarzwasserflüsse 167<br />

Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee 172<br />

Zusammenfließen der Wasser, Naturschauspiel –<br />

Encontros das águas 175<br />

Flusses Ernte 178<br />

Über den grünen See 194/196<br />

Der verzauberte Wald 199<br />

Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem 206<br />

Regelmäßig überflutet, die Várzea 210<br />

Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut 214<br />

Aus dem Tierreich<br />

Stimmen des Amazonas 221<br />

Von der Schlange verschlungen / Hart wie St<strong>ein</strong> 223<br />

Die Unsichtbaren 228/229<br />

Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln 235/236<br />

Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar 239/240<br />

Die Wespe 242<br />

S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier 246<br />

Fischreichtum, praktisch unbekannt 252/253<br />

Am Strand<br />

Ein perfekter Sonntag 269/270<br />

Zu Schiff<br />

Seefahrers erste Reise 289-291<br />

Fast im Paradies 299<br />

Am Kai 306-308<br />

Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die<br />

Glorie Gottes 311<br />

Der Kapitän 315/316<br />

Der Dolarsch<strong>ein</strong> 318<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 17


Caboclos Universum<br />

Letzte Grenzen<br />

Indigenes – die ewige Faszination 328<br />

Negiertes Erbe 335-337<br />

Vom Kolonisiert-Werden 339-342<br />

Ein Platz an der Sonne 347/348<br />

Fremde unter sich / Zo’é 352<br />

Von den Quilombolas, den Nachfahren<br />

geflüchteter Sklaven 355/356<br />

Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos & Caboclos 366/367<br />

Arigó – oder im Land der Blinden ist der<br />

Einäugige König 369/370<br />

Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name 371<br />

Caboclos Haus 377<br />

Die Mutter der Wasser 380/381<br />

Von Schönheit leben 383/384<br />

Amazonischer Alltag<br />

Reale Realitäten 400-402<br />

Das ist halt so….. 404<br />

Globalisierung auf amazonisch 406<br />

Die Bibliothek 408-411<br />

Der Portraitkult 417<br />

Paternal 419/420<br />

Abends auf dem Kirchplatz 426<br />

Glaubensbekenntnisse 430/431<br />

Noch mehr Glaubenssachen 432<br />

Der Ur-Zaun 433<br />

Bettwäsche / Sehr erfreut, Kakerlake 436<br />

Von allerlei Krankheiten 438-441<br />

Das geografische Tier 442<br />

Allerlei Verkehrsmittel 443-456<br />

Vom Transportieren 457-474<br />

Allerlei Verkehrsmittel II 475-477<br />

Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? 479<br />

N.T. <strong>und</strong> i9 481<br />

Chic caboclo 484/485<br />

Ekel, ganz privat 490-493<br />

So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn! 498/499<br />

Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit 502/503<br />

Überliefertes 504<br />

Vom Anpreisen 513/514<br />

Der König der schwarzen Cocada 518/519<br />

Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann 521<br />

Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier,<br />

verehrte K<strong>und</strong>in! 526/527<br />

Deutscher Brandtw<strong>ein</strong> / Späte <strong>und</strong> andere<br />

Ein- <strong>und</strong> Ansichten / Tierisches 528<br />

Im Kreuzfeuer 530<br />

Hinter Gittern 537/538<br />

Art-Cabocla 542<br />

Urbanes <strong>Amazonien</strong><br />

Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte –<br />

<strong>ein</strong> historischer Abriss<br />

556-560 <strong>und</strong><br />

566-570<br />

Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I 579-582<br />

Belém der Jesuiten, Museu Sacra Santo Alexandre 585<br />

Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II 598<br />

Kacheln 601-602<br />

Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige 608/609<br />

Belém modern 614<br />

Von den Mangobäumen 616<br />

Museum Goeldi, Belém 620/621<br />

Paris in den Amerikas 629/630<br />

Wenn die Tiere um ihr Glück spielen 633<br />

Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit 645-647<br />

Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates 653<br />

Im Hinterhof 654<br />

Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro 632-634<br />

Manaus 665/666<br />

Manaus große alte Lady, das Theater 672-674<br />

National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque 683/684<br />

An der Bushaltestelle 686/687<br />

Im Museum des Kautschuks 693<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 18


<strong>Amazonien</strong> isst<br />

Ode an die amazonischen Töpfe 702/703<br />

Cupuaçu 705<br />

Die Eisdiele 707<br />

Guaraná, der Energiedrink 709<br />

Maniok – die Vielfältige 717/718<br />

Das Haus der Farinha 724<br />

Heute ist Farinha-Tag 725<br />

Roter Açaí – weißer Açaí 734/735<br />

Der frischeste Fische der Welt! 741-743<br />

Remoso <strong>und</strong> andere Tabus 745<br />

Vom Salz 749/750<br />

Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte 752<br />

Der Brei 755<br />

Ein regionales Frühstücksbankett 757<br />

Köstliche Straßenkost 761<br />

X-alles inklusive 766<br />

Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets 772<br />

Der verspeiste Panther 774/775<br />

Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten 781<br />

Padres Büchse 786/787<br />

An den, der mich liest oder Der Jesuit 788<br />

Caboclos Kultur<br />

Gerüche, Düfte, Parfüms 793/794<br />

Vom magischen Bad voller Düfte oder<br />

“Cheiro cheiroso” 797/798<br />

Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern 801<br />

Uschi, die Duftende 803<br />

Chico, der Schlangenflüsterer 805-808<br />

Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen<br />

Verwandlung 809<br />

Vom Schönheitskult 815/816<br />

Der rosafarbene Delfin 819/820<br />

Grauer Delfin gegen den rosafarbenen –<br />

Sairé Alter do Chão 844/845<br />

Carimbó, Musik mit Humor / Guitarrada 849/850<br />

Hinterland<br />

Urbe Amazonas 861/862<br />

Santarém oder Vom Ende der Welt 871-873<br />

Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong> 888/889<br />

Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum<br />

Henry Fords 896-898<br />

Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden 901<br />

Der Wasserturm 908/909<br />

Vom Festival der Früchte 915<br />

Se vira! – Hilf dir selbst! 919<br />

Herzblatt 921<br />

Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“ 925-927<br />

Obidos, die Kehle des Amazonas 938/939<br />

Para Inglês ver 942-944<br />

Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen 946/947<br />

Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland 951<br />

Marajó 958/959<br />

Bragança 964<br />

<strong>Amazonien</strong> feiert<br />

Maizenaschlachten am Karneval 976<br />

Karneval an der Baía do Sol 978/979<br />

Strassenkarneval 981/982<br />

Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit 990/991<br />

Junifeste 1004/1005<br />

Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro,<br />

Santarém 1015/1016<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 19


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 20


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 21


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 22


Im Flug<br />

Sozusagen im Flug zieht <strong>ein</strong> halber Kontinent<br />

unter mir vorbei. Drei<strong>ein</strong>halb St<strong>und</strong>en lang kann<br />

ich von m<strong>ein</strong>em Fensterplatz aus verfolgen, wie<br />

sich Brasilien verändert. Beim Aufsteigen unter<br />

mir die Stadt Manaus. Betongrau, erdfarben, wie<br />

alle anderen Städte in unendlich viele Quadrate<br />

zerschnitten, zerhackt. Nur am Horizont dunkles,<br />

fast schwarzes Grün. Dann <strong>ein</strong>, auch im Verhältnis<br />

zur endlosen Stadt, riesiger Streifen Wasser, der<br />

immer noch breiter wird. Ein paar lang gezogene<br />

Inseln oder halt, wohl <strong>ein</strong>e Flussschlaufe, <strong>ein</strong> Knie.<br />

Überall verteilt Wolkengebirge, schwerelos in den<br />

Raum gestellt, schwebend, wie tausend kunstvoll<br />

aus<strong>ein</strong>andergerissene Wattebällchen. Hart<br />

abgegrenzt mache ich ihre Schatten da auf dem<br />

fernen Boden aus.<br />

Was ist das denn? Ein paar riesige Schlieren,<br />

auslaufend <strong>und</strong> mächtig, wie wenn jemand nach<br />

dem Malen der Wasserbecher umgefallen wäre.<br />

Die trübe Soße, zusammen gewaschen aus allen<br />

verwendeten Farben, zieht weite Schleifen, teil<br />

sich, fließt in alle Richtungen. Dann aber, wie<br />

wenn das Resultat den Verursacher nicht<br />

befriedigt hätte, <strong>und</strong> er es sozusagen verdünnen<br />

wollte, schickte er ihm frischeres, blaues Wasser<br />

nach, veranstaltete <strong>ein</strong> gigantisches, nasses<br />

Treffen, denn die beiden Wasser laufen <strong>ein</strong>e lange<br />

Weile neben<strong>ein</strong>ander her, ohne sich zu<br />

vermischen. Klar grenzen sich die Konturen<br />

von<strong>ein</strong>ander ab – wir fliegen gerade über das<br />

Treffen der Wasser vor Manaus! Hier fließt der<br />

Rio Negro in den Solimões, der da zum Amazonas<br />

wird.<br />

Die Muster wiederholen sich in tausenderlei<br />

monotonen Varianten. Ungezählte ähnliche<br />

Flussläufe, f<strong>ein</strong> verästelt, dazwischen dunkles<br />

Grün. Mal sind es f<strong>ein</strong>e Honigfäden, mal<br />

lehmdreckige Soßen, die jemand über <strong>ein</strong> holprig<br />

grünes Kohlblatt hat laufen lassen. Dann wieder<br />

sind es Straßen, erdfarben, erkennbar an ihrer<br />

regelmäßigen Breite. Jetzt sind wir genau über<br />

anderen schlammbraun milchkaffeefarbenen<br />

Wassern. Jede <strong>ein</strong>zelne Wolke verschattet <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>es Stück Erde genau unter ihr. Fällt der<br />

Wolkenschatten auf die Wasser, verfärben auch<br />

sie sich dunkler, werden fast graubraun. Andere<br />

Wasser tauchen auf, blauer, grünlicher,<br />

dazwischen immer wieder sehr viel Kohl. Eine<br />

<strong>ein</strong>zelne Straße, braun <strong>und</strong> gleichmäßig<br />

gew<strong>und</strong>en, schiebt sich von unten her in den<br />

Ausschnitt, führt ins Nirgendwo, direkt in die<br />

Wolken, die den Horizont verschleiern. Andere<br />

Wolken, dazwischen gehängt, geschoben, reißen<br />

aus<strong>ein</strong>ander, ballen sich gebirgig auf, mehrstöckig,<br />

verdicken sich oder werden wieder zu Schlieren,<br />

Schleiern, Dunst.<br />

Lasse mir von früher erzählen, als man von Belém<br />

bis Manaus sechs, sieben St<strong>und</strong>en flog, <strong>und</strong> nicht<br />

wie jetzt, in der halben Zeit, in drei<strong>ein</strong>halb<br />

St<strong>und</strong>en bis São Paulo kommt. Die Flugzeuge<br />

waren Militärmaschinen, die Stewards trugen rote<br />

Hemden, gut erkennbar im grünen Dschungel,<br />

<strong>ein</strong>e Machete am Gürtel <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Revolver. Die<br />

Passagiere saßen rechts <strong>und</strong> links im Rumpf des<br />

Flugzeuges, das Gepäck war notdürftig in der<br />

Mitte mit <strong>ein</strong>em Netz gesichert. Jeder bekam für<br />

den Notfall <strong>ein</strong>e Überlebensration zugeteilt, die<br />

für drei Tage reichen musste, in dieser riesigen<br />

Wildnis, die mir viel mehr Wasser zu haben<br />

sch<strong>ein</strong>t als festes Land. Mehr wie <strong>ein</strong>e grünbraune<br />

Hölle vorkommt, als wie das Paradies. Endlos,<br />

bläulich, bräunlich, riesige Landstriche ohne <strong>ein</strong>en<br />

<strong>ein</strong>zigen, menschlichen Eingriff.<br />

Eine oder <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb St<strong>und</strong>en später <strong>ein</strong> anderes<br />

Bild. Kupfrig, orangebraun die scharf<br />

abgegrenzten Felder, riesige Brocken, aus dem<br />

Urwald herausgeschnitten, herausgeholzt,<br />

dazwischen immer noch endlose bewaldete<br />

Flächen, Wolken, Wolkenschatten. Bis dann das<br />

bearbeitete, urbar gemachte Land immer mehr<br />

Besitz ergreift, überhandgewinnt, der Boden<br />

heller wird, sich immer mehr zerstückelt. Die<br />

Flüsse nurmehr f<strong>ein</strong>e Rinnsale, dazwischen immer<br />

wieder scharf <strong>und</strong> kantig abgeschnittene,<br />

kommerziell genutzte Flächen. Felder, bestellt<br />

oder brachliegend, verdrängen langsam aber<br />

stetig alles Grün, an dessen Stelle abgezirkeltes<br />

Beige, Braun <strong>und</strong> Graubraun tritt. Das Land ist<br />

nun fast vollständig aufgeteilt, bestellt, genutzt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 23


Winzige Resten Wald ringen dazwischen ums<br />

Überleben, dringen bis zu <strong>ein</strong>em andern,<br />

mächtigen Fluss vor. Unaufhaltsam der<br />

Fortschritt, die Zivilisation. Schon tauchen, fleckig<br />

aus<strong>ein</strong>ander laufend, die ersten Städte auf,<br />

werden immer mehr. Bald sind wir am Ende der<br />

Reise angelangt. Erstaunlich dreidimensional<br />

erheben sich, winzigen, dicht an dicht gesetzten<br />

Bauklötzchen gleich, beim Landeanflug die<br />

klotzigen, hochkantigen Kästchen der<br />

Hochhäuser, eng zum Zentrum, zum modernen<br />

Kern der Stadt zusammengeballt, aus <strong>ein</strong>em<br />

breiten Gürtel niedrig geduckter<br />

Einfamilienhäuser heraus. Alles von <strong>ein</strong>em<br />

komplexen Netz von Flüssen, halt, falsch, Straßen<br />

durchzogen.<br />

Noch zieht der Vogel <strong>ein</strong>e lange Schleife, bis<br />

dahin, wo sich die Ockerfarbe langsam, aber stetig<br />

ins letzte noch vorhandene Grün hin<strong>ein</strong> frisst, <strong>und</strong><br />

schon landen wir im Beton auf dem Asphalt.<br />

Bäume, Natur ganz generell, werden hier nur als<br />

Zierde, als Parks geduldet, ständig kontrolliert,<br />

gestutzt, zurecht geschnipselt, urban.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 24


<strong>Amazonien</strong><br />

Versuch <strong>ein</strong>er Einleitung<br />

«<strong>Amazonien</strong>», <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Textbuch über den brasilianischen Amazonas ergänzt den Band «Brasilien!»,<br />

ebenfalls <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Textbuch. Auch dieser Band schöpft aus m<strong>ein</strong>em F<strong>und</strong>us. Unter dem Titel «Brasilien!»<br />

sind zwanzig Jahre Brasilien versammelt. Lose Texte, <strong>ein</strong> paar Gedichte, viele <strong>Foto</strong>s. «<strong>Amazonien</strong>» spiegelt m<strong>ein</strong>e<br />

Jahre hier im Amazonas, der so ganz anders ist, als man ihn normalerweise vorgesetzt bekommt.<br />

Auch dieses Werk spiegelt <strong>ein</strong>e sehr eigene, vielleicht romantische, manchmal eurozentrische Weltsicht,<br />

wechselt zwischen bitterböse <strong>und</strong> Faszination. Auch dieses zweite Werk ist <strong>ein</strong>e, m<strong>ein</strong>e Liebeserklärung an den<br />

brasilianischen Amazonas <strong>und</strong> damit an Brasilien. Brasilien hat mich gelehrt, im Jetzt, im Heute zu leben. Der<br />

Amazonas hat mich gelehrt, noch toleranter zu werden, alles noch weniger eng zu sehen. Eine ganz besondere<br />

Faszination übt auch das amazonische Essen, die Küche Nordbrasiliens auf mich aus. Diese Faszination findet<br />

ihren Niederschlag in verschiedenen Kochbüchern zum Thema, die man auch im Internet finden kann.<br />

Das Werk «<strong>Amazonien</strong>» ist, wie das Brasilienbuch, daraus entstanden, dass ich mir den Amazonas erklären,<br />

erarbeiten musste. So vieles ist anders, komplexer, vielfältiger als das, was man landläufig über den Amazonas so<br />

liest. Als ich mich das erste Mal an die Aufarbeitung der amazonischen Geschichte machte, um die Komplexität<br />

des Heute endlich besser verstehen zu können, gab es unzählige Einzelquellen, aus denen ich mir m<strong>ein</strong>e<br />

Geschichte des Amazonas zusammen schrieb. Heute gibt es das ausgezeichnete Werk von Marcio Souza<br />

«História da Amazônia», geschrieben von <strong>ein</strong>em Insider, <strong>ein</strong>em Manauara, die noch genauere <strong>und</strong> tiefere<br />

Einblicke <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en historischen Abriss gibt.<br />

«<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Bilderbuch» ist unprätentiös <strong>und</strong> es geht, wie ich hoffe, respektvoll mit den vielen,<br />

mir so ans Herz gewachsenen Menschen hier um.<br />

Beim Lesen viel Vergnügen <strong>und</strong> Toleranz, denn «M<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong>» zeigt <strong>ein</strong> anderes <strong>Amazonien</strong>, als das, was<br />

man aus den Reiseprospekten kennt.<br />

<strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 25


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 26


Klimaschock<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 27


Klimaschock<br />

Erste Eindrücke 29/30<br />

Von den Hitzen 32/33<br />

Von den Wassern 36/37<br />

Nicht Regen, Sintfluten 42<br />

Tropenregnen 48<br />

Konzert im Regen 52<br />

Unberührt 54<br />

Babyrosa 57<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 28


Erste Eindrücke<br />

Nach <strong>ein</strong>er Woche ist mir noch immer fast alles<br />

fremd. Was macht man, wenn sich <strong>ein</strong> gemachtes<br />

Bild nicht mit der Wirklichkeit deckt? Ich habe<br />

weder mit diesem Riesen, diesem wuchtigen<br />

Ungetüm, noch mit dieser totalitären, alles<br />

dominierenden Natur gerechnet. Wo bleibt der<br />

Naturpark, den man mir angepriesen hat? Wo<br />

bleiben die überschaubaren, grandiosen<br />

Landschaften, die man mir auf den sorgfältig<br />

ausgewählten <strong>Foto</strong>s präsentierte? Verzweifelt<br />

suche ich den Regenwald m<strong>ein</strong>er romantischen<br />

Träume, m<strong>ein</strong>er unschuldigen Vorstellungen,<br />

m<strong>ein</strong>en Garten Eden. Wo sind sie geblieben? Alles<br />

ist befremdend. Befremdend die ungeheuren<br />

Distanzen. Fremd das riesige, graue Meer,<br />

ausgebreitet vor der Stadt wie <strong>ein</strong> riesiges, graues<br />

Tuch, leicht gewölbt, bis über den Horizont.<br />

Süßwasser-Meer, Zwitter, halb Fluss, halb See <strong>und</strong><br />

eigentlich das Delta des Amazonas. Fremd die<br />

endlosen, sandfarben Riesenstrände, verlassen,<br />

beleckt von trübem Wasser, weder süß noch<br />

salzig. Fremd, die „dreckigen“, gelbschlammigen<br />

Wassermassen, Flüsse, Wasserarme, die endlos<br />

<strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>bar ohne Ziel durch monotone Sümpfe<br />

mäandern.<br />

Auf dem Markt begegne ich den fremdartigen<br />

Wasserbewohnern. Berge von<br />

Süßwassercrevetten, in der Schale getrocknet.<br />

Riesige Fische, frisch, oder <strong>ein</strong>gesalzen, in<br />

mächtige Scheiben gehauen. Am meisten<br />

be<strong>ein</strong>druckt mich der schleimgraue, uralte Fisch.<br />

Wie <strong>ein</strong> Dinosaurier liegt er auf der Marmorplatte,<br />

breitmäulig <strong>und</strong> echsenhaft. Erloschen schauen<br />

s<strong>ein</strong>e tiefliegenden Glubschaugen ins Leere der<br />

schmutzigen Markthalle.<br />

Auch die monotone Schönheit des Regenwaldes<br />

berührt mich eigentümlich. Er ist von schiefrigem,<br />

gelblich-grauem Grün. Die paar wenigen Pflanzen<br />

wiederholen sich in seltsamer Monotonie. Das ist<br />

er also, der Amazonas aus den Schlagzeilen, die<br />

grüne Lunge der Erde, das bedrohte Paradies.<br />

„Brandrodungen im Amazonas verursachen<br />

Klimaveränderungen! Der Amazonas wird sterben!<br />

Die reiche Biodiversität der Welt steht vor der<br />

Zerstörung! Schützt die Brasilianischen Indios!“ –<br />

Tropisches Requiem. Auf der ganzen Welt ist<br />

„<strong>Amazonien</strong>“ in den Schlagzeilen. Jeder Zeitung<br />

lesende Europäer ist bestens über die<br />

<strong>ein</strong>schlägigen Zusammenhänge zwischen Ozonloch<br />

<strong>und</strong> den Brandrodungen im Amazonas informiert.<br />

Der Raubbau am Tropenholz gibt Stoff für manche<br />

reißerische Titelgeschichte. Drüben, in Europa,<br />

habe ich viel über die amazonischen W<strong>und</strong>er <strong>und</strong><br />

noch mehr über deren Zerstörung gelesen. Nichts<br />

davon ging mir unter die Haut. Es war weit weg.<br />

Jetzt prallen sie hart auf<strong>ein</strong>ander – das<br />

europäische Klischee „<strong>Amazonien</strong>“ <strong>und</strong> die<br />

unerwartete, m<strong>ein</strong>e persönliche amazonische<br />

Wirklichkeit.<br />

Schön? Schönheit? N<strong>ein</strong>. Diese unerwartete<br />

Wildheit ist <strong>ein</strong> Schock. Erst beim dritten, vierten<br />

Blick beginnt mich das Wilde endlich zu<br />

faszinieren. Zuerst sind es die Pflanzen. Alle sind<br />

enorm, zu groß, mehr als armlang,<br />

übermannshoch, vier, fünf Armlängen dick.<br />

Blattpflanzen, Palmwedel, Knorrenstämme, alle<br />

überdimensioniert. Ein Wald für Riesen! Für mich<br />

wird er zum Ur-Wald: ur-sprünglich, ur-wüchsig<br />

<strong>und</strong> ur-alt.<br />

Es ist m<strong>ein</strong> zweiter Tag in Belém, der alten, halb<br />

verlotterten, teilweise hässlich-modernen Stadt<br />

am Delta des Amazonas. Immer noch bin ich wie<br />

betäubt. Wie k<strong>ein</strong>e Reise zuvor beansprucht,<br />

strapaziert dieser Besuch alle m<strong>ein</strong>e Sinne. Eine<br />

ganz neue Erfahrung. Körper <strong>und</strong> Kopf sind<br />

gefragt, m<strong>ein</strong> ganzes Ich, m<strong>ein</strong> Geist, alles ist<br />

mit<strong>ein</strong>bezogen. <strong>Amazonien</strong> stellt unbekannte<br />

Herausforderungen an m<strong>ein</strong>en Tastsinn, an<br />

m<strong>ein</strong>e Zunge, an die Ohren, die Haut, ans Atmen.<br />

Eine Art Trance, <strong>ein</strong> Schock. Körperliche<br />

Wahrnehmungen verschmelzen mit visuellen.<br />

Auch kämpfe ich mit total unerwarteten Bildern.<br />

Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht s<strong>ein</strong> soll oder<br />

erstaunt. Ganz anders haben sie mir im alten<br />

Europa den Urwald präsentiert, auf sorgfältig<br />

ausgewählten Hochglanzfotos, in den<br />

Hochglanzmagazinen, den Reisebüchern.<br />

Seite um Seite W<strong>und</strong>erwelt Regenwald: pralles,<br />

exotisches Grün, wimmelnd von fremdländischer<br />

Schönheit – die schier unglaubliche Flora <strong>und</strong><br />

Fauna <strong>Amazonien</strong>s, unberührt <strong>und</strong> fast noch<br />

unerforscht. Der Begleittext schwankt zwischen<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 29


wortgewaltigem Staunen vor den „W<strong>und</strong>ern des<br />

Amazonas“ <strong>und</strong> unwissenschaftlichem Schaudern<br />

vor der „Grünen Hölle“. Perfekte Werbung,<br />

kalkuliertes Marketing, Exotik <strong>und</strong> fremdartige<br />

Schauder versprechend oder exotischen<br />

Nervenkitzel – genau richtig für drei Wochen<br />

teuer bezahlten Urlaub.<br />

Ich glaube zu ahnen, wie sich Cabral, der<br />

„Entdecker“ Brasiliens, gefühlt haben mag, in dem<br />

Moment, als er das erste Mal s<strong>ein</strong>en Fuß auf<br />

brasilianisches Territorium setzte. Falsch,<br />

ungültig, wie weggewischt alles, was er bis dahin<br />

an Wissen über die Natur, die Pflanzen, die<br />

Bäume gesammelt hatte. Genau wie er befinde<br />

ich mich auf total neuem, irritierend<br />

unbekanntem Boden, in <strong>ein</strong>er fremden Welt.<br />

Alles, was bisher logisch, normal <strong>und</strong><br />

selbstverständlich war, muss korrigiert werden,<br />

angepasst <strong>und</strong> ergänzt. Ich betrete <strong>ein</strong>e andere<br />

Realität auf demselben Planeten. Später, als ich<br />

versuche, diesen Schock zu reflektieren, mir<br />

Literatur beschaffe, entdecke ich, dass diese<br />

m<strong>ein</strong>e „neue Welt“ sehr wohl bekannt ist. Der<br />

illustere <strong>und</strong> schwer zugängliche Klub der<br />

Botaniker <strong>und</strong> Wissenschaftler, in s<strong>ein</strong>e eigene<br />

Welt <strong>ein</strong>gesponnen, hat schon sehr viel<br />

Wissenswertes über <strong>Amazonien</strong> gesammelt.<br />

Schon im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert beispielsweise<br />

hatte es Italiener, Holländer, Deutsche <strong>und</strong> immer<br />

auch wieder Schweizer gegeben, die dieses<br />

Pflanzenwelt des Amazonas beschrieben,<br />

zeichneten <strong>und</strong> aufs Genaueste katalogisierten<br />

<strong>und</strong> analysierten.<br />

Aber gehen wir zum Anfang zurück. Es ist kurz vor<br />

Mittag; in <strong>ein</strong>er halben St<strong>und</strong>e landen wir in<br />

Belém. Wir sind schon über 3 St<strong>und</strong>en unterwegs.<br />

Wir kommen aus Brasiliens Süden, aus der<br />

pulsierenden 15 Millionen Kapitale São Paulo, mit<br />

Zwischenstopp in Brasília. Immer wieder drücke<br />

ich m<strong>ein</strong>e Stirn ans dickglasige Bullauge des<br />

Flugzeuges. Seit mehr als <strong>ein</strong>er St<strong>und</strong>e überfliegen<br />

wir <strong>ein</strong>e riesige, <strong>ein</strong>e enorme, <strong>ein</strong>e endlose,<br />

grünblättrige Ebene. Ein <strong>ein</strong>ziges, grünes Meer aus<br />

r<strong>und</strong>kuppeligen Bäumen, dicht an dicht, bis zum<br />

Horizont, blau geädert, mäandrierend durchzogen<br />

von Flüssen <strong>und</strong> Strömen. Endlich, der Flieger setzt<br />

auf. Ein letzter Blick aus dem Bullauge. Der<br />

Flughafen, Beton, <strong>ein</strong> paar Palmen, gesichtslos wie<br />

alle anderen. Kaum strecke ich aber m<strong>ein</strong>en Kopf<br />

aus dem Flugzeug, schlage ich m<strong>ein</strong> Gesicht gegen<br />

<strong>ein</strong> unsichtbares, dampfend heißes Tuch, <strong>ein</strong>e<br />

elastische, schwül-heiße Wand. Es sind gute 30<br />

Grad <strong>und</strong> die Luftfeuchtigkeit liegt bei 90 Prozent<br />

– <strong>ein</strong> thermischer Schock! Die nächsten Minuten<br />

erlebe ich wie in Zeitlupe. Kaum gelingt es mir, die<br />

ersten Schritte auf der neuen, fremden Erde zu<br />

machen. Unwillkürlich verlangsamen sich m<strong>ein</strong>e<br />

Bewegungen. Dumpf <strong>und</strong> schwerelos zugleich legt<br />

sich feuchte Schwüle auf m<strong>ein</strong>e Haut, <strong>ein</strong><br />

glibberiger Film. Imaginäre Zentnergewichte<br />

setzen sich auf m<strong>ein</strong>e Brust. Schon schnappe ich<br />

japsend nach Luft, m<strong>ein</strong>e Hand kommt langsam<br />

hoch zur Kehle – <strong>ein</strong> Fisch auf dem Trockenen. In<br />

mehreren Anläufen sauge, schnappe, presse ich<br />

die kostbare, lau-feuchte Luft in m<strong>ein</strong>e Brust, auf<br />

der das Tier sitzt, weiter bis zum Magen, bis in<br />

den Bauch. Sofort kondensiert das Wasser auf<br />

m<strong>ein</strong>em Körper. Auch ohne die kl<strong>ein</strong>ste<br />

Bewegung öffnen sich alle m<strong>ein</strong>e Poren, bilden<br />

sich überall kl<strong>ein</strong>e Schweißbäche. K<strong>ein</strong>e Faser<br />

m<strong>ein</strong>es Shirts bleibt ungenässt. Ich ertappe mich<br />

dabei, wie ich mich auf so selbstverständliche<br />

Dinge wie Atmen oder Gehen konzentrieren<br />

muss. Wirklich sehr anstrengend, diese<br />

Verbindung von Feuchtigkeit <strong>und</strong> Hitze!<br />

Automatisch mache ich es wie die Einheimischen,<br />

die „Caboclos“. Ich ergebe mich, liefere mich aus,<br />

übernehme ihren ungewohnt bedächtigen,<br />

pragmatischen Rhythmus. Hier hetzt k<strong>ein</strong>er.<br />

Später werde ich, wie alle hier, mindestens<br />

dreimal am Tag <strong>ein</strong> kühles Bad nehmen <strong>und</strong> mir<br />

dann, dreimal am Tag, frische Kleider anziehen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 30


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 31


Von den Hitzen<br />

Eigentlich halte mich für ziemlich hitzeresistent.<br />

Und ich hasse Klimaanlagen. Die schicken mich<br />

aus dem Amazonas direkt in die Antarktik. Aber<br />

schon nach drei Tagen in den Tropen ertappe ich<br />

mich dabei, dass ich das altmodische Taxi<br />

verfluche, das noch k<strong>ein</strong>e hat. Lieber die Busse<br />

nicht erwähnen, die nur bei starkem Fahrtwind<br />

<strong>und</strong> überall geöffneten Fenstern erträglich sind.<br />

Trotzdem – kann mich bis heute nicht<br />

entscheiden, was wohl unangenehmer ist. Das<br />

sich Kampflos-Ergeben oder das stoische<br />

Versuchen-zu-Widerstehen? Denn eigentlich ist<br />

jeglicher Widerstand absolut zwecklos. Wische<br />

mir, schon wieder, „ai, ai“, diskret <strong>ein</strong> paar dicke<br />

Tropfen Schweiß von Stirn <strong>und</strong> Oberlippe.<br />

Überhöre das fast zu jeder Jahreszeit<br />

angebrachte, hoch beliebte „Zu-heiß, wirklich zu<br />

heiß“-Small-Talk-Gestöhn. Hier im Norden<br />

variieren die heiß-feuchten Schwaden die<br />

immerselben, winzigen Hitzenuancen. Auch in<br />

den tiefsten Schatten, da wo sich weder Finger<br />

noch Blatt rührt. Schon hat er sich wieder<br />

angesammelt. Unschuldiger Schweiß kondensiert<br />

sich an, unter, oder ist es über den verschiedenen<br />

Schichten Anti-Mückenspray <strong>und</strong> Sonnenschutz?<br />

Verballt sich zu <strong>ein</strong>er eigenartig eklig-glitschigen<br />

Masse. Minuten nachdem ich <strong>ein</strong>es von mehreren<br />

täglichen Bädern genommen habe. Je mehr man<br />

sich darauf konzentriert, desto unerträglicher<br />

wird es! Destillieren sich, unablässig genährt,<br />

unkontrollierbare Rinnsale, jeglicher Kontrolle<br />

entzogen, rinnen aus Achselhöhlen <strong>und</strong><br />

Kniebeugen, kleben Haut an Haut, häufen sich<br />

ungefragt auf Oberlippe <strong>und</strong> Stirn, fließen über<br />

Schläfen, Wangen, lösen sich leise vom Kinn, pling,<br />

feiern klammheimlich Wiedersehen tief im<br />

Dekolleté.<br />

Auch wenn die Steigerung fast unmöglich ist –<br />

schlimmer sind nur die fantastischen<br />

Tropennächte! Entweder mühlt <strong>ein</strong> Ventilator die<br />

Hitzeschwaden durch, speit <strong>ein</strong>em in regelmäßigen<br />

Abständen s<strong>ein</strong>en heißen Atem ins Gesicht,<br />

oder der Motor der Klimaanlage heult <strong>ein</strong>em,<br />

schlimmer als <strong>ein</strong>e Flugzeugturbine, direkt ins<br />

empfindliche Ohr. Überzieht noch empfindlichere<br />

Körperstellen, man ist nicht mehr die Jüngste, mit<br />

s<strong>ein</strong>em eiskaltem Hauch, was für den nächsten Tag<br />

mindestens <strong>ein</strong>en steifen Nacken garantiert. Die<br />

Situation ist sozusagen ausweglos. Ohne diese<br />

künstlichen Hilfsmittel teilt man sogleich die breiig<br />

stillstehende Luft mit den unterschiedlichsten<br />

Insekten, die wenigstens gegen Zug allergisch sind.<br />

An Schlaf ist nicht zu denken. In solch<br />

durchwachten Nächten sch<strong>ein</strong>t es, als ob der<br />

schlimmste, der glühend schwüle Atem des<br />

Amazonas direkt aus dem Purgatorium, gar aus<br />

der Hölle komme! Lässt alle kapitulieren,<br />

unterwirft sie sich alle, lässt sie unisono nicht nur<br />

das <strong>ein</strong>e oder andere Hemd durchschwitzen, n<strong>ein</strong><br />

lässt sie tierisch leiden, bis auf die Seele, arme,<br />

gestrafte, verurteilte Sünderseele. Sie büßen für<br />

alle schon begangenen, <strong>und</strong> geht im selben<br />

Aufwisch, besser Bad, auch gleich für alle noch<br />

nicht begangenen Sünden! Besonders dann,<br />

wenn sich die Hitzen sozusagen immer noch<br />

enger zusammen schließen, so eng, <strong>ein</strong><br />

Saunabad wäre <strong>ein</strong> Klecks dagegen, erdrückend,<br />

erstickend, <strong>ein</strong>em im teuflischen Zusammenspiel<br />

von Hitze <strong>und</strong> Feuchtigkeit niederziehen, aber<br />

doch nicht schlafen lassen. Da hatte Satan<br />

persönlich s<strong>ein</strong>e raffinierte Hand im Spiel!<br />

Besonders viel Mühe hat er sich mit den sich<br />

stauenden Hitzewellen gegeben, die den so<br />

pünktlichen <strong>und</strong> konstanten Regenschauern<br />

vorausgehen. Zermürbend werden Sek<strong>und</strong>en zu<br />

Minuten, Minuten zu St<strong>und</strong>en, von<br />

Hitzeteufelchen zugemessen, die <strong>ein</strong>em gar die<br />

irgendwie <strong>ein</strong>gedickte Luft zum Atmen<br />

wegschnappen, in <strong>ein</strong>e Art unsichtbares Gel,<br />

dickflüssiger Gelee verwandeln, alle verfügbare<br />

Nässe aus <strong>ein</strong>em herausfiltern <strong>und</strong> winden, in<br />

Salzen kristallisieren lassen, uns in <strong>ein</strong>er<br />

schwergewichtig <strong>und</strong>urchdringbaren Suppe<br />

langsam, genüsslich sozusagen im eigenen Saft<br />

gar kochen, den letzten kostbaren Lebenssaft<br />

<strong>und</strong> -willen rauben. Hitzedelirien! War man sich<br />

doch früher in s<strong>ein</strong>er Europazentriertheit sicher,<br />

dass das tropische Klima den menschlichen<br />

Organismus schwäche, nicht nur der Faulheit<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 32


Vorschub leiste <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e laxe Moral <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

ausgeprägte Sinnlichkeit begünstige, sondern<br />

sogar die Entwicklung <strong>ein</strong>er wirklich zivilisierten<br />

Zivilisation verunmöglichte!<br />

Versuche <strong>ein</strong>mal mehr, mich von allem Irdischen<br />

zu lösen, m<strong>ein</strong>es ausgeliehenen, so weltlichen<br />

<strong>und</strong> mit s<strong>ein</strong>em Leiden so zweitrangigen Körpers<br />

unwürdig. Körperlos, leicht, unberührbar kühl.<br />

Fließe, gleite, schwitze, denn genau dann spüre<br />

ich, wie sie sich gegen mich verschworen haben!<br />

Schlüpfrig glitschige Klunker, <strong>ein</strong> Springen <strong>und</strong><br />

Fließen, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige glückliche Ver<strong>ein</strong>igung aller<br />

in allen Falten <strong>und</strong> Spalten m<strong>ein</strong>es Körpers<br />

erzeugten Schweißperlen!<br />

Gestern wollten sie mich trösten. Bald habe man<br />

ja hier „Winter“! Da regne es viel mehr, da sei das<br />

Klima viel besser, angenehmer als das jetzige, des,<br />

was für <strong>ein</strong> Hohn, „Amazonischen Subtropensommers“!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 33


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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 35


Von den Wassern<br />

Vollbepackt wollen wir den Flughafen verlassen,<br />

als sich plötzlich, schnell wie <strong>ein</strong> Blitz, der Himmel<br />

schließt <strong>und</strong> gleich wieder öffnet – Regen setzt<br />

<strong>ein</strong>, urplötzlich, urgewaltig. Sintfluten. Minuten<br />

vorher war der Horizont noch stahlblau. Jetzt<br />

brechen aus dunkeldüsteren Wolkenschleusen<br />

Wasserfälle, Wasserwände hervor. Die Straße zu<br />

unseren Füßen verwandelt sich in Sek<strong>und</strong>en in<br />

<strong>ein</strong>en Bach, in <strong>ein</strong>en Fluss, in reißende<br />

Sturzfluten. Schon stehen die abgestellten Autos<br />

Zentimeter tief in drecksprudelndem Wasser. Die<br />

Gullys kommen ihrer Arbeit nicht nach, kotzen,<br />

würgen, erbrechen sprudelnd Wasserfluten,<br />

grauslich gräulich. K<strong>ein</strong>en kümmert’s, k<strong>ein</strong>er hat<br />

<strong>ein</strong>en Regenschirm dabei. Alle stellen sich <strong>ein</strong>fach<br />

unter das nächste Dach. Warten geduldig, bis die<br />

Regenschnüre reißen, die Sintfluten versiegen.<br />

Und so geschieht es auch. Urplötzlich, wie<br />

abgedreht, alle Schleusen wurden im selben<br />

Moment geschlossen, bricht der Regen wieder ab,<br />

schon hellt sich der Himmel auf.<br />

Schon etwas gewiefter, kaufe ich mir das nächste<br />

Mal, kaum angekommen, an der nächsten Ecke<br />

vom fliegenden Händler, allzeit bereit auf<br />

klimatische Bedingungen zu reagieren, <strong>ein</strong>en<br />

Regenschirm. Einen Regenriesenschirm, eigentlich<br />

<strong>ein</strong> Männerschirm. Versuche nicht mal, den Preis<br />

herunter zu handeln. Die Schirme sind so billig,<br />

dass es sich nicht lohnt, die lausige Qualität zu<br />

beanstanden. Es gibt drei, vier Karomuster –<br />

Burberry sollte eigentlich von den cleveren,<br />

geschäftstüchtigen Chinesen Royalties verlangen!<br />

N<strong>ein</strong>, das wilde Tigermuster, genauso globalisiert<br />

<strong>und</strong> banalisiert, oder besser popularisiert? ist zu<br />

auffallend.<br />

Sie sind zwar alle riesig. Trotzdem werde ich<br />

pudelnass, k<strong>ein</strong>er ist groß genug, mich auch gegen<br />

die schräg fallenden Fluten zu schützen. Schwer<br />

durchhängende Himmel künden Schlimmes. Oder<br />

wie man auf Portugiesisch sagt: - Wenn man k<strong>ein</strong>e<br />

H<strong>und</strong>e hat, jagt man halt mit Katzen! Nehme den<br />

Erstbesten. Schon fallen, aus eben noch strahlend<br />

sauberen Lüften, gigantische Regen, Wasserfälle,<br />

ganze Schwimmbäder. Urplötzlich, urgewaltig,<br />

himmlische Schleusen, himmlischer Stauseen<br />

bersten, alle Wasser der Erde fallen in <strong>ein</strong>em<br />

<strong>ein</strong>zigen Guss nieder. Sintfluten, -flüsse, -meere,<br />

zu <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Kraft geballt. Reißen alles mit,<br />

unterwerfen, machen untertan. Es fällt, schlägt,<br />

schießt mit solcher Wassergewalt fast senkrecht<br />

auf die Erde, den Asphalt, dass mir Wasserkugeln<br />

bis zu den Knien zurück spritzen. Noch <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong><br />

für die lokale Alltagsuniform Bermudas <strong>und</strong><br />

Plastik-Flip-Flops.<br />

Die Faszination hält an. Auch den x-ten Regenguss<br />

finde ich noch immer aufregend. Es ist so viel, so<br />

unendlich viel Wasser, Wasser im Übermaß, dass<br />

es alles stoppt. Rette sich, wer kann! Wieder<br />

drängen sich unter Dachvorsprüngen, Vordächern,<br />

Marquisen oder gar notdürftig unter<br />

weit ausholenden Bäumen kl<strong>ein</strong>e, verschupfte<br />

Menschenaufläufe. Auch die wenigen<br />

Glücklichen, die-mit-Schirm!, verstopfen die<br />

Eingänge der Geschäfte, wollen nicht wirklich<br />

was kaufen, warten Gott ergeben, dass jemand<br />

die Sintfluten abschneidet, kappt, beendet. Noch<br />

schwemmen die aber alles mit, waschen alles<br />

weg. Verwandeln normale Straßen in reißende<br />

Flüsse, bedrohlich schäumend, gurgelnd, auf<br />

irgend <strong>ein</strong> tiefer liegendes Ziel zuströmend <strong>und</strong><br />

kratertiefe Löcher im Asphalt auswaschend.<br />

Jeder Regenguss bricht ihnen noch <strong>ein</strong> paar<br />

Zentimeter Rand runter.<br />

Mitten im tropisch dichten Regenwald sollen<br />

solche Regengüsse noch <strong>ein</strong>drücklicher s<strong>ein</strong>. Man<br />

könne minutenlang nur das Trommeln <strong>und</strong><br />

Prasseln der Regen hören, spüre aber k<strong>ein</strong>erlei<br />

Nass; das dichte, viellagige Blätterdach lasse<br />

nicht den geringsten Tropfen durch. Nur nach<br />

<strong>und</strong> nach bahnten sich dann die Wasser ihren<br />

Weg, sprängen als unregelmäßige Tropfen<br />

herunter, bleischwere Wasserkugeln, über Blatt<br />

<strong>und</strong> Blatt gerollt, viele Blattstockwerke tiefer<br />

angesammelt, angereichert, heruntergerollt,<br />

abgeprellt, vom Waldboden wie von <strong>ein</strong>em<br />

trockenen Schwamm gierig aufgesogen.<br />

Whouw! Schon ist es vorbei! Seit Minuten schon<br />

werden sie unmerklich leiser, reißen auf, die<br />

Regen reißen ab, wie mit derselben grausigen<br />

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Urkraft abgeschnitten. Was bleibt, ist der schwere<br />

Geruch. Die Luft, noch feucht, massig, schon leckt<br />

die Sonne, schafft sich Weg, stechend, schleckt<br />

unsichtbar die Wasser vom Asphalt, verdampft sie<br />

in riesigen Nebelschwaden aus den Wäldern.<br />

Jeder geht s<strong>ein</strong>en Weg, magisch haben sich die<br />

Menschenaufläufe aufgelöst.<br />

Niemand muss mich erinnern, dass ich nur <strong>ein</strong><br />

winziges Sandkorn bin, das sich in dieses irdische<br />

Treibhaus, diesen schwül dampfenden<br />

Waschkessel, der <strong>Amazonien</strong> heißt, vorgewagt<br />

habe. Wasser ist hier die <strong>ein</strong>zige Triebfeder.<br />

Ewiger Kreislauf, nicht mal mit Superlativen<br />

annähernd zu beschreiben - unfassbare 20 % der<br />

Süßwasserreserven der ganzen Erde sind in den<br />

amazonischen Zyklus involviert. Erste Landkarten,<br />

nicht nur des Amazonasgebietes, reproduzieren<br />

meist nicht mehr als das relativ gut bekannte<br />

Netzwerk der Flüsse, dazwischen nicht als leeres,<br />

jungfräuliches Papier, unbeschriftetes Land.<br />

Uff, entschuldigen Sie, aber nun muss ich wirklich.<br />

Dringend, sozusagen sofort! Muss mich auf die<br />

Socken, Pardon! Gummilatschen machen – denn<br />

schon bald, sehr bald wird, sehen Sie sie denn<br />

nicht? <strong>ein</strong>e alles verschlingende, <strong>ein</strong>e höllische,<br />

gigantische Regenwolke all ihre Wasser auf uns<br />

niederprasseln lassen! Erschreckend, urgewaltig,<br />

be<strong>ein</strong>druckend!<br />

Eine<br />

spricht,<br />

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Nicht Regen, Sintfluten<br />

Der Regen setzt nie aus, nicht mal sonntags. Kaum<br />

beginnt die Sonne an den Pfützen zu lecken,<br />

türmen sich schon dramatisch drohend die<br />

nächsten Wolkenwände auf, pechschwarz,<br />

himmelhoch <strong>und</strong> schwer, tonnenschwer. So<br />

beladen, dass sie sich schon bald, n<strong>ein</strong>, jetzt<br />

gleich! erleichtern werden.<br />

verdampft die Sintfluten. Die eben noch so<br />

fröhlichen Papageien verstummen. Die Jungs sind<br />

längst wieder zu Hause.<br />

Aber eigentlich mag man den Regen hier in<br />

Nordbrasilien. Auch die Papageien, es sch<strong>ein</strong>en<br />

unzählige zu s<strong>ein</strong>, machen sich plötzlich aufgeregt<br />

kreischend <strong>und</strong> animiert schnatternd genau dann<br />

bemerkbar, wenn es Sintfluten gießt. Nur die<br />

kl<strong>ein</strong>en Jungen sind da noch animierter. Sie<br />

spielen ihr unverwechselbares Spiel:<br />

Regenfußball. Gibt es etwas Schöneres, als nur<br />

spärlich bekleidet unter dem Regen durch<br />

zusprinten <strong>und</strong> dann im Schlamm auszurutschen<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong> richtig dreckiges Schlammbad zu<br />

nehmen? Mit oder ohne erhaschtem Ball<br />

natürlich. Um sich wieder sauber zu kriegen, ist<br />

k<strong>ein</strong>e große Anstrengung nötig. Das lösen die<br />

Sintfluten ungefragt <strong>und</strong> ungebeten.<br />

Prasseln schon wieder aus eben noch strahlend<br />

sauberen Lüften.<br />

Wasser ist, neben der Tropenhitze, die Triebfeder,<br />

das Metronom für fast alles hier. Mit der selben<br />

grausigen Urkraft, sozusagen wie abgeschnitten,<br />

reißen die Regen ganz plötzlich wieder ab. Schon<br />

bannt die Sonne, stechend, leckt, räumt,<br />

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Tropenregnen<br />

Tropenregen. Ich liebe das gleichförmige Tropfen,<br />

das immerwährende Rauschen. Er erfrischt, kühlt,<br />

erneuert. Legt sich wie tausend Schleier über die<br />

Landschaft, über die Wasser, verlangsamt,<br />

beruhigt, macht schwerelos. Was für <strong>ein</strong>e Lust,<br />

nicht mal das Notwendigste zu tun. Sich <strong>ein</strong>fach<br />

hingeben, <strong>ein</strong>schläfern lassen. Der Regen dämpft,<br />

macht die Glieder schwer, drückt auf die<br />

Augenlider, wiegt mich hin, wiegt mich her, lullt<br />

mich <strong>ein</strong>, beschert mir <strong>ein</strong>en tiefen, langen <strong>und</strong><br />

erholsamen Schlaf.<br />

Die ersten Regenschnüre fallen fast lautlos. Ihr<br />

Rauschen unterscheidet sich kaum vom Wispern<br />

der Palmwedel, die <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zelne Bö kämmt,<br />

immer wieder <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>mal. Die ersten f<strong>ein</strong>en<br />

Tropfen rinnen, springen, fallen kühn von der<br />

allerletzten Spitze der Blätter <strong>und</strong> Wedel.<br />

Springen runter auf die Erde, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Folge<br />

winzig silberner Tropfen, verb<strong>und</strong>en zu flüchtignassen<br />

Regenfäden, Regenschnüren, in<strong>ein</strong>ander<br />

geklinkt. Es ist <strong>ein</strong> ständiges Fallen, Schlagen,<br />

Prasseln, Sintfluten, <strong>ein</strong> sich treffen, zusammenkommen,<br />

sich ver<strong>ein</strong>en in den Adern, der Rispen<br />

der Blätter. Ein Kugeln, Fließen <strong>und</strong> Stürzen, <strong>ein</strong><br />

Dribbeln, Stampfen, Laufen, nach unten, hinunter,<br />

den Rispen entlang, den Ästen, den Rinden <strong>und</strong><br />

Wurzeln. Ein Umspülen, Umfließen, Unterspülen,<br />

Mitreißen. Rinnsale, Bächl<strong>ein</strong>, Wirbel, Kreise,<br />

Tümpel. Schlussendlich aufgesogen, getrunken,<br />

verschlungen von den durstigen Erden, Schollen,<br />

Schwämme, Filter.<br />

Es gluckst <strong>und</strong> rauscht, mal leiser, mal heftiger, gar<br />

ungebändigt laut, wenn die Regen sich immer<br />

mehr hoch steigern, <strong>ein</strong>er nassen Synfonie gleich<br />

zu unzähligen, wild gewordenen Wildbächen<br />

werden. Schräg <strong>und</strong> noch schräger fallen, die<br />

halbe Varanda unter Wasser setzen, ihre nassen<br />

Donnerkeile bis unters schützende Dach treiben.<br />

Längst haben sich die Erdstraßen, die sandigen<br />

Wege in reißende Fluten verwandelt,<br />

schlammgrau. Kratern öffnen sich, Canyons<br />

werden ausgefräst, Balast irgendwo am Ufer<br />

abgelagert. Äste, Kiesel, Abfall, von den<br />

wildgewordenen Fluten <strong>ein</strong>fach mitgerissen.<br />

Noch tropft er, fällt, kämpft <strong>und</strong> springt. Mal<br />

schlägt ihn der Wind schräg an die fensterlosen<br />

Läden bis unters Dach, dann wieder tanzt er<br />

gerade runter, hüpft von <strong>ein</strong>em B<strong>ein</strong> aufs andere,<br />

waltz wie tausend Tausendsassas, ist gleichzeitig<br />

überall <strong>und</strong> doch schon davon gestoben. Da -<br />

kaum merklich verlangsamt sich das Stakkato.<br />

Streichelt, peitscht, reitet kullernd die schmalen<br />

Haarsträhnen der Palmwedel entlang <strong>und</strong> dann<br />

langsam <strong>und</strong> stetig aufzugeben. Er stirbt, erstirbt,<br />

es stirbt.<br />

Hinterlässt frischen Glanz, strahlendes Grün,<br />

polierte Frische. Schließt den ewigen Kreislauf.<br />

Verdampft, steigt auf, unsichtbar präsent,<br />

kondensiert, ballt, wird schwer, noch schwerer,<br />

wird zu neuem Tropenregnen, unendlich<br />

furchtbar, unendlich fruchtbar.<br />

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Konzert im Regen<br />

„Klunk, klank, klink, klunk“, irgendwie hat ihr<br />

„Gesang” etwas Fröhlich-Animiertes. Sie stimmen<br />

ihn abends an, sobald es zu nieseln oder gar zu<br />

regnen beginnt. Es ist <strong>ein</strong>e der hübschesten<br />

Kakofonien, die ich kenne: Die Frösche <strong>und</strong><br />

Kröten – ich weiß nicht so genau, wie sie<br />

aussehen, sie sind unsichtbar, irgendwo draußen<br />

in den dunklen, nachtschwarzen „Igarapés”, den<br />

überfluteten Ufern des Rio Negros oder anderer<br />

Flüsse mit ihrer hoch spezialisierten Flora <strong>und</strong><br />

Fauna – singen, quaken, unken oder bellen. Einer<br />

blökt gar wie <strong>ein</strong> Schaf <strong>und</strong> <strong>ein</strong> dritter erinnert an<br />

<strong>ein</strong>e rostige Tür, die im Wind hin <strong>und</strong> her ächzt.<br />

Markieren oder verteidigen sie ihr Territorium?<br />

Suchen sie <strong>ein</strong>en Partner? Ich weiß es nicht.<br />

Sicher hat man noch nicht alle ihre Gesänge <strong>und</strong><br />

deren Funktion identifiziert. Zu viele werden es<br />

s<strong>ein</strong>, winzige <strong>und</strong> riesige, in m<strong>ein</strong>er Vorstellung<br />

alle mit kugelr<strong>und</strong>en, uralten Glupschaugen <strong>und</strong><br />

warziger Haut. Nur <strong>ein</strong>em Indigenen würde es<br />

wohl gelingen, sie zu identifizieren, jeden nach<br />

s<strong>ein</strong>em Gesang zu unterscheiden <strong>und</strong> allen die<br />

passenden indigenen Namen zu geben. Aber der<br />

Indio m<strong>ein</strong>er Fantasie hat sich längst im Tropical-<br />

Tower von Manaus mit s<strong>ein</strong>en akkuraten<br />

Gärtchen, dem schweren Holz <strong>und</strong> den endlosen<br />

dunklen Korridoren, sie wären <strong>ein</strong>er U-Bahn-<br />

Station würdig, <strong>ein</strong> Hotelzimmer gemietet, fährt<br />

mit <strong>ein</strong>em riesigen Rover vor <strong>und</strong> will von all<br />

dieser ungezügelten Natur, wie jeder richtige<br />

Brasilianer, am liebsten gar nichts wissen.<br />

Gekurften<br />

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Unberührt<br />

Am paradiesischsten, unberührtesten sch<strong>ein</strong>t der<br />

Regenwald dann, wenn die überbordenden<br />

Regen, Wassermassen über Wassermassen,<br />

Regenschauer nach tropischsten Regenschauern,<br />

unbemerkt den f<strong>ein</strong>en Schnitt wegwaschen, der<br />

da am Horizont die Meere <strong>und</strong> Meere schlammiggrauen<br />

Wassers von den Himmeln <strong>und</strong> Himmeln<br />

schlammig-grauen Wassers schneidet.<br />

Fadenf<strong>ein</strong> gewischte Striche verschleiern endlose<br />

Ufer, Sandstrände, weit, beige-grau, Silhouetten<br />

nur, Kontur. Hie <strong>und</strong> da herausgehoben graugrüne<br />

Palmen, ver<strong>ein</strong>t im Lianen-Blätter-<br />

Luftwurzeldurch<strong>ein</strong>ander. Dschungel, Wildnis,<br />

unzähmbar. Der Blick verliert sich im grauen Grün,<br />

Igarapés, tausendfach verdoppelt, silbern-grünvergraut,<br />

geheimnisvoll dunkel, unendlich.<br />

kann<br />

Der<br />

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Gefüllte Bonbons<br />

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Babyrosa<br />

Ich warte mal wieder irgendwo auf irgend<strong>ein</strong>en<br />

Bus. Das Hemd des Busfahrers, Teil s<strong>ein</strong>er<br />

Uniform, ist leuchtend Rosa. Habe dieses<br />

leuchtende Schockrosa, auch in f<strong>ein</strong>eren<br />

Babyrosaabstufungen, synthetisch, leuchtend wie<br />

<strong>ein</strong> Bonbon, hier schon an verschiedenen<br />

Mannsbildern gesehen. Sieht toll aus! Steht<br />

besonders den „Caboclos“ mit ihrer leicht<br />

gebrannten Haut ausgezeichnet. Ihrem<br />

selbstsicheren Auftreten nach sch<strong>ein</strong>en sie das<br />

auch zu wissen.<br />

Rosa. Schließen Sie die Augen <strong>und</strong> sagen Sie mir,<br />

welche Farben die Menschen in den Tropen<br />

tragen? Die Mehrheit erwartet starke, üppige<br />

Farben, wahre Farborgien. Die Realität allerdings<br />

bleibt auch hier hinter den Erwartungen zurück.<br />

Wenn die Hochglanzprospekte <strong>ein</strong> farbenfrohes<br />

Tropenparadies vorgaukeln, schummeln sie.<br />

Besonders wenn es um den Amazonas geht. Die<br />

brillante Leuchtfarben, die uns Zugewanderten so<br />

magisch anziehen, die selben, die sich so<br />

effektvoll vom üppigen Grün der Natur abheben<br />

<strong>und</strong> natürlich w<strong>und</strong>ervoll zu all den<br />

Abschattierungen olivener, karamellfarbener,<br />

schokobrauner, zimt- <strong>und</strong> nelkenfarbener Haut<br />

passen, gibt es nur in den Reiseprospekten oder in<br />

Brasiliens Nordosten.<br />

M<strong>ein</strong> Amazonas ist monochrom, auch da, wo die<br />

Flüsse fast so strahlend blau sind wie die<br />

Riesenhimmel. Die Schiffe bringen zwar etwas<br />

farbige Fröhlichkeit ins Einerlei, aber sonst<br />

beschränkt sich alles auf <strong>ein</strong>e stetige<br />

Wiederholung oder Varianten der selben<br />

Halbtöne: Die selben Blaus, Sand, Schlamm,<br />

Bronze, Rostrot <strong>und</strong> Dichtgrün. Dichtgrün, Blau,<br />

Bronze, Rostrot, Schlamm <strong>und</strong> Sand, mit <strong>ein</strong>er<br />

Prise Weiß <strong>und</strong> Türkis, neben den Pastells der<br />

traditionellen Häuser aus der Kolonialzeit. Die<br />

hässlich-modernen Städte sind überall grau, <strong>ein</strong>e<br />

nicht sehr scharfe Schwarz/Weiß <strong>Foto</strong>grafie,<br />

überschiefert, gräulich, wie mit <strong>ein</strong>em Schleier<br />

überzogen, wie alle Farben hier im Norden. Grau<br />

geht den Regen voraus <strong>und</strong> folgt ihnen nach.<br />

Brennt dazwischen die Sonne tropisch herunter,<br />

schneidet, ja brennt sie das Grün des Regenwaldes<br />

heraus. Ewiggrün ist er, mit sehr wenigen, sehr gut<br />

versteckten Blüten.<br />

Brasilien leuchtet, aber auf <strong>ein</strong>e ganz unerwartete<br />

Art, denn hier ist der Strahlehimmel meist mit<br />

Wolkenbänken marmoriert. Sie wandern, in<br />

ständiger Bewegung, über die Himmel. Mal sind<br />

sie leicht hin getupft, fast könnte man mit ihnen<br />

spielen, mal sind sie schwer. Plötzlich ballen sie<br />

sich zusammen, verschlucken sich gegenseitig,<br />

verwandeln sich in braungraue Wände, aus denen<br />

es bald jene Wasser regnen wird, die überall hin<br />

kommen. Schräg fallende, ausgewaschene,<br />

ausgeblutete Tinten, <strong>und</strong>urchsichtig, schleirig<br />

vergraut. Die Flüsse werden noch schlammiger, zu<br />

bräunlichen Tees, kaffeefarbene Schlammfluten.<br />

Die irdischen Wasser mischen, verwischen sich<br />

mit den himmlischen Sintfluten. Natur, Flüsse,<br />

Meere, Regen, Wolken, Himmel werden zu<br />

<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Ganzen, hinter denen auch die<br />

letzten endlos üppigen, <strong>ein</strong>zigen <strong>und</strong> monotonen<br />

Grüns verschwinden.<br />

Von oben sieht der Amazonas aus wie grüne<br />

Wüsten, <strong>ein</strong> Meer aus lauter an<strong>ein</strong>andergereihter<br />

Brokkoliköpfe, über die jemand mit<br />

sehr, sehr viel Geduld <strong>und</strong> spielerischer Hand<br />

<strong>ein</strong>en f<strong>ein</strong>en Faden Honig hat zerlaufen lassen,<br />

zusammen mit <strong>ein</strong> paar sandfarbenen<br />

Abschattierungen, mal weißlicher, heller, mal<br />

orangener oder brauner Erde, Sand <strong>und</strong> hie <strong>und</strong><br />

da frei gerodete Böden. Nicht von ungefähr<br />

finden alle Brasilianer unsere üppig farbigen<br />

Blumengärten zum Sterben schön, <strong>ein</strong>e sorgfältig<br />

gezogene Rose, im Tropenklima kümmerlich vor<br />

sich hin vegetierend, zum Dahinschmelzen, <strong>ein</strong><br />

Ideal! Viel schöner als das w<strong>und</strong>erschönste<br />

Riesenblatt, die schönste tropische Orchidee.<br />

Wie sehr sich die Sehnsucht nach dem<br />

„Exotischen“, das, was nur der andere hat,<br />

ähneln!<br />

Aber halt, da ruft der Busfahrer, unübersehbar<br />

im Babyrosa Hemd, schon zum Einsteigen. Los<br />

gehts!<br />

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<strong>Amazonien</strong><br />

Grüne Hölle oder Paradies?<br />

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<strong>Amazonien</strong> – grüne Hölle oder Paradies?<br />

Überwältigend immergrün 65/66<br />

Ökosystem Festes Land/Terra Firme 67<br />

Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün 76/77<br />

Natur pur – von wegen! 85/86<br />

Amazonische Savannen 93<br />

Tropennutzwald 103<br />

S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro 106<br />

Von der Paranuss bis zum Kumarin - die «Drogas do Sertão» 109/110<br />

Der Schokoladenbaum 112<br />

Holz, das nach Rosen riecht 116-120<br />

Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften 122/123<br />

Nachhaltigkeit ja, aber wie? 126/127<br />

Zauberwort Biotechnologie 128<br />

Curupira, der Beschützer des Regenwalds 130<br />

Das Messer 140<br />

Ihre Majestät 146/147<br />

Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung 152<br />

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Überwältigend immergrün<br />

Bis heute ist es am <strong>ein</strong>fachsten, sich dem<br />

Waldungeheuer auf dem Wasser zu nähern, wie<br />

immer schon. Seit Jahrh<strong>und</strong>erten dringen<br />

Besucher, die meisten Abenteurer <strong>und</strong><br />

Naturalisten <strong>ein</strong>geschlossen, pragmatisch auf dem<br />

Wasserweg in den Tropendschungel <strong>ein</strong>, natürlich<br />

nur mit lokal k<strong>und</strong>igen Führern.<br />

Einmal die Ufer erklommen, ist man schon bald<br />

mitten drin. Schwer, sich für <strong>ein</strong>e der vielen<br />

Ebenen zu entscheiden. Ein Fußmarsch durch den<br />

Tropenwald hat viele zu viele interessante<br />

Perspektiven. Die erste Etage, sozusagen aus der<br />

Ameisenperspektive, auf Wurzelhöhe, lässt<br />

erahnen, wie gigantisch komplex alles verzahnt<br />

ist. Steigungen steigen jäh an, Gefälle fallen brüsk<br />

<strong>und</strong> seifig ab. Modrige Blätter oder f<strong>ein</strong>er Sand<br />

sind wenig trittfest. K<strong>ein</strong>er hat sich die Mühe<br />

gemacht, fußfre<strong>und</strong>liche, hemmende Schwellen<br />

oder gar Stufen anzubringen. Das Wurzelwerk ist<br />

stupend. Grillen haben hoch aufgerichtete,<br />

unendlich zerbrechliche Tonröhren als Bau<br />

errichtet. Im Unterholz gedeihen vor allem<br />

Sträucher oder ewig grüne Schattenpflanzen. Die<br />

Blätter oft w<strong>und</strong>ersam gezeichnet, gestromt <strong>und</strong><br />

gelöchert. Baumgiganten lassen ihre Wurzeln<br />

raumgreifend wie Polypenarme oberirdisch<br />

ausschweifen, über den Boden kriechen, sich<br />

besitzergreifend immer weiter ausbreiten, sodass<br />

man hoch über sie hinweg steigen muss. Bei<br />

<strong>ein</strong>em dritten brechen sich Luft- oder<br />

Stützwurzeln, <strong>ein</strong>e über die andere, durch die<br />

Rinde Bahn, wachsen sehnig <strong>und</strong> adrig<br />

über<strong>ein</strong>ander hinweg, wie wenn man <strong>ein</strong>en<br />

muskulösen, sinnlichen Körper enthäuten würde.<br />

Formen stelzenartige Gebilde, die die Kuppeln auf<br />

diese Art <strong>und</strong> Weise verankern, sozusagen, im<br />

Boden festkrallen.<br />

Steht man, nach <strong>ein</strong>em schweißtreibenden<br />

Aufstieg, am Fuß <strong>ein</strong>es solchen <strong>ein</strong>es vielleicht<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte alten Riesen, kann man ermessen,<br />

wie viel Standfestigkeit dazugehören muss, um so<br />

exponiert tropischen Gewittern <strong>und</strong> Stürmen<br />

standzuhalten. Vom vielen Hochschauen könnte<br />

man sich leicht <strong>ein</strong>e Genickstarre holen. Oben<br />

finden sich die wenigen Pflanzen, die etwas Farbe<br />

ins Grün bringen. Bromelien <strong>und</strong> Orchideen,<br />

farbige Blätter, die eigentlich Blüten sind, siedeln<br />

hoch auf den Ästen. Unten massivste drei, vier Mal<br />

mannshohe Bretterwurzeln, <strong>ein</strong>e Art hölzernes<br />

Gebirge, verbarrikadieren Stämme, Riesen, die<br />

auch <strong>ein</strong> paar Personen zusammen nicht so ohne<br />

Weites umarmen.<br />

Auf Augenhöhe entzücken die absurdesten,<br />

kunstvoll in<strong>ein</strong>ander verflochtenen Lianen,<br />

„Cipós“. Sie krümmen sich in den wildesten<br />

Formen <strong>und</strong> allen möglichen Dicken, werfen sich<br />

auf, lassen sich runter, schlingen sich hoch.<br />

Amazonisch wilde Klöppelspitze, ausgespannte<br />

Geflechte oder dreidimensionale Wandteppiche,<br />

modernste Kunst, kunstvoll von der Natur<br />

geschöpft. Himmelsleitern, Schildkröten- oder<br />

Affentreppen genannt, führen hoch in die Wipfel,<br />

in die Himmel oder gar ins Nichts? Alles strebt<br />

hier zum lebensbringenden Licht, <strong>ein</strong> rauer,<br />

brutaler Kampf ums Überleben. Eine der vielen<br />

Lianen, die „Apuí“, macht aus dem Umschlingen<br />

gar <strong>ein</strong>e tödliche Umarmung. Windet sich derart<br />

an ihrer Wirtspflanze hoch <strong>und</strong> höher, wird dabei<br />

dick <strong>und</strong> dicker, dass sie ihrem Gastgeber den<br />

Schnauf abschneidet, ihn, längst braucht sie in<br />

nicht mehr zum Hochsteigen, <strong>ein</strong>fach absterben<br />

lässt.<br />

Viele Cipós, Lianen sind, wie viele andere<br />

Pflanzen hier, heilkräftig. Einige funktionieren<br />

wie Wasserspeicher. Die indigene Bevölkerung<br />

bedient sich dieser Naturapotheke nicht nur zur<br />

Heilung, sondern auch für rituelle Bäder,<br />

spirituelle Aufsude <strong>und</strong> wohlriechende<br />

Räucherungen. Puxadores, Curandeiros <strong>und</strong><br />

andere Heiler brauen aus den Pflanzen, Samen,<br />

Harzen, Ölen <strong>und</strong> Rinden magische „Garrafadas“.<br />

Wer wie ich, von den vielen Namen - wie wäre es<br />

mit „Aquariquara“, „Ucuhubarana“ oder<br />

Jacarerana, Tamaquaré <strong>und</strong> Pracaxizeiros -<br />

würde mich wohl Wochen kosten, nur diese paar<br />

Namen auswendig zu lernen – schon erschöpft<br />

ist, kann ja mal versuchen, sie wie<br />

Zungenbrecher immer schneller herzusagen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 65


Ob es an den ungewohnten Buchstabenkombinationen<br />

der verschiedenen indigenen Sprachen<br />

liegt, dass mich diese Namen bis heute verwirren?<br />

Da lasse ich mich lieber von der stupenden<br />

Schönheit <strong>und</strong> Vielfalt der satinen Rinden,<br />

samtenen Moosen, seidigen Flechten, Schwielen,<br />

Rissen <strong>und</strong> dekorativen Luftwurzeln der<br />

absurdesten, dekorativsten Kletterpflanzen<br />

betören, in deren Vielfalt <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zigartig<br />

monochrom grüner Reiz verborgen liegt, auch<br />

wenn sie namenlos bleiben.<br />

Interessant sind auch die vielfältigen<br />

Philodendren, die so manches europäische<br />

Wohnzimmer schmücken. Hier wuchern sie<br />

sozusagen außer Kontrolle. Ihre fingerartig<br />

ausgeschnittenen Blätter erreichen gigantische<br />

Proportionen. Ranken sich, in Spiralen immer<br />

r<strong>und</strong> um den Stamm herum bis ans Licht oder<br />

klettern pfeilgerade hoch, die dekorativen Blätter<br />

mit den verschiedensten weißen Zeichnungen<br />

wechselseitig geometrisch angeordnet. Ein Kapitel<br />

für sich sind die Dornen, Hörner, Höcker <strong>und</strong><br />

gefährlichen fingerlangen Stacheln. Gut<br />

verborgen, sch<strong>ein</strong>bar harmlos legen sie sich in<br />

regelmäßigen Abständen ringförmig um Stämme<br />

<strong>und</strong> Äste. Seien Sie auf der Hut, manche haben<br />

Widerhaken! Sollen sie doch kostbare Blätter <strong>und</strong><br />

Samen vor den allgegenwärtigen Fressf<strong>ein</strong>den<br />

bewahren.<br />

K<strong>ein</strong> Zweifel, es gibt immer noch unendlich viel<br />

Unbekanntes, Unerforschtes, Mysteriöses hier im<br />

Regenwald. Deshalb schaut auch die Wissenschaft<br />

mit glänzenden Augen auf den Amazonas, auf den<br />

intakten Tropenwald. Wer weiß, ob <strong>ein</strong>e s<strong>ein</strong>er<br />

Pflanzen, Moose, Schimmelpilze oder Tiere uns<br />

gar von Menschheitsgeiseln wie Krebs oder<br />

anderen Krankheiten befreien kann?<br />

Blumenverkäufer –<br />

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Ökosystem Festes Land/<br />

Terra Firme<br />

Es gibt unzählige verschiedene Tropenwaldböden.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich ist die Humusschicht im Tropenwald<br />

sehr dünn, die Erde wenig fruchtbar, weil<br />

arm an Nährstoffen <strong>und</strong> sandig. Der nötige Humus<br />

Dieselben<br />

wird dem Boden ständig von außen zugeführt.<br />

Flecken schwarzer, das heißt humusreicher Erde<br />

sind im ganzen Amazonas zu finden <strong>und</strong> werden<br />

heute als Überreste unbekannter Zivilisationen<br />

<strong>ein</strong>gestuft. Sie gelten als Schlüssel zu <strong>ein</strong>er<br />

Neubewertung der ganzen amazonischen<br />

Geschichte vor der Eroberung durch die<br />

Portugiesen. Andere Waldflächen werden in<br />

jährlichen Zyklen halbjährlich unter Wasser<br />

gesetzt. Ziehen sich die Wasser dann zurück,<br />

hinterlassen sie fruchtbare Erde. Da, wo der<br />

Urwaldboden aber nicht überschwemmt wird,<br />

„Terra firme“, Festes Land genannt, muss er all<br />

s<strong>ein</strong>e Nährstoffe aus den ständig<br />

herunterfallenden Blättern, Ästen, Rinden <strong>und</strong><br />

vielem anderen gewinnen. Ein Kinderspiel für das<br />

hiesige tropisch-feuchte Klima. Zusammen mit<br />

unzähligen, unsichtbaren Lebewesen, Pilzen <strong>und</strong><br />

Bakterien garantieren es jenen Brutkasten, der<br />

hier alles so effizient wie intelligent in <strong>ein</strong>em<br />

ewigen Kreislauf verrotten, vermodern <strong>und</strong><br />

verschimmeln lässt. Und damit immer wieder für<br />

immer neues Leben sorgt.<br />

Der ewige Kampf ums Überleben, um Sonne <strong>und</strong><br />

Licht ist brutal. Nur die stärksten gewinnen. Fällt<br />

<strong>ein</strong> Baumriese, warten unzählige mager<br />

hochgeschossene, schäbige Bäumchen genau auf<br />

diese, ihre Chance, um den ewigen Kreislauf<br />

weiter zu setzen. Sie schießen hoch <strong>und</strong> höher,<br />

ihre Wurzeln wuchern aus <strong>und</strong> breiten sich noch<br />

weiter aus <strong>und</strong> schon ist die Lücke geschlossen.<br />

Effizient, ewiglich <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ersam.<br />

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Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün<br />

Wenn die Nebelschwaden nach den Regen<br />

dampfend aufziehen, sich das Ganze wieder<br />

ver<strong>ein</strong>zelt, bekommt man <strong>ein</strong>e Idee, wie<br />

unendlich vielfältig die Natur hier im Tropenwald<br />

zu Werke gegangen ist. Ein <strong>ein</strong>ziger Hektar<br />

beherbergt so viele Arten Bäume wie alle Wälder<br />

Europas zusammen. Schwer fassbar, vorstellbar,<br />

zu riesig, endlos <strong>und</strong> monoton. Ständig ziehen die<br />

Ufer vorbei, flach, <strong>ein</strong>e Art aufgeschnittener,<br />

unregelmäßiger Brokkoli. Wilde, fremde<br />

Ursprünglichkeit. Sie heischt Respekt.<br />

Immerwährendes Grün <strong>und</strong> Braun überzeugen<br />

nur langsam <strong>und</strong> zögerlich. Sie sind eher<br />

<strong>ein</strong>schüchternd, imponierend, denn schön. Der<br />

Urwald beginnt sich über die Details zu<br />

erschließen, unendlich langsam, ganz verstehen<br />

kann man ihn wohl nie in s<strong>ein</strong>er ganzen<br />

unendlichen Wildnis.<br />

Genau hinsehen lohnt sich. Nicht nur nach unten,<br />

sondern auch immer hoch, gar himmelwärts. In<br />

manchen Dschungelhotels kann man auf endlosen<br />

Holzstegen hoch durch die Wildnis wandern, um<br />

mitzukriegen, wie viel <strong>und</strong> wie aktives Leben hoch<br />

in den Kronen <strong>und</strong> Wipfeln, nah beim Licht<br />

herrscht. Von solch privilegierter Warte aus kann<br />

man auch feststellen, dass das Blätterdach des<br />

Regenwaldes alles andere als homogen ist. Es<br />

erinnert wohl eher an <strong>ein</strong>en grünen, warzigen<br />

Blumenkohl. Einzelne Baumriesen wie zum<br />

Beispiel der Paranussbaum, durchstoßen das<br />

mehr oder weniger geschlossene Baumkronendach,<br />

erheben sich hoch über die anderen hinweg.<br />

Bleibt man aber unten, zwischen den mächtigen<br />

Bretterwurzeln, auf der Suche nach dem nächsten<br />

Baumriesen, versteht man, worin der Unterschied<br />

vom Sek<strong>und</strong>är- zum Primärwald liegt. Im Primärwald<br />

stehen sie noch, atemberaubend, gigantische<br />

Riesen, ver<strong>ein</strong>zelt, uralt. In den küsten- näheren<br />

Waldgebieten wurden alle diese Giganten schon<br />

lange herausgeschlagen. Vielleicht noch<br />

mühevoller als heute. Auf unserem Weg treffen<br />

wir auf <strong>ein</strong>en schon in handlichen Brettern<br />

zurechtgeschnittenen Baum. Er wird gerade von<br />

<strong>ein</strong>em Einheimischen, sie dürfen das Holz hier im<br />

Naturpark FLONA nützen, Bretterbündel für<br />

Bretterbündel per Fahrrad aus dem Wald<br />

geschafft.<br />

Dem Giganten Amazonas werden wohl nur<br />

Superlative gerecht. Der Amazonas ist <strong>ein</strong>es der<br />

größten zusammenhängenden<br />

Feuchtwaldgebiete, welcher etwa fünf Prozent der<br />

gesamten Landfläche der Erde <strong>und</strong> über 40<br />

Prozent des brasilianischen Territoriums bedeckt.<br />

(Der Name „Regenwald“, <strong>ein</strong> etwas schwammiger<br />

Begriff, wird heute durch die wohl korrektere<br />

Terminologie „Tropischer Feuchtwald“ ersetzt.)<br />

Ein Feuchtwald, durchflossen von <strong>ein</strong>em sich<br />

fächerförmig ausbreitendes Flusssystem, das 1/5<br />

des Süßwassers der ganzen Erde enthält. Ein<br />

überaus komplexes tropisches Ökosystem, um<br />

das man Brasilien schon früher <strong>und</strong> besonders<br />

heute weltweit beneidet. Immer noch, auch<br />

wenn neueste Forschungen ergeben, dass zum<br />

Beispiel der Mythos von der grünen Lunge der<br />

Erde nicht mehr haltbar ist. Zwischen 2003 <strong>und</strong><br />

2014 haben die Tropenwälder mehr<br />

Kohlendioxid abgegeben als sie absorbiert<br />

haben. Das alles, weil wir Menschen darauf<br />

bestehen, den Wald zu roden <strong>und</strong> zu<br />

verbrennen.<br />

Aber nicht nur diese Superlative lenken die<br />

Aufmerksamkeit der halben Welt auf den<br />

Amazonas. Auch s<strong>ein</strong> materieller Wert ist nicht<br />

zu unterschätzen. Unter den Wurzeln der<br />

Tropenbäume warten viele Bodenschätze auf ihr<br />

Schicksal. Kaum <strong>ein</strong> Mineral, das hier im<br />

Amazonas nicht geschürft werden kann. Ganz zu<br />

schweigen vom Wert, den der Wald <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />

Flora <strong>und</strong> Fauna für die Wissenschaft hat.<br />

Um die Liste wenigstens vorläufig komplett zu<br />

machen, ständig werfen neue Forschungen neue<br />

Superlative auf, gibt es das „Aquífero Alter do<br />

Chão“. Es ist <strong>ein</strong> riesiges, unterirdisches<br />

Wasserreservoire, das das größte der Welt zu<br />

s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t <strong>und</strong> dessen Süßwasserreserven<br />

unter den Staaten Amazonas, Pará <strong>und</strong> Amapá<br />

liegen. Es wird geschätzt, dass sie ausreichen<br />

würden, um den Tagesbedarf an Wasser der<br />

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Weltbevölkerung während unvorstellbaren 250<br />

Jahren abdecken zu können.<br />

Leider ist die amazonische Realität etwas realer.<br />

Der Fluss Amazonas ist <strong>ein</strong>e pulsierende<br />

Hauptverkehrsader. Er badet <strong>und</strong> verbindet die<br />

wichtigsten Städte der Region. Alle Flüsse<br />

ergießen sich irgendwann in den Amazonas <strong>und</strong><br />

auf ihm wird seit Urzeiten all der aus dem<br />

Regenwald gewonnene Reichtum weg geschifft,<br />

auch wenn er heute von den Schneisen im<br />

Tropenwald Konkurrenz bekommen hat. Der<br />

Dschungel s<strong>ein</strong>erseits ist Heim, Auskommen <strong>und</strong><br />

Heimat für viele, oft sehr arme Menschen. Wer es<br />

sich aussuchen kann, zieht, <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>facheren<br />

Leben nach, in <strong>ein</strong>e der Molochstädte. Der<br />

Urwald, der feuchte Tropenwald ist was für<br />

Forscher, Gringos oder Touristen. Nur sehr<br />

langsam verschiebt sich das Interesse vom<br />

Kahlschlag zum intakten Wald, dessen Image<br />

sowieso eher <strong>ein</strong> Fantasiegebilde ist, als der<br />

Realität entspricht. Wie auch immer, der<br />

tropische Feuchtwald will mit Respekt behandelt<br />

werden. Zu oft <strong>und</strong> oft zu Recht macht er Angst.<br />

Ist furch<strong>ein</strong>flößend, so be<strong>ein</strong>druckend <strong>und</strong><br />

gigantisch wie unberechenbar, unwirklich <strong>und</strong><br />

unpraktisch.<br />

Viele wollten <strong>und</strong> wollen ihn noch am liebsten<br />

weghaben. Er ist eklig, gilt vielen als Hindernis,<br />

sch<strong>ein</strong>t dem Fortschritt <strong>und</strong> dem<br />

Wirtschaftswachstum im Weg zu stehen. Zu viele<br />

Generationen haben mit dem Wald gerungen, ihr<br />

Leben im Wald verloren. Bis heute verdient in den<br />

Augen der Mehrheit <strong>ein</strong>e gerodete Kuhweide, <strong>ein</strong><br />

jedes gerodete, baumfreie Stück Land <strong>ein</strong>en viel<br />

besseren Preis als <strong>ein</strong> Quadratmeter intakter,<br />

unberührter Regenwald, für den oft auch die<br />

nötigen Papiere, Rechte <strong>und</strong> so weiter fehlen. Sehr<br />

leicht kann es passieren, wie sie hier ironisieren,<br />

dass man den zweiten, oder dritten Stock kauft.<br />

Oder auch, dass ganz <strong>ein</strong>fach schon jemand das<br />

Stück Wald besetzt hat <strong>und</strong> es nun mit<br />

Waffengewalt verteidigt, aber auch sonst fast<br />

nicht mehr wegzubringen ist.<br />

Traurige Tropen!<br />

Der<br />

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Natur pur – von wegen!<br />

Der Regenwald! Er gilt als <strong>ein</strong>es der letzten<br />

Reservate, als grüne Lunge <strong>und</strong> als <strong>ein</strong>es der<br />

letzten unberührten Paradiese. Je nach<br />

Perspektive kann es aber auch sehr schnell<br />

umkippen, wird zur grünen Hölle. Paradies wie<br />

Hölle, darin sind sich die Träumer aber <strong>ein</strong>ig,<br />

beide sind fast unbewohnt, es gibt fast gar k<strong>ein</strong>e<br />

menschlichen Wesen, die ihnen Stand halten. Er<br />

gilt als <strong>ein</strong>e letzte Reserve überwältigender Natur,<br />

voller wilder Tiere <strong>und</strong> Pflanzen, tief drin vielleicht<br />

von <strong>ein</strong> paar ungezähmten, aber romantisch<br />

idealisierten Indiovölkern, pardon Indigenen<br />

Völkern bewohnt. Wir alle beanspruchen diesen<br />

Traumtropenwald in irgend<strong>ein</strong>er Weise. Nur,<br />

leider, leider muss diese Fantasie <strong>ein</strong>e IIlusion, <strong>ein</strong><br />

Traum bleiben. Denn er deckt sich in k<strong>ein</strong>er Art<br />

<strong>und</strong> Weise mit der realen Realität. Den Amazonas<br />

gibt es gar nicht. Es gibt unendlich viele sehr<br />

verschiedene Amazonasse. So vielfältig <strong>und</strong><br />

grandios, dass es kaum jemandem gelingt, die<br />

riesige, kontinentale Dimension des enormen<br />

Gebietes ganz zu erfassen.<br />

Dass die Natur im Amazonas überwältigt, steht<br />

außer Frage. Besonders überwältigend sind die<br />

Wassermassen, Ströme, Meere, alle gigantisch.<br />

Der Regenwald, den man sich als Tourist zu<br />

Gemüte führen kann, gibt sich allerdings eher<br />

spröde, muss zuerst erschlossen werden. Da, wo<br />

er wirklich unberührt ist, lassen <strong>ein</strong>em s<strong>ein</strong>e<br />

Baumgiganten den Atem stocken. Wer aber Tiere<br />

sehen will, muss schon sehr früh aufstehen, sehr<br />

leise s<strong>ein</strong> oder ganz <strong>ein</strong>fach in <strong>ein</strong>en der spärlichen<br />

Zoos gehen, um die Panther, Delphine <strong>und</strong> „Peixe<br />

Bois“, Seekühe aus der Nähe sehen zu können.<br />

Ansonsten beschränken sich die tierischen<br />

Begegnungen auf <strong>ein</strong> paar w<strong>und</strong>erschöne Vögel,<br />

mit viel Glück <strong>ein</strong> Äffchen, <strong>ein</strong> paar Alligatorenaugen,<br />

hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>e Kröte <strong>und</strong> unendlich viele,<br />

oft eher lästige oder gar gefährliche, Fieber<br />

bringende Moskitos <strong>und</strong> die unterschiedlichsten<br />

Ameisen, auf ihre Art auch sehr faszinierend.<br />

Zudem verbirgt sich hinter den Schlagzeilen <strong>und</strong><br />

Mythen vom grünen Dschungel <strong>ein</strong>e ganz andere,<br />

realere Realität. Komischerweise sch<strong>ein</strong>t es da<br />

draußen k<strong>ein</strong>em auszufallen, wie Widersprüchlich<br />

es ist, was man so alles über den Amazonas <strong>und</strong><br />

s<strong>ein</strong>e Zerstörung liest. Denn wir waren uns doch<br />

gerade <strong>ein</strong>ig, dass der Amazonas unbewohnt ist.<br />

Der Amazonas zerstört sich nicht selbst. Wer dem<br />

Amazonas auf die Pelle rückt, sind wir alle. Es sind<br />

Menschen, reale Menschen, Menschen aus<br />

Fleisch, Blut <strong>und</strong> Knochen, viele mit indigenen<br />

Zügen, andere zugewandert, Menschen wie wir.<br />

Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

wurde der Tropenwald als <strong>ein</strong>e Art Hindernis<br />

angesehen, das es zu eliminieren galt. Ein<br />

Hindernis auf dem Weg zur ökonomischen<br />

Entwicklung zum von allen ersehnten Fortschritt.<br />

In den 1970er Jahren warf die brasilianische<br />

Militärregierung <strong>ein</strong>en begehrlichen Blick auf den<br />

Amazonas <strong>und</strong> baute die Transamazônica.<br />

Versprach damit die Region nun endgültig zu<br />

bevölkern. „Integrar para não entregar“ –<br />

integrieren, sich <strong>ein</strong>verleiben, um nicht hergeben<br />

zu müssen. (Bis heute geistern die Lenden<br />

herum, dass die Amerikaner den Amazonas<br />

schon annektiert hätten oder schlimmeres.)<br />

Schuf <strong>ein</strong> gigantisches innerbrasilianisches<br />

Migrationsprojekt, das im Amazonas vielen<br />

Hungernden <strong>und</strong> den Ärmsten der Armen<br />

„Terras sem homens para homens sem terra “<br />

Land ohne Menschen (Amazonas) für Menschen<br />

ohne Land (Nordosten) versprach. Das Resultat?<br />

Viehzucht, Soja <strong>und</strong> Ackerbau bedrohen bis<br />

heute den wertvollen Regenwald, denn der wirft<br />

unangetastet eigentlich fast gar nichts ab.<br />

Zudem ist das vom oder gar im Regenwald leben,<br />

alles andere als romantisch. Neben den vielen<br />

Risiken, die man <strong>ein</strong>geht, kommt das Fehlen<br />

jeglicher Perspektiven, nicht nur von<br />

Schulbildung dazu was auch die neueren<br />

Regierungsprogramme nicht lösen, die die<br />

Tendenz zum Assistentialismus fördern. Zudem<br />

ist es wirklich nicht jedermanns Sache, drei, vier,<br />

zehn Tagreisen mit dem Schiff von der nächsten<br />

Zivilisation weg zu leben. Zivilisation bedeutet so<br />

Banales wie Elektrizität, Shoppingcenter,<br />

ärztliche Versorgung, <strong>ein</strong>e Apotheke, Handy,<br />

Internet <strong>und</strong> die neuesten Filme aus Amerika.<br />

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Eine gute Schule oder gar <strong>ein</strong>e Universität<br />

tauchen auch irgendwo auf der Liste auf.<br />

Schlimmer wohl nur, wenn der hiesige bissige<br />

Humor im „Das gab´s-schon-mal-hier-Syndrom“<br />

schwelgt. Besonders im Landesinnern erinnern<br />

sich viele Einwohner sehnsüchtig daran. Es<br />

handelt sich um <strong>ein</strong>e treffende Umschreibung<br />

jener sich immer wieder erschöpfenden<br />

Wirtschaftszyklen, so typisch für Brasilien <strong>und</strong><br />

noch typischer für den Amazonas sind. Es gab hier<br />

den blühenden Handel mit Paranüssen, Jutte oder<br />

dem schwarzen Pfeffer, alles kaum mehr als <strong>ein</strong>e<br />

oder zwei Generationen her. Dann, in den 80er<br />

Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, gab‘s gar<br />

Goldgräber <strong>und</strong> jetzt sind gerade neue<br />

Edelst<strong>ein</strong>vorkommen im Gespräch. Bis deren<br />

Ausbeutung freigegeben wird, gammeln die<br />

Städte im Hinterland unter schlimmster<br />

politischer Misswirtschaft in der tropischen Hitze<br />

vor sich hin, die <strong>ein</strong>zige, die alle „Gabs-hier-schonmal“<br />

überlebt <strong>und</strong> wohl noch <strong>ein</strong>e Weile<br />

überleben wird.<br />

Mit Recht sagen manche hier: - „Ihr Europäer, was<br />

habt ihr mit eurem Wald gemacht? Abgeholzt.<br />

Verfeuert, verbaut, verbrannt. Warum dürfen wir<br />

nicht dasselbe machen? –“ Nicht nur die<br />

Menschen, die in jahrh<strong>und</strong>ertealten oder ganz<br />

neuen Städten leben, sagen es, sondern auch die,<br />

die Seite an Seite, nur durch <strong>ein</strong>e haarf<strong>ein</strong>e Linie<br />

von <strong>ein</strong>em archaischen Brasilien getrennt, leben. In<br />

jenem Amazonas, der weder dem Indigenen<br />

gehört, nackt, den Körper w<strong>und</strong>erschön bemalt,<br />

sondern den vielen anderen, die zwar auch s<strong>ein</strong>e<br />

Züge tragen, längst aber zu <strong>ein</strong>er schwer zu<br />

definierbaren Mischrasse, zu Caboclos oder<br />

Ribeirinhos geworden sind, wie überall in Brasilien.<br />

Amazonas heißt auch riesige, globalisierte Städte.<br />

An allen strategisch wichtigen Punkten gegründet,<br />

haben sich manche, wie Belém <strong>und</strong> Manaus, zu<br />

Megametropolen gewandelt, die die selben<br />

Probleme wie die des restlichen Brasiliens haben.<br />

Hier dominiert bis heute <strong>ein</strong>e mehrheitlich weiße<br />

Oberschicht, Nachfahren der Kolonisatoren,<br />

Immigranten aus allen Herren Ländern, wild<br />

gemischt, hergelockt vom Latex <strong>und</strong> anderen,<br />

selten erfüllten Versprechen. Ein anderer Teil<br />

kommt aus arabischen Ländern <strong>und</strong> aus Asien. Der<br />

Staat Pará hat die drittgrößte japanische Kolonie<br />

Brasiliens.<br />

Viele Zuwanderer mussten erleben, dass der<br />

Amazonas alles andere ist, als das fruchtbare Land,<br />

als das er ihnen angepriesen wurde. Historisch<br />

gesehen gelten der Amazonas, Brasilien <strong>und</strong> die<br />

anderen Lat<strong>ein</strong>amerikanischen Länder als die<br />

ältesten Peripherien der kapitalistischen Welt. Sie<br />

wurden nach der Maxime in ebendiese Welt<br />

integriert, dass ihre natürlichen Ressourcen <strong>und</strong><br />

die damit verb<strong>und</strong>enen ökonomischen Gewinne<br />

unendlich seien, nie versiegen würden. Dieses<br />

Weltbild wird gerade korrigiert. Ein überaus<br />

schwerfälliger, schmerzhafter Prozess.<br />

Der Amazonas ist längst nicht mehr <strong>ein</strong>e der<br />

letzten Grenzen, die es urbar zu machen gilt. Die<br />

Menschen, die hier wohnen, wollen ihren Anteil<br />

am Kuchen. Auch sie wollen als vollwertige<br />

Staatsbürger angesehen werden. Bestehen auf<br />

ihren staatsbürgerlichen Rechten. Sind sich<br />

bewusst, dass sie für <strong>ein</strong> besseres Leben<br />

kämpfen müssen. Mit oder gegen den<br />

Amazonas.<br />

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Amazonische Savannen<br />

Karg, aber faszinierend ist <strong>ein</strong> eher unbekannterer<br />

Teil des Amazonas. Eine Art „Catinga“, Halbwüste,<br />

mit <strong>ein</strong>er lockeren, komplett an die sandigen<br />

Böden angepassten Fauna, mit <strong>ein</strong>er eher<br />

buschigen, stachligen Vegetation, die <strong>ein</strong>e eigene,<br />

karge Schönheit offenbart. Nicht nur, dass es<br />

monatelang nicht regnet, auch der sandige Boden<br />

verlangt, dass sich die ganze tropische Natur<br />

s<strong>ein</strong>en Bedingungen unterwirft. So entsteht <strong>ein</strong>e<br />

offene Bewaldung, je nach Geografie <strong>und</strong> lokalen<br />

Verhältnissen gibt es mittleren oder nur niedrigen<br />

Baumbestand <strong>und</strong> auch niedriges Buschwerk.<br />

Dieser Amazonas wird technisch als „Cerrado“<br />

oder Savanne bezeichnet. Hier werden viele<br />

Bäume nicht mehr als 30 Meter hoch. Die<br />

Baumkuppen bilden, ganz anders als im dichten<br />

Regenwald, k<strong>ein</strong> geschlossen verflochtenes Dach.<br />

So gelingt es den Sonnenstrahlen mühelos bis<br />

zum Boden vorzudringen. Wo der nährstoffarme<br />

Boden es zulässt, wuchern niedere Kriechpflanzen,<br />

f<strong>ein</strong> ziselierte Farne <strong>und</strong> die<br />

unterschiedlichsten, genügsamen Moose. Hie <strong>und</strong><br />

da tut sich gar <strong>ein</strong>e sandige Lichtung auf. Da<br />

wächst die “Maria fecha a porta” Maria-schließtdie-Tür.<br />

Legt man <strong>ein</strong>en Finger in die offenen<br />

Blätter der kriechenden Mimose, falten sie sich<br />

bei der geringsten Berührung hoch. Kleben die<br />

filigranen Blättchen ganz dicht zusammen, <strong>ein</strong>s<br />

aufs andere. Hier fühlt sich der Cashewbaum<br />

genauso zu Hause wie der Murici, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />

gelbe Frucht, die eigenartig fettig ist <strong>und</strong> leicht<br />

nach Käse schmeckt. Es gibt wilde Maracujás,<br />

deren rote Blüten von weitem grüßen <strong>und</strong> die<br />

unterschiedlichsten Bromelien, die sich nicht an<br />

Bäume klammern, sondern im sandigen Boden<br />

wurzeln. Faszinierend sind die verschiedenen<br />

parasitären Aufsitzerpflanzen, unter dem<br />

Sammelnamen “Ervas de Passarinho”, sowas wie<br />

Vogelkräuter bedeutet, zusammengefasst. Sie<br />

suchen sich wie die Mistel andere Pflanzen als<br />

Gastwirte, die sie dann anzapfen. Sie produzieren<br />

leckere Früchte, die gerne von den Vögeln<br />

verspeist <strong>und</strong> damit verbreitet werden. Da wo <strong>ein</strong><br />

Klecks Kot hinfällt, sprießt <strong>ein</strong>e neue Pflanze. Sie<br />

besetzen jede nur mögliche Stelle, klammern oder<br />

hängen sich waghalsig an Äste <strong>und</strong> Wurzeln.<br />

Beginnen unsch<strong>ein</strong>bar als kl<strong>ein</strong>e Abszesse, aus<br />

denen sich bald würgende, umschlingende<br />

Sträucher bilden.<br />

Hoch in den Ästen kann man auch die<br />

unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten Nester <strong>und</strong> Bauten finden.<br />

Der „Japim“, <strong>ein</strong> schwarzer Vogel mit<br />

eidottergelben Streifen hängt s<strong>ein</strong>e Säcke, in<br />

mühsamer Flechtarbeit zusammengebaut, kl<strong>ein</strong>e<br />

Kunstwerke, die oft sie ganze Kolonien bilden, in<br />

die schaukelnden Äste. Termiten, Wespen <strong>und</strong><br />

Ameisen kleben ihre Bauten, ausgefallene Gebilde,<br />

gut getarnte, blasenartige Hügel oder Gebilde die<br />

an Stalaktiten erinnern <strong>und</strong> mit unzähligen<br />

gedeckten Straßen verb<strong>und</strong>en sind, in die Bäume.<br />

Mit viel Glück <strong>und</strong> Geduld kann man gar auch hoch<br />

oben <strong>ein</strong>e der riesigen Echse entdecken, oder im<br />

Unterholz kl<strong>ein</strong>e Eidechsen beobachten.<br />

Blattschneiderameisens<br />

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Tropennutzwald<br />

Längst hat sie die Moderne, das Abwaschbar-s<strong>ein</strong>,<br />

der erschwingliche Preis oder <strong>ein</strong>fach das<br />

Praktisch-s<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>- <strong>und</strong> überholt. Palmstrohdächer???<br />

K<strong>ein</strong>er will mehr <strong>ein</strong> mit Palmstroh<br />

gedecktes Dach, das alle 2-3 Jahre erneuert<br />

werden muss, auch wenn sie jenen Dächern aus<br />

Wellblech oder recycelten Reifen um viele<br />

Thermograde überlegen sind. Schauerlich,<br />

Strohdächer sind Wohnort für zu viele Insekten,<br />

nicht alle geeignet für <strong>ein</strong> friedliches<br />

Zusammenleben, <strong>und</strong> können in der Regenzeit<br />

ganz schön lecken.<br />

Auch die Tage der traditionellen Häuser aus Holz<br />

sind gezählt. Die letzten Exemplare modern vor<br />

sich hin. All das kunstvolle Handwerk, das<br />

Handwerk <strong>und</strong> das Wissen, das dahinter steckt,<br />

verlieren sich. Nur <strong>ein</strong> paar verrückte Althippies<br />

oder Intellektuelle bauen sich <strong>ein</strong>e an den<br />

Malocas inspirierte Behausung, lassen sich gar<br />

von den <strong>ein</strong>heimischen Materialien <strong>und</strong><br />

Strukturen zu modernen, klimagerechten<br />

Neukonstruktionen inspirieren, die nicht nur<br />

Komfort bringen <strong>und</strong> klimaangespasst sind,<br />

sondern auch die Traditionen respektieren.<br />

Auch hier ist die Architektur globalisiert. Man<br />

nimmt sich lieber den Süden Brasiliens oder<br />

Miami als Vorbild. Die modernen Baumaterialien<br />

aus dem Baumarkt sind <strong>ein</strong>fach zu billig, der<br />

Plastik zu verlockend. Nun also Glasscheiben in<br />

Metallrahmen statt Holzfenster, die sind so schön<br />

dicht <strong>und</strong> können nur schlecht aufgemacht<br />

werden. Wozu auch, drinnen sorgt die<br />

Klimaanlage, lustigerweise als „Central de ar“,<br />

Luftzentrale bekannt, für arktische Temperaturen.<br />

Der Tropenwald war <strong>und</strong> ist noch <strong>ein</strong> Nutzwald.<br />

Traditionellerweise bezog die lokale Bevölkerung<br />

alles Baumaterial aus dem Tropenwald. Die<br />

unterschiedlichsten Palmen lieferten das<br />

Ausgangsprodukt für fast alle ihre Gebrauchsgegenstände,<br />

vom Tragegestell bis zum Hausdach,<br />

von der Kalebasse <strong>und</strong> dem Kanu bis zu den<br />

Spielzeugen der Kinder. Viele dieser Gegenstände<br />

findet man heute nur noch als Kunsthandwerk für<br />

Touristen.<br />

Aber nicht nur für das leicht zu flechtende<br />

Palmstroh wird der Regenwald genutzt. Manche<br />

tun es als Nostalgie ab, oder als Folklore, für die<br />

meisten sind diese altmodischen Dinge ganz<br />

<strong>ein</strong>fach unpraktisch, außer Mode. Bald werden nur<br />

noch die Fremdenführer von der „Sapopema“,<br />

erzählen, dem Baum, dessen Stamm hohl ist, <strong>und</strong><br />

der von den Indigenen als <strong>ein</strong>e Art Radio, als<br />

Kommunikation auf Distanz benutzt wird. Das Holz<br />

<strong>ein</strong>es anderen Baumes riecht unverkennbar nach<br />

Vicks <strong>und</strong> wird mit denselben medizinischen<br />

Indikationen angewendet. S<strong>ein</strong> Name? „Viqueiro“!<br />

Mit „Breu“, <strong>ein</strong> helles, duftendes Harz, werden<br />

Spalten in Kanus abgedichtet. Die „Ayuasca“ ist <strong>ein</strong><br />

kraftvolles Abführmittel, soll auch für tolle<br />

Halluzinationen sorgen, die so den Körper von<br />

allem Bösen r<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> heute in verschiedenen<br />

Ritualen, von sektenartigen Gruppen in ganz<br />

Brasilien angewendet wird, um zu s<strong>ein</strong>em<br />

wirklichen Ich zu finden. „Marapuama“ ist <strong>ein</strong><br />

kraftvolles Holz, denn die Rinde <strong>und</strong> Wurzeln des<br />

Baumes sollen der männlichen Potenz auf die<br />

Sprünge helfen, aber auch Rheuma kurieren.<br />

Die Moderne wird auch sie in die Erinnerung<br />

verbannen, der Fortschritt ist unaufhaltsam. Nur<br />

ewig Nostalgische w<strong>ein</strong>en ihnen Tränen nach.<br />

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Pupunha, <strong>ein</strong>e leckere Palmfrucht<br />

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Alles Buriti<br />

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S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro<br />

Jede Frucht <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Kunstwerk, Frucht für<br />

Frucht <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er, kostbar lackierter, chinesischer<br />

Handschmeichler. Oval, von der Größe <strong>ein</strong>er<br />

Tomate, erinnern die Früchte des Buritizeiros mit<br />

ihren eng stehenden, glänzenden Schuppen, <strong>ein</strong>e<br />

w<strong>und</strong>ersam über die andere gelegt, an den<br />

Panzer <strong>ein</strong>es vorsintflutlichen Fisches oder <strong>ein</strong>er<br />

trocken glänzenden Echse. Darunter verbirgt sich<br />

das tieforange, ölige Fruchtfleisch, das essbar ist.<br />

Daraus wird nicht nur Brei gekocht, sondern es<br />

wird auch zu <strong>ein</strong>er süßen, köstlich säuerlichen<br />

schnittfesten Paste <strong>ein</strong>gekocht. Die Paste wird in<br />

Holzkästchen verkauft, die aus den sehr leichten,<br />

gut formbaren Mittelrippen der Buritiwedel<br />

geschnitzt sind. Aus dem selben Material ensteht<br />

auch das bunte Spielzeug, das traditionellerweise<br />

zum Cirio in Belém angeboten wird. Die Kinder<br />

lieben vor allem die kl<strong>ein</strong>en, naturgetreu<br />

nachgeschnitzten Schiffchen, die wirklich lustig<br />

davon schwimmen.<br />

Es gibt ungezählte Palmenarten in Brasilien, <strong>ein</strong>e<br />

majestätischer als die andere. Ihre silbergrauen<br />

Stämme sind hoch aufgeschossenen, Ring hinter<br />

f<strong>ein</strong> gezeichnetem oder wulstigem Ring<br />

hochgezogen. Ganz oben die Fächerblätter,<br />

Blattkronen, deren Wedel sich langsam, sehr<br />

langsam nach unten senken, welken, irgendwann<br />

<strong>ein</strong>en neuen Ring freilegen. Je majestätischer die<br />

Palme, desto riesiger die Blätter. Jede Palme hat<br />

<strong>ein</strong> anderes Format, <strong>ein</strong> anders geformtes Blatt.<br />

Manche fransen sich von der starken Mittelrippe<br />

aus auf, andere wie der Buriti haben vollr<strong>und</strong>e<br />

Wedel auf langstielig federnde Rispen gesteckt, die<br />

sich aus dem Stamm erheben. Sie fächern sich<br />

elegant <strong>und</strong> immerzu in Bewegung von <strong>ein</strong>em<br />

zentralen Punkt aus auf, drei Dutzend nervös r<strong>und</strong>e<br />

Tuffs, wie die von amerikanischen Cheerleaders,<br />

beim leisesten Luftzug von unzähligen Armen<br />

geschüttelt. Im Gegenlicht der fallenden Sonne<br />

erinnern sie an sorgfältig aufgetürmte Locken, Tuff<br />

hinter Tuff sorgsam hingepüschelt. Da, wo die<br />

Wedel sich zum Stamm verbinden, sprießen an lang<br />

gezogenen Trauben die kastanienbrauen Früchte.<br />

Viele Palmen mögen den Strand, das Wasser. Der<br />

Buritizeiro mag es, s<strong>ein</strong>e Füße, Pardon Wurzeln, zu<br />

baden. Er gedeiht am besten an den Ufern von<br />

Igarapés, kl<strong>ein</strong>en Flüssen <strong>und</strong> Sümpfen, wo er<br />

kl<strong>ein</strong>e, lockere Wäldchen bildet. S<strong>ein</strong>e malerischen<br />

Fächer in fast schwarzem Grün spiegeln sich<br />

zusammen mit den stahlblauen Himmeln <strong>und</strong> den<br />

Watteschönwetterwolken in den stillen<br />

amazonischen Waldseen.<br />

Ein Bild, das ich mir mitnehme. In der Erinnerung<br />

winken mir die Tuffs, im Gegenlicht schwarz wie<br />

dramatische Scherenschnitte, vom heißen Hauch<br />

<strong>ein</strong>er Brise geschüttelt, <strong>ein</strong> letztes Adeus zu.<br />

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Von der Paranuss bis zum Kumarin - die «Drogas do Sertão»<br />

Wenn Sie sich gleich <strong>ein</strong>e Paranuss knacken,<br />

Kakao trinken oder ihr Parfüm nach Bittermandel<br />

<strong>und</strong> Vanille riecht, so konsumieren Sie, kaum<br />

<strong>ein</strong>er käme so ohne weiteres darauf, indirekt drei<br />

historische «Drogas do Sertão», drei bis heute<br />

populäre brasilianische Rohmaterialien <strong>und</strong><br />

Exportgüter aus dem Amazonas. Paranüsse<br />

werden, wie immer schon, bis heute im System<br />

des Extrativismus von Underdogs aus den<br />

amazonischen Tropenwäldern gebuckelt. Zwar<br />

hat Bolivien Brasilien längst puncto Produktivität<br />

überholt. Trotzdem hat die Paranuss ihren Platz in<br />

Brasiliens Exportstatistik, zählt zu jenen<br />

Nischenprodukten, die sich weder bei den<br />

Bodenschätzen noch bei der Holzproduktion<br />

<strong>ein</strong>ordnen lassen. Auch der Kakao stammt aus<br />

dem Amazonas, wo er heute wieder sehr<br />

erfolgreich <strong>und</strong> in ausgezeichneter Qualität<br />

angebaut wird. Hipe ist gerade wilder Kakao, der<br />

ganz neue, unerwartete Geschmacksnuancen<br />

bringt <strong>und</strong> nur in sehr kl<strong>ein</strong>en Mengen verkauft<br />

wird.<br />

Auch die Tonkabohne taucht in der selben<br />

Statistik auf. Die Produktion der Tonkabohnen,<br />

neuerdings wieder für Desserts <strong>und</strong> anderes<br />

wiederentdeckt, ist allerdings weniger archaisch.<br />

Tonkabaumholz ist <strong>ein</strong> sehr begehrtes Edelholz,<br />

extrem resistent <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> dunkler Braunton ist<br />

gerade in Mode. Tonkabäume werden deshalb<br />

auch schon in Plantagen angebaut. Und da<br />

werden auch die kl<strong>ein</strong>en schwarzen Bohnen mit<br />

dem betörenden Aroma geerntet. Ganz gewitzte<br />

Produzenten machen sich gar die Fledermäuse zu<br />

Komplizen. Die lieben die leicht süßliche Schale<br />

der Hülle, die die Tonkabohne umschließt. Dazu<br />

muss man nur <strong>ein</strong> paar Körbe kopfüber in die<br />

Bäume hängen. Dahin<strong>ein</strong> ziehen sich die<br />

Fledermäuse zum Schlafen zurück. Nehmen sich<br />

aber vorher als Leckerbissen <strong>ein</strong>e Tonkafrucht mit.<br />

Die nagen sie dann säuberlich ab, um sie dann<br />

<strong>ein</strong>fach, gleich da unter dem Korb, zu entsorgen.<br />

Da muss man die Früchte dann nur noch<br />

zusammen lesen.<br />

Der chemische Stoff, der für den Duft verantwortlich<br />

ist, heißt Cumarin. Cumarin <strong>und</strong> s<strong>ein</strong><br />

eigentümlicher, angenehm würziger Geruch gilt als<br />

wichtiger Duft- <strong>und</strong> Fixationsstoff in der Kosmetik<strong>und</strong><br />

Parfümindustrie. Allerdings wird es wird<br />

heutzutage mehrheitlich synthetisch hergestellt.<br />

Der Verdienst kommt dem <strong>ein</strong>em Münchner<br />

Chemiker, August Vogel zu, der den Wirkstoff<br />

erstmals 1813 isolierte. 1820 erkannte es der<br />

Franzose Jean-Baptiste-Gaston Guibourtc dann als<br />

eigene Substanz, was es möglich machte, es<br />

synthetisch nachzubauen.<br />

Noch <strong>ein</strong> anderes Beispiel ist Urucum. Auf jedem<br />

lokalen Markt ist das rote Pulver zu finden. Es wird<br />

aus den Samen des Urucuzeiros gewonnen, <strong>und</strong><br />

k<strong>ein</strong>e lokale Köchin verzichtet darauf. Erst<br />

«Urucum», als Pulver dann «Colorau» genannt,<br />

gibt dem ach so bleichen Hähnchen <strong>und</strong> dem<br />

schrecklich blassen Fisch die richtige appetitlich<br />

rötliche Farbe. Die indigene Bevölkerung mischt<br />

sich damit ihre Körperbemalung an. Im Rest der<br />

Welt ist «Urucum» <strong>ein</strong>er der zugelassenen<br />

Lebensmittelfarbstoffe, die Butter, Käse <strong>und</strong> was<br />

weiß ich noch appetitlich rot-orange färben.<br />

Das alles wirft <strong>ein</strong> neues Licht auf den Amazonas,<br />

der heute mehrheitlich als grüne Lunge, als<br />

wildes, intaktes, unberührtes Ökosystem<br />

dargestellt wird. Ein aus der Ferne romantisierter<br />

Sehnsuchtsort, dessen indigenen Bewohner ihre<br />

ganz eigene Weltsicht <strong>und</strong> so faszinierende<br />

Mythen haben. Dass er aber auch viele Produkte<br />

mit komplexer Geschichte, die meist bis zu den<br />

Anfängen der Kolonialzeit zurückreicht, aus dem<br />

Amazonas kommen, zeigt, wie verflochten,<br />

hochkomplex <strong>und</strong> globalisiert alles ist.<br />

Aber schauen wir zurück. Das heute fast<br />

ausgerottete Rotholz, das «Pau Brasil», zum<br />

Färben von Textilien begehrt, war nur der<br />

Anfang. Im Amazonas fanden die neuen Herren<br />

<strong>ein</strong>e schier unerschöpfliche Quelle an Hölzern,<br />

Früchten, Tieren, Pflanzen, die auszubeuten sich<br />

lohnte <strong>und</strong> noch heute lohnt. Wurde Brasilien<br />

nur entdeckt, weil die Portugiesen <strong>ein</strong>en neuen<br />

Weg zu den Indien suchten, um ihren Handel mit<br />

Gewürzen auszuweiten, fanden sie später im<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 109


Amazonas genau das, was sie gesucht hatten.<br />

Denn als Portugal s<strong>ein</strong> Monopol mit dem Handel<br />

der Gewürzen aus Indien an die zahlreiche<br />

Konkurrenz verlor, bot der Amazonas Ersatz.<br />

Lokale, aber auch akklimatisierte Spezereien, die<br />

würzten <strong>und</strong> konservierten oder in der Medizin<br />

<strong>und</strong> der Parfümindustrie <strong>ein</strong>gesetzt wurden,<br />

wurden zum Geschäft der St<strong>und</strong>e. Eine für beide<br />

Seiten äußerst vorteilhafte, fruchtbringende<br />

Kooperation mit den religiösen Orden, allen voran<br />

dem Orden der Jesuiten, machte den Anfang. Ein<br />

Geben <strong>und</strong> Nehmen. Die religiösen Orden<br />

bekehrten die Indigenen zum wahrhaften<br />

Glauben, bot ihnen auch teilweise Schutz vor<br />

Willkür <strong>und</strong> lehrte sie vieles. Als Dank dafür<br />

wurde ihnen der lukrative Handel anvertraut.<br />

Besonders die Jesuiten, schon damals <strong>ein</strong><br />

komplett globalisierter Orden mit strenger<br />

Hierarchie, die auf unbedingten Gehorsam<br />

pochte, baute <strong>ein</strong> überaus effizientes <strong>und</strong><br />

lukratives Tauschgeschäft mit der lokalen<br />

Bevölkerung auf. Der Sammelbegriff für all diese<br />

Produkte aus dem Tropenfeuchtwald war «Drogas<br />

do Sertão».<br />

Ein Teil der Urbanisierung <strong>Amazonien</strong>s ist direkt<br />

mit der Ausbeutung ebendieser «Drogas do<br />

Sertão» zu erklären. Städte wie Belém <strong>und</strong><br />

Santarém wurden gegründet, um dem Schmuggel<br />

<strong>und</strong> der Piraterie ebendieser «Drogas do Sertão»<br />

Einhalt zu bieten.<br />

Der Jesuitenorden <strong>und</strong> viele andere tauschte<br />

Seelenheil gegen «Drogas do Sertão» <strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />

diente somit allen s<strong>ein</strong>en Herren, den<br />

himmlischen <strong>und</strong> den weltlichen. Verschifften<br />

Talg von Seekühen, Schildkröteneier <strong>und</strong> –talg,<br />

lebende Papageien, Krokodile <strong>und</strong> andere<br />

Kuriositäten für überseeische Sammler <strong>und</strong> ihre<br />

Kuriositätenkabinette. Otter- <strong>und</strong> Panterfelle<br />

waren als Handeslgut genauso beliebt wie<br />

Paranüsse, Guarana, Kakao, Pfeffer <strong>und</strong> andere<br />

Gewürze. Ein paar der Spezereien waren so<br />

kostbar, dass sie in Gold aufgewogen wurden.<br />

Während der Rest Brasiliens, <strong>ein</strong>e portugiesische<br />

Kolonie, in strenger Abhängigkeit zum<br />

Mutterland gehalten, s<strong>ein</strong>en Reichtum aus<br />

Sklavenarbeit <strong>und</strong> Monokulturen bezog, Zucker,<br />

Kakao <strong>und</strong> Kaffee in riesigen Plantagen anbaute<br />

<strong>und</strong> exportierte, kam der Reichtum <strong>Amazonien</strong>s<br />

bis weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hin<strong>ein</strong> aus der<br />

Extraktionswirtschaft.<br />

Im Amazonas ging das Handelsmonopol nach der<br />

Vertreibung der Jesuiten durch den aufgeklärten<br />

Minister Marques do Pombal, <strong>ein</strong> Iluminist, in die<br />

Hände der portugiesischen Regierung über. Das<br />

Ziel war es, Handelskompanien nach dem Muster<br />

der Holländer <strong>und</strong> Engländer aufzubauen. Die<br />

Weltgeschichte wollte es anders.<br />

Aber der Handel von damals, der nur natürliche<br />

Ressourcen ausbeutet, hat bis heute s<strong>ein</strong>e<br />

Bedeutung in der lokalen Ökonomie. Wie<br />

ehemals wird in der Region bis heute wie in<br />

<strong>ein</strong>em riesigen, unerschöpflichen Selbstbedienungsladen<br />

alles, was die Natur hergibt,<br />

geerntet. Angepflanzt wird nur, was für den<br />

täglichen Bedarf nötig ist. Der Amazonas gilt bis<br />

heute als <strong>ein</strong>e unendliche, riesige Ressourcenreserve,<br />

die es auszubeuten gilt, meist zum Wohl<br />

lokaler Eliten <strong>und</strong> auf den Rücken der weniger<br />

Informierten, Minderbemittelten, die, die k<strong>ein</strong>e<br />

Lobby haben. Stehengelassen hat das riesige<br />

Gebiet wenig Wert.<br />

Als Nachtrag: Das Wort “Sertão”, heute meist für<br />

den kargen brasilianischen Nordosten verwendet,<br />

wo es <strong>ein</strong>en kargen, trockenen Landstreifen<br />

beschreibt, mag für den Tropenwald unpassend<br />

klingen. Aber das Wort Sertão” benannte früher<br />

<strong>ein</strong>fach alle, meist unerforschte, karge,<br />

unfre<strong>und</strong>liche Teile der ungezählten<br />

brasilianischen Hinterlande, von denen es bis<br />

heute viele gibt. Auch das Wort “Droge” war<br />

anders besetzt. Es umschrieb all die<br />

Naturprodukte, die zu kulinarischen Zwecken,<br />

zum Konservieren, in der Medizin oder in der<br />

Parfümproduktion <strong>ein</strong>gesetzt wurden.<br />

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Der Schokoladenbaum<br />

Flink wie <strong>ein</strong> Wiesel, die B<strong>ein</strong>e, sie stecken fest in<br />

der Schlaufe aus Palmblatt, hart gegen den<br />

Stamm gepresst, steigt der Junge mit raschen<br />

Hüpfern den steil-glatten Stamm des Baumes<br />

hoch. Schwupps, schon ist er ganz oben <strong>und</strong> wirft<br />

uns <strong>ein</strong>e zwei Handspannen große Frucht<br />

herunter. Sie hat die Form <strong>ein</strong>es Baseballs, oval<br />

mit spitz zulaufenden Enden. Die Schale ist<br />

gelblich, mit braunen Spritzern <strong>und</strong> lässt sich<br />

leicht wegbrechen. Schon liegt das weiße<br />

Fruchtfleisch frei. Es umschließt die perfekt in die<br />

Hülle <strong>ein</strong>gepassten Samen.<br />

Sauge die saftig-süße dünne Umhüllung aus.<br />

Achtlos spucke ich die Kerne aus. Bis mir jemand<br />

erklärt, dass ich soeben <strong>ein</strong>e Schokoladenbohne<br />

verschmäht habe – <strong>ein</strong> Kakaobaum! Der Baum<br />

heißt, nicht von ungefähr, im Englischen<br />

„Chocolate-tree”. Der Kakao ist der Bruder des<br />

Cupuaçu. Beide sind Bäume, die am besten in<br />

Schatten anderer Bäume wachsen. Kürzliche<br />

Forschungen bestätigen, dass der Cacaueiro,<br />

Theobroma, aus Brasilien stammt, irgendwo vom<br />

Oberlauf des Amazonas stammt er her, von wo er<br />

sich auf ganz Süd- <strong>und</strong> Zentralamerika ausbreitet<br />

hat.<br />

Heute ist Kakao so begeht, dass man seit kurzem<br />

gar wilden Kakao direkt aus dem Tropenwald<br />

erntet. S<strong>ein</strong>e überraschenden Noten, gewachsen<br />

an den unzulänglichen Ufern amazonischer<br />

Flüsse, entzücken da draußen <strong>ein</strong> paar wenige<br />

verwöhnte Schleckmäuler, die gerne für<br />

Schokolade mit “Terroir” bezahlen.<br />

Und da liegt der Hase im Pfeffer. Ökonomisten<br />

rechnen vor, dass die Gewinnspanne umso größer<br />

ist, je mehr sie sich dem Endprodukt nähert. Mit<br />

anderen Worten: Wer <strong>ein</strong> Rohprodukt bis zum<br />

Endprodukt, sprich Schokolade, veredelt, verdient<br />

viel mehr als der, der nur das Ausgangsprodukt,<br />

sprich die Kakaobohne, anbaut oder gar die<br />

Kakaofrüchte im Tropenwald <strong>ein</strong>sammelt. Genau<br />

darauf setzt <strong>ein</strong> großes Projekt vom Staat Pará<br />

unterstützt, das <strong>ein</strong>e der wichtigen “Drogas dos<br />

Sertão”, den Kakao wieder zum Leuchten bringt.<br />

Der brasilianische Kakao stammt nicht nur aus<br />

dem Amazonas, der Amazonas war früher bekannt<br />

für s<strong>ein</strong>en aromatischen Kakao, der <strong>ein</strong>en<br />

wichtigen Beitrag zur lokalen Ökonomie leistete.<br />

Über die letzten fünfzig Jahre aber musste er<br />

s<strong>ein</strong>e Vormachtstellung an den Staat Bahia<br />

abgeben. Das Regierungsprojekt aber macht<br />

Terrain gut. Schon hat der Staat Pará Bahia<br />

überholt <strong>und</strong> gilt heute als der größte Kakaoproduzent<br />

Brasiliens.<br />

Entlang der Belém-Brasilia setzen viele Ansiedler,<br />

<strong>ein</strong>ige in Cooperativen organisiert, auf Kakaoanbau.<br />

Relativ arbeitsintensiv, ist er ideal für<br />

Kl<strong>ein</strong>bauern <strong>und</strong> Familienbetriebe, die zusammen<br />

mit den Kakaobäumen auch Maniok, Früchte <strong>und</strong><br />

Gemüse pflanzen können. Nicht nur der Kakao<br />

floriert, auch die amazonische Schokolade ist auf<br />

guten Wegen. Eine Kooperative aus Medicilândia<br />

zum Beispiel produziert schon ihre eigene<br />

Schokolade, die sie exportiert, aber auch in<br />

eigenen Läden verkauft. Das Produkt ist so gut,<br />

dass es auch international Erfolge feiert.<br />

Endlich beginnen <strong>ein</strong>ige Früchte des Amazonas<br />

Früchte zu tragen. Irgendwann wird es mir dann<br />

nicht mehr passieren, dass mir <strong>ein</strong>e Bekannte<br />

Schokolade in den Amazonas mitbringt. Aus<br />

Amerika. Hergestellt in der Schweiz. Vielleicht<br />

mit Kakao aus Brasilien, gegessen im<br />

Amazonas…..<br />

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Holz, das nach Rosen riecht<br />

Möchten Sie unseren Planeten besser kennen<br />

lernen? Wie wäre es mit <strong>ein</strong>er Reise in die Wildnis<br />

<strong>Amazonien</strong>s, zum Bauchnabel des Universums:<br />

grün, neblig <strong>und</strong> feucht? Da gibt es Indigene, Holz,<br />

das nach Rosen riecht, Naturschützer in Aktion<br />

<strong>und</strong> viele w<strong>und</strong>erbare Geschichten – <strong>Amazonien</strong><br />

ist immer für <strong>ein</strong>e Überraschung gut.<br />

- „Willst du am Samstagabend ausgehen? Einen<br />

Forró tanzen? Da brauchst du dich nicht zu<br />

parfümieren, n<strong>ein</strong>! Du riechst schon w<strong>und</strong>erbar!<br />

Das Parfüm des Rosenholzes imprägniert sich in<br />

d<strong>ein</strong>e Haut. Den Duft kriegst du nicht runter.“ -<br />

João da Silva, besser bekannt unter s<strong>ein</strong>em<br />

Spitznamen „Avô”, Großvater, er verdankt ihn<br />

s<strong>ein</strong>en 86 Jahren, ist <strong>ein</strong> typischer Caboclo (so<br />

heißen die Einheimischen hier). Er hat die<br />

asiatischen Gesichtszüge <strong>ein</strong>es Indios der Region<br />

von Manaus <strong>und</strong> lacht <strong>ein</strong>es s<strong>ein</strong>er strahlenden<br />

Lachen. Wenn er spricht, benutzt er, wie alle hier,<br />

das im restlichen Brasilien aus der Sprache<br />

verschw<strong>und</strong>ene „tu”, du. Er arbeitet, seit er sich<br />

erinnern kann, oder wie er sich ausdrückt: Seit er<br />

sich selber als Menschen wahrnimmt. Er arbeitet<br />

bis heute, als Matrose, auf <strong>ein</strong>er kurzen Reise auf<br />

dem Rio Negro. Der Fluss ist glatt wie <strong>ein</strong> Spiegel.<br />

Er benutzt die Gelegenheit, stellt <strong>ein</strong>es s<strong>ein</strong>er<br />

braunen B<strong>ein</strong>e auf die Reling, <strong>und</strong> beantwortet<br />

unsere neugierigen Fragen. Wir wollen mehr über<br />

<strong>ein</strong>en sehr speziellen Baum wissen, den Baum,<br />

dessen Holz nach Rosen riecht. - „Das war <strong>ein</strong> sehr<br />

gutes Geschäft, das Rosenholz! Gute Arbeit, ja.<br />

Wir haben gut verdient. Wenn wir <strong>ein</strong>en Baum<br />

schnitten, haben wir immer alles mitgenommen,<br />

sogar den Wurzelstock haben wir ausgegraben<br />

<strong>und</strong> mitgeschleppt. Ein Baum, der 25<br />

Handspannen dick war, ergab 25 Tonnen Holz.<br />

Einer mit 30 Tonnen Holz. Das brachte sehr viel<br />

Geld, ja. Heute ist es schwierig, überhaupt noch<br />

Bäume zu finden. Man muss sehr weit in den Wald<br />

r<strong>ein</strong> gehen, sehr weit.“ -<br />

Pau-Rosa, wie der Baum auf Portugiesisch heißt,<br />

(lat. Aniba roaeodora) ist vom Aussterben bedroht.<br />

Es steht heute auf der Liste der geschützten Arten<br />

<strong>und</strong> darf nur unter sehr strengen Bedingungen<br />

ausgebeutet werden. S<strong>ein</strong> Holz riecht nach Rosen<br />

<strong>und</strong> die daraus gewonnene Essenz, <strong>ein</strong> Öl, wird als<br />

Gr<strong>und</strong>material in der Parfümindustrie verwendet.<br />

Naturschützer <strong>und</strong> brasilianische Regierungsstellen,<br />

wie das Ibama, sind sensibilisiert: Ihren<br />

Voraussagen nach wird das Schlagen von<br />

Rosenholz in <strong>ein</strong>igen Jahren verboten s<strong>ein</strong> oder<br />

ganz von selbst verschwinden. Die wenigen<br />

Fabriken, die es noch gibt, produzieren pro Jahr ca.<br />

50 Tonnen Rosenholzessenz, wofür ca. 2’000<br />

Bäume pro Jahr gefällt werden müssen. Das<br />

entspricht etwa <strong>ein</strong>em Umsatz von U$ 1.5000.000.<br />

Aber es zeichnen sich schon andere Lösungen ab.<br />

- „Doktor! Psst, Doktor, schauen Sie doch mal<br />

her!“- Es ist Senhor Raul Alencar, Patriarch,<br />

gewiefter Händler <strong>und</strong> Rosenholzölproduzent. Er<br />

will, so deutet s<strong>ein</strong> erhobener Zeigefinger an, mit<br />

Lauro <strong>Barata</strong> sprechen. „Doktor” nennt er, wie<br />

alle Leute hier, jeden, der <strong>ein</strong>en Titel hat oder<br />

sonst <strong>ein</strong>e wichtige soziale Position bekleidet.<br />

Mich, s<strong>ein</strong>e Ehefrau, nennt er die Patronin. Er<br />

spricht <strong>und</strong> gestikuliert wie <strong>ein</strong> Nordestino. Die<br />

Bewohner des ewig dürren Sertão im Nordosten<br />

Brasiliens wanderten, im Sog des Kautschukbooms,<br />

früher in Massen in die schwüle Wildnis<br />

des Amazonas aus. Er spricht viel <strong>und</strong> mit vielen<br />

Umwegen, untermalt das Gesprochene mit<br />

großen Gesten. Aber er spricht nicht nur,<br />

sondern ist auch <strong>ein</strong> Visionär. Schließlich will er<br />

s<strong>ein</strong>en Söhnen <strong>ein</strong> paar gut laufende Geschäfte<br />

hinterlassen.<br />

- „Wie ist der Senhor denn Rosenholzproduzent<br />

geworden?“ - Auf uns wartet <strong>ein</strong>e lange,<br />

verwickelte Geschichte! Begonnen hat sie damit,<br />

dass Senhor Raul als Mittelsmann <strong>ein</strong>es reichen,<br />

sehr kultivierten jüdischen Händlers <strong>und</strong><br />

Universitätsprofessors Samuel Benchimol<br />

arbeitete, der, wir sind in den goldenen Jahren<br />

des Kautschukbooms, <strong>ein</strong>en guten Teil der<br />

Ausfuhren aus Manaus kontrollierte. - „M<strong>ein</strong><br />

Chef wusste alles. Und er kontrollierte alles.<br />

Ohne Computer! Er hatte nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Heft.<br />

Und <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Sekretärin. Er schickte mich da<br />

<strong>und</strong> dorthin, hier <strong>ein</strong> paar Tonnen Paranüsse<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 116


holen, da <strong>ein</strong> paar Kanister Andirobaöl, er<br />

handelte mit allem, was der Urwald hergab. Er<br />

wusste ganz genau, wann <strong>und</strong> wie viel er wem zu<br />

bezahlen hatte. Ich war es, der alle Kontakte mit<br />

Lieferanten <strong>und</strong> Produzenten hielt. Ich war immer<br />

unterwegs. Bis, ja, bis ich mich selbständig<br />

machte.“ -<br />

- „Später, da arbeitete ich schon auf eigene<br />

Rechnung, hatte schon <strong>ein</strong>e Rosenholzdestillerie,<br />

habe ich es auch mit Kautschuk versucht. Das war<br />

in den 70er Jahren. Da wollte die Militärdiktatur<br />

den Kautschuk wieder zum rentablen Geschäft<br />

aufbauen. Die haben alles in ganz großem Stil<br />

aufgezogen. Wir bekamen alles: Wievielte<br />

Traktoren brauchen Sie? 100? 150? Geht in<br />

Ordnung. Nur für Arbeitskräfte mussten wir<br />

sorgen. Die Setzlinge kamen aus São Paulo.<br />

Leider. Die haben sich nie ans Klima gewöhnt <strong>und</strong><br />

sind alle kaputtgegangen.“ -<br />

Und so reiht sich <strong>ein</strong>e Geschichte an die andere.<br />

Heute ist der Abbau von Rosenholz nur <strong>ein</strong>es<br />

s<strong>ein</strong>er Geschäfte. Er ist <strong>ein</strong>er der wenigen<br />

Produzenten, die überlebt haben. - „Hey, Doktor,<br />

wollen Sie m<strong>ein</strong>e Ländereien sehen? Es ist sehr<br />

schön da. Es ist nicht weit.“ - „Wie viele St<strong>und</strong>en<br />

ungefähr?“ - „Es ist ganz nah, Doktor, nur drei<br />

oder vier Tagesreisen mit dem Boot.“ - Klar, wir<br />

sind im Amazonas. Ein paar Tagreisen – das liegt<br />

gleich um die Ecke.<br />

- „Mensch, war das vielleicht kalt auf dem Boot!<br />

Nachts! Ganz besonders auf dem Boot, aber auch<br />

im Wald kühlt es nachts ganz schön ab. Richtig<br />

frisch wird es.“ - Eduardo Mattoso, Physiker<br />

erinnert sich an s<strong>ein</strong>e verschiedenen Aufenthalte<br />

im Amazonas. Am Anfang aß ich wenig <strong>und</strong><br />

kochte immer selbst. Ich hatte schreckliche Angst,<br />

dass ich mir irgend<strong>ein</strong>e Krankheit holen könnte,“ -<br />

erzählt Eduardo. - „Die Einzigen, die sich nie<br />

täuschen, sind die Caboclos. Sie kennen den<br />

Regenwald wie ihre eigene Hosentasche! Sie<br />

wissen sehr genau, wo es Rosenholz gibt. Wollen<br />

sie <strong>ein</strong>en Rosenholzbaum identifizieren, brechen<br />

sie <strong>ein</strong> paar Blätter ab, riechen daran, beißen r<strong>ein</strong><br />

oder schlecken sie gar ab. Manchmal schneiden sie<br />

auch <strong>ein</strong> Stück Rinde ab <strong>und</strong> beißen ebenfalls r<strong>ein</strong>.<br />

Sie irren sich fast nie.“ -<br />

- „In Manaus lernte ich endlich Dona Neta <strong>und</strong><br />

Senhor Raul Alencar, zwei Produzenten von<br />

Rosenholzessenz, kennen.“ - Eduardo erzählte von<br />

s<strong>ein</strong>er ersten Reise. – „Dona Neta bot mir die<br />

<strong>ein</strong>malige Gelegenheit, ihre Realität kennen zu<br />

lernen. Sie ist <strong>ein</strong>e außerordentliche Frau. Sehr<br />

entschieden, mit <strong>ein</strong>er starken Energie, voller Mut<br />

<strong>und</strong> Führungsqualitäten. Sie kommandiert ganz<br />

all<strong>ein</strong>, mitten im Urwald, <strong>ein</strong>e Fabrik zur<br />

Destillation von Rosenholzessenz. Unter ihrem<br />

Kommando stehen 30 Männer. Sie ist<br />

nicht mehr als 40 Jahre alt, sieht aber aus wie 60.<br />

Ihr Leben ist sehr hart. Man sagte mir, dass sie<br />

<strong>ein</strong>en Revolver im Gürtel trage, <strong>ein</strong>e 38er. Ihre<br />

Fabrik hat sie vor 20 Jahren zusammen mit ihrem<br />

schon verstorbenen Mann gegründet. Der hatte,<br />

erzählte man mir, nicht nur 5 Frauen, sondern<br />

auch 27 uneheliche Kinder. In Wahrheit sollen es,<br />

will man s<strong>ein</strong>en Erzählungen glauben, mehr als<br />

40 gewesen s<strong>ein</strong>. Dona Neta hinterließ er zwei<br />

Töchter <strong>und</strong> das Geschäft, das sie heute all<strong>ein</strong>e<br />

führt.“ -<br />

- „Sie gab mir <strong>ein</strong>e Nachricht mit <strong>und</strong> damit hatte<br />

ich in der ganzen Fabrik freien Zutritt. Ich<br />

begleitete <strong>ein</strong>en ihrer Arbeiter bis dahin. Zuerst<br />

sind wir St<strong>und</strong>en mit dem Auto gefahren, bis zum<br />

Haus <strong>ein</strong>es Händlers, <strong>ein</strong> rustikales Haus ohne<br />

Komfort, am Rande der Straße. Da haben wir<br />

geschlafen <strong>und</strong> ich lernte das <strong>ein</strong>fache Leben im<br />

Wald kennen. Die Dusche zum Beispiel war <strong>ein</strong>e<br />

Tonne mit Regenwasser. Daraus schöpften wir<br />

das Wasser mit <strong>ein</strong>em Becher <strong>und</strong> leerten es uns<br />

gegenseitig über den Körper. Vor der Reise<br />

hatten sie mich gewarnt, das Wasser da sei voller<br />

Typhusviren! Deshalb nahm ich zwanzig Liter<br />

Trinkwasser mit. Aber Gott sei Dank gab es nicht<br />

mal Malaria da. Später war ich weniger vorsichtig<br />

<strong>und</strong> trank, wie alle da, das Wasser aus dem Fluss.<br />

Es ist dunkel, wie starker Schwarztee, voller<br />

Sedimente organischen Ursprungs. Es schmeckt<br />

<strong>und</strong> riecht nach Erde. Abends geht man sehr früh<br />

schlafen, in der Hängematte. Alle schlafen in<br />

Hängematten, Betten gibt es nirgends. Wir<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 117


lauschten <strong>ein</strong>e Weile dem Singsang der Kröten.<br />

Die singen nur, wenn es regnet. Später hörte ich<br />

zum ersten Mal – das erste von vielen tausenden<br />

von Malen – die schauerlichen Geschichten des<br />

Regenwaldes. Unheimliche, verrückte<br />

Geschichten, wenn man da so mitten im Urwald<br />

liegt, läuft es <strong>ein</strong>em schon kalt den Rücken runter.<br />

Zuerst erzählen sie immer von den „Onças“, den<br />

Jaguaren. Das war alles so plastisch, dass ich<br />

schon bald m<strong>ein</strong>te, ihr Brüllen zu hören. Später<br />

haben wir ihre Fußspuren gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Kratzer,<br />

ganz schön hoch, so in Brusthöhe. In den Rinden<br />

der Bäume, wo sie ihre scharfen Krallen wetzen.<br />

Dann erzählten sie mir von Curupira. Das ist <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er, aber sehr cleverer Indiojunge! S<strong>ein</strong><br />

größtes Vergnügen ist es, Leute, die im Wald<br />

unterwegs sind, in die Irre zu führen. Versuch ja<br />

nie, ihm zu folgen! Er täuscht alle. Denn s<strong>ein</strong>e<br />

Füße sind ihm nach hinten gewachsen. Er geht<br />

sozusagen umgekehrt. Merkst du, dass er dich<br />

verfolgt, so gibt es nur <strong>ein</strong> Mittel, um ihn<br />

abzuhalten. Wirf <strong>ein</strong> kompliziertes Geflecht aus<br />

verschlungenen Fäden hinter dich auf den Weg.<br />

Diesem Köder kann er nicht widerstehen! Sofort<br />

wird er versuchen, das komplizierte Geflecht zu<br />

entwirren <strong>und</strong> vergisst darüber – Gott sei Dank -<br />

dir zu folgen.“ -<br />

- „Am anderen Tag lernte ich den Regenwald von<br />

innen kennen. Ich machte Bekanntschaft mit dem<br />

„Jirico”. Das ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Traktor, der für Fahrten<br />

im Dschungel umgebaut ist. Schmal, vorne <strong>und</strong><br />

hinten mit je <strong>ein</strong>er improvisierten Plattform, ist er<br />

für den Transport von Holz, aber auch von<br />

Personen gebaut. Maximal haben sechs Personen<br />

Platz. Man muss sich ganz schön festhalten, denn<br />

er benimmt sich wie <strong>ein</strong> störrischer Esel! Und<br />

man muss immer auf der Hut s<strong>ein</strong>. Muss s<strong>ein</strong>e<br />

B<strong>ein</strong>e immer wieder blitzschnell hochheben, sonst<br />

läuft man Gefahr, dass sie unter den Traktor<br />

kommen.<br />

Er fährt immer denselben Weg entlang,<br />

der mehr oder weniger 1 bis 1,5 Meter breit ist. Es<br />

gibt große Steigungen <strong>und</strong> entsprechendes<br />

Gefälle, dazwischen riesige Löcher. Das geht in den<br />

Rücken, so <strong>ein</strong>e Reise! Zusammen mit der<br />

ganzen Equipe sind wir mehr als fünf St<strong>und</strong>en<br />

durch den Wald gefahren. Die Arbeiter,<br />

angeheuert für drei Monate ohne Pause, machten<br />

Witze, lachten, neckten sich ohne Unterbruch. Sie<br />

verbringen die drei Monate in <strong>und</strong> neben der<br />

Fabrik. Ihr Tagesablauf ist sehr hart <strong>und</strong> wird<br />

eigentlich nur von den Mahlzeiten unterbrochen.<br />

Zum Frühstück gibt’s Crackers, Couscous, <strong>ein</strong><br />

luftiges Gericht aus Mais, <strong>und</strong> Kaffee. Zu den<br />

anderen Mahlzeiten immer Reis <strong>und</strong> Bohnen mit<br />

„Jabá”, <strong>ein</strong>gesalzenem Fleisch, Nudel <strong>und</strong><br />

Farinha, <strong>ein</strong>e Art knuspriges Mehl aus Maniok.<br />

Abends schauen sich alle, das verpasst k<strong>ein</strong>er, im<br />

Fernsehen die tägliche Folge der Novela an.<br />

Alkohol ist strikt verboten. Die Arbeiter sind alle<br />

in sehr guter körperlicher Verfassung. Der<br />

Älteste, er war 71, nahm <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>en Besenstiel<br />

zwischen den Händen <strong>und</strong> sprang darüber, ohne<br />

außer Atem zu kommen, hin <strong>und</strong> zurück, hin <strong>und</strong><br />

zurück. Fast alle sind Analphabeten. Viele können<br />

<strong>ein</strong> paar Zahlen lesen, bis zehn vielleicht, aber<br />

was mehr als fünfzehn ist, verwirrt sie. Aber das<br />

kümmert k<strong>ein</strong>en. Es ist nicht wichtig für sie. Sie<br />

haben k<strong>ein</strong>e Ambitionen im Leben. Aber sie<br />

leiden auch k<strong>ein</strong>en Hunger <strong>und</strong> können vom<br />

dem, was sie haben, gut leben. In den Städten<br />

sind die Menschen aber allerdings oft sehr<br />

ausgemergelt, haben oder hatten schon mehrere<br />

Malariaanfälle, rauchen <strong>und</strong> trinken viel. Manuel<br />

Lulu, <strong>ein</strong>er von ihnen, sagte mir <strong>ein</strong>mal: „Ich kann<br />

alles! Motorsägen, jagen, fischen, alles. Nur<br />

Lektüre, das heißt lesen, kann ich nicht.“ -<br />

Sie arbeiten in drei oder vier Equipen. Die erste<br />

Equipe, drei oder vier Männer, wenn es fast k<strong>ein</strong><br />

Holz mehr gibt auch fünf oder sieben, suchen<br />

den Wald ab. Ihre Arbeit ist illegal. Aber wenn<br />

man an die enormen Distanzen denkt, merkt<br />

man, wie illusorisch der Ruf nach Kontrolle ist.<br />

Ich habe nie herausgef<strong>und</strong>en, wie sie sich im<br />

Wald zurechtfinden. Sie gehen auf <strong>ein</strong>em Weg<br />

r<strong>ein</strong> <strong>und</strong> auf <strong>ein</strong>em anderen raus. Sie verlaufen<br />

sich nie! Das Laufen im Wald ist sehr angenehm.<br />

Man geht im Schatten der Baumwipfel, da ist es<br />

frisch, es gibt nicht viele Moskitos, nur die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 118


Feuchtigkeit ist unangenehm. M<strong>ein</strong>e Jeans haben<br />

sich immer in kürzester Zeit mit Schweiß voll<br />

gesogen. Die Männer gehen sehr schnell, es ist<br />

nicht so <strong>ein</strong>fach, ihnen zu folgen. Tiere sieht man<br />

sehr wenige, sie sagen es gebe Affen, Jaguare,<br />

kl<strong>ein</strong>e Rehe <strong>und</strong> natürlich viele, viele<br />

Kl<strong>ein</strong>stlebewesen <strong>und</strong> Insekten. Schlangen gibt es,<br />

wie es sch<strong>ein</strong>t, wenige.<br />

Die erste Equipe kommt in Abständen von 20<br />

Tagen zur Fabrik zurück. Sie haben im Wald<br />

genaue Hinweise angebracht, wo es <strong>ein</strong>en<br />

Rosenholzbaum zum Fällen gibt. Normalerweise<br />

findet man pro Hektare etwa fünf Exemplare der<br />

der begehrten Bäume. Die zweite Equipe verlässt<br />

die Fabrik nach Mitternacht, so um <strong>ein</strong> Uhr früh,<br />

<strong>und</strong> kommt erst am Abend des nächsten Tages, so<br />

um 21 Uhr zurück. Die Männer schlafen<br />

Untertags, irgendwo, zum Beispiel auf den<br />

geschlagenen Stämmen. Auf jeder Reise gehen<br />

immer <strong>ein</strong>er oder zwei Traktoren kaputt, was zu<br />

unfreiwilligen Pausen führt, weil Teile fehlen oder<br />

so. Aber die Männer kriegen sie immer wieder<br />

irgendwie hin. Gelingt es k<strong>ein</strong>em mehr, den<br />

Traktor zu reparieren, löst Dona Neta das<br />

Problem. Sie ist die beste Mechanikerin von allen.<br />

Fehlen Teile, schreibt sie <strong>ein</strong>e Nachricht, lässt sie<br />

am Rand der Straße, wo sie <strong>ein</strong>er ihrer<br />

Mitarbeiter holt, die Teile kauft <strong>und</strong> auf s<strong>ein</strong>er<br />

nächsten Reise dahin mitbringt.<br />

Bäume, die weniger als vier Handspannen (ca. 30 cm<br />

Durchmesser) messen, schneiden sie nicht. Die<br />

Arbeiter von Dona Neta fällen nur Rosenholzbäume. Da<br />

könnte der wertvollste Baum daneben stehen – der<br />

interessiert sie nicht. Die gefällten Stämme<br />

zerschneiden sie in meterlange Stücke <strong>und</strong><br />

transportieren sie so zur Fabrik. Wenn sie da<br />

ankommen, rollen sie die Strünke über <strong>ein</strong>en Abhang<br />

hinunter, schleppen sie zum Häcksler <strong>und</strong> schneiden<br />

sie kl<strong>ein</strong>. Mit den weniger als zündholzschachtelgroßen<br />

Stücken füllen sie den Destillationsapparat aus Eisen.<br />

Sie lassen nicht das kl<strong>ein</strong>ste Stückchen übrig. Alle Äste,<br />

alles wird destilliert. Der Destillationsapparat ist sehr<br />

alt, er hat 15 oder 20 Jahre auf dem Buckel <strong>und</strong><br />

stammt von <strong>ein</strong>em verschrotteten Schiff.<br />

Der Vorgang ist <strong>ein</strong>fach. Destilliert wird mit Dampf. Der<br />

steigt aus <strong>ein</strong>er riesigen Pfanne auf, dringt in das Holz<br />

<strong>ein</strong> <strong>und</strong> löst das Öl aus dem Holz. Kühlt die Mischung<br />

aus Dampf <strong>und</strong> Öl aus, wird der Dampf wieder zu<br />

Wasser, das sich automatisch vom Öl trennt. Das Öl<br />

muss dann nur noch gesiebt werden <strong>und</strong> wird dann in<br />

Fässer abgefüllt, die mit der nächsten Reise bis zur<br />

Straße gebracht werden. Dona Neta verkauft nur an<br />

<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigen Großhändler, der das Öl dann<br />

exportiert. Die Beziehung mit dem Großhändler geht<br />

weit über den Kauf des Öls hinaus. Es ist <strong>ein</strong>e Art<br />

versteckter Abhängigkeit. Der Großhändler hilft mit<br />

Krediten, wenn Dona Netta – wie immer, in finanziellen<br />

Schwierigkeiten ist – bezahlt aber nur die Hälfte des<br />

Marktpreises.<br />

Ein anderer Teil der Reise führte Eduardo flussabwärts,<br />

bis Santarém. Er fuhr mit dem Linienschiff. Das ist die<br />

billigste <strong>und</strong> populärste Art auf dem Amazonas zu<br />

reisen, deshalb sind die Schiffe immer total überladen.<br />

Die Schiffe, aus Eisen, sind sehr alt <strong>und</strong> oft in<br />

fragwürdigem Zustand. Sie wurden in den dreißiger<br />

oder vierziger Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts aus<br />

England importiert <strong>und</strong> bieten nur minimalen Komfort.<br />

Auf dem Oberdeck breitet sich während der ganzen<br />

Reise, Tag <strong>und</strong> Nacht, <strong>ein</strong> dichter Wald aus<br />

Hängematten aus, dicht an dicht, <strong>ein</strong>e neben die<br />

andere gehängt. Daneben, darüber, in allen Ecken <strong>und</strong><br />

Nischen Menschen, ganze Familien, mit Kind <strong>und</strong> Kegel<br />

<strong>und</strong> Babys, nicht zu vergessen ihre wertvolle Fracht:<br />

Früchte, Fische, Hühner, Elektrogeräte, Autoteile,<br />

Fahrräder. Auf dieser Reise war es so kalt, dass<br />

Eduardo sich noch jetzt ungern daran erinnert:<br />

- „Nie in m<strong>ein</strong>em Leben habe ich so gefroren, wie<br />

nachts auf diesem verflixten Schiff!“ - Prompt kam<br />

Eduardo dann in Santarém mit <strong>ein</strong>er Grippe an.<br />

Trotzdem fuhr er bis zur Station Curuauna weiter. Die<br />

liegt nahe bei Santarém <strong>und</strong> heißt „Centro da<br />

Tecnologia da Madeira”, Zentrum der Holztechnologie<br />

<strong>und</strong> gehört der SUDAM, <strong>ein</strong>er staatlichen Stelle. Die<br />

Reise dauerte 3 V bis 4 St<strong>und</strong>en über Land<br />

<strong>und</strong> noch 40 Minuten mit dem Schiff. Die Straße ist<br />

neu. - „Früher dauerte die Autofahrt mehr als 10<br />

St<strong>und</strong>en.“ - Die Station, vor dreißig Jahren von<br />

Amerikanern gegründet, ist sehr außergewöhnlich, weil<br />

dort drei ganz unterschiedliche Ökosysteme<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 119


auf<strong>ein</strong>ander treffen. Das erste ist <strong>ein</strong> Urwald,<br />

dessen Bäume das ganze Jahr <strong>ein</strong> bis <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb<br />

Meter unter Wasser stehen. Das Ökosystem,<br />

Pflanzen, Fische <strong>und</strong> Tiere sind so perfekt an die<br />

Verhältnisse angepasst, dass die Bäume sofort<br />

verdorren würden, würde man sie in normale<br />

Erde verpflanzen. Dann gibt es den Teil, der<br />

„Várzea” heißt. Während der Regenzeit ist der<br />

Boden überflutet, für den Rest des Jahres bleibt<br />

er trocken. Hier ist die Erde sehr fruchtbar, <strong>ein</strong>e<br />

der fruchtbarsten des ganzen Amazonas, wo der<br />

Boden normalerweise sandig oder lehmig ist.<br />

Auch hier gibt es spezialisierte Pflanzen, perfekt<br />

an die außergewöhnlichen Gegebenheiten<br />

angepasst. Würde das Wasser nicht <strong>ein</strong>mal pro<br />

Jahr steigen <strong>und</strong> die Pflanzen unter Wasser<br />

setzen, würden sie alle sterben. Der letzte Teil ist<br />

„trockene” Erde. Lehmig, arm, die <strong>ein</strong>zige<br />

Nahrungsquelle ist <strong>ein</strong>e f<strong>ein</strong>e Schicht schwarzer,<br />

sich langsam zersetzender Blätter.<br />

- „Ich wohnte in <strong>ein</strong>em Holzhaus, von<br />

Amerikanern nach dem Muster amerikanischer<br />

Häuser konstruiert. Eine Architektur, die nichts<br />

mit der lokalen Bauweise zu tun hat. Deshalb war<br />

es im Haus drin <strong>ein</strong>fach unvorstellbar heiß.“ -<br />

Zudem waren alle Fenster <strong>und</strong> Türen mit<br />

Moskitonetzen zugespannt. Es gibt Malaria da,<br />

<strong>und</strong> wenn die Nacht <strong>ein</strong>bricht, beginnen die<br />

Moskitos, die Malaria übertragen, zu fliegen. Da<br />

bleibt <strong>ein</strong>em nur übrig, sich ins Haus<br />

zurückzuziehen. Der Generator für das Licht wird<br />

allerdings um 19:30 Uhr abgestellt. Gott sei Dank<br />

war wenigstens das Essen, der „Rancho”, sehr gut.<br />

Es wurde von weit hergebracht <strong>und</strong> bestand aus<br />

Farinha, <strong>ein</strong>gesalzenem Fisch, Nudeln, Bohnen,<br />

alles mit Frischfisch <strong>und</strong> Jagdbeute angereichert.<br />

Gleich neben der Station wohnen etwa 30<br />

Familien. Ihr Leben folgt der immergleichen<br />

Routine. Sie fischen, jagen, spielen Ball. Es sind<br />

<strong>ein</strong>fache, ungeschliffene Leute. Ihre Ignoranz<br />

schockierte mich. Die Frauen kamen mir vor, wie<br />

wenn sie Sklavinnen wären. Die Männer trinken<br />

viel.“ -<br />

- „Auf m<strong>ein</strong>er letzten Reise wurde ich ernstlich<br />

krank. Eine Virusinfektion. Ich fühlte mich schlapp,<br />

ohne jegliche Energie, ohne Appetit, konnte mich<br />

kaum noch auf den B<strong>ein</strong>en halten. Wir mussten<br />

<strong>ein</strong> gutes Stück durch Schlamm waten. Der Virus<br />

hatte sich schon in m<strong>ein</strong>em ganzen Körper<br />

<strong>ein</strong>genistet <strong>und</strong> ich dachte wirklich, ich würde da<br />

nie mehr ankommen.“ - Eduardo, wieder in<br />

ausgezeichneter Verfassung, zeigt die <strong>Foto</strong>s: Ein<br />

Meer schwarzen Schlammes, zurückgelassen vom<br />

austrocknenden Fluss. Ein paar Männer, alle<br />

stecken bis zu den Knien im Schlamm. Hinter ihnen<br />

<strong>ein</strong>e Reihe tiefer Löcher, ihre Fußspuren.<br />

<strong>Amazonien</strong> ist immer für <strong>ein</strong>e Überraschung gut!<br />

Aber Eduardo kann es kaum erwarten,<br />

zurückzugehen. Es gilt, mehr als dreitausend<br />

Pau-Rosa-Setzlinge zu pflanzen; <strong>ein</strong>e der<br />

Vorschriften des Ibamas. Jeder Produzent von<br />

Pau-Rosa muss für jeden abgeholzten Baum<br />

<strong>ein</strong>en neuen pflanzen. Das funktioniert leider nur<br />

in der Theorie. Die Produzenten müssten eigenes<br />

Land haben, wo sie die Setzlinge pflanzen<br />

könnten. Land zu kaufen <strong>und</strong> dann auch s<strong>ein</strong>e<br />

Eigentumsrechte zu beweisen, ist im Amazonas<br />

sehr kompliziert. „Grilagem”, der mehrmalige<br />

Verkauf des selben Gr<strong>und</strong>stückes, riesiger Stücke<br />

Land, oft größer als die ganze Schweiz, ist hier<br />

<strong>ein</strong> Bombengeschäft. Man witzelt, dass k<strong>ein</strong>er<br />

wisse, welches Stockwerk des Gr<strong>und</strong>stückes er<br />

besitze....<br />

Aber auch diese Klippen wollen die beiden,<br />

Professor Lauro <strong>Barata</strong> <strong>und</strong> Eduardo Mattoso,<br />

zusammen mit den Produzenten natürlich, noch<br />

umschiffen. Ein zweites Projekt, diesmal mit<br />

<strong>ein</strong>em Aufforstungsprogramm, ist schon<br />

konzipiert. Die Finanzierung ist allerdings noch<br />

ungewiss.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 120


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 121


Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften<br />

Jeder Tourist, der nach Belém kommt, drängt sich<br />

hier durch. Beléms zentrale Markthalle ist <strong>ein</strong><br />

Magnet. Wer sich den Reichtum des Regenwaldes<br />

sozusagen mit allen Sinnen aneignen will, dem sei<br />

<strong>ein</strong> Besuch auf dem „Ver-o-peso“ empfohlen. Die<br />

aus England importierte Eisenkonstruktion wurde<br />

1901, mitten im Kautschukboom errichtet. Der<br />

Name „Ver-o-peso“ (Sieh das Gewicht) stammt<br />

allerdings aus der Kolonialzeit, denn hier wurden<br />

alle <strong>ein</strong>geschifften Waren, um diese Zeit natürlich<br />

vor allem Kautschukballen, gewogen. Im Zollhaus<br />

„Haver-o-peso“ wurden dann die Steuern<br />

erhoben.<br />

Die Marktstände stehen eng. Wie jeder<br />

brasilianische Markt hat auch der «Ver-o-peso»<br />

<strong>ein</strong>e geheimnisvolle Sektion traditioneller<br />

Kräutermedizin. Und diese hier kann sich sehen<br />

lassen. Lockt mit bunten Farben, Magie <strong>und</strong><br />

jenem Zauber, dem kaum <strong>ein</strong>er widersteht, auch<br />

wenn er eigentlich auf harter Schulmedizin steht.<br />

Hier mischt sich überliefertes Kräuterwissen mit<br />

Aberglauben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er tüchtigen Portion<br />

Unerklärlichem, die, neueste Forschungen<br />

bekräftigen das, durchaus ihren Anteil an der<br />

Heilung haben. Hier verkaufen bauernschlaue<br />

Verkäufer <strong>und</strong> Verkäuferinnen, sie verkörpern<br />

<strong>ein</strong>e be<strong>ein</strong>druckende Mischung aus<br />

Kräuterdoktor, Heilk<strong>und</strong>igem, halb Medizinmann,<br />

halb W<strong>und</strong>erheiler, lavieren dabei hart am<br />

Scharlatan vorbei, ihre W<strong>und</strong>ermittel. In diesen<br />

paar Gassen des Marktes gibt es alles: Tinkturen,<br />

Wässer, Absude, Salben, Öle, frische <strong>und</strong><br />

getrocknete Pflanzen <strong>und</strong> was weiß ich noch mehr.<br />

Die Präparate sind in Flaschen verschiedenen<br />

Größen abgefüllt, nur das Etikett enthüllt, wofür<br />

sie alles gut sind. Malerisch mit Baumwollfaden<br />

am Flaschenhals aufgehängt, sind sie die beste<br />

Werbung, nach dem Motto, je mehr, desto besser.<br />

Auch das Angebot des verschmitzt aussehenden<br />

Händlers, bei dem wir stehen bleiben ist bunt<br />

gemischt. Er verkauft sowohl frische als auch<br />

getrocknete Kräuter, Knochen, Teile von Tieren,<br />

daneben auch magische <strong>und</strong> heilkräftige Amulette,<br />

Räucherstäbchen, Seifen, Parfüms <strong>und</strong> andere<br />

Ingredienzien, die, je nach Packungsaufschrift, das<br />

Pech verscheuchen <strong>und</strong> das Glück anziehen, <strong>ein</strong>en<br />

Mann auf sich aufmerksam machen oder K<strong>und</strong>en<br />

herbeilocken. Wir wollen <strong>ein</strong>e «Pomada<br />

Milagrosa», <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>ersame Pomade, die ihre<br />

w<strong>und</strong>ersame Heilwirkung bei W<strong>und</strong>en schon mehr<br />

als <strong>ein</strong>mal bewiesen hat. Endlich hat er sie<br />

gef<strong>und</strong>en. K<strong>ein</strong> Produkt trägt <strong>ein</strong> Preisschild. Der<br />

Preis wird auf die Kaufkraft des Käufers<br />

abgestimmt.<br />

Der Händler zeigt uns dann <strong>ein</strong>e trübe, recycelte<br />

Limonadenflasche. Sie ist mit rotem Siegellack<br />

verschlossen. Ihr Inhalt ist dickflüssig, schimmert<br />

rötlich. Es ist Andiroba-Öl. Ihm werden die<br />

verschiedensten Heilkräfte zugeschrieben. Wenn<br />

ich dem Verkäufer glauben soll, kann man damit<br />

nicht nur Rheuma kurieren, Insekten<br />

verscheuchen <strong>und</strong> ihre Bisse zum Abklingen<br />

bringen, sondern sogar Krebs heilen <strong>und</strong><br />

andere W<strong>und</strong>er bewirken. – Be<strong>ein</strong>druckend. Als<br />

ich dann allerdings den etwas verwesten, strengen<br />

Geruch des Öls wahrnehme, schrecke ich vor <strong>ein</strong>er<br />

generelleren Anwendung, gar intern! doch etwas<br />

zurück.<br />

Die Indigene Bevölkerung benutzen Andiroba-Öl<br />

seit präkolumbianischen Zeiten. Einige Stämme<br />

verwenden Andiroba, vermischt mit dem roten<br />

Pflanzen-Farbstoff Urucum, um sich gegenseitig<br />

die Körper kunstvoll zu bemalen. Sie wissen auch,<br />

dass Andiroba kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>en heilen kann <strong>und</strong><br />

insektenabweisend wirkt. Zu Hause lerne ich mehr<br />

über die bewegte Geschichte des Andirobabaumes.<br />

Sie sch<strong>ein</strong>t mir sehr typisch, <strong>ein</strong> Beispiel<br />

dafür, was mit anderen Produkten aus dem<br />

Regenwald passiert ist <strong>und</strong> bis heute passiert: Das<br />

Holz des Andirobabaumes, aus derselben Familie<br />

wie das Mahagoni, war <strong>und</strong> ist sehr gesucht <strong>und</strong><br />

wird wegen s<strong>ein</strong>er Härte <strong>und</strong> der Resistenz gegen<br />

Insektenbefall oft für den Bau von Häusern <strong>und</strong> bei<br />

der Konstruktion von Schiffen verwendet. Was<br />

dazu führt, dass die Bäume immer seltener<br />

werden <strong>und</strong> immer tiefer aus dem jungfräulichen<br />

Wald herausgeholt werden müssen.<br />

Begehrt war aber, bis in die 1950er Jahre, nicht<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 122


nur Andirobaholz, sondern auch Andiroba-Öl.<br />

Allerdings war es nicht s<strong>ein</strong>er heilenden<br />

Eigenschaften wegen begehrt, sondern <strong>ein</strong>fach als<br />

lokal zugängliches, billiges Fett, gerade richtig, um<br />

daraus <strong>ein</strong>fachste Haushaltseife zu kochen. Mit<br />

der Einführung <strong>und</strong> dem Massenanbau von Soja in<br />

den 1960er Jahren wurde die Gewinnung von Öl<br />

aus Andirobakastanien uninteressant. Heute ist es<br />

schwierig, größere Mengen davon kaufen zu<br />

wollen.<br />

Gewonnen wird das Öl bis heute auf primitive Art<br />

<strong>und</strong> Weise. Die „Caboclos“, die Einheimischen,<br />

sammeln die weichschaligen Kastanien am Fuß<br />

der Bäume oder an den Flussufern, wo sie zu<br />

Milliarden angeschwemmt werden. Dann lassen<br />

sie die Kastanien <strong>ein</strong>fach an der Sonne<br />

vermodern. Mit <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Blech als Abfluss,<br />

leiten sie dann das Resultat des Fäulnisprozesses,<br />

das austretende Öl, in bereitstehende Behälter<br />

ab. Das Öl kann auch ausgepresst werden <strong>und</strong> auf<br />

dem Markt sind die unterschiedlichsten<br />

Qualitäten zu finden. - Ein großes, schier<br />

unlösbares Problem, stellt man Anforderungen an<br />

die Qualität des Produktes.<br />

Neben Andiroba gehört auch Copaiba, <strong>ein</strong><br />

klebriges Harz, das w<strong>und</strong>erbar als W<strong>und</strong>heiler<br />

wirkt, in <strong>ein</strong>e amazonische Hausapotheke.<br />

Copaibaharz wird von drei oder vier<br />

unterschiedlichen Bäumen produziert. Die<br />

Stämme der Bäume sind innen hohl <strong>und</strong> das Harz<br />

sammelt sich da in <strong>ein</strong>em Reservoire an. Will man<br />

es gewinnen, zapft man den Baum wortwörtlich<br />

an, indem man ihm <strong>ein</strong> tiefes Loch in die Rinden<br />

bohrt. Das kann man durchschnittlich <strong>ein</strong>mal pro<br />

Jahr machen, denn so lange braucht der Baum, um<br />

das gestohlene Harz wieder nachzuproduzieren.<br />

Und Ihre W<strong>und</strong>e hier am B<strong>ein</strong> ist immer noch nicht<br />

abgeheilt? Ja, hier im Amazonas kann das etwas<br />

dauern. Einheimische schwören auf «Jucá», <strong>ein</strong>e<br />

braune Bohne. Die wird ins Wasser gebröselt <strong>und</strong><br />

der entstehende rötliche Aufguss auf die W<strong>und</strong>e<br />

aufgebracht. Funktioniert garantiert! Zweifel?<br />

Dann kann ich Ihnen nur die «Pomada Milagrosa»,<br />

die w<strong>und</strong>ersame Pomade empfehlen. Oder auch<br />

«Sebo de Holanda», das holländische Schaffett.<br />

Bei uns in der Schweiz verkaufen sie in der<br />

Apotheke <strong>ein</strong>e Pomade <strong>ein</strong>es Chemiemultis mit<br />

fast den selben Zutaten….. .<br />

Wie auch immer. Hier im Amazonas nutzen viele<br />

Einheimische <strong>und</strong> auch viele Zugewanderte<br />

Andiroba Den Juckreiz <strong>und</strong> die allergische<br />

Reaktion von Mücken- <strong>und</strong> anderen Stichen<br />

jedenfalls habe ich schon zu oft abklingen sehen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 123


Oriximiná am Fluss Trombetas<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 124


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 125


Nachhaltigkeit já, aber wie?<br />

Nachhaltigkeit ist in aller M<strong>und</strong>e. Besonders,<br />

wenn es den Amazonas betrifft. Sie wird unisono<br />

von allen, die über den Amazonas nachdenken,<br />

als der Schlüssel zur Lösung des Problems<br />

gesehen. In der Theorie. Denn die Praxis hinkt<br />

ziemlich hinterher.<br />

Der Kaufmann Carlos H<strong>ein</strong>rich Filho aus São Paulo<br />

arbeitet <strong>und</strong> handelt seit 20 Jahren mit Pflanzen<br />

des Amazonas. Er ist vom wachsenden Interesse<br />

Brasiliens an s<strong>ein</strong>en eigenen, natürlichen<br />

Ressourcen überzeugt. Für ihn ist die<br />

„Unterentwicklung” <strong>Amazonien</strong>s eng mit<br />

fehlendem Interesse, traditioneller<br />

Bequemlichkeit <strong>und</strong> mangelnder Infrastruktur<br />

verb<strong>und</strong>en.<br />

Vielleicht fehle es auch <strong>ein</strong>fach an <strong>ein</strong>er<br />

umfassenderen <strong>und</strong> weitblickenderen Planung<br />

<strong>und</strong> Organisation. Bis heute sei die brasilianische<br />

Mentalität mehr am kurzfristigen Nutzen als an<br />

langfristigem Engagement <strong>und</strong> langjährigen<br />

Investitionen orientiert. Damit bezieht er sich auf<br />

den bis vor kurzem politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

sehr unstabilen Zustand s<strong>ein</strong>es Landes. Das halte<br />

halt viel seriöse in- <strong>und</strong> ausländische Investoren<br />

ab. Auf der anderen Seite, fährt Senhor Carlos<br />

H<strong>ein</strong>rich Filho fort, kann die Kommerzialisierung<br />

<strong>ein</strong>es Produktes aber erst beginnen, wenn <strong>ein</strong>e<br />

gewisse Regularität <strong>und</strong> Qualität der Produktion<br />

garantiert werden kann. Davon sei man jedoch in<br />

<strong>Amazonien</strong> in allen Bereichen noch weit entfernt.<br />

Stolz erzählt er, dass ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Firma in Kürze<br />

<strong>ein</strong> riesiger Regierungskredit zugesprochen<br />

werden solle. Mit diesem Kredit wolle er<br />

verschiedene Projekte im Amazonas finanzieren.<br />

Das macht mich neugierig. Was für Projekte<br />

genau? Wird mit anderen Institutionen, mit den<br />

Universitäten, mit internationalen Firmen<br />

zusammenarbeitet? Hat man schon K<strong>und</strong>en, gibt<br />

es <strong>ein</strong>en Markt? Wird man hier in Brasilien<br />

verkaufen oder auch im Ausland? Senhor Carlos:<br />

„Ja, eigentlich, konkret ist noch nichts. Aber, ja,<br />

wissen Sie, viele Ideen sind erst am Entstehen, <strong>und</strong><br />

mit der Zeit wachsen neue; wenn das Geld erst<br />

<strong>ein</strong>mal da ist, werden wir mit praktischen<br />

Projekten beginnen.“ Im Moment stecke man<br />

allerdings noch in den Vorbereitungen, bei den<br />

Abklärungen. - Die Schweizerin lernt: In Brasilien<br />

werden die Dinge sehr pragmatisch angegangen<br />

<strong>und</strong> oft wird erwartet, dass sich alles von oben<br />

reguliert <strong>und</strong> fügt.<br />

Fakt ist, dass <strong>Amazonien</strong>, geprägt von drei<strong>ein</strong>halb<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte portugiesischer Kolonisation, damit<br />

bis zur Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>ein</strong>schneidenden<br />

Veränderungen in ökonomischer, sozialer,<br />

kultureller <strong>und</strong> ökologischer Hinsicht unterlag.<br />

Damit nicht genug, bis vor kurzen favorisierten die<br />

brasilinternen Projekte zur lokalen Entwicklung in<br />

<strong>ein</strong>em frenetischen Rhythmus die Ausweitung <strong>und</strong><br />

Verlagerung der letzten Grenzen der Zivilisation<br />

immer tiefer in den Regenwald hin<strong>ein</strong>, nahmen<br />

die Region immer mehr in Besitz. Ab 1950<br />

wurden tiefe Schneisen in den Tropischen Wald<br />

geschlagen, Belém-Brasília, Transamazônica <strong>und</strong><br />

Cuiabá-Santarém, Brasíia-Porto Velho, auf denen<br />

immer mehr interbrasilianische Migranten auf<br />

der Suche nach <strong>ein</strong>em besseren Leben in den<br />

Wald flossen. Die Achse der Ausbeutung,<br />

traditionellerweise auf den Amazonas <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />

Zuflüsse konzentriert, verschob sich. Staaten wie<br />

Tocantins, Süden <strong>und</strong> Südosten des Staates Pará,<br />

Matto Grosso <strong>und</strong> Rhondonia wuchsen, neue<br />

Städte entstanden, neue Demarkationslinien<br />

frassen sich tief in den Wald hin<strong>ein</strong>.<br />

Es herrscht heute Konsens, dass dieser Prozess<br />

oft gewaltsam vor sich ging. Es handelt sich um<br />

<strong>ein</strong>e Art wilder Norden. Wer die sozialen<br />

Indikatoren genau betrachtet, kann den heutigen<br />

Amazonas auch <strong>ein</strong>e Art tropische, unendlich<br />

riesige Favela ansehen. Wer <strong>ein</strong> gutes<br />

Einkommen hat, ist Staatsangestellter. Bis heute<br />

konzentriert sich der Besitz. Wenige besitzen<br />

viel. Bis heute wird öffentliches Land auch in den<br />

Städten illegal besetzt. Posseiros, Leute, die<br />

illegal <strong>ein</strong> Stück Land für sich in Anspruch<br />

nehmen, Holzschläger <strong>und</strong> -händler, Grilheiros,<br />

Lokalpolitiker, Spekulanten <strong>und</strong><br />

Großgr<strong>und</strong>besitzer wollen alle das selbe, alle<br />

wollen die selben Gr<strong>und</strong>stücke, die k<strong>ein</strong>en<br />

sichtbaren Besitzer haben, besetzten, ausbeuten,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 126


sich untertan machen. Der Impakt für die Umwelt<br />

ist immens <strong>und</strong> die Konflikte vorprogrammiert.<br />

Geht es darum persönliche oder lokale Interessen<br />

zu befriedigen, verbünden sich die ungewöhnlichsten<br />

Parteien zu Allianzen, die nur ihren<br />

eigenen Interessen dienen. Der Staat ist viel zu<br />

wenig präsent. Ein Umdenken, auch ausgelöst<br />

durch ausländischen Druck, kommt nur sehr<br />

langsam voran. Bis es die Allerletzten <strong>und</strong> die<br />

Allerärmsten erreicht, wird es dauern. Zu viele<br />

Projete sind über ihre Köpfe hinweg entschieden<br />

worden.<br />

Hier im Amazonas ist das Holzschlagen <strong>und</strong> der<br />

Holzhandel <strong>ein</strong>e der traditionellsten <strong>und</strong><br />

ökonomisch am wichtigsten Einkommensquellen.<br />

Brasilien selber ist <strong>ein</strong>er der größten Produzenten<br />

<strong>und</strong> Konsumenten von Tropenholz. Ein paar<br />

brasilianische Schlüsselindustrien wie die<br />

Stahlproduktion, die Herstellung von Zellulose<br />

<strong>und</strong> Papier <strong>und</strong> die Bauwirtschaft, unter anderen<br />

Industriezweigen, hängen direkt vom Holz aus<br />

dem Tropenwald <strong>und</strong> von industriell angebautem<br />

Holz ab. Eine modernere, schonendere Nutzung<br />

des Waldes steckt noch in den Kinderschuhen <strong>und</strong><br />

ist extrem bürokratisch. Nur wer s<strong>ein</strong> Stück Wald<br />

komplett legalisiert hat, kann <strong>ein</strong>en Nutzungsplan<br />

<strong>ein</strong>reichen.<br />

letzten drei Jahrzehnte weitete sie sich besonders<br />

in Pará <strong>und</strong> in Mato Grosso massiv aus, gefolgt<br />

von dem boomenden Agrobusiness. Es wird vor<br />

allem Soja <strong>und</strong> Mais angebaut, ideale Produkt, um<br />

in kürzester Zeit den größtmöglichen Profit zu<br />

erzielen. Das ganze Szenarium spiegel das<br />

Problem, dass es bis heute im Amazonas nur in<br />

Ansätzen gelungen ist, <strong>ein</strong>e ökonomische<br />

Alternative zum Bestehenden zu etablieren. Eine<br />

Ökonomie, die nicht auf purem Extrativismus<br />

basiert, die nachhaltig ist <strong>und</strong> die vor allem auch<br />

<strong>ein</strong>e höhere Wertschöpfung für die lokal<br />

hergestellten Produkte bringt.<br />

Da beißt sich die Schlange in den Schwanz. Ein<br />

ewiger Kreis ohne Ausweg. Noch zu viele Leute<br />

leben hier Mitten im Amazonas unter<br />

menschenunwürdigen Bedingungen. Denn der so<br />

ersehnte Markt der, der sich mit <strong>ein</strong>em intakten<br />

Regenwald vielleicht erschließen ließe, lässt auf<br />

sich warten. Auch die biologische “Guthaben” des<br />

Amazonas, zum Beispiel in die von allen zitierte<br />

Bioindustrie umgewandelt, sind schwer in die Tat<br />

umzusetzen. Die Verantwortlichen spielen sich<br />

gegenseitig, siehe Textanfang, den Ball zu.<br />

Eine andere wichtige Einkommensquelle in<br />

Brasilien ist die Viehwirtschaft. Während der<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 127


Zauberwort Biotechnologie<br />

Das neue Wort, das Zauberwort, heißt<br />

Biotechnologie. Die soll gerade den Amazonas<br />

retten. Die naive Frage ist nur wie?<br />

Biotechnologie, <strong>ein</strong> geheimnisvoll komplexes<br />

Wort, irgendwie schlüpfrig, <strong>ein</strong>e Art Regenschirm,<br />

der all das zu umfassen sch<strong>ein</strong>t, was mit<br />

Technologie <strong>und</strong> Natur <strong>und</strong> deren Nutzung durch<br />

den Menschen zu tun hat. Biotechnologie ist,<br />

wenn es Wissenschaftlern in interdisziplinärer<br />

Zusammenarbeit gelingt, Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

Eigenschaften von Tieren <strong>und</strong> Pflanzen zu<br />

entschlüsseln <strong>und</strong> dieselben für uns Menschen<br />

auch gleich in nützliche Entwicklungen<br />

umzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel<br />

Medikamente, vielleicht gegen Krebs, Impfstoffe,<br />

nützliche Enzyme, genetisch modifizierte Zellen<br />

oder andere Organismen, die dann ihrerseits<br />

neue Funktionen übernehmen, neue chemische<br />

Verbindungen <strong>ein</strong>gehen, neue Diagnosemethoden<br />

erlauben oder was auch immer.<br />

Geht es um den Amazonas, kommen da wohl am<br />

ehesten die Grüne Biotechnologie, die sich mit<br />

Pflanzen <strong>und</strong> Landwirtschaft beschäftigt, die Rote<br />

Biotechnologie, die sich auf den Bereich<br />

medizinisch-pharmazeutischer Anwendungen<br />

konzentriert <strong>und</strong> die Blaue Biotechnologie, die mit<br />

Insekten arbeitet, in Frage.<br />

Soweit so schön. Unbeantwortet bleibt allerdings<br />

die <strong>ein</strong>fache Frage, wer das denn nun machen<br />

solle???? Gilt es <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>gefahrene Schienen<br />

weiter zu befahren? Die wenigen Universitäten im<br />

Amazonas gehören nicht zu den besten Brasiliens.<br />

Bis heute ist es eher schwierig, kompetente<br />

Fachkräfte in die ach so unwirtlichen Tropen zu<br />

locken <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar Idealisten machen nun mal<br />

leider k<strong>ein</strong>en Sommer. Biotechnologie erfordert<br />

neben kompetenten Gehirnen, die erst noch<br />

geformt werden müssen <strong>und</strong> noch kompetenteren<br />

Forschern, auch <strong>ein</strong>e klare Vision der führenden<br />

Köpfe auf allen Ebenen, denen es hier leider aber<br />

noch nicht gelingt, weiter als über ihren eigenen<br />

Bauchnabel hinaus schauen. An Industrien, die die<br />

Forschungen auch gleich anwenden können, gar<br />

nicht zu denken. Die gilt es erst zu gründen.<br />

Auch die weiteren vielleicht noch naivere Fragen<br />

bleiben im Raum stehen. Wie denn nur soll das<br />

Kunststück gelingen, dass nicht nur der<br />

Tropenwald aber auch s<strong>ein</strong>e Bevölkerung<br />

nachhaltig von diesen Forschungen profitiert? Wie<br />

kann <strong>ein</strong> nachhaltiger Bogen geschlagen werden<br />

von der mehr oder weniger intakten Natur, <strong>ein</strong>mal<br />

mehr der riesige Tropenwald, bis zur Industrie?<br />

Wieso garantiert Biotechnologie, dass der Wald<br />

stehen bleibt? Wie nur wird es gelingen, den<br />

«Besitzer» ebendieses Tropenwaldes zu<br />

entschädigen? Wenn er überhaupt gefragt wird,<br />

<strong>ein</strong>bezogen. Nimmt man ihm etwas weg? Oder ist<br />

das, was er hat, Besitz aller Menschen? Wie viel ist<br />

s<strong>ein</strong> Wissen wert, über das nur er verfügt? Ist es<br />

nicht so, dass die großen Gewinner immer die<br />

anderen sind? Die, die sowieso die Macht <strong>und</strong><br />

das Geld in den Händen haben? Es nützt nichts,<br />

sie zu verteufeln. Nur die Zeit, sie tropft uns<br />

unaufhaltsam durch die Hände, wird uns <strong>ein</strong>e<br />

Antwort geben.<br />

Gibt die Biotechnologie den tropischen Wäldern<br />

<strong>und</strong> der Stadt hier <strong>ein</strong>e würdigere Zukunft? Oder<br />

ist sie <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e noch raffiniertere Variante<br />

der Ausbeutung, die wir schon so gut kennen,<br />

<strong>ein</strong>e neue Variante des Altbekannten?<br />

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Curupira, der Beschützer des Regenwalds<br />

Aber halt! Was sind das denn für Fußabdrücke da<br />

im Sand? Kinderfüße... Von der Größe her<br />

könnten sie gar Curupira gehören!<br />

Curupira gilt als Wächter der Wälder, der<br />

endlosen Tropenwälder. Er ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />

Indiojunge mit Feuerhaar, <strong>ein</strong>em Auge mitten auf<br />

der Stirn <strong>und</strong> blauen Zähnen. Es gibt Leute, die<br />

schwören, ihn schon leibhaftig getroffen zu<br />

haben. Mitten im Dschungel, in <strong>ein</strong>er<br />

Notsituation, das leuchtende Haar in Flammen.<br />

Normalerweise macht er sich aber gerne<br />

unsichtbar. Praktischerweise sind ihm s<strong>ein</strong>e Füße<br />

nicht wie uns nach vorne, sondern nach hinten<br />

gewachsen. Das verwirrt alle, die ihn verfolgen<br />

möchten. Denn s<strong>ein</strong>er Spur kann man nicht<br />

trauen, s<strong>ein</strong>e verkehrt herum angewachsenen<br />

Füße hinterlassen <strong>ein</strong>e trügerische Fährte.<br />

Außerdem soll er so schnell laufen können, dass<br />

es k<strong>ein</strong>e Menschen gelungen sei, zu ihm<br />

aufzuschließen.<br />

Wie auch immer, er ist <strong>ein</strong>e Art Wächter des<br />

Tropenwaldes. Von komplexer Persönlichkeit, gilt<br />

er als Beschützer all derer, die sich dem Wald mit<br />

heeren Motiven nähern. Wird aber zum<br />

fürchterlichen Rächer, will man s<strong>ein</strong> Reich<br />

zerstören. Er verwandelt sich, was für <strong>ein</strong>e<br />

Täuschung, in <strong>ein</strong>e Jagdbeute. Lockt damit die<br />

unglücklichen Jäger immer tiefer in den Wald<br />

hin<strong>ein</strong>. Einmal verloren, stößt er schauerliche<br />

Pfeiftöne <strong>und</strong> dumpfe Laute aus, zaubert gar<br />

Traumbilder <strong>und</strong> Fata Morganas her, bis die<br />

Bösewicht so verwirrt sind, dass sie nur noch in<br />

die Irre gehen, oder noch schlimmer, immer im<br />

Kreis, somit nie mehr aus dem Wald herausfinden.<br />

Wer ihm trotzdem entkomme, so geht die Saga,<br />

lasse <strong>ein</strong>en Teil s<strong>ein</strong>es Selbsts im Urwald zurück.<br />

Werde <strong>ein</strong> anderer, für immer Gezeichneter.<br />

Es gibt nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Mittel ihn aufzuhalten.<br />

Merkt man, dass er <strong>ein</strong>em verfolgt, wirft man <strong>ein</strong><br />

kunstvoll kompliziertes Geflecht aus in sich<br />

verschlungenen Fäden hinter sich auf den Weg. -<br />

Diesem Köder kann er nicht widerstehen! Wird<br />

sofort versuchen, das komplizierte Gewirr zu<br />

entwirren, worüber er – Gott sei Dank – vergisst,<br />

<strong>ein</strong>em zu folgen.<br />

Zwar nur <strong>ein</strong>e der vielen schönen Lenden der<br />

Indios, aber im Kern allzu wahr - der komplexe<br />

Regenwald heischt Respekt. Wer schon Mitten<br />

drin war, wo es so gleichförmig ist, dass man sich<br />

problemlos verlieren kann, erzählt von heiligen<br />

Schaudern, die auch Handy <strong>und</strong> GPS, falls sie<br />

überhaupt funktionieren, es gibt zu viele<br />

Funklöcher, nicht abwenden. Nicht zu vergessen<br />

all die kl<strong>ein</strong>en, ekligen Insektenstiche, Kratzer,<br />

kl<strong>ein</strong>en Schnittw<strong>und</strong>en, Bisse, Schrammen <strong>und</strong><br />

Prellungen, die sich langsam entzünden,<br />

schrecklich jucken, die Glieder anschwellen lassen,<br />

wenn man nicht Opfer <strong>ein</strong>er schimmern Infektion<br />

wird. Und dann die Nächte! Die Sonne fällt hier<br />

pünktlich <strong>und</strong> relativ früh hinter den Horizont.<br />

Dann werde es im Wald drin empfindlich kalt, was<br />

die ständige Feuchtigkeit noch verschlimmere.<br />

Immer wieder werden unvorsichtige,<br />

dummerweise vom Weg abgekommene Touristen<br />

total zersch<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ziemlich mitgenommen aus<br />

den hiesigen Nationalparks gerettet. Wer es nicht<br />

schaffe, sterbe weder an Hunger noch an Durst,<br />

sagen sie, sondern am nicht ersetzten Verlust<br />

jener Salze, die ständig zusammen mit dem<br />

Schweiß ausgeschieden werden.<br />

Noch <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>, sich vor dem Curupira wirklich in<br />

Acht zu nehmen!<br />

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Brandrodung vor dem Feuer<br />

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Hier soll <strong>ein</strong> Agroflorestalprojekt angelegt werden<br />

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Selbst geschnitztes Werkzeug, das das Buschmesser stoppt.<br />

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Das Messer<br />

Das Messer, gut <strong>ein</strong>e Handspanne lang, gehört<br />

<strong>ein</strong>em „Mateiro“. „Mateiro“ kann wohl mit<br />

Waldarbeiter, Waldmann übersetzt werden.<br />

Mateiros werden, wie alle hier, der Einfachheit<br />

halber beim Vornamen gerufen. Sie sind zu jeder<br />

Arbeit bereit. Antônio zieht sich gerade das<br />

ausgeblichene T-Shirt über den Kopf. Entblößt<br />

<strong>ein</strong>en zähen, von körperlicher Arbeit durchtrainierten<br />

Oberkörper. Die sehnigen Muskeln<br />

zeichnen sich unter der olivenbraunen, sonnenverbrannten<br />

Haut ab. S<strong>ein</strong>e Bewegungen sind<br />

flink, wieselhaft, organisch. Gerne hätte ich ihn<br />

auf <strong>ein</strong>er Exkursion in den Tropenwald dabei, um<br />

zu sehen, wie er sich, wohl mit der selben<br />

Schnelligkeit <strong>und</strong> Geschicklichkeit, an aalglatten<br />

Palmenstämmen hochzieht, mir <strong>ein</strong>en Weg frei<br />

schlägt, auf <strong>ein</strong>e, für uns andere unsichtbare,<br />

Schlange hinweist.<br />

Stellt s<strong>ein</strong>e Gummilatschen zur Seite. Ignoriert<br />

den tropischen Regen, der k<strong>ein</strong>erlei<br />

Anstrengungen macht, nachzulassen, läuft<br />

sozusagen unter ihm durch <strong>und</strong> begibt sich, nur<br />

noch mit <strong>ein</strong>er losen Bermuda bekleidet, ins<br />

Treibhaus. Bald ist s<strong>ein</strong> dichtes, rabenschwarzes<br />

Haar total versuppt. Geht hin <strong>und</strong> zurück, holt mir<br />

die handspannenlangen Pflänzchen her, die ich<br />

aus der Erde nehme <strong>und</strong> für <strong>ein</strong>e längere Reise<br />

jeweils zu zehnt in Zeitungspapier <strong>ein</strong>wickle. Nur<br />

weil ich ausdrücklich darauf bestanden habe, <strong>und</strong><br />

weil ich schließlich <strong>ein</strong>e verrückte Ausländerin bin,<br />

darf ich hier Hand anlegen. Mir die Hände<br />

schmutzig machen ist viel interessanter, als<br />

tatenlos herumzustehen, wie die beiden<br />

verantwortlichen, so wichtigen Chefs. Und<br />

schmutzig werden m<strong>ein</strong>e Hände wirklich. Stolz<br />

fotografiere ich nach getaner Arbeit m<strong>ein</strong>e<br />

Trauerränder, neben den mit Pflanzenschösslingen<br />

voll bepackten, eigentlich für Fische bestimmten,<br />

Riesenkisten aus Styropor.<br />

Halte inne, der Nachschub ist kurzfristig unterbrochen.<br />

Da fällt m<strong>ein</strong> Blick auf das Messer.<br />

Achtlos hingeworfen, bannt s<strong>ein</strong> ungewöhnliches<br />

Design m<strong>ein</strong>en Blick. Der Griff muss jemand aus<br />

<strong>ein</strong>em rohen Stück Metall, <strong>ein</strong>em Rohr vielleicht,<br />

selbst hergestellt haben. Habe schon gehört, dass<br />

sich Gefangene in unendlicher Kl<strong>ein</strong>arbeit solche<br />

Mordsdinger zurechtbiegen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang an<br />

irgendwelchen Kanten scharf schleifen. Aber hier<br />

ist es wohl der „Mateiro“, der sich, der ewig<br />

verrottenden Holzgriffe leid, aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />

Stück währschaften Blechs <strong>ein</strong>en neuen,<br />

dauerhafteren zurechtgeschnitten hat. Hat die<br />

Klinge darin <strong>ein</strong>gespannt, das Blech um sie herum<br />

zu <strong>ein</strong>em Griff <strong>ein</strong>gerollt, was <strong>ein</strong>ige Geschicklichkeit<br />

voraussetzt. Die obere Hälfte des Griffes ist<br />

etwas breiter <strong>und</strong> flacher, sicher, damit es besser<br />

in der Hand liegt. Wage die Schärfe der Klinge, <strong>ein</strong><br />

langschenkliges, scharf zulaufendes Dreieck, am<br />

Ansatz abger<strong>und</strong>et, nicht zu überprüfen. Bin mir<br />

aber sicher, dass das Messer, in <strong>ein</strong>em anderen<br />

Kontext, durch s<strong>ein</strong>e funktionelle, ursprüngliche<br />

Schönheit bestechen würde.<br />

Wie müßig – bew<strong>und</strong>ere <strong>ein</strong>mal mehr nicht nur<br />

die handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch<br />

die Geschicklichkeit <strong>und</strong> Weitsicht solch <strong>ein</strong>facher<br />

Leute. Werte, die in der Welt derer, die so gut<br />

lesen <strong>und</strong> schreiben können, k<strong>ein</strong>en Platz haben,<br />

nicht honoriert werden, untergehen. Mateiros<br />

sind oft Analphabeten, Ungebildete. Sie stehen<br />

auf der streng hierarchischen Stufenleiter ganz<br />

unten. Ist der Zugang zum Tropenwald bis heute<br />

kompliziert, so war es früher noch komplexer. Oft<br />

wurde die indigene Bevölkerung für diese Arbeit<br />

zwangsverpflichtet, gepresst. Ihre Nachfahren<br />

sind es, die sich bis heute nach Samen bücken,<br />

Spuren lesen können <strong>und</strong> vor allem den Weg<br />

freischlagen <strong>und</strong> alle andere harte körperliche<br />

Arbeit verrichten. „Mateiros“ sind <strong>ein</strong>e Art<br />

Gehilfen, Gärtner, Mädchen für alles: Führer,<br />

Sachverständige, Träger. Jede Forschungsstation,<br />

jeder Biologe, alle, die im Dschungel forschen<br />

oder ihn als Touristen besuchen, irgendwie in ihn<br />

<strong>ein</strong>dringen, sind auf sie angewiesen. K<strong>ein</strong>er wagt<br />

sich ohne <strong>ein</strong> paar solcher Männer hin<strong>ein</strong>.<br />

Fahrlässig, ohne solch <strong>ein</strong>en Spezialisten auch nur<br />

<strong>ein</strong>en Fuß ins Dschungelgrün zu setzen. Es könnt<br />

s<strong>ein</strong>, dass man nie mehr hinaus kommt. Ewig im<br />

Kreis laufend, von der wilden Wildnis <strong>ein</strong>fach<br />

verschluckt wird. Am Salzverlust langsam zu<br />

Gr<strong>und</strong>e geht. Die Mateiros aber, das attestieren<br />

ihnen alle, die auf sie angewiesen sind, sch<strong>ein</strong>en<br />

<strong>ein</strong>en besonderen, <strong>ein</strong>en zusätzlichen Sinn zu<br />

besitzen. Sie geben die ihnen Anvertrauten<br />

immer wieder unfehlbar <strong>und</strong> auf direktem Weg<br />

der Zivilisation zurück.<br />

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Paranusstransport<br />

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Ihre Majestät<br />

Die Hochebene, flach wie <strong>ein</strong> Teller, bloß<br />

geschlagene Erde, helles, krümlig getrocknetes<br />

Braun, <strong>ein</strong> unendlich weites Feld, ist nur teilweise<br />

mit endlosen Reihen niederem Curuá, <strong>ein</strong>em<br />

Gewächs aus der Familie der Ananas, bepflanzt.<br />

Aus Curuáblättern werden die längsten <strong>und</strong><br />

stärksten Fasern gewonnen, die die Natur liefert.<br />

Wir befinden uns auf <strong>ein</strong>er Fazenda nahe<br />

Santarém. Die Hochebene endet weiter unten,<br />

stetig leicht abfallend, man kann die Ufer nur<br />

ahnen, im Fluss Tapajós, <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>bläulicher Strich<br />

am Horizont. Er fließt träge, s<strong>ein</strong> Blau um<br />

Nuancen dunkler als das Blau der unendlichen<br />

Himmel, Richtung Amazonas, mit dessen<br />

trübschlammigen Wassern er sich bald<br />

vermischen wird. Ein schnurgerader Weg<br />

durchschneidet das unter der brennenden<br />

Tropensonne endlos ausgebreitete Land. Er wird<br />

Zum Schluss, da, weit weg, von <strong>ein</strong>em Stück noch<br />

intakten Regenwaldes, kaum merklich erhobenes<br />

Grün, gestoppt. Man kann, weit weg, aber laut<br />

<strong>und</strong> konstant genug, pünktlich so gegen vier, halb<br />

fünf Uhr nachmittags, die gutturalen Schreie der<br />

Affen, es ist <strong>ein</strong>e Bande „Zogzogs“, hören. Man<br />

bekommt sie allerdings nie zu Gesicht, es bleibt<br />

bei den lärmig rauen Stimmen, die das Rudel vor<br />

dem Einnachten unter sehr viel Hallo<br />

zusammenrufen.<br />

Ihre Majestät erhebt sich, hoch <strong>und</strong> stolz<br />

aufgerichtet, <strong>ein</strong>e Einzelgängerin, purer<br />

Anachronismus, am Rand des Weges. Jeder kennt<br />

sie, m<strong>ein</strong>e Frage wird sogleich beantwortet: Es ist<br />

<strong>ein</strong>e Kastanie, <strong>ein</strong> Paranussbaum (Bertholletia<br />

excelsa). Sie ist auch in geschlossenen<br />

Urwaldgebieten <strong>ein</strong>e Einzelgängerin, ihr Stamm<br />

erreicht <strong>ein</strong>en Durchmesser von 1-2 m, aber es<br />

sollen Register von Bäumen geben, deren Umfang<br />

mehr als 5 m betrug. Paranussbäume gehören zu<br />

den höchsten Urwaldbäumen, erheben ihre<br />

großmächtigen Kuppeln weit über das Blattwerk<br />

aller Nachbarbäume. Werden bis zu<br />

atemberaubenden 50 Metern hoch – zu ihren<br />

Füßen bin ich nicht mehr als <strong>ein</strong>e Zwergin.<br />

Nicht unwahrsch<strong>ein</strong>lich, denn man nimmt an, dass<br />

<strong>ein</strong> Paranussbaum 500 oder mehr Jahre leben<br />

kann. Ihr hochgeschossener, mächtig-zilindriger<br />

Stamm mit der rissigen Borke verzweigt sich bald<br />

in üppige Äste. Ihr Holz ist begehrt, eigentlich<br />

bräunlich-rosa färbt es sich unter Licht<strong>ein</strong>fluss hell<br />

kastanienfarben. Daher auch der portugiesische<br />

Name, „Castanheira“. Hier auf der Hochebene<br />

braucht unsere Majestät den ewigen Kampf um<br />

Sonne <strong>und</strong> Nahrung nicht mehr zu kämpfen, sie<br />

steht all<strong>ein</strong>.<br />

Kastanienbäume sind ihrer ökonomischen<br />

Bedeutung wegen, noch <strong>ein</strong> Anachronismus, seit<br />

1994 durch staatliches Gesetz, vor dem Fällen<br />

geschützt. Ihre begehrten, nahrhaften Samen, sie<br />

gelten ihres hohen Eiweiß- <strong>und</strong> Fettgehaltes<br />

wegen als Teil der lokalen Gr<strong>und</strong>nahrung, werden<br />

in natura verspeist, aber auch gerne zusammen<br />

mit Farinha geröstet. Sie gelten, nach dem<br />

Kautschuk, als wichtigstes Exportgut. Allerdings<br />

sammelt man im bolivianischen Amazonas heute<br />

viel mehr davon; in Brasilien leiden die Bestände<br />

unter Übersammlung/Überernte. Die emsigen<br />

Kastaniensammler lassen zu wenige Samen zur<br />

Erneuerung übrig. Manche Bestände sind<br />

vergreist <strong>und</strong> leiden unter dem Klimawandel.<br />

Konzepte nachhaltiger Nutzung sind unbekannt<br />

oder ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e Illusion. Seit 1930 werden<br />

die Kastanien im selben System wie der<br />

Kautschuk kommerzialisiert. Das heißt, dass <strong>ein</strong><br />

Heer Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos die „Oriços“ die<br />

hölzernen, die <strong>ein</strong>zelnen Kastanien umhüllenden<br />

Kugeln im Regenwald zusammen liest, heraus<br />

buckelt <strong>und</strong> zu Sammelstellen bringt, wo die<br />

st<strong>ein</strong>harten Umhüllungen aufgeschlagen werden.<br />

Zwischenhändler, Teil <strong>ein</strong>es f<strong>ein</strong> verflochtenen<br />

kommerziellen Netzes, bei dem die Großhändler,<br />

die den Export dominieren, den Löwenanteil des<br />

Gewinns <strong>ein</strong>streichen, kaufen dann die<br />

Nussernten auf oder tauschen sie in <strong>ein</strong>er Art<br />

Kreditsystem gegen Lebensmittel <strong>und</strong> andere<br />

lebensnotwendige Artikel <strong>ein</strong> - <strong>ein</strong>e komplizierte,<br />

paternale Abhängigkeit.<br />

So ist unsere Majestät <strong>ein</strong>e Überlebende,<br />

zusammen mit drei oder vier anderen, künstlich<br />

mitten aus ihrem hochkomplexen Umfeld<br />

herausgehoben, heraus gefällt, herausgebrannt<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 146


<strong>und</strong> gerodet. Beim Näherkommen bemerke ich<br />

die kräftige Blütenpracht, die in aufstrebenden<br />

Pyramiden die äußeren Äste schmückt. Auf dem<br />

Boden <strong>ein</strong> paar starke, gelbe Blütenkugeln,<br />

perfekt geschlossen bewachen sie die Pollen.<br />

Daneben hat sich im Verwelken <strong>und</strong> Sterben <strong>ein</strong>e<br />

Blüte geöffnet, zeigt die in der Kugel geborgenen<br />

Bürstchen, <strong>ein</strong> hochkomplexer Apparat. Zwei sich<br />

überlappende Blütenhälften umschließen,<br />

komplett wie <strong>ein</strong> Ball, die Blütenknospe. Um ins<br />

Innere der Kugel zu gelangen, muss die obere<br />

Haube regelrecht hochgestemmt werden, was<br />

nur starken, sozusagen auf Kastanienblüten<br />

spezialisierten Bienenweibchen gelingt. Zwängt<br />

sich nun so <strong>ein</strong>e Biene zwischen Haube <strong>und</strong><br />

Blütenblättern durch, wird sie für ihre<br />

Herkulesarbeit mit leckerem Nektar belohnt,<br />

nimmt als Gegenleistung <strong>ein</strong> Pollenstaubbad.<br />

Diese Pollen trägt sie dann, sie fliegt an <strong>ein</strong>em Tag<br />

bis zu 20 km weit <strong>und</strong> befruchtet damit anderer<br />

“Castanheiras”. Paranussblüten sind<br />

Eintagesblüten. Sie öffnen sich in den frühen<br />

Morgenst<strong>und</strong>en, um am Nachmittag schon zu<br />

Boden zu sinken.<br />

Fingerübungen der Natur, <strong>ein</strong>e hochkomplexe<br />

Spielerei voller Verflechtungen <strong>und</strong> Symbiosen.<br />

Die männliche Biene verschmäht<br />

Kastanienbäume, ernährt sich <strong>ein</strong>zig <strong>und</strong> all<strong>ein</strong><br />

von <strong>ein</strong>er spezifischen Art Orchideen. Wenn sie<br />

sie bestäubt, liefert ihr die Orchidee <strong>ein</strong>en<br />

aromatischen Nektar, den wiederum weibliche<br />

Bienen anzieht.<br />

Hier, dem Reststück Dschungel sei Dank, ist der<br />

Zyklus intakt. Aus der befruchteten Blüte bildet<br />

sich der „Oriço“, <strong>ein</strong> st<strong>ein</strong>harter, kanonenkugliger<br />

Ball. Wie <strong>ein</strong> Geschoss fällt er nach 14, 15<br />

Monaten auf den Boden, wo ihn die<br />

Paranusssammler zusammen tragen. In der<br />

extrem harten Kugel sind 10 bis 25 Samen, die<br />

Paranüsse, auch sie von harten Schalen<br />

umschlossen, <strong>ein</strong>gebettet - die Paranuss geizt mit<br />

ihrer Frucht, denn da wo sich bei anderen<br />

Nusskugeln <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong> Deckel loslöst <strong>und</strong> die<br />

Nüsse freigibt, gibt es bei der Kastanienkugel nur<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Öffnung. Nur die starken Nagezähne<br />

der „Cotia“, des Agutis (Dasyprocta aguti), <strong>ein</strong><br />

überall präsentes, kl<strong>ein</strong>es Nagetier, mit dem<br />

Meerschw<strong>ein</strong>chen verwandt, das s<strong>ein</strong>en<br />

r<strong>und</strong>lichen Körper mit dem rötlich braunen Fell auf<br />

kurzen flinken B<strong>ein</strong>chen hierhin <strong>und</strong> dahin bewegt,<br />

gelingt es, die Kugeln zu knacken. Ein tropisches<br />

Eichhörnchen versteckt <strong>und</strong> vergisst es <strong>ein</strong>en Teil<br />

der Beute <strong>und</strong> „pflanzt“ so unzählige neue Bäume.<br />

Kantig <strong>und</strong> schwer, die Schale gefurcht, liegt die<br />

Nuss in m<strong>ein</strong>er Hand. Der Verkäufer schlägt mir<br />

mit dem riesigen Buschmesser, immer scharf an<br />

s<strong>ein</strong>en Daumen vorbei, <strong>ein</strong>e Nuss auf. Wenn sie<br />

ganz frisch sind, “Castanhas de leite”,<br />

Milchkastanien, sind die Nüsse sehr weiß <strong>und</strong> von<br />

delikatem, nussigem Geschmack. Das Nussaroma<br />

klickt etwas in m<strong>ein</strong>er Erinnerung an. Genau so<br />

<strong>ein</strong>e Nuss hat uns immer der Nikolaus gebracht!<br />

Wenn er, endlich, zum Schluss s<strong>ein</strong>en prallen<br />

Jutesack ausschüttete, lag sie zwischen den<br />

Mandarinen <strong>und</strong> den Mandeln, mischte sich<br />

unter die Hasel- <strong>und</strong> Baumnüsse. Das war sie<br />

also, <strong>ein</strong>e exotische Paranuss, so fern <strong>und</strong> so nah.<br />

Ihre Majestät die Kastanie ist <strong>ein</strong> Symbol für den<br />

globalen Handel. Ein Symbol auch der absurden<br />

Komplexität <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit des<br />

amazonischen Tropenwaldes. Ob es wohl<br />

zukünftigen Forschergenerationen irgendwann<br />

<strong>ein</strong>mal gelingen wird, alle s<strong>ein</strong>e Rätsel zu<br />

entschlüsseln?<br />

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Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung<br />

Die Bilder sind griffig. Die Fakten sprechen für<br />

sich. Ökonomie gegen Ökologie. Einsam mahnend<br />

erheben sich die Kastanienbäume über die<br />

akkuraten Reihen Sojapflanzen. Niedrig grüne<br />

Monokultur, insektenfrei, kriechen bis an den<br />

Horizont. Die Grenzen, wo früher der Tropenwald<br />

war, sind in der Ferne sichtbar. Darunter<br />

fruchtbare Erde, vor kurzem noch relativ billig zu<br />

haben, flach <strong>und</strong> deshalb ideal, um maschinell<br />

bearbeitet zu werden. Das lockte viele Farmer aus<br />

Südbrasilien hier in den Osten <strong>und</strong> Süden von<br />

Pará. Soja pflanzen, in kl<strong>ein</strong>en, mittleren <strong>und</strong><br />

mächtigen Dimensionen, ist <strong>ein</strong>e der mehr<br />

sichersten <strong>und</strong> effizientesten Formen, um<br />

kurzfristig Geld zu verdienen. Und wer will das<br />

nicht. Noch <strong>ein</strong> Zyklus, der sprießt, blüht <strong>und</strong> sich<br />

irgendwann erschöpfen wird.<br />

Hier in Brasilien <strong>und</strong> besonders im Norden denkt<br />

k<strong>ein</strong>er langfristig. Auch große Unternehmen<br />

wollen ihre Investitionen gleich morgen mit<br />

Gewinn zurückbekommen. K<strong>ein</strong>er riskiert, sich auf<br />

<strong>ein</strong>e Investition <strong>ein</strong>zulassen, die vielleicht in zehn<br />

oder mehr Jahren Gewinn abwerfen wird oder<br />

auch nicht. Es fehlt an Aufklärung, Erziehung <strong>und</strong><br />

Vision.<br />

Es ist <strong>ein</strong> faszinierender Widerspruch, dass<br />

Brasilien über <strong>ein</strong>e sehr fortschrittliche<br />

Umweltschutz- Gesetzgebung verfügt, die auch<br />

<strong>ein</strong>e aktive Beteiligung der sozialen Akteure<br />

erlaubt. Aber die Realität zeigt, dass die<br />

führenden Köpfe welcher politischen Couleur sie<br />

auch sind, nach wie vor überzeugt sind, dass<br />

Fortschritt nur mit ungebremstem<br />

Wirtschaftswachstum erreicht werden kann. Seit<br />

der Jahrh<strong>und</strong>ertwende, ab dem Jahr 2000<br />

beginnt Brasilien immer mehr Rohprodukte <strong>und</strong><br />

Rohmaterialien zu exportieren. Die überholen die<br />

industrialisierten Produkte <strong>und</strong> gelten heute <strong>ein</strong>e<br />

Art Nationalstolz. Neben Erdöl, Eisenerz, Zucker,<br />

Rindfleisch, Hähnchen, Tabak, Kaffee <strong>und</strong><br />

Orangensaft ist auch Soja mit <strong>ein</strong> großes Zugpferd<br />

der Exporte. Eine Entscheidung, die auf riesige<br />

Dimensionen, auf Monokulturen ohne Vergleich<br />

setzt <strong>und</strong> durch den unvorstellbar hohen<br />

Verbrauch an Pestiziden möglich gemacht wird.<br />

Brasilien steht weltweit an fünfter Stelle im<br />

Verbrauch an Düngemittel <strong>und</strong> Insektenvertilgern.<br />

Geht es um Sojaanbau, muss man auch über die<br />

ungenügende Infrastruktur sprechen. Soja wird<br />

mehrheitlich auf Lastwagen transportiert, <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er Teil nur auf dem Wasser oder mit der<br />

Bahn. Das ist teuer <strong>und</strong> trägt auch dazu bei, dass<br />

unschätzbare natürliche Ressourcen verloren<br />

gehen, als Wegzoll mit<strong>ein</strong>kalkuliert. Oder <strong>ein</strong>fach<br />

gesagt, Wachstum um jeden Preis. Eine große<br />

<strong>und</strong> wie es sch<strong>ein</strong>t unlösbare Herausforderung<br />

für die lokale Verwaltung <strong>und</strong> auch den<br />

brasilianischen Staat. Es sch<strong>ein</strong>t, als ob der<br />

w<strong>und</strong>erbare Diskurs <strong>ein</strong>mal mehr im Diskurs<br />

stecken bleibt <strong>und</strong> an den realen Realitäten,<br />

scheitert. Und so ändert sich nichts am lokalen<br />

Modell des Exportes von Commodities,<br />

Rohstoffprodukten, die vom Weltmarkt abhängig<br />

sind <strong>und</strong> hier an Ort k<strong>ein</strong>e oder nur sehr wenig<br />

Wertschöpfung erlauben.<br />

Gleich hier im Hafen von Santarém hat der<br />

amerikanische Riese Cargill <strong>ein</strong>en gigantischen<br />

Arm in den Fluss gestellt. Der erlaubt es, die<br />

Sojakörner direkt in die nimmersatten Bäuche<br />

der Schiffe zu füllen, die sie nach Europa,<br />

Nordamerika <strong>und</strong> Asien bringen. China ist <strong>ein</strong>er<br />

der Hauptk<strong>und</strong>en für brasilianisches Soja. Die<br />

riesigen gespensterhaften Erntemaschinen <strong>und</strong><br />

die endlosen LKW-Karawanen voller kostbarer<br />

Sojakörner arbeiten in der Gegend zwischen<br />

Dezember <strong>und</strong> Juni auf Hochtouren. Die<br />

Lastwagen entladen ihre kostbare Fracht in<br />

riesigen Körnersilos. Zudem werden über die<br />

B<strong>und</strong>esstraße BR 163 noch viele weitere Tonnen<br />

Soja aus Matto Grosso her gekarrt. Sind die<br />

Sojakörner geerntet, wird als Wechselkultur <strong>und</strong><br />

Düngung Mais angepflanzt.<br />

Die realen Realitäten haben den Traum vom<br />

unberührten Paradies, <strong>ein</strong> Sehnsuchtsort, längst<br />

überholt. Will man den Wald, wie man es von<br />

außen als wünschenswert ansieht, stehen lassen,<br />

ignoriert man, dass der Tropenwald historisch<br />

immer schon ausgebeutet wurde, genutzt <strong>und</strong><br />

benutzt. Nur an der Frage ?wie? scheiden sich<br />

die Geister.<br />

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Von den<br />

Wassern<br />

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Von den Wassern<br />

Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse 167<br />

Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee 172<br />

Zusammenfließen der Wasser, Naturschauspiel - Encontros das águas 175<br />

Flusses Ernte 178<br />

Über den grünen See 194/196<br />

Der verzauberte Wald 199<br />

Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem 206<br />

Regelmäßig überflutet, die Várzea 210<br />

Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut 214<br />

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Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse<br />

Faszinierend fremde Welt der amazonischen<br />

Weiß-, Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse, so benannt<br />

nach ihrer Optik. Für europäische Augen sind<br />

wohl die transparenten, grün-türkisklaren Wasser<br />

des Tapajós, Tocantins <strong>und</strong> Xingús die<br />

attraktivsten. Sie werden Hellwasser genannt. Der<br />

Rio Negro, der Schwarzwasser-Fluss, dessen<br />

moskitofreie, bernst<strong>ein</strong>farbene Wasser an<br />

verdünnte Coca-Cola oder starken Schwarztee<br />

erinnern, sind etwas gewöhnungsbedürftig. Träge<br />

<strong>und</strong> schmutzig wälzen sich die Riesenströme<br />

Solimões, Madeira, Amazonas <strong>und</strong> Rio Branco<br />

dahin. Die lehmigen, trüben „weißen“ Wasser<br />

dieser Flüsse signalisieren, dass ihre Wasser sehr<br />

nährstoffreich sind <strong>und</strong> viele Sedimente <strong>und</strong><br />

ausgewaschene Erde mitschwemmen. Sie haben<br />

gerade deswegen die reichste Flora <strong>und</strong> Fauna. So<br />

ist zum Beispiel der Rio Madeira bekannt für<br />

s<strong>ein</strong>en Fischreichtum.<br />

dass er über Nacht (!) s<strong>ein</strong> Bett wechsle. Mancher<br />

Kapitän soll schon auf den Wassern des Flusses<br />

schlafen gegangen s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> auf dem Trockenen<br />

erwacht. Interessant sind auch die schwimmenden<br />

Grasinseln, Matupá genannt, die sich immer<br />

wieder von den steil abfallenden Ufern loslösen,<br />

Eigenleben entwickeln <strong>und</strong> lautlos riesig<br />

flussabwärts schwimmen.<br />

Auch das Steigen <strong>und</strong> Fallen der Wasser im<br />

Jahresrhythmus ist ungewöhnlich. Der<br />

Wasserstand fällt während sechs Monaten, um<br />

dann die nächsten sechs wieder anzusteigen. Der<br />

Unterschied zwischen Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser ist<br />

beträchtlich, kann zehn, fünfzehn Meter<br />

ausmachen.<br />

Die amazonischen Flüsse sind riesig wie Meere,<br />

oft ist das andere Ufer nur zu erahnen. Jeder Fluss<br />

hat s<strong>ein</strong>e eigenen Tücken <strong>und</strong> Besonderheiten,<br />

alle werden sehr respektiert. Einer der trügeristen<br />

Flüsse soll der Rio Madeira s<strong>ein</strong>, unberechenbar<br />

<strong>und</strong> hinterhältig, denn er führt immer viel Erde<br />

<strong>und</strong> Schlamm mit sich, was sozusagen über Nacht<br />

tückische Sandbänke entstehen lässt. Manchmal<br />

unterspült die Strömung auch <strong>ein</strong>e bestehende<br />

Sandbank, was <strong>ein</strong>e riesige Flutwelle auslösen<br />

kann. Nicht von ungefähr wird ihm nachgesagt,<br />

Zusammenfließen des Tapajós <strong>und</strong><br />

Amazonas vor Santarém<br />

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Rio Trombetas<br />

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Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee<br />

Bernst<strong>ein</strong>farbener Schwarztee, Coca-Cola<br />

vielleicht, das Schwarzwasser des Rio Negros, des<br />

Schwarzen Flusses, ist anders, etwas, woran<br />

mancher nicht gewohnt ist. Steckt man kühn <strong>ein</strong>e<br />

Hand ins Wasser, umspielt es bräunlich die<br />

Knöchel. Man kann sich über die dunkle<br />

Durchsichtigkeit <strong>und</strong> das wechselvolle Licht- <strong>und</strong><br />

Schattenspiel der Bäume freuen. Einige stehen<br />

fast bis an Blattwerk unter Wasser. Aber bald wird<br />

der Fluss Faszination. Lauwarm <strong>und</strong> gischtig perlt<br />

er <strong>ein</strong>em durch die Finger, körper- oder etwas<br />

weniger elegant Pipi-warm, von <strong>ein</strong>zelnen um<br />

Grade kühleren Strömen durchzogen, immer<br />

erstaunlich transparent.<br />

Die Wasser des Rios Negros sind dank vieler<br />

zersetzter Pflanzensedimente sehr alkalihaltig <strong>und</strong><br />

deshalb fast moskitofrei <strong>und</strong> durchsch<strong>ein</strong>end.<br />

Überall sieht man bis auf den weichen, strahlend<br />

hellen, staubf<strong>ein</strong>en Sandgr<strong>und</strong>. In diesen<br />

geologisch sehr alten Flussbetten verbirgt sich<br />

auch die Erklärung für s<strong>ein</strong>e Transparenz. Es gibt<br />

ganz <strong>ein</strong>fach k<strong>ein</strong>e Erde oder Sedimente mehr<br />

zum Mitschwemmen, die die Wasser <strong>ein</strong>trüben<br />

würden, gar <strong>und</strong>urchsichtig machten.<br />

Auch der Rio Negro ist <strong>ein</strong> Gigant. Er gehört zu<br />

den drei größten Flüssen der Erde. Durch s<strong>ein</strong><br />

Bett fließt mehr Wasser, als durch alle<br />

europäischen Flüsse zusammen. S<strong>ein</strong><br />

Wasserstand schwankt je nach Jahreszeit. Der<br />

Unterschied zwischen Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />

beträgt zwischen 9 <strong>und</strong> 12 Metern. Die<br />

Hafenanlage von Manaus, 1907 von Engländern<br />

konstruiert, schwimmt. Nur so wird sie den<br />

verschiedenen Wasserständen gerecht. Im<br />

Amazonas muss man erfinderisch s<strong>ein</strong>.<br />

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Der Rio Negro fließt in den Solimões <strong>und</strong> wird zum Amazonas<br />

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Der Tapajós ergießt sich in den Amazonas<br />

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Naturschauspiel Encontros das águas - Zusammenfließen der Wasser<br />

Die Linie ist von weitem sichtbar. Windet sich in<br />

weichem Hin <strong>und</strong> Her mitten durch den Fluss. Ein<br />

unvergessliches Naturschauspiel, wenn die<br />

Wasser zweier Giganten auf<strong>ein</strong>ander treffen,<br />

neben<strong>ein</strong>ander her fließen,kilometerlang, um sich<br />

irgendwann dann doch zu ver<strong>ein</strong>igen wie vor<br />

Manaus oder Santarém. Schlägt das bullige<br />

Ausflugsschiff, das <strong>ein</strong>em in <strong>ein</strong>em Tagesausflug<br />

da hinaus bringt, <strong>ein</strong>en Haken, befindet man sich<br />

direkt auf der trennenden Linie, eher <strong>ein</strong> fahriger<br />

Zickzack, der die zwei Wasser trennt, teedunkel<br />

oder blau <strong>und</strong> hellerdig heben sie sich deutlich,<br />

fast gestochen scharf, von<strong>ein</strong>ander ab, mäandern<br />

in<strong>ein</strong>ander ohne sich zu vermischen. Kilometerweit<br />

fließen die schlammigen Weißwasser oder<br />

die transparenten Schwarzwasser neben den<br />

trüben her, perfekt getrennt durch <strong>ein</strong>e gut<br />

sichtbare, nur strichf<strong>ein</strong>e Linie.<br />

Es ist <strong>ein</strong> physikalisches Phänomen, das es<br />

möglich macht. Die Wasser dieser Giganten haben<br />

<strong>ein</strong>e unterschiedliche Temperatur <strong>und</strong> Dichte <strong>und</strong><br />

bewegen sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten<br />

fort. Vor Manaus fließen die transparenten,<br />

schwarzteedunklen Wasser des Flusses<br />

Rio Negro, des Schwarzen Flusses, der später zum<br />

Amazonas wird, träge neben den schlammbraunen<br />

des Solimões her, bis sie, man kann es<br />

nur ahnen, zu <strong>ein</strong>er Art strömendem Süßwassermeer<br />

werden. Dasselbe passiert weiter flussabwärts<br />

auf der Höhe von Santarém, wo sich der<br />

blaue, klare Tapajós mit dem trüben, opacken<br />

Amazonas ver<strong>ein</strong>t.<br />

der<br />

Zusammenfluss Rio Maués <strong>und</strong> Rio Negro<br />

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Flusses Ernte<br />

Ausgebreitet liegt sie vor mir auf der <strong>ein</strong>fachen<br />

Holzbank, die vielfältig überreiche Ernte, die mir<br />

die lehmig-schlammigen Wasser des Amazonas,<br />

breit wie <strong>ein</strong> Meer, vor die Füße geschwemmt<br />

haben. Ein kurzer Spaziergang entlang<br />

melancholisch beige-grauer Strände aus weichem<br />

Sand genügt, alle Taschen, gar das nach Kinderart<br />

über dem Bauch hochgeschürzte T-Shirt, mit<br />

Schätzen prall zu füllen. An- <strong>und</strong> mitgeschwemmt,<br />

hergetragen, zurückgelassen <strong>und</strong> vergessen,<br />

kl<strong>ein</strong>e Potenzpakete, um gleich da oder anderswo<br />

weiter unten in <strong>ein</strong> paar Jahren <strong>ein</strong>en neuen Wald<br />

entstehen zu lassen.<br />

Wie lange sie wohl, leise schaukelnd, „Igarapé“<br />

für „Igarapé“ durchflossen haben, meerwärts,<br />

immer weiter, bis hierher? Getrieben,<br />

geschaukelt, geschwemmt? Wie vielen hungrigen<br />

Mäulern sind sie glücklich entkommen? Sind es<br />

St<strong>und</strong>en, vielleicht Tage oder gar Monate, bis sie<br />

hier im Sand stranden? Es sind k<strong>ein</strong>e Muscheln,<br />

sondern Kokosnüsschen in allen Größen, alle<br />

Arten von Kastanien <strong>und</strong> anderen Nüssen,<br />

Mandeln, kl<strong>ein</strong>e Ballone, die Samen enthalten,<br />

w<strong>und</strong>erbar gew<strong>und</strong>ene Bohnen, Rispen, Rinden.<br />

Es gibt die verrücktesten Formen, Kombinationen<br />

<strong>und</strong> Hüllen, Verpackungsdesign wie es<br />

<strong>ein</strong>fallsreicher nicht s<strong>ein</strong> könnte. Was die Natur<br />

alles evoluiert, um ihre kostbare Fracht auf die<br />

Reise zu schicken!<br />

Diese hier ist leicht zu identifizieren: Diese<br />

dreikammrige Frucht enthält die Samen des<br />

Gummibaums, gräulich, vom Wasser<br />

ausgewaschen, ovalr<strong>und</strong> <strong>und</strong> r<strong>und</strong>herum<br />

<strong>ein</strong>gekerbt. Dann gibt es die dickbäuchigen,<br />

orangebraunen Samenfrüchte des Andirobabaumes,<br />

auf der <strong>ein</strong>en Seite abgeflacht <strong>und</strong> auf<br />

der anderen r<strong>und</strong>, zu fünft, sechst oder<br />

siebt in der selben runzelig weichen Kugel<br />

<strong>ein</strong>gebettet. Versuche, ob <strong>ein</strong>er der angeschwemmten<br />

Deckel mit dem charakteristischen<br />

Mittelspeer zu <strong>ein</strong>er der leeren Hüllen passt. Ein<br />

unmögliches Unterfangen. Die Technologie ist<br />

perfekt. Der Deckel springt ab <strong>und</strong> gibt die gut<br />

geschützten Samen frei, schickt sie auf <strong>ein</strong>e<br />

abenteuerliche Reise. Denn an Räubern <strong>und</strong><br />

Fressf<strong>ein</strong>den mangelt es nicht!<br />

Manche Samen sind so genial adaptiert, dass die<br />

Nuss, der Kern, tief im köstlichen Fruchtfleisch<br />

versteckt, nur dann sprießt, wenn er den eisernen<br />

Magen <strong>ein</strong>es Räubers, oft auch <strong>ein</strong> hoch<br />

spezialisierter Fisch, durchlaufen hat. Der<br />

Tambaqui zum Beispiel knackt mit s<strong>ein</strong>en starken<br />

Kiefern viele Palmfrüchte, die s<strong>ein</strong> Fleisch<br />

w<strong>und</strong>erbar fett <strong>und</strong> köstlich machen <strong>und</strong> zu<br />

bestimmten Jahreszeiten gar mit dem<br />

charakteristischen Geschmack der Palmfrucht, die<br />

er so gerne verspeist, imprägniert. Er verwertet<br />

alles, was ihm die Natur aufdeckt, respektive<br />

direkt vor die Nase plumpsen lässt.<br />

Auch gelb-orange Tucumãs schwimmen daher,<br />

ihre f<strong>ein</strong> abgeschälte Rinde schmeckt seltsam<br />

holzig. Der Fluss erspart <strong>ein</strong>em die wehrhaften,<br />

fingerlangen, stricknadeldicken Stacheln, die den<br />

Stamm umr<strong>und</strong>en <strong>und</strong> den Menschen <strong>und</strong><br />

andere Fressf<strong>ein</strong>de auf Distanz halten. Die<br />

beigebraunen, silbern gewaschenen Ballönchen<br />

sind wohl wilde Maracujás, aber ich will sie nicht<br />

zerstören, nur um sie zu identifizieren. Die<br />

andere kl<strong>ein</strong>e, ausgewaschene Kugel voller<br />

stumpfer Hörnchen ist Mutamba, früher als<br />

Heilmittel <strong>ein</strong>gesetzt.<br />

So liegt sie vor mir, die symbolische, überreiche<br />

Ernte des Flusses, Anfang <strong>und</strong> Schlusspunkt<br />

dieses monochromatischen Paradieses hier,<br />

<strong>ein</strong>silbig, eigenartig karg, um das Wort monoton<br />

zu vermeiden, endlos, endlos weit <strong>und</strong> endlos<br />

fruchtbar.<br />

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Alter do Chão<br />

bei Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />

Dieses <strong>und</strong> folgende Bilder<br />

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Aramani<br />

bei Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />

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Über den grünen See<br />

Stecke kühn die Hand ins Nass. Lauwarm <strong>und</strong><br />

gischtig bräunlich springt es mir perlend durch die<br />

Finger. Körperwarm. Als Kind sagten wir so warm<br />

wie Pipi! Das Wasser ist transparent-bräunlich,<br />

von <strong>ein</strong>zelnen, um Grade kühleren Strömen<br />

durchzogen, wie das erste ausgiebige Bad,<br />

herrlich erfrischend, bestätigt. Man wäscht sich<br />

für kurze Zeit die ganze, ständig präsente Hitze<br />

davon, besonders, wenn man sich der leichten<br />

Brise aussetzt, ohne sich abzutrocknen.<br />

Die absolut unverhältnismäßigen Proportionen<br />

erschrecken noch immer. Werden im blechernen<br />

Winzboot die endlosen Wasser des Grünen Sees<br />

durchqueren. S<strong>ein</strong>e Ufer sch<strong>ein</strong>en kilometerweit<br />

weg. Der Name Grüner See ist eigentlich<br />

irreführend. Das riesige Wasser ist <strong>ein</strong> Teil des<br />

Tapajós, der <strong>ein</strong> paar Kilometer weiter unten<br />

schon mit dem Amazonas zusammenfließt. Still<br />

liegt er vor uns, der leise Wind kräuselt <strong>ein</strong> paar<br />

stetige, launige Wellen. Man würde das<br />

Restaurant auch per Auto erreichen. Aber per<br />

Boot ist es romantischer. Die wirklichen Wege im<br />

Amazonas sind Wasserwege. Die Fahrt dauert<br />

weniger lange als das Winzboot <strong>und</strong> die<br />

Sichtdistanz befürchten ließen. Gott sei Dank<br />

stecken m<strong>ein</strong>e Füße in gut sitzenden<br />

Plastiksandalen, denn hie <strong>und</strong> da springt <strong>ein</strong>e<br />

schlecht geschnittene Welle ins Boot, netzt nicht<br />

nur m<strong>ein</strong>e B<strong>ein</strong>e. Nur für m<strong>ein</strong>en <strong>Foto</strong>apparat<br />

hätte ich wohl doch besser <strong>ein</strong>e Plastiktüte<br />

mitgebracht.<br />

Endlos flach <strong>und</strong> gleichförmig ziehen die fernen<br />

Ufer vorbei. Springen vor, ziehen sich zurück.<br />

Schon haben wir die erste Landzunge umfahren.<br />

Der Fahrer hält sich geschickt in relativer<br />

Ufernähe. Da ist die Strömung schwächer.<br />

Trotzdem sind die Wasser endlos. Dankbar zurre<br />

ich die orangefarbene Schwimmweste noch etwas<br />

fester. Erinnere mich an Sonnenaufgänge, bei<br />

denen sich die Sonne, zuerst nur <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>er, rosa<br />

Streifen über dem endlos flache Horizont, wie <strong>ein</strong>e<br />

goldene Münze in Minutenschnelle über die graue<br />

Messerklinge hochschiebt, bald zum glühenden<br />

Sonnenball mutiert. Schon schimmert der Bug des<br />

Schiffes in warmem Licht. An den dichtgrünen<br />

Ufern hebt sich hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong> gefallener<br />

Baumriese gespenstig-malerisch ab gegen die<br />

weißsandigen Strände, die die Ufer säumen. Im<br />

Januar liegen sie, es ist Niederwasser, fast ganz<br />

frei, <strong>ein</strong> dekoratives, gezacktes Bord.<br />

Bald liegt die Hälfte des Sees hinter uns. Noch<br />

erschien er mir endlos. Die Sonne steht schon<br />

ansehnlich hoch, als der Bootsführer da, weit weg,<br />

wage ins gleichförmige Baumdickicht zeigt. Da, da<br />

r<strong>ein</strong> müssen wir. Er kennt sich aus, für mich sind<br />

die Ufer, die zurückweichen <strong>und</strong> vorspringen, auch<br />

mal zwanzig, dreißig Meter hoch über den<br />

Wasserspiegel erheben, erschreckend<br />

gleichförmig, völlig identisch. Anders als auf dem<br />

Amazonas gibt es hier k<strong>ein</strong>e schwimmenden<br />

Grasinseln, die lautlos, intensivgrün <strong>und</strong> stetig<br />

vorbeiziehen. Schon tut sich vor uns <strong>ein</strong> so<br />

genannter „Furo“, <strong>ein</strong> Loch im Gestrüpp auf. Ein<br />

kl<strong>ein</strong>er, sich immer mehr verschließender<br />

Zugang. Bald schon versandet er. Nach <strong>ein</strong> paar<br />

h<strong>und</strong>ert Metern gilt es den Motor hochzulegen.<br />

Schon schiefern wir über den Gr<strong>und</strong>. K<strong>ein</strong><br />

Problem. Das flache Boot etwas auf den Sand<br />

gezogen <strong>und</strong> schon folgen wir dem kaum<br />

sichtbaren Pfad mitten ins grüne Nichts. Der<br />

Bootsführer kennt den Weg. Nach guten zehn<br />

Minuten Fußmarsch, immer dem stillen,<br />

sumpfigen Bächl<strong>ein</strong> nach, steht es, malerisch an<br />

<strong>ein</strong>em stillen, offenen Teich gelegen, plötzlich<br />

vor uns, funktionierend, <strong>ein</strong> paar Tische sind mit<br />

anderen Gästen besetzt. Der Bootsführer will<br />

zurück <strong>und</strong> so ver<strong>ein</strong>baren wir mit ihm <strong>ein</strong>e neue<br />

Uhrzeit. Er wird uns hier wieder abholen.<br />

Die Fischsuppe wird etwas dauern. Zeit genug,<br />

den Ort <strong>und</strong> die Umgebung zu erk<strong>und</strong>en.<br />

Bew<strong>und</strong>ere die kitschig illustrative Wandmalerei.<br />

Sie nimmt die ganze Wand, <strong>ein</strong>, die die Küche<br />

von der Gaststube, eigentlich nicht viel mehr als<br />

<strong>ein</strong> breites Dach, abtrennt. Sie zeigt <strong>ein</strong>en<br />

Fantasi<strong>ein</strong>diostamm, wohl die „Borari“, die hier<br />

in Alter do Chão heimisch sind, bei alltäglichen<br />

Verrichtungen. Ein großer, sandbedeckter freier<br />

Platz, im Hintergr<strong>und</strong> das Gem<strong>ein</strong>schaftshaus,<br />

palmstrohgedeckt <strong>und</strong> fensterlos. Es ist<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 194


echteckig <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> Dach läuft halbr<strong>und</strong> in <strong>ein</strong>er<br />

Spitze aus. Der <strong>ein</strong>zige Eingang ist symmetrisch in<br />

der Mitte. Indios haben oft Gem<strong>ein</strong>schaftshäuser.<br />

Alles gehört allen. Der persönliche Besitz<br />

beschränkt sich auf <strong>ein</strong> paar Werkzeuge, Pfeil <strong>und</strong><br />

Bogen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Haustier, vielleicht <strong>ein</strong> Papagei<br />

oder Äffchen als Gesellschaft <strong>und</strong> die<br />

Hängematte. Vor dem Gem<strong>ein</strong>schaftshaus <strong>ein</strong>e<br />

Feuerstelle <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e India, die Früchte entst<strong>ein</strong>t<br />

oder schält. Rechts ganz im Vordergr<strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

effektvoll bemalter Indiojunge. S<strong>ein</strong> vollr<strong>und</strong>es<br />

Gesicht, ist unter dem Topfhaarschnitt zur Hälfte<br />

mit rotem „Urucum“ bemalt. S<strong>ein</strong>e Männlichkeit<br />

bedeckt <strong>ein</strong>e Art Lendenschurz. Auf dem Finger<br />

hält er <strong>ein</strong>en grünen Papagei, der wohl s<strong>ein</strong><br />

Schoßtier ist. Um ihn herum andere Indigenas, die<br />

entweder Töpferwaren herstellen oder dieselben<br />

bemalen. Die links trägt <strong>ein</strong> Kind im Tragetuch.<br />

Die Männer des Stammes sch<strong>ein</strong>en soeben von<br />

der Jagd zurück. Ein Boot hat schon am Flussufer<br />

angelegt. Ein zweites Kanu wird gerade aufs Ufer<br />

hochgezogen. Über die Idylle fliegt stolz <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>zelner Reiher, am Flussufer ruht sich <strong>ein</strong><br />

anderes Reiherpaar aus. Links neben dem Jungen<br />

wartet <strong>ein</strong> abenteuerlich aussehender H<strong>und</strong>, halb<br />

Husky, halb Wolf. Über ihm prangt <strong>ein</strong><br />

Cashewbaum, voller Früchte. Ein paar gelbschwarzer<br />

Vögel, „Japins“, man kann sie hier oft<br />

beobachten, naschen davon. Weiter rechts, direkt<br />

auf den Stamm des Baumes, ist das, in<br />

brasilianischen Restaurants immer vorhandene,<br />

Waschbecken gemauert. Hier wäscht man sich vor<br />

dem Essen die Hände <strong>und</strong> nachher spült man sich<br />

den M<strong>und</strong> oder putzt hier gar die Zähne. Ganz<br />

rechts, gleich unter den üppigen Cashews,<br />

bewegen sich die Handtücher leicht im Wind. In<br />

der Mitte des Bildes zwei fest gemauerte<br />

Klimaanlagen, gleich darunter schwingen sich zwei<br />

rote Papageien in den strahlenden Himmel.<br />

Dann erk<strong>und</strong>e ich die Umgebung. Am sandigen<br />

Strand vor dem Restaurant, der an <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en<br />

See, eher <strong>ein</strong>em Teich endet, spielen zwei Jungen<br />

mit bloßen Füßen Fußball, was bei der Bruthitze<br />

wohl ziemlich anstrengend s<strong>ein</strong> muss. Sie lachen,<br />

lassen sich in den Sand fallen <strong>und</strong> vergnügen sich<br />

sehr. Der <strong>ein</strong>e hat den muskulösen Oberkörper<br />

entblößt, beide tragen Bermudas. Vor der Sonne<br />

schützen sich beide mit verkehrt herum<br />

aufgesetzten Schirmmützen.<br />

Gehe <strong>ein</strong> paar Schritte dem Teichufer entlang.<br />

Bew<strong>und</strong>ere die hoch aufgeschossenen Palmen, die<br />

sich im nur hin <strong>und</strong> da leise bewegten Wasser<br />

spiegeln. Schon glättet sich der Teich wieder, steht<br />

gleißend <strong>und</strong> unbewegt <strong>und</strong> ich sehe das ganze<br />

Panorama sozusagen doppelt, <strong>ein</strong>mal aufrecht<br />

stehend, <strong>ein</strong>mal auf dem Kopf. Sehe die<br />

Schönwetterwolkenberge zweimal, die sich<br />

ständig über den klarblauen Himmel schieben, sich<br />

teilen <strong>und</strong> sich zu immer neuen Formationen<br />

zusammenballen, vor die Sonne gleiten, sodass<br />

plötzlich alles im Schatten liegt, die Farben sich<br />

abrupt verdunkeln. Minuten später brennt sie<br />

schon wieder voll herab, die unregelmäßig<br />

r<strong>und</strong>kupplige Fauna, aus der sich immer wieder<br />

<strong>ein</strong>zelne Bäume herausheben, verdoppelt sich<br />

wieder. Ein paar „Buritís“ stehen, was sie sehr<br />

gerne mögen, gar mit den Füßen im Fluss,<br />

glasklarer, transparenter Spiegel. Diese Art<br />

Vegetation heißt, die Indigenen haben für alle<br />

diese Naturphänomene Namen, „Várzeas“. Die<br />

Hitze heizt die Wasser auf, sie werden lau,<br />

körperwarm. Wir suhlen uns wie Kinder, baden<br />

st<strong>und</strong>enlang, die Wasser so warm, dass uns die<br />

Abendluft nach dem Bad fast kühl vorkommt.<br />

Schau, wir sind gar nicht die letzten Gäste! Da<br />

kommt <strong>ein</strong>e ganze Familie, inklusive Patriarch, in<br />

zwei Autos angefahren. Sie setzen sich ganz<br />

vorne unter das letzte Ende des luftigen Dachs.<br />

Als das Essen kommt, stellt sich die Matriarchin<br />

hinter den Topf <strong>und</strong> schöpft jedem <strong>ein</strong>en vollen<br />

Teller heraus.<br />

Bald werden wir wieder abgeholt werden. Ich<br />

gehe schon vor. Genieße die Kupferst<strong>und</strong>e. Die<br />

Schatten ziehen sich immer länger. Schon bald<br />

wird die Nacht, früh <strong>und</strong> plötzlich wie immer,<br />

her<strong>ein</strong>brechen. Laufe auf dem kaum sichtbaren<br />

Pfad durch das hüfthohe Schilfgras, üppig grün,<br />

dem Bootsmann entgegen. Bew<strong>und</strong>ere die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 195


Spiegelungen, die Farben, die von Wolkenweiß<br />

<strong>und</strong> Strahlstahlblau bis zu Braungrün, fast<br />

Schwarz wechseln. Die blauen Wasser, die zu<br />

dunklen Tinten werden, wenn sich die Wolken<br />

mal wieder über die Sonne geschoben haben, <strong>und</strong><br />

sich für Minuten nur der schmale Streifen Grün<br />

dunkel in den Wassern spiegelt. Begegne auf<br />

m<strong>ein</strong>em Weg <strong>ein</strong>em Paar verlassener Flip-Flops,<br />

am Rand des kl<strong>ein</strong>en Flüsschens abgestellt, wie<br />

wenn ihr Besitzer mal schnell unter- <strong>und</strong><br />

weggetaucht wäre. Auch <strong>ein</strong> oder zwei <strong>ein</strong>same<br />

Ruderboote, notdürftig auf den Sand gezogen,<br />

bilden malerische Sujets.<br />

Schon holt mich die banale Realität wieder <strong>ein</strong>.<br />

Vor mir <strong>ein</strong>e Art gestrandeter Walfisch, <strong>ein</strong> von<br />

<strong>ein</strong>er effizienten Motorsäge umgehauener<br />

Tropenbaum rottet hier vor sich hin. Streckt s<strong>ein</strong>e<br />

nackten, halb gefallenen Äste <strong>und</strong> ausgerissenen<br />

Wurzeln dramatisch verdreht von sich. Ach ja, der<br />

Bootsjunge sagte, dass sie hier so was wie <strong>ein</strong>e<br />

Straße, sozusagen ins Nirgendwo bauen werden.<br />

Jedenfalls ist <strong>ein</strong>e Schneise, die ganze Böschung<br />

hoch in den niedrigen Wald geschlagen.<br />

Ein paar Schritte weiter, wieder sattes Grün.<br />

Bew<strong>und</strong>ere die vielen, dramatisch weichr<strong>und</strong>en,<br />

tiefen Falten, in die sich die Rinde <strong>ein</strong>es<br />

stattlichen Baumes legt. Kastanienbraun ziehen<br />

sie sich r<strong>und</strong> um den Stamm, laufen zu s<strong>ein</strong>en<br />

Füßen elegant in schwungvollen Wurzelwellen<br />

aus. Schon wieder im Boot öffnet sich der Kanal<br />

langsam, noch <strong>ein</strong>e leichte Kurve. Noch gleiten<br />

wir, vom <strong>ein</strong>zelnen r<strong>und</strong>blättrigen Ruder<br />

geschoben, lautlos zwischen grünen Wänden<br />

dahin, fahren an schon tief im Wasser stehenden<br />

Bäumen vorbei. Immer wieder öffnen sich andere,<br />

kl<strong>ein</strong>ere Kanäle, aber auch der Bootsjunge würde<br />

sich da nicht r<strong>ein</strong> wagen. Zu groß die Gefahr, sich<br />

darin zu verlieren. Der blaue Bug, fast im selben<br />

Blau der Wasser <strong>und</strong> des Himmels, schiebt sich<br />

immer weiter über die Windungen der Bäche,<br />

über uns die riesig saphirblauen Himmel.<br />

W<strong>und</strong>ersame Lianen, über Wirtspflanzen hinüber<br />

gewuchert, bilden absurd pittoreske Gebilde,<br />

geben den überwachsenen Sträuchern <strong>und</strong><br />

Bäumen <strong>ein</strong> gespenstisch plastisches Aussehen.<br />

Lassen ihre langen Triebe oder Luftwurzeln,<br />

überaus unordentliche Bärte, im Wasser schleifen<br />

- kompakte, unberührte, wilde Natur.<br />

Schon öffnet sich vor uns der Grüne See <strong>und</strong> wir<br />

gleiten über die endlose Fläche zurück, fahren<br />

nach Hause. Mitten auf dem See weit weg vor den<br />

Horizont geklebt, <strong>ein</strong>e streifige Wand. Die Sonne<br />

zieht, noch weiter weg, in riesige, zerfetzte<br />

Wolkengebirge Wasser hoch. Die sonnenabgewandten<br />

Seiten der Wolken sind bleigrau. Je<br />

weiter wir fahren, je weiter sch<strong>ein</strong>t sich das<br />

Phänomen von uns zu entfernen <strong>und</strong> schon<br />

übergleißt das Kupferlicht des früh her<strong>ein</strong>brechenden<br />

Abends die Ufer. Sie sind distanziert,<br />

dann wieder ganz nah. Die Schatten werden<br />

überlang <strong>und</strong> noch länger <strong>und</strong> alles, der helle<br />

Sand <strong>und</strong> die endlosen Wälder erröten in<br />

weichwarmen Kupfernuancen. Der bewegte See<br />

glättet sich zum öligen Spiegel, wirft tausendfach<br />

rosa-kupfer-orange Uferböschungen zurück.<br />

Begegnen auf der Heimfahrt mehrmals kl<strong>ein</strong>en<br />

Booten, manche gar ohne Motor, mit drei, vier<br />

Personen an Bord - bin wohl die Einzige, die sich<br />

von soviel Wasser <strong>ein</strong>schüchtern lässt, Respekt<br />

hat, sich immer, ganz leicht nur, davor fürchtet.<br />

Und da, malerisch rosa er- <strong>und</strong> überrötet liegt die<br />

Halbsichel von Alter de Chão wieder vor uns, Zeit<br />

für <strong>ein</strong> letztes lauwarmes Bad, genauso wie die<br />

kl<strong>ein</strong>en Jungen, die genau neben dem Ruderboot<br />

„Pôr-de-Sol“ (!), Sonnenuntergang in denselben<br />

hin<strong>ein</strong>springen, in ihm herumpaddeln, <strong>ein</strong><br />

wahres Fest veranstalten, <strong>ein</strong> paar dunkle<br />

Silhouetten nur vor der Goldmünze, die rasend<br />

schnell <strong>und</strong> strahlendorange <strong>ein</strong>fach hinter den<br />

Horizont fällt. Die leise Abendbrise kämpft <strong>ein</strong>en<br />

aussichtslosen Kampf mit der Tropenhitze, aber<br />

nach soviel Natur werden wir wohl wie die<br />

Wickelkinder schlafen.<br />

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Der verzauberte Wald<br />

Verzauberten Wald, „Floresta Encantada“ haben<br />

sie ihn getauft. Denn statt Vögel tummeln sich<br />

Fische zwischen s<strong>ein</strong>en Ästen <strong>und</strong> Wedeln <strong>und</strong><br />

zwischen s<strong>ein</strong>en Kronen schneiden Ruderboote<br />

lautlos die schattendunklen Wasserflächen,<br />

gleiten über stehende Wasserspiegel, dringen in<br />

endlos verzweigte Korridore <strong>ein</strong>.<br />

Sticht man per Boot aus dem grellen<br />

Sonnensch<strong>ein</strong> übergangslos in die dunklen<br />

Schatten des Igapó-Waldes <strong>ein</strong>, kann kaum <strong>ein</strong>er<br />

<strong>ein</strong> leises Prickeln, <strong>ein</strong> heimliches Erschauern<br />

vermeiden. Was sich exotisch anhört, ist nichts<br />

anderes als <strong>ein</strong> perfekt angepasstes Ökosystem,<br />

das „Igapós“ genannt wird. Die Bäume würden<br />

absterben, würden sie nicht in Jahresabständen<br />

von den transparenten <strong>und</strong> damit nicht so<br />

nährstoffreichen Wassern/ Flüssen geflutet.<br />

Manche Bäume haben ihre Rinden mit Kork gegen<br />

die Wasser isoliert, andere benutzen hoch<br />

aufsteigende Luftwurzeln zum Atmen oder um<br />

sich festzukrallen - die Wasser steigen <strong>und</strong> fallen<br />

meterhoch. In der Trockenzeit kann man an den<br />

Markierungen, die das Wasser an den Rinden<br />

zurückgelassen hat, ablesen, bis wohin die Fluten<br />

angestiegen sind <strong>und</strong> wieder ansteigen werden.<br />

Auch die Schwämme, unsch<strong>ein</strong>bar verkrustet,<br />

sind <strong>ein</strong> Zeichen, dass die Natur hier unmögliches<br />

möglich macht.<br />

Sind die Wasser tief, legen sie, besonders an den<br />

Flüssen Tapajós, Tocantins <strong>und</strong> Xingú traumhaft<br />

weiße Sandstrände frei, die sich effektvoll gegen<br />

die transparent grün-türkisklaren Wasser<br />

abheben.<br />

Kupferrot<br />

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Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem<br />

„Klunk, klank, klink, klunk“, unkt es aus den<br />

Igarapés, irgendwo da draußen. Es sind Frösche<br />

<strong>und</strong> Kröten, die ihr Grunzen, Blöcken oder<br />

Schnarren, trotz der beschränkten<br />

Variationsbreite klingt ihr Gesang irgendwie<br />

fröhlich, immer dann beginnen, wenn der leise<br />

aber dauerhafte Regen <strong>ein</strong>setzt oder <strong>ein</strong>fach als<br />

Begleitgesang zum Her<strong>ein</strong>fallen der Nacht.<br />

Igarapés sind kl<strong>ein</strong>ere, oft zugewachsene<br />

Wasserläufe, <strong>ein</strong>e Art amazonischer<br />

Sumpflandschaft, Teil <strong>ein</strong>es viel komplexeren, f<strong>ein</strong><br />

<strong>und</strong> weit verästelten Wassersystems, das den<br />

ganzen Tropenwald durchzieht. Sie sind nicht sehr<br />

tief, können nur mit <strong>ein</strong>em schmalen Kanu<br />

befahren werden. Ihre Wasseroberfläche gleicht<br />

nachtschwarzen Spiegeln, ihr Wasser ist<br />

bräunlich-klar <strong>und</strong> oft „eisig kalt“. An den<br />

Wochenenden plantschen ganze Dorfgem<strong>ein</strong>schaften<br />

in natürlichen oder künstlich<br />

gestauten Becken <strong>und</strong> genießen die Frische des<br />

Wassers, das den Ruf hat, auch den schlimmsten<br />

Kater sofort zu kurieren. Diese „tiefe“<br />

Wassertemperatur verdanken die Wasser dem<br />

Halbschatten, den sie durchfließen, auch wenn sie<br />

fast still zu stehen sch<strong>ein</strong>en. Und doch, sie<br />

kommen von irgendwo her, fließen irgendwo hin.<br />

Will man ihre komplexe Vielfalt erk<strong>und</strong>en,<br />

empfiehlt sich das Kanu <strong>und</strong> <strong>ein</strong> lokaler Führer.<br />

überraschend dunklen Seen oder anderen<br />

geheimnisvoll stehenden Wassern. Hier gedeihen<br />

mit Glück <strong>ein</strong> paar Seerosen oder gar Vitoria<br />

Régias, die ihren Namen von Königin Victoria<br />

erhielten. Riesige Blattteller, die sich von der Mitte<br />

her auffalten <strong>und</strong> dabei ihr raffiniertes<br />

Luftkammersystem zeigen, das ihnen erlaubt,<br />

schwerelos auf der Wasseroberfläche zu fluten.<br />

Hie <strong>und</strong> da öffnet sich auch <strong>ein</strong>e prall-dicke Knospe<br />

zu <strong>ein</strong>er strahlend rosa-weißen Blüte.<br />

Die Igarapés sind ideale Rückzugsgebiete für viele<br />

kl<strong>ein</strong>e Fische, die sich gerne zwischen den vielen<br />

Wasserpflanzen verstecken. Deren Unterwasserschönheit<br />

ist unerschöpflich, geht vom<br />

filigranen Spitzenmuster über arabische inspirierte<br />

Mosaike bis zu geometrischen Scherenschnitten.<br />

Zusammen mit den fragilen Wassergräsern, deren<br />

flexible Haare sich elastisch <strong>und</strong> schwerelos der<br />

kaum bemerkbaren Strömung anvertrauen,<br />

formen sie immer neue, kunstvoll geflutete<br />

Teppiche, eigentliche Unterwasserkunstwerke.<br />

Plötzlich weiten sich die stillen Bäche zu<br />

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Regelmäßig überflutet - dieVárzea<br />

Besonders faszinierend sind die Várzeas, wenn die<br />

Wasser ganz hoch gestiegen sind, die Böden der<br />

Pfahlbauten von den Wassern geleckt werden<br />

<strong>und</strong> das Vieh sich in kl<strong>ein</strong>en Plattformen<br />

zusammen pfercht, wenn es nicht sowieso dem<br />

Schlachthaus verkauft wurde. Dann warten alle,<br />

die Bewohner <strong>und</strong> das Vieh, dass die Wasser, so<br />

wie jedes Jahr, <strong>ein</strong>fach wieder sinken. Dann wird<br />

es bald wieder die w<strong>und</strong>ervoll altmodischen<br />

Tomaten geben <strong>und</strong> oberarmdicke Maniokwurzeln.<br />

Die Várzea ist das wohl am dichtesten bevölkerte<br />

Ökosystem des Amazonas. Da, wo die Flüsse mit<br />

wenig Gefälle fließen <strong>und</strong> der lehmige Boden zu<br />

Zeiten der Hochwasser die überbordenden<br />

Wassermassen der Weißwasser genannten Flüsse<br />

nicht aufnimmt, setzen sie über weite Strecken<br />

die Ufer unter Wasser. Es sind die trüben,<br />

sedimentreichen Fluten des Amazonas <strong>und</strong> des<br />

Solimões, die weite Striche der Ufer im<br />

Jahreszyklus überfluten. Hier siedeln umtriebige<br />

Kl<strong>ein</strong>bauern, vielseitig haben sie sich an die<br />

Gegebenheiten der Natur perfekt angepasst.<br />

Neben der Landwirtschaft <strong>und</strong> Viehzucht fischen<br />

sie auch <strong>und</strong> halten sich Fische wie Tambaqui in<br />

schwimmenden Käfigen, die direkt im Fluss<br />

dümpeln. Oder sie züchten, beschützt von hohen<br />

Wällen in tiefen, künstlich ausgehobenen Teichen<br />

den wertvollen Pirarucu. Fallen dann die Wasser,<br />

beginnt das Pflanzen. Die Bauern machen sich die<br />

natürlichen Gegebenheiten zunutze. Der Schlamm,<br />

der von den sich zurückziehenden Wassern<br />

zurückgelassen, ist extrem nährstoffreich, was die<br />

Erden sehr fruchtbar macht. Bald schon wird der<br />

lokale Markt mit frischen Produkten<br />

überschwemmt werden. Die besten Tomaten,<br />

herrlich altmodisch <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbar bauchig,<br />

schrecklich verderblich aber unvergleichlich im<br />

Geschmack, die winzigen Bohnen, die ihrem<br />

Namen Butterbohnen alle Ehren machen <strong>und</strong><br />

ebenfalls butterzart, <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erbarer Käse,<br />

“recozido”, hergestellt aus Rohmilch, die ohne Lab<br />

fermentiert wird <strong>und</strong> dann in der Buttermilch<br />

nochmals erhitzt wird.<br />

Das Leben hier ist eher <strong>ein</strong>sam. Die Häuser bilden<br />

nur kl<strong>ein</strong>e Gruppen, aber mit dem Schiff ist man<br />

schnell mal beim Nachbarn auf der anderen Seite<br />

des Flusses oder in der Stadt. Da haben alle, wie<br />

viele Hinterwäldler hier, <strong>ein</strong>e zweite Bleibe, bei<br />

Verwandten, wo auch die Kinder zur Schule gehen.<br />

Genau das ist dem kl<strong>ein</strong>en Jungen hier passiert. Es<br />

ist ihm so schrecklich langweilig. Es ist k<strong>ein</strong>er da,<br />

um mit ihm zu spielen. Alle größeren Kinder sind in<br />

der Stadt, in der Schule. Aber so ist das Leben hier<br />

halt, dafür hat er andere Spielkameraden, gepelzte<br />

oder gefiederte vielleicht, muss allerdings auch<br />

mal bei der rauen Arbeit auf dem Feld mithelfen.<br />

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Pororoca <strong>und</strong> Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut<br />

Da wo sich Meerwasser mit den Süßwasserfluten<br />

mischt, entstehen eigene Ökosysteme, resistent<br />

gegen das tagtägliche Ansteigen <strong>und</strong> Fallen der<br />

Fluten. Die natürliche Auslese hat auch hier zu<br />

exotischen Anpassungen geführt. Stelzenwurzeln,<br />

hoch strebend komplex wie <strong>ein</strong>e gotische<br />

Kathedrale, verankern Baumriesen mitten im<br />

Sand. Sie widerstehen den immer näher<br />

leckenden Fluten, lassen sich gar ganz<br />

unterspülen. Immer wieder öffnet sich die Rinde<br />

<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e neue Wurzel wuchert über die<br />

schon vorhandenen hinweg. Solche<br />

Wurzelkathedralen sind ideale Brut- <strong>und</strong><br />

Zufluchtsstätten für Vögel, Fische <strong>und</strong> viele<br />

andere Lebewesen. Auch die Samen vieler Bäume<br />

sind sozusagen wasserfest. Viel Bäume lassen ihre<br />

Frucht von den Wassern davontragen. Statt<br />

Muscheln findet man am Strand Kokosnüsschen<br />

in allen Größen, alle Arten von Kastanien,<br />

Mandeln, kl<strong>ein</strong>e Ballone, die Samen enthalten,<br />

w<strong>und</strong>erbar gew<strong>und</strong>ene Bohnen, Rispen, Rinden.<br />

Welle erzeugen. Die tritt normalerweise auf, wenn<br />

die Mondphasen wechseln, bei Voll- oder<br />

Leermond. Die Welle, bis zu zehn Meter breit <strong>und</strong><br />

5 Meter hoch, bewegt sich mit der<br />

be<strong>ein</strong>druckenden Geschwindigkeit von um die 30<br />

km pro St<strong>und</strong>e meerwärts. Sie ist zur<br />

Touristenattraktion geworden. Es gibt gar <strong>ein</strong>en<br />

Surfwettbewerb. Es gewinnt der, dem es gelingt,<br />

am längsten auf der Welle zu reiten.<br />

Das Naturphänomen ist nicht ungefährlich <strong>und</strong> es<br />

empfiehlt sich, die Welle aus sicherer Entfernung<br />

zu vorbeibrechen zu sehen. Die Kraft der zum<br />

Meer zurück fließenden Wassermassen bricht<br />

ganze Uferstücke los, entwurzelt Bäume, lässt <strong>ein</strong><br />

Szenarium der Zerstörung hinter sich.<br />

Lange bevor die Pororoca selber durchwalzt,<br />

kündigt sie sich durch <strong>ein</strong> unverwechselbares<br />

Dröhnen an. Minuten bevor sie dann losbricht,<br />

herrscht Totenstille.<br />

Wer hier an den Stränden des Ozeans lebt, muss<br />

sich an die Gegebenheiten von Flut <strong>und</strong> Ebbe<br />

anpassen. Es gilt in Einklang mit den Gezeiten zu<br />

leben. Manche Dörfer auf der Insel Marajó zum<br />

Beispiel sind nur bei Hochwasser erreichbar.<br />

Andere Phänomene wie die „Pororoca”, <strong>ein</strong>e<br />

riesige Flutwelle, die entsteht, wenn bei Flut die<br />

Wasser des Ozeans tief die Süßwasser des<br />

Amazonas hochsteigen <strong>und</strong> damit <strong>ein</strong>e riesige<br />

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Aus dem<br />

Tierreich<br />

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Aus dem Tierreich<br />

Stimmen des Amazonas 221<br />

Von der Schlange verschlungen / Hart wie St<strong>ein</strong> 223<br />

Die Unsichtbaren 228/229<br />

Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln 235/236<br />

Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar 239/240<br />

Die Wespe 242<br />

S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier 246<br />

Fischreichtum, praktisch unbekannt 252/253<br />

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Stimmen des Amazonas<br />

Das Röhren, dunkel, hohl, über Kilometer weit zu<br />

hören, schwillt an, zieht sich zurück, wird von<br />

irgendwo her erwidert. Der Amazonas schreit.<br />

Wer das Brüllen zum ersten Mal hört, guttural,<br />

be<strong>ein</strong>druckend, erschauert. Manche fürchten<br />

sich, fühlen sich sehr unsch<strong>ein</strong>bar, würden wohl<br />

am liebsten im Boden versinken. Besonders wenn<br />

die Nacht schon auf den Morgen zugeht <strong>und</strong> sie<br />

das Gebrüll aus wirren Träumen geschrien hat.<br />

Der Amazonas hat viele Stimmen. Manchmal<br />

schreien sie, es sind die Brüllaffen, auch vor dem<br />

Einnachten, wohl um ihr Territorium <strong>ein</strong>zubrüllen,<br />

oder weil sie Anschluss suchen. Der Brüllaffe der<br />

<strong>Foto</strong>s (diese <strong>und</strong> vorhergehende Seite) jedenfalls,<br />

ist all<strong>ein</strong>. Auch er brüllt. Nur selten antwortet ihm<br />

<strong>ein</strong>er, wenn er vom höchsten Baum im Umkreis<br />

losröhrt. Ein Teenager noch, männlich, wohl von<br />

der Gruppe ausgestoßen.<br />

Die Stimmen <strong>ein</strong>es ländlichen Amazonas machen<br />

sich besonders Nachts bemerkbar, sind voller<br />

ungewöhnlich-unheimlicher Geräusche. Immer<br />

wieder schlägt irgendwo <strong>ein</strong> H<strong>und</strong> an, andere<br />

bellen zurück. Hähne schmettern ihr Kickericki im<br />

Halbst<strong>und</strong>entakt, lange vor dem Morgengrauen.<br />

Wenn die Brüllaffen gerade schweigen, miauen<br />

verliebte Katzen ihr Babygeschrei, das<br />

übergangslos in fetzenfliegendes Raulen<br />

übergeht. In die Pausen schnarrt der Aracuã.<br />

«Arancuã, Arancuã knarrt er s<strong>ein</strong>en Namen<br />

mehrmals hinter<strong>ein</strong>ander durch die Nacht. Wer es<br />

nicht besser weiß, würde das Schnarren nie <strong>ein</strong>em<br />

harmlosen, etwa hühnergroßen Vogel<br />

zuschreiben. Dann ist wieder alles wie immer. Nur<br />

die eilig tickenden Eintonfrequenzen der Grillen<br />

<strong>und</strong> Zikaden, <strong>ein</strong> elektrisches Zirpen, monoton <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>silbig füllen das Dunkel. Zusammen mit dem<br />

stetigen blutrünstigen Summen tausenderlei<br />

Stechmücken, die irgendwo da draußen auf ihren<br />

Blutzoll lauern. Ist Regen angesagt, kann man auch<br />

Kröten <strong>und</strong> Frösche hören, die <strong>ein</strong>em mit ihrem<br />

Quackkakofoniekonzert in den Schlaf wiegen. Ihr<br />

überaus variantenreiches Repertoire umfasst die<br />

unterschiedlichsten Tonhöhen. Sie quaken,<br />

schnattern, bellen oder singen. Einer blökt gar fast<br />

wie <strong>ein</strong> Schaf. Wie viele Stimmen der Amazonas<br />

hat, fällt erst in der Stadt auf. Da ist es vergleichsweise<br />

totenstill.<br />

Am Tag sind es eher die Vögel, die die Stille<br />

unterbrechen. Mit Glück kann man dem melo<br />

dischen Gesang des Sabiás, in vielen Gedichten<br />

besungen, lauschen. Ein absolut unsch<strong>ein</strong>barer<br />

Vogel mit extrem melodischem, hoch <strong>und</strong> nieder<br />

steigenden Gesang. Ist man weiter weg von der<br />

Zivilisation, hört man den lockenden Ruf des<br />

Capitão do Mato. Hin <strong>und</strong> wieder klopft auch <strong>ein</strong><br />

Specht mit extrem dekorativer Rotkäppchenhaube<br />

oder <strong>ein</strong> Baumläufer mit ohrenbetäubenden,<br />

energischen Schlägen die Bäume ab. Ihr Klopfen<br />

muss für die vielen Würmer, Termiten oder<br />

Larven, die unter der Baumrinde leben, <strong>ein</strong>fach<br />

unerträglich s<strong>ein</strong>. Darunter mischt sich das<br />

zirpige Pfeifen der Rotgesichte, katzengroße<br />

Sagui-Affen, mit dem sie sich ständig<br />

unter<strong>ein</strong>ander verständigen, wenn sie auf<br />

Beutezug sind. Oder das nervös gutturale<br />

Streitgespräch der «Zogzogs», die mal wieder ihr<br />

Territorium verteidigen.<br />

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Von der Schlange verschlungen<br />

Begegnungen mit Riesenschlangen sind immer so<br />

überraschend wie gewöhnungsbedürftig.<br />

Bin wie immer auf dem morgendlichen<br />

H<strong>und</strong>espaziergang. Die drei H<strong>und</strong>e,<br />

zufälligerweise alle an der L<strong>ein</strong>e, ziehen jeder in<br />

<strong>ein</strong>e andere Richtung. Die Horde bewaffneter<br />

junger Männer sehe ich erst, als sie mich fast über<br />

den Haufen rennt. In der Vorhut <strong>ein</strong> nicht mehr<br />

junger Mann mit gegerbten Zügen <strong>und</strong> dem<br />

rabenschwarzen Haar der Einheimischen. S<strong>ein</strong><br />

sehniger Oberkörper ist bloß. Die Schlange, leicht<br />

gekrümmt, vielleicht 2 ½, 3 Meter lang, zieht er<br />

am Schwanz hinter sich her. An ihren Kopf<br />

geheftet <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Karawane, jüngere Männer.<br />

Sie schwingen Macheten. Sch<strong>ein</strong>en aufgeregt. Die<br />

Schlange sch<strong>ein</strong>t mir, lebt noch. Ich schreie: -<br />

Was macht ihr mit ihr? Bringt sie nicht um! – Die<br />

Antwort, so überraschend wie lakonisch: Wir<br />

werden sie verspeisen! Nie werde ich wissen, ob<br />

ironisch oder wahr gem<strong>ein</strong>t. Wünsche ihnen<br />

guten Appetit <strong>und</strong> gehe m<strong>ein</strong>er Wege. Sie rennen<br />

weiter, die Schlange im Schlepptau. Eine Kurve<br />

entzieht sie der Sicht.<br />

Ja, man esse hier Schlangen.Die Hausangestellte<br />

macht mich nicht schlauer. Dachte, dass die nur in<br />

China auf den Speisezettel kämen….<br />

Wie auch immer. Aus der vorletzten, das weiß ich<br />

allerdings nur vom Hörensagen, wurden 20 l Fett<br />

ausgelassen. Die Unglückliche hatte vorher den<br />

vorwitzigen H<strong>und</strong> der Mutter <strong>ein</strong>es Bekannten<br />

erwürgt, was auch sie das Leben kostete.<br />

Schlangenfett ist hier sehr beliebt. Dem Fett wird<br />

große Heilkraft zugeschrieben.<br />

Wie auch immer. Die Schlange zeigt mir mal<br />

wieder die haarf<strong>ein</strong>e Messerschneide, auf der wir<br />

hier leben. Sie trennt die sogenannte zivilisierte<br />

Welt von der Barbarie oder was man auch immer<br />

unter den beiden versteht. Manchmal kann man<br />

besser <strong>und</strong> dann wieder schlechter damit<br />

umgehen. Bleibt nur die Frage in welcher der<br />

Welten sie mich wohl <strong>ein</strong>ordnen.<br />

Hart wie St<strong>ein</strong><br />

Ich liebe s<strong>ein</strong>e warmen, sanften <strong>und</strong> lang<br />

bewimperten Augen. Der kl<strong>ein</strong>e Stier ist<br />

erstaunlich zutraulich. Er ist hier auf dem<br />

unbebauten Nachbargr<strong>und</strong>stück, obs regnet oder<br />

schneit, Pardon, die Sonne runter brennt, an<br />

<strong>ein</strong>en langen Strick geb<strong>und</strong>en. Manchmal bindet<br />

ihn s<strong>ein</strong> Besitzer <strong>ein</strong> paar Straßen <strong>und</strong> neue<br />

saftgrüne Gräser weiter vorne an. Er senkt den<br />

Kopf <strong>und</strong> neigt ihn mir dann mit <strong>ein</strong>er unmissverständlichen<br />

Geste erwartend zu! Und als ich<br />

es wage, sch<strong>ein</strong>t es ihm gar zu gefallen, wenn ich<br />

ihm die Schädeldecke kraule. Sie ist straff wie<br />

<strong>ein</strong>e Trommel über den Schädel gespannt.<br />

Zwischen Haut <strong>und</strong> Knochen gibt es k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges<br />

Gramm Fett. Wage es sogar, ihm die Brust zu<br />

tätscheln: weiß, mit ver<strong>ein</strong>zelt f<strong>ein</strong>en Dalmatinersprenkeln<br />

<strong>und</strong> – was für <strong>ein</strong> Schock, hart wie<br />

<strong>ein</strong> St<strong>ein</strong>!!! Das erklärt mir ganz überraschend<br />

<strong>und</strong> ungewollt die schuhsohlenartige<br />

Beschaffenheit des hiesigen Fleisches! Es ist<br />

immer, zäh <strong>und</strong> hart, st<strong>ein</strong>hart! Auch dann, wenn<br />

der Metzger das Schnitzel durch <strong>ein</strong>e Art<br />

Häckselmaschine gibt, bevor er es mir <strong>ein</strong>packt.<br />

Bitte den kl<strong>ein</strong>en Stier insgeheim um Verzeihung.<br />

Geduldig beschwichtigt er mich mit noch <strong>ein</strong>em<br />

treuherzigen, lang bewimperten Blick. Doppelt<br />

mit <strong>ein</strong>em doppelten Wedeln der horizontal<br />

abstehenden Ohren nach <strong>und</strong> schon ist alles<br />

vergessen. Morgen werde ich ihm wieder die<br />

Schädeldecke kraulen.<br />

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Die Unsichtbaren<br />

Des hautnahen Kontaktes mit der Natur wegen im<br />

Amazonas? Nichts leichter als das. Gehören Sie<br />

zufällig zu den Liebhabern von Kaimanen, kl<strong>ein</strong>en,<br />

wendigen, scharfzähnige Krokodilen mit starren<br />

Augen, die man leicht als „böse“ vermenschlicht?<br />

Mögen Sie hochb<strong>ein</strong>ige Echsen, drachenartige<br />

Urviecher mit Stacheln auf dem Rücken, die leicht<br />

die Größe <strong>ein</strong>es mittleren H<strong>und</strong>es erreichen?<br />

Oder stehen Sie gar auf Riesenkakerlaken, Grillen<br />

<strong>und</strong> Insekten? Ja? Dann sind Sie im Amazonas<br />

genau richtig. Denn diese putzigen Tiere werden<br />

Sie, anders als die so oft in Hochglanzprospekten<br />

beschriebenen Jaguare, Papageien oder Brüllaffen<br />

im Amazonas problemlos finden. Zudem ist <strong>ein</strong>e<br />

Vielzahl mehr oder weniger niedlicher<br />

kriechender <strong>und</strong> fliegender Zimmergefährten im<br />

Angebot <strong>ein</strong>geschlossen. Die werden ihnen<br />

sozusagen auf den Leib rücken, oder besser ins<br />

Badezimmer hüpfen, genauso wie die raffinierten<br />

Insekten, die nichts lieber mögen als ganz<br />

frisches, sozusagen neues Blut. Aber seien wir<br />

nicht ungerecht, mit sehr viel Glück wird ihnen <strong>ein</strong><br />

Delfin s<strong>ein</strong>e Springkünste zeigen <strong>und</strong> auch<br />

Ornithologen kommen ganz auf ihre Rechnung.<br />

Nicht, dass ich Sie vom Dschungelhotel abbringen<br />

wollte, aber die Aufzählung der Tierarten, die man<br />

auf <strong>ein</strong>er offiziellen Karte des Amazonasgebietes<br />

findet, ersch<strong>ein</strong>t überaus aufschlussreich: Es gibt<br />

hier viele Affen. Ungeübten Augen entgeht ihr<br />

lautloses katzenartiges Dahingleiten in den<br />

Bäumen. Nur <strong>ein</strong> unerwartetes Rauschen von<br />

Blättern oder Wedeln verrät, dass sie gerade im<br />

Land sind. Da wo die Vegetation noch dicht ist,<br />

kann man ganze Affenclans beobachten, <strong>ein</strong>ige<br />

sind ziemlich gut an die Zivilisation angepasst. Früh<br />

morgens oder vor dem Einnachten können sie<br />

beim effektvollen von Ast-zu-Ast-springen verfolgt<br />

werden. Sie wählen den Ast, auf dem sie landen<br />

wollen <strong>und</strong> werfen sich dann mit offenen Gliedern<br />

schwungvoll, gar mit umgeschnalltem Baby, nach<br />

unten <strong>und</strong> irren sich nie. Nur die kl<strong>ein</strong>en<br />

rotgesichtig-hässlichen „Chuim“ machen durch<br />

ihre zirpende Rufe auf sich aufmerksam. Dann<br />

wenn sie sich seiltänzerisch über die Elektrokabel<br />

bewegen oder runter in ihre Fressbäume fliegen.<br />

Die anderen sind so stumm wie unsichtbar oder<br />

machen sich vor allem beim Einnachten <strong>und</strong><br />

nachts durch ihr an- <strong>und</strong> abschwellendes Gebrüll<br />

bemerkbar. Es sind die Brüllaffen, die schon<br />

manchen Unerfahrenen nicht schlafen ließen. Ihr<br />

gutturales, an- <strong>und</strong> abschwellendes Heulen kann<br />

man bis auf fünf Kilometer Entfernung hören.<br />

Besonders faszinierend sind die Nachtaffen. Ihr<br />

Huschen kann man mehr erahnen als wirklich<br />

verfolgen. Sieht sie springen oder ihre Silhouette<br />

im Licht <strong>ein</strong>er Straßenlanterne. Auch die „Gambás“<br />

sind nachtaktiv. Hier im Amazonas als „Mucuras“<br />

bezeichnet, sind sie Opossums, <strong>ein</strong> Nagetier, das<br />

s<strong>ein</strong>e Jungen in <strong>ein</strong>er Gürteltasche nährt <strong>und</strong><br />

schützt. Sie erinnern mit ihrer spitzen Schnauze<br />

<strong>und</strong> dem nackten, ellenlangen Schwanz an <strong>ein</strong>e<br />

riesige Ratte. Oft haben sie es sehr lustig. Ganze<br />

Familien holpern, poltern <strong>und</strong> kugeln nachts in<br />

unregelmäßigen Abständen über´s Dach.<br />

Perfekte Haustiere sind auch die w<strong>und</strong>ersamen<br />

Motten oder Nachtfalter, manche handtellergroß,<br />

andere perfekt als Blatt oder <strong>ein</strong> Stück<br />

Rinde getarnt. Manche fallen der agil <strong>und</strong><br />

zielsicher herausgeschleuderten Zunge der<br />

Hauskröte zum Opfer. Ihr müssen die vielen, vom<br />

grellen Licht angelockten Insekten als wahres<br />

Schlaraffenland vorkommen. Die Kröte<br />

allerdings, die mir auf der Damentoilette<br />

irgendwo im Hinterland Gesellschaft leistete,<br />

entkam dem erlösenden Kuss. Ich konnte mich<br />

nicht überwinden. Sie hätte sich, wer weiß<br />

vielleicht doch in <strong>ein</strong>en knackigen Indioprinzen<br />

verwandelt!<br />

Auch Faultiere sind zivilisationsangepasst.<br />

Manche Stadt im Hinterland hält sich auf dem<br />

zentralen Platz <strong>ein</strong>e Art Maskottchen, das hoch<br />

oben s<strong>ein</strong>e unendlich langsamen Bewegungen<br />

zelebriert, vielleicht gar von <strong>ein</strong>em Jungtier eng<br />

umklammert. Es gibt zwei Typen von Faultieren.<br />

Besonders vor den großen haben die Einheimischen<br />

alle sehr großen Respekt. Ihre<br />

sichelförmigen, messerscharfen Krallen können<br />

tiefe W<strong>und</strong>en schlangen. Grüne Wellensittiche,<br />

blau <strong>und</strong> rot gefiederte Papageien <strong>und</strong> die<br />

w<strong>und</strong>erschönen Tukane mit ihren sichligen<br />

Schnäbeln in den unterschiedlichsten Farben<br />

kann man mit sehr viel Glück im freien Flug<br />

sehen. Die graziösen „Garças“ Reiher allerdings<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 228


kann man am besten beim Einfallen der Nacht<br />

beobachten. Sie haben sich ausgerechnet <strong>ein</strong>en<br />

vielumfahrenen Riesenbaum mitten in <strong>ein</strong>er<br />

Kreuzung im Stadtzentrum als Nachtquartier<br />

ausgesucht. Von der Eisdiele gegenüber kann man<br />

ihren eleganten Anflug <strong>und</strong> die Landung, inklusive<br />

<strong>ein</strong>ige mit Schnäbelhieben entschiedene Missstimmigkeiten,<br />

<strong>ein</strong> Artgenosse sitzt schon auf dem<br />

Lieblingsast, ohne Feldstecher genau beobachten.<br />

Pünktlich zum Sonnenuntergang fliegt der erste<br />

an <strong>und</strong> wenn die Sonne ganz untergegangen ist,<br />

ist das dichtgrüne Blattwerk des Baumes<br />

strahlend weiß gepunktet.<br />

Nagetiere, wie die r<strong>und</strong>lichen, flinken „Cutias“,<br />

die wie doppelt so große Meerschw<strong>ein</strong>chen<br />

aussehen, kann man in jedem Park <strong>und</strong> auch da<br />

wo noch nicht alles überbaut ist, frei laufend<br />

antreffen. Auch die schrecklichen Riesenwürgeschlangen<br />

oder die gefährliche Klapperschlange<br />

kenne ich nur vom Hörensagen oder tot,<br />

anders als die w<strong>und</strong>erschönen hochb<strong>ein</strong>igen<br />

Echsen mit dem ewig langen Schwanz, den sie,<br />

Achtung, wirkungsvoll als Peitsche benutzt. Die<br />

meisten Arten leben hoch oben in den Bäumen,<br />

fressen Blattwerk <strong>und</strong> kommen nur selten auf den<br />

Boden runter. Denn der hautnahe Kontakt mit<br />

den Menschen birgt Risiken. Das Fleisch der<br />

Leguane ist begehrt, soll wie Hähnchen<br />

schmecken... .<br />

Geht man aufs Wasser, sieht man von den<br />

imponierend runzlig-höckrigen Krokodilen oder<br />

den kl<strong>ein</strong>eren Kaimanen nicht viel mehr als zwei<br />

unbewegte Augenpaare unter wulstig<br />

aufgeworfenen, ledrig-starren Augenbrauen. Tief<br />

<strong>ein</strong>gegrabene Nasenlöcher <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Stück<br />

Schnauze ragen wie <strong>ein</strong> Stück Holz aus dem<br />

Wasser. Nur die „Ribeirinhos“, die bitterarmen<br />

Flussbewohner, haben schon gehört, gar selbst<br />

gesehen oder wenigstens aus zuverlässiger<br />

Quelle erfahren, wie <strong>ein</strong>es dieser<br />

Schreckenstiere, vielleicht war es auch <strong>ein</strong>e<br />

Riesenschlange, <strong>ein</strong> Kind, <strong>ein</strong>en H<strong>und</strong>,<br />

verschlungen, zerdrückt hat. Schauerlich, konnte<br />

gerade noch oder leider, leider nicht mehr<br />

gerettet werden. Nur um die, für die Touristen<br />

normalerweise perfekt unsichtbaren, Jaguare<br />

<strong>und</strong> Pumas ranken sich noch mehr Mythen <strong>und</strong><br />

Aberglauben die von tiefem Respekt zeugen.<br />

Auch Wasserschildkröten kann man hie <strong>und</strong> da<br />

heute deutlich weniger als Haustiere gehalten,<br />

von weitem sehen. Bei der kl<strong>ein</strong>sten Bewegung<br />

gleiten sie blitzschnell von ihrem Sonnenplatz ins<br />

Wasser.<br />

Fasziniert bin ich von der Seekuh, <strong>ein</strong> gigantisch<br />

r<strong>und</strong>liches Säugetier in der Form <strong>ein</strong>es Fisches.<br />

Für Tiere, die wie sie in Gefahr sind auszusterben,<br />

gibt es interessante Studienprojekte - nur<br />

was man kennt, kann man schützen. Der bullige<br />

„Peixe-boi“, die Seekuh, lässt sich in unendlich<br />

langen Abständen in s<strong>ein</strong>em riesigen Tank<br />

sozusagen schwerelos an die Oberfläche treiben.<br />

Steckt dann s<strong>ein</strong> Bassetgesicht, allerdings ohne<br />

Hängeohren, aus dem Wasser, äst <strong>ein</strong> wenig vom<br />

großzügig ausgestreuten Wassergras <strong>und</strong> öffnet,<br />

ganz plötzlich <strong>und</strong> überraschend, in der wasserabstoßenden,<br />

grau glänzenden Schwarte zwei<br />

schwarze, abgr<strong>und</strong>tiefe Nasenlöcher! Atmet<br />

<strong>ein</strong>mal durch <strong>und</strong> verschließt sie sogleich wieder,<br />

so wasserdicht wie unsichtbar. Sinkt, mühelos,<br />

gemütlich dick <strong>und</strong> r<strong>und</strong> wieder ab, so als ob s<strong>ein</strong><br />

Riesenkörper gar k<strong>ein</strong> Gewicht hätte. Auch die<br />

Fische sind absolut faszinierend. Tot kann man<br />

sie auf jedem Fischmarkt sehen. Der riesige<br />

Pirarucú, der schauerliche Elektrische Aal, <strong>und</strong><br />

die Piranhas, nur ganz wenige Piranhas sind<br />

wirklich kannibalische Fleischfresser, werden hier<br />

ganz frisch verkauft. Die anderen, es gibt hier<br />

extrem dekorative Zierfische, es gibt hier <strong>ein</strong>en<br />

florierenden Handel, kann man sich eher in<br />

internationalen Aquarien ansehen.<br />

Die restlichen Tiere, Tapir, Ameisenbär, Puma,<br />

Panter <strong>und</strong> andere w<strong>und</strong>erschöne kl<strong>ein</strong>ere<br />

Wildkatzen wie die „Jaquaritica“ sind alle<br />

nachtaktiv <strong>und</strong> in der Wildnis nur sehr schwer<br />

auszumachen. Aber man kann sie gut im Zoo<br />

beobachten. In Manaus gibt es zwei sehr<br />

attraktive Zoos, die auch europäischen<br />

Maßstäben gerecht werden. Da werden<br />

<strong>ein</strong>heimische Tierarten in riesigen, artgerechten<br />

Käfigen gehalten. Die Affen leben auf eigenen<br />

Inseln <strong>und</strong> auch die hoch oben in den Ästen<br />

<strong>ein</strong>gerollte Riesenschlangen kann aus gebührend<br />

sicherer Distanz bew<strong>und</strong>ert werden.<br />

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Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln<br />

Frisch geduscht – wie vergänglich, wie illusorisch<br />

ist hier die köstliche Frische <strong>ein</strong>es kalten Bades –<br />

bücke ich mich über m<strong>ein</strong>e Reisetasche <strong>und</strong><br />

mache ihre unerwartete Bekanntschaft. Sie<br />

inspizieren gerade m<strong>ein</strong> Gepäck! Es steht noch<br />

k<strong>ein</strong>e zehn Minuten hier <strong>und</strong> schon untersuchen<br />

sie es, Zoll für Zoll. Die Tasche könnte ja etwas<br />

Ess- oder sonst wie verwertbares enthalten. Es<br />

sind die kl<strong>ein</strong>sten Ameisen, die ich je gesehen<br />

habe, gelblich, fast transparent, winzig wie <strong>ein</strong><br />

Zuckerkorn.<br />

Außer den Menschen sch<strong>ein</strong>t das tropische Klima<br />

des Amazonas hier allen <strong>und</strong> allem gut zu<br />

bekommen. Die Luftfeuchtigkeit ist fast total, die<br />

Hitzen tropisch, in manchen Regionen gibt es <strong>ein</strong>,<br />

zwei, drei starke Regenfälle pro Tag. Das Wetter<br />

schlägt ständig <strong>und</strong> rasend schnell um. All das<br />

bietet <strong>ein</strong>en perfekten Brutkasten, <strong>ein</strong>e Ursuppe,<br />

<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigartigen Nährboden für die alles<br />

dominierende Natur, die daraus den <strong>ein</strong>zigartigen<br />

Kosmos <strong>Amazonien</strong> entwickelte.<br />

Am allerbesten bekommt das Klima wohl den<br />

Insekten. M<strong>ein</strong> Arm juckt. Kratze mich,<br />

unbewusst, automatisch. Dann schaue ich<br />

genauer hin. Der Übeltäter ist <strong>ein</strong> steifb<strong>ein</strong>iger<br />

Moskito. Ich schlucke zwei, dreimal leer.<br />

Gelbfieber, Malaria! Die wildesten Spekulationen<br />

jagen durch m<strong>ein</strong>en Kopf. Aber m<strong>ein</strong>e Gastgeber<br />

versichern mir s<strong>ein</strong>e Harmlosigkeit.<br />

Malaria infizierte Mücken gibt es hier in der Nähe<br />

schon lange nicht mehr. Trotzdem lehren mich die<br />

Moskitos das heilige Schaudern. Wie raffiniert <strong>und</strong><br />

spezialisiert sie sind! Später erklärt mir <strong>ein</strong><br />

Insektenforscher, das Phänomen „neues Blut“. Alle<br />

Touristen tappen in s<strong>ein</strong>e Falle. Genau wie den<br />

Vampiren, schmeckt den Moskitos nämlich neues<br />

Blut, Blut von Fremden, viel besser als das der<br />

Einheimischen. Die Einheimischen ihrerseits<br />

gewöhnen sich gezwungenermaßen an die<br />

Moskitostiche <strong>und</strong> reagieren viel weniger<br />

allergisch als <strong>ein</strong> dünnblütiges, dünnhäutiges<br />

Europäer-Bleichgesicht.<br />

Da gibt es zum Beispiel den Moskito mit dem<br />

transparenten Bauch. Darin <strong>ein</strong>gelagert, wie in<br />

<strong>ein</strong>em Minitank, das schon <strong>ein</strong>verleibte Blut. Ein<br />

lebender Minimessbecher zeigt den Pegelstand<br />

des Jagderfolgs. Ein anderer, winziger Moskito hat<br />

sich darauf spezialisiert, geduldige R<strong>und</strong>en ums<br />

Moskitonetz zu fliegen, bis <strong>ein</strong> Unglücklicher s<strong>ein</strong>e<br />

Hand oder <strong>ein</strong>en anderen unbedeckten Körperteil<br />

zu nahe ans Netz hält. Schwupps, s<strong>ein</strong> Spürsinn ist<br />

untrüglich, sticht er sofort zu. Gott sei Dank brennt<br />

s<strong>ein</strong> Stich nur kurz, dafür fürchterlich, schwillt<br />

dann aber rasch wieder ab.<br />

Manchmal werde ich, im Halbschlaf, doch noch<br />

von den fiebrigen Horrorvisionen heimgesucht.<br />

Malaria, Gelbfieber, Dengue. Siech <strong>und</strong> apathisch<br />

liege ich in <strong>ein</strong>er Hängematte, geschlagen mit<br />

irgend<strong>ein</strong>er dieser tückischen Tropenkrankheiten,<br />

dem sicheren Tod preisgegeben <strong>und</strong><br />

natürlich von <strong>ein</strong>er Mücke infiziert. N<strong>ein</strong>, fertig.<br />

Ich habe mich vor der Reise sehr genau<br />

informiert: Heutzutage braucht man k<strong>ein</strong>e<br />

Malariaprophylaxe mehr. Längst gibt es<br />

wirkungsvolle Medikamente, um die Krankheit zu<br />

heilen.<br />

Unter der Dusche, dem <strong>ein</strong>zigen mückensicheren<br />

Ort, kann ich mir die philosophische Frage nicht<br />

verkneifen: Wer hat sich hier wohl mit wem<br />

arrangiert? Die Insekten mit den Menschen oder<br />

die Menschen mit den Insekten? Die Toleranz<br />

jedenfalls sch<strong>ein</strong>t gegenseitig. Niemand macht<br />

sich die sinnlose <strong>und</strong> aussichtslose Mühe, die<br />

Plagegeister zum Beispiel vergiften zu wollen.<br />

Jeder behilft sich auf s<strong>ein</strong>e Art, entwickelt allerlei<br />

raffinierte Überlebenstricks, versucht den<br />

anderen zu überlisten, auszudribbeln: Die<br />

Menschenrasse bedient sich dabei der folgenden<br />

Strategien: Zucker, Honig, Kuchen, Früchte,<br />

<strong>ein</strong>fach alles, was lecker <strong>und</strong> süß schmeckt, wird<br />

im Kühlschrank aufbewahrt. In jedem Haus gibt<br />

es mehrere davon. Wird der Kuchen, aller<br />

Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, doch von den<br />

Ameisen <strong>ein</strong>genommen, wandert er <strong>ein</strong>fach für<br />

<strong>ein</strong>e halbe St<strong>und</strong>e ins Tiefkühlfach. Da sterben<br />

die Bestien mit dem unbetrügbaren Instinkt<br />

<strong>ein</strong>en grausamen Kältetod. Nachher werden sie<br />

abgeschüttelt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zeln herausgelesen.<br />

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Die Zuckerdose wird gr<strong>und</strong>sätzlich im Wasserbad<br />

serviert - Ameisen können bekanntlich nicht<br />

schwimmen.<br />

Als hätte das noch gefehlt, liefert mir <strong>ein</strong> achtlos<br />

auf den Boden getropfter Honigklecks <strong>ein</strong>en<br />

schlagkräftigen Beweis ihrer ständigen Sucht auf<br />

Süßes. In Windeseile verwandelt er sich in <strong>ein</strong><br />

wimmelndes Ameisenhäufchen. Verschwindet,<br />

hoch gebuckelt, Kristall um Kristall, blitzschnell in<br />

der nächsten Bodenritze. Andere, mehr oder<br />

weniger effektvolle Waffen sind der kalte Luftzug<br />

des Ventilators. Moskitos hassen Durchzug. Leise<br />

brummend tut der mit Vollgas laufende Ventilator<br />

doppelten Dienst, genauso wie <strong>ein</strong> banales<br />

Moskitonetz, sorgfältig an allen vier Ecken unter<br />

die Matratze gestopft, am Abend lange Hosen<br />

<strong>und</strong> Hemden mit langen Ärmeln. Denn gewonnen<br />

haben sie sowieso schon! Schlimmer sollen nur<br />

die winzigen Zecken s<strong>ein</strong>, von denen die erzählen,<br />

die sich bis zu den indigenen Stämmen vorwagen,<br />

oder in lauschige Waldseen, gar Dschungel<br />

marathons laufen, weit ab von der Zivilisation.<br />

Deren Stiche schwellen juckend an <strong>und</strong> heilen nur<br />

nach <strong>ein</strong>er Woche sie aus. So rächen sich die<br />

Tropen!<br />

welcher<br />

k<strong>ein</strong>e<br />

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Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar<br />

Das ständige nervöse Kreuzen, die unzähligen<br />

disziplinierten <strong>und</strong> riskierten Überholmanöver<br />

gehen ohne den kl<strong>ein</strong>sten Stau oder gar lästige<br />

Verzögerungen vor sich. Der stetige Fluss stockt<br />

k<strong>ein</strong>e Sek<strong>und</strong>e. Emsig krabbelt <strong>und</strong> kribbelt es in<br />

alle Richtungen. Der Draht, eigentlich als<br />

Abschrankung <strong>und</strong> Hecke zwischen den<br />

Nachbarhäusern ausgespannt, dient<br />

verschiedenen Ameisenvölkern, sie leben hoch<br />

oben auf den Bäumen, als hochwillkommene<br />

Orientierung <strong>und</strong> viel befahrene Straße. Auch die<br />

Liane, die sich leicht gekurvt hinabsenkt, sich<br />

praktischerweise mit dem Draht kreuzt, fast bis<br />

auf den Boden reicht, ist geradezu überlastet,<br />

wird ständig emsig bekrabbelt, dient sozusagen<br />

als grüne Autobahn.<br />

Im brechenden Licht des Abends zeichnen sich<br />

tausend kl<strong>ein</strong>e, aufrechte Silhouetten gegen die<br />

bleich zuckerrosa Nachthimmel ab. Ob sie nie<br />

schlafen? Wahrsch<strong>ein</strong>lich gibt es ihrer zu viele.<br />

Manche, zum Beispiel die Blattschneiderameisen<br />

aus dem Gemüsebeet, überraschen mich jeden<br />

Tag aus neue mit dem nächtlichen Kahlschlag<br />

<strong>ein</strong>er andern Pflanze. Habe sie schon halbe<br />

Bäume nack tschlagen sehen. Die am Morgen<br />

noch herumliegenden, an den Rändern<br />

halbmondförmig angeknabberten Blätter zeugen<br />

von <strong>ein</strong>em Teamwork, das s<strong>ein</strong>esgleichen sucht.<br />

Ihr Werk, ihre Emsigkeit <strong>und</strong> ihre Effizienz sind<br />

bemerkenswert. Schneidet die Vorhut mit <strong>ein</strong>em<br />

<strong>ein</strong>zigen kräftigen Biss die Blattstiele durch,<br />

sodass die Blätter wie grüne, lautlose Segel <strong>ein</strong>s<br />

nach dem anderen als grüner Regen zu Boden<br />

sinken, wartet da schon die nächste Truppe,<br />

darauf spezialisiert, kl<strong>ein</strong>e, halbr<strong>und</strong>e Stücke aus<br />

den Blättern zu schneiden. Diese werden dann von<br />

äußerst emsigen Arbeiterinnen hochkant in den<br />

Stock getragen, gezerrt, gebuckelt, <strong>ein</strong>e<br />

Herkulesarbeit. Oft sind die Segel drei, viermal so<br />

groß wie die fingernagellangen Ameisen. Daselbst<br />

sind andere da, die sie in Pilzkulturen anlegen,<br />

verrotten lassen, was dann den Kreislauf schließt<br />

<strong>und</strong> den Nachwuchs ernährt.<br />

Blattschneiderameisen verachten auch Papier,<br />

Plastik, gar Silikon nicht. Was die Pilzkulturen<br />

allerdings damit anfangen, entzieht sich m<strong>ein</strong>er<br />

Kenntnis.<br />

Da auch die Luftfeuchtigkeit hier sehr hoch ist,<br />

finden auch kl<strong>ein</strong>e Pflanzen, <strong>ein</strong>e Art Bromelien,<br />

die sich normalerweise wie struppige Bärte in<br />

Bäume hängen, an den ausgespannten Drähten<br />

Gefallen. Irgendwie gelingt es denen, wohl vom<br />

Wind her gewehten Samen, sich am Draht<br />

festzukrallen, wo sie wachsen <strong>und</strong> gedeihen,<br />

ausgenommen asketisch, denn sie beziehen ihre<br />

Nahrung sozusagen aus der Luft. Mit der Zeit<br />

werden sie zu kl<strong>ein</strong>en, etwas unordentlich<br />

kugeligen Gebilden.<br />

Auch so putzige Tierchen wie die „Mucura“, wie<br />

die Beutelratte, das Opossum, hier genannt wird,<br />

rattenartig, aber fast katzengroß, nachtaktiv <strong>und</strong><br />

mit <strong>ein</strong>em elend langen, nackten Schwanz,<br />

zweckentfremden Drähte oder Telefonleitungen<br />

zu ihren Zwecken. Mit eigenen Augen konnte ich<br />

das Tierchen nach dem Einfallen der Nacht dabei<br />

beobachten, wie es zielsicher auf den nächsten<br />

Telegraphenmasten zulief, ihn gekonnt in<br />

Rekordzeit erklomm <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal oben<br />

angekommen wie <strong>ein</strong> schwereloser Seiltänzer auf<br />

dem Draht davonlief, immer weiter Richtung<br />

Stadtzentrum. All das mit solch <strong>ein</strong>er<br />

Selbstverständlichkeit, dass man hätte schwören<br />

können, dass sie das jeden Tag so mache, sehr<br />

genau wisse, wohin sie gelangen wolle.<br />

Auch im Strandhaus drin haben sich nette<br />

Tierchen angesiedelt. Sie sind zu dritt, allerdings<br />

von unterschiedlicher Größe. Als sozusagen<br />

perfekte Hausgenossen versorgen sie sich auch<br />

gleich selber. Rücke ich ihnen zu nahe auf die<br />

glänzende Pelle, weil ich ausgerechnet den Teller<br />

wegnehme, unter dem sie Zuflucht gesucht<br />

haben, verschieben sie sich geschickt seitlich<br />

unter das Abtropfgestell oder den Küchenherd,<br />

die ihnen wohl perfekt sch<strong>ein</strong>en, um ihre Haut<br />

immer angefeuchtet zu halten. Sie haben die<br />

Bromelien <strong>und</strong> Sümpfe gegen die nicht sehr gut<br />

ventilierte, schattige Küche des Hauses am<br />

Strand getauscht. Hier bieten unzählige<br />

feuchtwarme Nischen oder gar nasse Tücher,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 239


lieber nie liegen lassen, perfekte Verstecke.<br />

Wenn gar nichts mehr hilft, die Gefahr sozusagen<br />

lebensbedrängend wird, springen sie urplötzlich<br />

davon, w<strong>und</strong>erschöne, weite Saltos. Sch<strong>ein</strong>t es<br />

mir nur oder ist es wahr, dass ihnen dabei die<br />

halbr<strong>und</strong>en Glupschaugen noch etwas mehr aus<br />

vom Kopf heraus stehen? Sind sie größer,<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich eher <strong>ein</strong>e Kröte als <strong>ein</strong> Frosch,<br />

hüpfen sie oft nicht weg, wenn man ihnen zu<br />

sehr auf die warzige Pelle rückt. Sie drehen sich<br />

<strong>ein</strong>fach, sozusagen geniert, gegen die Wand.<br />

Vielleicht sind sie zu höflich, um zurück zu starren.<br />

Auch die leise raschelnden <strong>und</strong> f<strong>ein</strong> zirpenden,<br />

braunschwarzen Grillen, man sagt ihnen nach,<br />

dass sie Kleider <strong>und</strong> noch viel mehr fressen, sind<br />

sozusagen zusammen mit dem Haus angemietet.<br />

Sie geben scharrende Laute von sich <strong>und</strong> hassen<br />

es ganz besonders, wenn man ihre gemütlich<br />

dämmrige Behausung plötzlich mit Licht flutet.<br />

Zerstieben dann planlos in alle Richtungen.<br />

Tagsüber suchen sie in geschlossenen Schränken,<br />

unter der gefalteten Tischdecke oder <strong>ein</strong>em<br />

vergessenen Küchentuch Zuflucht.<br />

Da sind die Ameisen deutlich unbekümmerter,<br />

zielsicher. Sch<strong>ein</strong>en immer ganz genau zu wissen,<br />

wohin sie rennen, laufen, springen sollen <strong>und</strong><br />

welche komplexe Aufgabe als Nächstes von ihnen<br />

erwartet wird. Dass die nachtaktiven „Mucuras“<br />

sich auch in unserem Haus gut vermehren,<br />

können wir, den eiligen Schrittchen nach, nur<br />

vermuten. Manchmal haben wir auch das Gefühl,<br />

dass sie sich aus lauter Spielfreude über das flache<br />

Dach hinunterpurzeln lassen oder andere Fang<strong>und</strong><br />

Raufspiele spielen. Dass sie auch Früchte nicht<br />

verschmähen, sehen wir, als die draußen auf dem<br />

Esstisch vor sich hin reifende Mango plötzlich<br />

angebissen ist. Sie sch<strong>ein</strong>t heute den genau<br />

richtigen Reifegrad erreicht zu haben, denn<br />

irgendwelche Zähnchen haben sich in unserer<br />

Abwesenheit <strong>ein</strong> paar kräftige Happen<br />

herausgepickt oder gerissen.<br />

Ach übrigens, früher hielt man sich gegen die nicht<br />

sehr beliebten “Mucuras”, sie können, wenn sie<br />

angegriffen werden, <strong>ein</strong>e stinkende Flüssigkeit<br />

ausscheiden, <strong>und</strong> richten im Hühnerstall großen<br />

Schaden an, gegen Mäuse <strong>und</strong> Ratten im<br />

Dachstock ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e lokale Würgeschlange,<br />

die je nach Ernährungslage gut armdick<br />

werden konnte. Von den Schrecken <strong>ein</strong>flößenden<br />

Vogelspinnen allerdings befreite man sich ganz<br />

brutal mit offenem Feuer. Heute halten sich<br />

unsere Fre<strong>und</strong>e <strong>ein</strong>e gleich über der Tür als<br />

Hausgenossin <strong>und</strong> wir haben <strong>ein</strong>e Tarantel im<br />

Dach des Eingangstores. Sie streckt manchmal <strong>ein</strong><br />

paar ihrer zottigen B<strong>ein</strong>e aus ihrem Unterschlupf<br />

nach draußen.<br />

Ein Umdenken findet statt, denn die Spinnen sind,<br />

wie das Zwillingspaar w<strong>und</strong>erschön<br />

zusammengefalteter Fledermäuse, das sich<br />

versteckt unter den Dachgiebel gehängt hat,<br />

überaus nützlich: besonders die Fledermäuse,<br />

aber auch die Kröten lieben grell brennenden<br />

Glühbirnen oder Straßenlaternen, da die<br />

unendlich viele Mücken <strong>und</strong> andere Insekten<br />

anziehen, die sie dann in elegantem Flug<br />

zielsicher nur noch verschlingen müssen. Viele<br />

der Fledermäuse sind allerdings Pflanzenbestäuber<br />

oder helfen mit, die Arten zu<br />

versamen. Der Ingá zum Beispiel wird von<br />

Fruchtfressenden Fledermäusen verbreitet.<br />

S<strong>ein</strong>e langen Bohnen brechen in der Nacht auf.<br />

Legen die von leckerem Fruchtfleisch umhüllten<br />

Samen frei, die die Fledermäuse zusammen mit<br />

den Kernen sehr gerne verspeisen. Und irgendwo<br />

wird dann <strong>ein</strong> neuer Ingá sprießen, verdaut <strong>und</strong><br />

verbreitet von <strong>ein</strong>er unsch<strong>ein</strong>baren, fast<br />

unsichtbaren Fledermaus.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 240


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 241


Die Wespe<br />

Eine fremde Hand hält mich fürsorglich zurück.<br />

Weist aufgeregt auf m<strong>ein</strong>e Brust. Da prangt, am<br />

Rande m<strong>ein</strong>es Blickfeldes, <strong>ein</strong> geflügeltes<br />

Höllentier! Bin nicht irgendwo im Dschungel, n<strong>ein</strong>,<br />

bin mitten in Manaus. Geistesgegenwärtig<br />

bugsiere ich das W<strong>und</strong>erexemplar auf den allzeit<br />

bereiten Regenschirm. Wozu der nicht alles gut<br />

ist! Und rette es so vor dem sicheren Tod.<br />

Entsetzt sehen die Umstehende zu. Auf Armlänge<br />

weggehalten, lässt es sich gar fotografieren, bevor<br />

es sich schwupps, brumsend auf <strong>und</strong> davon<br />

macht.<br />

Das geklaute Bild, w<strong>und</strong>ersamerweise sogar<br />

scharf, erlaubt es mir, das exotische Insekt, ich<br />

halte es für <strong>ein</strong>en Schmetterling, immer wieder<br />

anzusehen. Die groß-länglichen Flügel, vom<br />

Ansatz bis zur Hälfte gelb, der Rest schwarz mit<br />

zwei gelben unregelmäßig konturierten<br />

Warnflecken, bilden <strong>ein</strong> perfektes<br />

gleichschenkliges Dreieck, das im spitz<br />

zulaufenden Kopf endet. Der zweigliedrige, türkis,<br />

gelb <strong>und</strong> seitlich rot gezeichnete Leib erinnert<br />

etwas an <strong>ein</strong>e Fliege. Also was denn nun?<br />

Vielleicht <strong>ein</strong>e Schmetterfliege?<br />

Fliege noch Schmetterling. Er tippt auf <strong>ein</strong>e<br />

Wespe. Wespen sch<strong>ein</strong>en sich, wie k<strong>ein</strong> anderes<br />

Insekt, aufs Handwerk des Imitierens, Kopierens<br />

<strong>und</strong> Täuschens zu verstehen. M<strong>ein</strong>e Wespe<br />

täuscht nun, mich <strong>und</strong> natürlich ihre F<strong>ein</strong>de,<br />

indem sie vorgibt, <strong>ein</strong> ungenießbares oder gar<br />

giftiges Insekt zu s<strong>ein</strong>.<br />

Was mich an der ganzen Lektion allerdings am<br />

meisten be<strong>ein</strong>druckt: Auch der Spezialist kennt<br />

sich nicht aus. Es gibt <strong>ein</strong>fach zu viele, zu viel<br />

ähnliche Insekten hier im Amazonas. Es soll die<br />

ungeheure Zahl von 60.000 schon beschriebenen<br />

<strong>und</strong> geschätzten 180.000 noch wissenschaftlich zu<br />

erfassenden noch zu „entdeckenden“ Arten<br />

geben. Jedes Jahr werden neue Arten, Unterarten<br />

usw. identifiziert <strong>und</strong> nicht von ungefähr heißt es,<br />

dass es die Insekten sind, die uns alle überflügeln,<br />

Pardon, überleben werden.<br />

Interessanterweise gelingt es auch <strong>ein</strong>em,<br />

Digitalfoto sei Dank, konsultierten<br />

Insektenspezialisten nicht, dem w<strong>und</strong>erschönen<br />

Flieger ohne detaillierte Nachforschungen <strong>ein</strong>en<br />

Namen zu geben. Allerdings ist das Insekt weder<br />

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S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier<br />

Die meterlange Würgeschlange, sie liegt tot am<br />

Strand, ignorieren sie. Zwei, drei Tage lang lassen<br />

sie sie, vielleicht aus Vorsicht, zur Abschreckung?<br />

liegen, obwohl sie gleich daneben ihre<br />

Schlafbäume haben. Dann, am dritten oder<br />

vierten Morgen sind nur <strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>zelne<br />

knöcherne Ringe von ihr übrig. Die Aasgeier,<br />

“Urubu” genannt, hier im Amazonas so<br />

allgegenwärtig wie unbeliebt, haben mal wieder<br />

ganze Arbeit geleistet. Unelegant sind nur ihre<br />

Hopser, dann, wenn sie sich unentschieden in<br />

seitlichem Krebsgang entfernen. Sie wahren<br />

respektvolle Distanz. All zu nah soll man ihnen<br />

nicht kommen. Heben sie dann aber ab, ihre<br />

Schwingen, deren Spitzen an geschlossene Hände<br />

erinnern, mit dem trockenen Knall <strong>ein</strong>es sich<br />

öffnenden Fächers aufschlagen, werden sie zu<br />

ihrer Majestät, dem Aasgeier. Segeln mühelos<br />

dahin, st<strong>und</strong>enlang, hoch in der Luft in weit<br />

ausgreifenden Kreisen, im Blick schon die nächste<br />

Müllhalde, das nächste Aas. Übersicht ist alles.<br />

Vorsichtig lassen sie sich auf <strong>ein</strong>em Mast oder<br />

<strong>ein</strong>er Straßenlaterne nieder. Ist k<strong>ein</strong> Futter in<br />

Sicht, segeln, kurven, ziehen sie weiter über die<br />

Himmel. Selten sind sie all<strong>ein</strong>e anzutreffen. Ihr<br />

charakteristische flacher Kopf endet in der<br />

geraden Linie des starken Schnabels, der jeden<br />

Knochen des Kadavers bricht.<br />

Besonders appetitlich sind sie, wenn sie, wie in<br />

der zentralen Markthalle, vom Drahtgitter auf das<br />

offenliegende Fleisch <strong>und</strong> die Käufer<br />

Herunter stieren. Wen w<strong>und</strong>ert´s, dass sie laut<br />

Volksm<strong>und</strong> Unglück bringen sollen, schwarz wie<br />

sie sind. Komischerweise sind sie aber, frisch<br />

geschlüpft, geheimnisvoll weiß!<br />

Wenigen sch<strong>ein</strong>t klar zu s<strong>ein</strong>, wie wichtig ihre<br />

“Arbeit” für das ökologische Gleichgewicht ist.<br />

Einige haben sich längst, ihr Territorium wird<br />

immer mehr <strong>ein</strong>geschränkt, auf den immer<br />

verfügbaren Hausmüll spezialisiert. Nicht mal die<br />

ingeniöse Mülltonne aus sechs r<strong>und</strong>en,<br />

ausrangierten Ventilatorengittern zu <strong>ein</strong>er Art<br />

surrealem Würfel zusammengeb<strong>und</strong>en, hält sie<br />

davon ab, die leckersten Dinge in den Abfallsäcken<br />

aufzuspüren <strong>und</strong> sich sogleich <strong>ein</strong>zuverleiben. Ja,<br />

die Mülltonnen. Viele stellen aus purer<br />

Bequemlichkeit die schlecht zusammengeb<strong>und</strong>enen,<br />

windigen Einkaufstüten voller Abfälle<br />

<strong>ein</strong>fach daneben. Eine Einladung an <strong>ein</strong><br />

unfehlbares Team aus Straßenkötern, viele haben<br />

<strong>ein</strong>en Besitzer, <strong>und</strong> den Aasgeiern. Ist die Nase der<br />

H<strong>und</strong>e nicht schlecht, ist der Geruchssinn der<br />

Aasgeier wohl unvorstellbar, übertroffen nur vom<br />

wahrhaft standhaften Rossmagen. Denn wo es<br />

Müll gibt, stoßen sie unfehlbar in ihrem eleganten<br />

Flug herunter.<br />

Im hintersten Hinterland ist das Zusammenleben<br />

mit den schwarzen Vögeln noch intimer. In so<br />

manchem sandig trostlosen Hinterhof tummeln<br />

sich zwischen glücklich frei laufenden Hühnern<br />

<strong>und</strong> Enten auch <strong>ein</strong> paar besonders schwarze<br />

Exemplare. Mischen sich zwischen ihre<br />

domestizierten Artgenossen, teilen sich die paar<br />

Obstbäumen <strong>und</strong> die runtergefallenen<br />

Kokosnüsse.<br />

Besser wohl nur der „Urubu Malandro“, sowas<br />

wie <strong>ein</strong> cleverer Tunichtgut, den Dona Onete, die<br />

große alte Dame des Carimbós, mit dem ihr<br />

eigenen Humor besingt. Sie schildert musikalisch,<br />

wie der clevere Hans-Dampf-in-allen-Gassen sich<br />

die allzeit zu jedem Flirt bereite, „Garça Namoradeira“,<br />

die flitterhafte Reiherin anlacht. Und<br />

wie ihm das nie erlahmende, etwas ordinäre<br />

Gewühl des „Ver-o-peso“, des zentralen Markts<br />

in Belém auf <strong>ein</strong>mal auf den Geist geht. Er wietete<br />

s<strong>ein</strong>e Kreise <strong>und</strong> versucht s<strong>ein</strong> Glück auf der<br />

Insel Marajó. In kurzer Zeit aber bereut er s<strong>ein</strong>en<br />

Ausflug. Marajó ist ihm viel zu beschaulich, ohne<br />

Betrieb, Getümmel <strong>und</strong> Abwechslung <strong>und</strong> so<br />

kehrt er reumütig mitten ins den „Pitiu“, sowas<br />

wie <strong>ein</strong> stinkendes Getümmel zurück. Da<br />

erkämpft er sich immer <strong>ein</strong>en Happen.<br />

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Fischreichtum, praktisch unbekannt<br />

Auch die amazonischen Fische, <strong>ein</strong> Reichtum<br />

sondergleichen, sind so gut wie unsichtbar. Man<br />

kann sie, leider, leider, nur auf dem Fischmarkt<br />

bew<strong>und</strong>ern. Leider, leider schon tot. Was ihrer<br />

Schönheit <strong>ein</strong>igen Abbruch tut, denn unter<br />

Wasser kommen all die aufgestellten, komplexen<br />

Flossengebilde, <strong>ein</strong>ige leicht wie Spinnweben, die<br />

schillernden Schuppen, die w<strong>und</strong>ersamen<br />

Körperformen <strong>und</strong> die w<strong>und</strong>erbaren Zeichnungen<br />

noch viel besser zur Geltung. Dass die amazonischen<br />

Fische international optisch mithalten<br />

können, zeigt sich in vielen Aquarien auf der<br />

ganzen Welt. In denen schwimmen „Peixes<br />

ornamentais“, Zierfische aus dem Amazonas. Sie<br />

stellen ihre strahlenden Farben, die unterschiedlichsten<br />

Zebrastreifen, die bunten Augen<br />

<strong>und</strong> dekorativen Zeichnungen effektvoll zur<br />

Schau.<br />

Ansonsten aber weiß man noch erstaunlich<br />

wenig. Die Wissenschaft ist sich nicht mal über die<br />

Zahl der Arten <strong>ein</strong>ig. Sprechen die <strong>ein</strong>en von<br />

unvorstellbaren 2.000 bis 3.000 Arten, gehen<br />

andere von der Schätzung von 5.000 aus. Es sollen<br />

1/5 aller bekannten Fische in der Amazonasregion<br />

leben, die große Mehrheit ist wenig oder gar nicht<br />

erforscht. Man kennt eigentlich nur die<br />

sensationellen Fische wie die „Piranhas“ oder der<br />

Elektrische Aal. Erstere sind zu Unrecht<br />

verschrien, denn von den 35 Arten, 17 davon<br />

leben im Amazonas, sind gerade nur 3 gefährlich<br />

kannibalisch <strong>und</strong> auch das nur unter extremen<br />

Umständen mit <strong>ein</strong>em aus dem Gleichgewicht<br />

gebrachten Umfeld oder in <strong>ein</strong>em Tümpel<br />

<strong>ein</strong>gekesselt vom Niederwasserstand.<br />

Bekannt sind auch die Speisefische. Es gibt so viele<br />

verschiedene davon, dass schon der schweizer<br />

Naturforscher Luiz Rodolphe Agassiz, er bereiste<br />

Brasilien in den Jahren 1817-1820 feststellte, dass<br />

man hier mehrere Jahre hinter<strong>ein</strong>ander jeden Tag<br />

<strong>ein</strong>en anderen Fisch essen könnte, ohne sich so<br />

schnell zu wiederholen. Leider ist aber das<br />

Gegenteil der Fall <strong>und</strong> der Konsum von Fisch<br />

beschränkt sich auf <strong>ein</strong> paar wenige Arten, die<br />

deshalb zum Teil schon in Gefahr sind, die<br />

Bestände überfischt, wie der riesige „Pirarucu“<br />

oder der gigantische „Filhote“. Letzterer wird<br />

zärtlich „Söhnchen“ genannt, denn nur über 60 kg<br />

wird er zum „Piraíba”. Der überaus leckere <strong>und</strong><br />

beliebte “Pirarucu” wird teilweise schon in<br />

Fischfarmen gezüchtet, was s<strong>ein</strong>e Art wohl vor<br />

dem Aussterben retten wird, genauso wie der<br />

fette „Tambaqui“. Letzterer kommt nur noch<br />

selten aus freier Wildbahn auf den Markt.<br />

Die Fische aus den amazonischen Gewässern sind<br />

nicht nur schön, sondern haben auch äußerst<br />

interessante Gewohnheiten. Da gibt es den<br />

„Aruanã“, auch „Macaco d‘ água“, Affe des<br />

Wassers, genannt. Eine Art Urfisch, schnellt er<br />

s<strong>ein</strong>en stromlinienförmigen athletischen Körper<br />

mit den riesigen Schuppen <strong>und</strong> dem weiten Maul<br />

kraftvoll mehr als <strong>ein</strong>en Meter aus dem Wasser,<br />

um s<strong>ein</strong>e Beute, <strong>ein</strong> Insekt oder so direkt vom<br />

Zweig zu erhaschen. Kurioserweise beschützt der<br />

männliche Fisch s<strong>ein</strong>e Brut damit, dass er ihnen<br />

in s<strong>ein</strong>em Maul Zuflucht gibt. Andere Fische wie<br />

der „Tucunaré“ sind bei Sportfischern genauso<br />

beliebt wie auf dem Teller. Den Sportfischern gilt<br />

der w<strong>und</strong>erschön farbig gezeichnete „Tucunaré“<br />

als ebenbürtiger Gegner. Er ist nicht nur<br />

imstande rückwärts zu schwimmen, sondern<br />

auch <strong>ein</strong> unermüdlicher Kämpfer, der nicht so<br />

schnell aufgibt. Eine ganz anders Seite enthüllt<br />

er, wenn es um s<strong>ein</strong>e Jungen geht. Für die baut<br />

er zusammen mit s<strong>ein</strong>er Partnerin zwischen<br />

Wurzeln <strong>und</strong> Ästen <strong>ein</strong> Nest, wo er s<strong>ein</strong>en<br />

Nachwuchs drei Monate lang beschützt.<br />

Manche Fische nehmen riesenlange Migrationen<br />

auf sich, um sich genau da zu reproduzieren, wo<br />

sie selber geboren wurden <strong>und</strong> andere sind im<br />

Salzwasser der Meere genauso zu Hause wie im<br />

Süßwasser der amazonischen Flüsse. Andere sind<br />

schuppenlos, sogenannte „Peixes de Couro“,<br />

Fische mit Lederhaut, viele mit extrem schöner<br />

Zeichnung wie der „Surubim“. Auch sie könnten<br />

riesig werden, wie der „Filhote“, aber auch ihre<br />

Bestände sind überfischt. Andere, kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />

dekorativ, haben den Magen voller Sand, den sie<br />

fressen, um sich von den darin enthaltenen<br />

pflanzlichen Rückstände zu ernähren wie die<br />

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„Chaparema“ oder der „Papa terra“, der<br />

Sandfresser. Der „Tambaqui“, mit von den<br />

beliebtesten Speisefischen, legt sich s<strong>ein</strong>e<br />

Fettschicht zu, indem er sich ausschließlich von<br />

sehr fett- <strong>und</strong> ölhaltigen Samen <strong>und</strong> Palmfrüchten<br />

ernährt. Die zermalmt er mit s<strong>ein</strong>en potenten<br />

Kinnladen <strong>und</strong> trägt so viel zur Verbreitung allerlei<br />

Palmenarten bei.<br />

Gefürchtet ist der Stachel der Stachelrochen, die<br />

sich gerne im Sand <strong>ein</strong>graben <strong>und</strong> da, <strong>ein</strong>mal<br />

aufgeschreckt, den F<strong>ein</strong>d mit <strong>ein</strong>em giftigen<br />

Stachel voller Widerhaken stechen, <strong>ein</strong> klassischer<br />

Unfall an <strong>ein</strong>samen amazonischen Stränden. Dass<br />

sie aber w<strong>und</strong>erschön gezeichnet sind <strong>und</strong><br />

faszinierend, wenn sie sich wellenförmig davon<br />

machen, kann man nur im Aquarium sehen. Denn<br />

<strong>ein</strong>mal tot ist ihr Kadaver eher schauerlich. Er<br />

wird schon ohne den gefährlichen Schwanz<br />

angeliefert <strong>und</strong> sogleich zu Filets verarbeitet.<br />

Auch andere Fische, vor allem die großen, kann<br />

man nur mit Glück intakt sehen. Besonders Fische<br />

mit Lederhaut wie der „Jaú“ oder die „Pirarara“<br />

haben tonnenschwere Köpfe, die aus <strong>ein</strong>er<br />

<strong>ein</strong>zigen Knochenplatte bestehen. Meist werden<br />

sie deshalb schon kopflos angeliefert. Exotischer<br />

wohl nur die Urfische, die statt Gräten <strong>ein</strong>en<br />

Knochenpanzer haben. Die „Cujuba“ oder der<br />

w<strong>und</strong>erschön farbig gestrohmte „Bacu“ zum<br />

Beispiel haben auf dem Rücken <strong>und</strong> an der Seiten<br />

messerscharfe Widerhaken zeigen <strong>und</strong> ihren<br />

Körper mit <strong>ein</strong>er Art Panzer aus Knochenscheiben<br />

schützen, die an die Rüstung mittelalterlicher<br />

Ritter erinnern. Auch die „Acari-Bodos“,<br />

w<strong>und</strong>erschön ornamentiert, sind gewöhnungsbedürftig.<br />

Sie verfügen über zwei Atmungssysteme<br />

<strong>und</strong> können mit ihren Lungen st<strong>und</strong>enlang<br />

außerhalb des Wassers überleben. Eine Taktik, die<br />

ihnen im Niederwasser zu Gute kommt oder dann,<br />

wenn sie sich von <strong>ein</strong>em austrocknenden Tümpel<br />

zum nächsten durch den Schlamm winden. Sie<br />

kommen in ganz Brasilien vor <strong>und</strong> ernähren sich<br />

von organischen Abfällen. Auch der kl<strong>ein</strong>e<br />

“Tamoata” erinnert an <strong>ein</strong>en tapferen Ritter. S<strong>ein</strong>e<br />

Knochenplatten sind im Fischgrätmuster<br />

angeordnet, was ihm <strong>ein</strong> vorsintflutliches<br />

Aussehen gibt. Die aalartige, schlüpfrig schleimige<br />

“Traira”, sie schmeckt ausgezeichnet, ist gar für<br />

<strong>ein</strong> Sprachbild gut. Eine Person, die “Traira” ist, ist<br />

so schlüpfrig <strong>und</strong> hinterhältig wie der Fisch. Denn<br />

es gelingt ihr, sich um sich selber zu drehen <strong>und</strong><br />

blitzschnell mit ihrem scharfen Gebiss zuzubeißen.<br />

Auch Krustentiere leben in den Süßwassern der<br />

hiesigen Flüsse. Da wo es Mangues gibt, leben<br />

leckere Krebse. Sie werden, zu langen Schnüren<br />

zusammen geb<strong>und</strong>en, von Kindern am<br />

Straßenrand feilgeboten, wobei sie hilflos<br />

verzweifelt die kräftigen Zangen hin <strong>und</strong> her<br />

bewegen, oder gar im Supermarkt<strong>ein</strong>kaufswagen,<br />

<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Gewimmel, von <strong>ein</strong>em abgerissenen<br />

Verkäufer auf dem samstäglichen Markt. Neben<br />

den Shrimps gibt es an zwei Stellen im Amazonas<br />

auch die wohl kl<strong>ein</strong>ste Krabbe der Welt. Ein nicht<br />

mehr als 8 Millimeter lange Winzling wird in<br />

ufernähen Zonen in riesigen Netzen aus dem<br />

Fluss gefischt. Er ist nur <strong>ein</strong> paar Monate pro Jahr<br />

erhältlich, dann tragen ihn die Strömungen<br />

wieder davon. Wirklich <strong>ein</strong>e faszinierende, kaum<br />

erforschte Wasserw<strong>und</strong>erwelt.<br />

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Am<br />

Strand <strong>Amazonien</strong>,<br />

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Am Strand<br />

Ein perfekter Sonntag 269/270<br />

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Ein perfekter Sonntag<br />

Die klaren, großen Himmel weiten sich endlos bis<br />

zum Horizont. Die tiefen Wolken driften, leicht<br />

<strong>und</strong> klar. Wirken wie hingepinselt, in weißen,<br />

panoramisch lang gezogenen Schlieren.<br />

Schweben, diffus <strong>und</strong> weichr<strong>und</strong>, <strong>ein</strong>e Handbreit<br />

über der Wasserlinie. Der unberührt sch<strong>ein</strong>ende<br />

Regenwald, in sich geschlossenes Grün, erhebt<br />

sich kaum sichtbar, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, weit gezogene<br />

Ebene. Am Ende <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Hügel, abgeflacht,<br />

<strong>ein</strong> Vulkankegel. Die Sandbank hat die Form <strong>ein</strong>er<br />

Sichel; purer, weißer Zucker, <strong>ein</strong>er f<strong>ein</strong>en, sich in<br />

der Mitte verbreiternden, kristallenen Linie<br />

entlang hingestreut.<br />

Der Fluss Tapajós, zahmträger Strom, weit, fast<br />

<strong>ein</strong> Meer, spiegelt das Blau des Himmels um <strong>ein</strong><br />

paar Nuancen dunkler zurück. Dreißig, vierzig<br />

Schiffchen liegen wartend auf der Lauer,<br />

starkblaue <strong>und</strong> fröhliche Ruderboote mit<br />

sauberem, weißem Rand. Das starke Orange der<br />

Rettungswesten leuchtet. Der brennenden<br />

Tropensonne dieses überperfekten Sonntags ist<br />

es noch nicht gelungen, ihnen ihre Strahlkraft<br />

auszubleichen.<br />

Vom Hafen, nicht mehr als <strong>ein</strong>e betonierte<br />

Uferpromenade, die in vielen Stufen bis zur<br />

Wasserlinie abfällt, erklingen hell die spitzen,<br />

kicksenden Schreie der Mädchen in allen<br />

Altersstufen. Die knackig-mollige Haut in<br />

Karamelltönen von knappsten Shorts <strong>und</strong><br />

winzigsten Blüschen freizügig zur Schau gestellt,<br />

versuchen sie höchst animiert <strong>und</strong> fröhlich das<br />

Schaukeln der kl<strong>ein</strong>en Boote auszugleichen.<br />

Schwanken, die Rettungsweste ist hinderlich,<br />

erkämpft sich jede <strong>ein</strong>en passenden Sitzplatz. Alle<br />

noch vorsichtig etwas zurecht gerückt – die<br />

Überfahrt kostet nur <strong>ein</strong> paar wenige Reais. Die<br />

Haut der Ruderer, alle in weißen T-Shirts <strong>und</strong><br />

blauen Bermudas, <strong>ein</strong>zig die Schirmmützen<br />

setzten <strong>ein</strong>zelne Farbtupfer, hat die Sonne die<br />

Haut gebrannt. An den Wochentagen gehen sie<br />

anderen Beschäftigungen nach, sind Maurer,<br />

Elektriker oder Fischer, das sonntägliche Zubrot ist<br />

jedem Willkommen.<br />

Eine gute halbe St<strong>und</strong>e von Santarém entfernt<br />

liegt Alter do Chão mit jenem paradiesischen<br />

Strand, der Insel der Liebe heißt, „Ilha do Amor“.<br />

Noch ist der Weiler in der Hand der Einheimischen,<br />

<strong>ein</strong>iger ausländischer Späthippies <strong>und</strong><br />

immer mehr Aussteigern, die hier <strong>ein</strong> ruhigeres<br />

Leben suchen. Aber die Kreuzfahrtschiffe haben<br />

s<strong>ein</strong>e Schönheiten schon entdeckt. Sie ankern weit<br />

draußen. Spucken im Wochentackt ihre gelbe<br />

Schlauchboote aus, die ihre bleiche Touristenfracht<br />

am überdimen-sionalen Bootssteg<br />

ausschütten. Die überschwemmen dann für <strong>ein</strong>e<br />

halbe abenteuerliche <strong>und</strong> tropisch-heiße St<strong>und</strong>e<br />

den stillen Flecken. Die beste Jahreszeit ist im<br />

Januar, da sind die Wasser tief <strong>und</strong> die<br />

freigelegten Strände w<strong>und</strong>erbar weiß. Der zentrale<br />

Platz, nackt <strong>und</strong> zubetoniert, geziert von <strong>ein</strong> paar<br />

Palmen, verlängert sich zur Linken, täuscht <strong>ein</strong>en<br />

Uferspaziergang vor. In die mittlere Stufe ist <strong>ein</strong>e<br />

öffentliche Toilette <strong>ein</strong>gebaut. Fünfh<strong>und</strong>ert<br />

Meter weiter dem Strand entlang gibt es <strong>ein</strong><br />

überdimensioniertes, massives Deck, das ins<br />

Nichts geht, der Wasserstand ist zu tief. Ein<br />

typisches Mammutbauwerk aus öffentlichen<br />

Geldern, am Ende <strong>ein</strong>er Amtszeit hochgezogen<br />

<strong>und</strong> unter viel Pomp <strong>ein</strong>geweiht.<br />

Aber heute ist k<strong>ein</strong> Schiff angesagt <strong>und</strong> der<br />

Hauptplatz siedet vom sonntäglichen<br />

Lokaltourismus. Zwischen die Süßigkeitenverkäufer<br />

<strong>und</strong> die Stände mit „Tacacá“ <strong>und</strong> Eis<br />

mischen sich Hilux <strong>und</strong> andere geländegängige,<br />

hochrädrige Riesenschlitten. Die fahren die<br />

Einheimischen so gerne zur Schau, am liebsten<br />

fast bis in die Baracken <strong>und</strong> Restaurants hin<strong>ein</strong>.<br />

Das viele Bier <strong>und</strong> die lokalen Souvenirs stehen<br />

heute, es ist Sonntag, ganz den Lokalen zur<br />

Verfügung.<br />

Aber zuerst wollen alle übergesetzt werden.<br />

Steigen hinunter bis auf den Sand, nässen sich<br />

die Füße am Fuß der großen Treppe, die der tiefe<br />

Wasserstand freigelegt hat. Drüben wartet der<br />

ultraweiße Stand, die traditionellen,<br />

palmblättergedeckten Kioske, <strong>ein</strong>e Caipirinha,<br />

<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Mahl. Der lokale Fisch ist<br />

normalerweise frisch.<br />

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Die Überfahrt , <strong>ein</strong> Sprung nur. – „Ich lasse sie an<br />

den hinteren Kiosken, die sind nicht so<br />

überlaufen.“ - Nur selten schwimmt <strong>ein</strong>er<br />

herüber. Der Sand glüht sich durch die bloßen<br />

Sohlen. Die Sonne dörrt kerzengerade vom<br />

Himmel, aber der Caipirinha ist gut <strong>und</strong> das Klima<br />

extrem familiär.<br />

Im Schatten des Kiosks schläft in der türkisfarbenen<br />

Hängematte mit der w<strong>und</strong>erschönen,<br />

breiten Häckelspitze unbehelligt <strong>ein</strong> dickliches,<br />

fast nacktes Kl<strong>ein</strong>kind. Die blutjunge Mutter<br />

genießt die paar ungestörten Minuten. Erzählt<br />

ihrer Mutter, das Handy verkürzt die Distanzen<br />

ungem<strong>ein</strong> <strong>und</strong> ist praktischerweise überall zur<br />

Hand, haarkl<strong>ein</strong> alles <strong>und</strong> noch mehr. Erzählt vom<br />

w<strong>und</strong>erschönen Haus. Ja, schon bald werde sie<br />

<strong>Foto</strong>s davon ins Netz stellen. - Nehme, ob ich will<br />

oder nicht, an den intimsten Details des vor mir<br />

ausgebreiteten Familienlebens teil, besonders<br />

weil die Musik erstaunlich leise ist <strong>und</strong> die<br />

Mehrheit der Gäste das schattige Dach des Kiosks<br />

verschmäht <strong>und</strong> sich lieber in der von den<br />

amazonasbank-grünen Sonnenschirmen nur<br />

teilweise abgehaltene Sonne brät, die alle ganz<br />

hart an der Wasserlinie stehen. Die Stühle <strong>und</strong><br />

Tische aus rotem oder weißem Plastik,<br />

brasilianisches Einheitsdesign, stehen zur Hälfte<br />

im Wasser. Es leckt den Gästen in lächerlich<br />

kl<strong>ein</strong>en, ständigen Wellchen die Füße.<br />

Schon kommt der Fisch, <strong>ein</strong>e Hälfte nur, vom Kopf<br />

her der Länge nach in zwei identische Hälften<br />

ausgeschnitten. Köstlich. Dazu viel Vinagrette, <strong>ein</strong><br />

klitzekl<strong>ein</strong> gehackter Salat. Nachspeise gibt es<br />

k<strong>ein</strong>e, n<strong>ein</strong>, leider.<br />

Es ist schon Nachmittag <strong>und</strong> da drüben erhebt sich<br />

der Patriarch. Der Strandaufenthalt ist zu Ende!<br />

Das verwöhnte Mädchen, das sich über alles<br />

beschwert <strong>und</strong> ununterbrochen die grellbunten,<br />

synthetischen Schleckereien, die die vorsorgliche<br />

Mutter mitgebracht hat, in sich hin<strong>ein</strong> stopft, tut<br />

k<strong>ein</strong>en Mucks. Unter ausufernden Symphathiebezeugungen<br />

verabschiedet sich die gehorsame<br />

Ehefrau von der neu gewonnenen Fre<strong>und</strong>in, mit<br />

der sie den ganzen Tag lang wertvolle Rezepte <strong>und</strong><br />

hochinteressante Informationen über andere<br />

schöne Orte teilte. Missgestimmt erwacht der<br />

kl<strong>ein</strong>e Junge in der Hängematte. Die junge Mutter<br />

versucht ihn, ohne nennenswerten Erfolg, zu<br />

beruhigen.<br />

Wie aus dem Boden gestampft steht plötzlich der<br />

andere, bis dahin unsichtbare Patriarch da, der das<br />

Oberhaupt des kl<strong>ein</strong>en Klans zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t.<br />

Wortlos, nur mit dem Wink des Kopfes befielt er<br />

den Aufbruch. Setzt ihn selber sogleich in die Tat<br />

um. Geht in Richtung der Boote. Stolz folgt ihm<br />

s<strong>ein</strong> ältester Sohn. Ohne die geringste Widerrede<br />

gehorchen die Frauen, machen sich emsig ans<br />

Aufräumen <strong>und</strong> Zusammentragen der verstreuten<br />

Habseligkeiten. Nehmen die beiden<br />

Hängematten ab, rollen sie ganz eng <strong>ein</strong>. Gott sei<br />

Dank habe ich der Versuchung widerstanden,<br />

mich darin zu Schaukeln. Dachte, die gehörten<br />

zum Kiosk.<br />

Halt! Die ganze Einrollerei nochmal von vorne.<br />

Noch fester <strong>und</strong> enger zusammengepresst, sonst<br />

passt sie nicht ins Futteral. Das Babygeschrei,<br />

bisher immer sofort erhört, stößt auf taube<br />

Ohren.<br />

Später brechen auch wir auf. Gehen <strong>ein</strong> langes<br />

Stück dem Strand entlang. Sehen das Verlangen<br />

im Blick des kl<strong>ein</strong>en Jungen. Er wirft <strong>ein</strong>en<br />

letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Pedalos,<br />

aufgeplusterte weiße Schwäne, die hoch<br />

aufgeschwungenen Hälse Lackschwarz <strong>und</strong> die<br />

Schnäbel rot. Diese Spazierfahrt muss er sich<br />

wohl für <strong>ein</strong>en anderen, nicht weniger<br />

strahlenden, nicht weniger perfekten Sonntag<br />

aufheben.<br />

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Zu<br />

Schiff<br />

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Zu Schiff<br />

Seefahrers erste Reise 289-291<br />

Fast im Paradies 299<br />

Am Kai 306-308<br />

Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die Glorie Gottes 311<br />

Der Kapitän 315/316<br />

Der Dolarsch<strong>ein</strong> 318<br />

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Seefahrers erste Reise<br />

Die “Lady Christina”, was für <strong>ein</strong> klangvoller<br />

Name, sticht aus dem Hafen. Langsam rückt die<br />

abgeflachte Silhouette von Manaus weg, auch auf<br />

Distanz nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e modern-hässliche<br />

Allerweltsgroßstadt. Wende mich praktischeren<br />

Dingen zu. - Gott, wie unpraktisch! – Erst jetzt<br />

frage ich mich, wie ich denn nun m<strong>ein</strong>e<br />

Hängematte zwischen die andern aushängen<br />

soll???? Es gibt hier ja gar k<strong>ein</strong>e Hacken!!!! M<strong>ein</strong>e<br />

erste Hängematte. Ich habe sie gestern erst<br />

gekauft <strong>und</strong> nicht gewusst, dass sie mit zwei<br />

starken Seilen hochgeknüpft werden muss!<br />

“Marinheiro de primeira viagem” – Seefahrers<br />

erste Reise, wie es so schön auf Portugiesisch<br />

heißt!<br />

Wieder <strong>ein</strong>mal kommt der ach so exotischen<br />

Ausländerin, zu allem noch all<strong>ein</strong> reisend, Gott sei<br />

Dank, <strong>ein</strong>e etwas privilegiertere Stellung zu.<br />

Wurde sie doch Dona Christina persönlich ans<br />

Herz gelegt, der Chefin/Besitzerin des Schiffes.<br />

Die beiden Christinas, beide Ladys, flößen Respekt<br />

<strong>ein</strong>. Dona Christina kommandiert ihr Schiff mit<br />

starker Hand <strong>und</strong> rauer Stimme. Steht gerade<br />

kl<strong>ein</strong>, drahtig, blondiert <strong>und</strong> sonnengebrannt vor<br />

mir. Einer ihrer Männer zaubert von irgendwoher<br />

<strong>ein</strong> paar starke Seile hervor, die m<strong>ein</strong> Gewicht<br />

wohl aushalten. Später sehe ich sie in allen<br />

Schiffszubehörläden an den Kais, in großen<br />

Bündeln prominent zur Schau gestellt: schon auf<br />

die richtige Länge zugeschnittene<br />

Hängemattenschnüre, lustig buntfarben.<br />

Aber noch bin ich im Hafen. Ziehe m<strong>ein</strong> Gepäck,<br />

<strong>ein</strong>e Art langer Schweif auf Rädchen, die endlose<br />

Rampe hoch. Unzählige bleichhäutige<br />

Kreuzfahrtpassagiere kommen mir entgegen.<br />

Potenzielle K<strong>und</strong>en für die MAKE UP YU U$D 8.00<br />

– <strong>ein</strong> Karrikaturist. Er hat s<strong>ein</strong>e Zelte gleich im<br />

Hafengebäude aufgeschlagen. Hoffentlich sind<br />

s<strong>ein</strong>e Zeichnungen besser als s<strong>ein</strong> Englisch. Eine<br />

zweite Welle Bleichschnäbel. Auch sie mustern<br />

mich ungläubig - sch<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>e von Ihnen zu s<strong>ein</strong>,<br />

oder doch nicht? Die schwimmt aber<br />

kurioserweise dem Strom entgegen! Mustere<br />

zurück: Sie tragen unisono, sowas trägt hier auch<br />

bei tropischen Regengüssen k<strong>ein</strong>er,<br />

Plastikregenjacken.<br />

Endlich habe ich mich zum Fahrkartenschalter<br />

durchgefragt. Ja, die Informationen von gestern<br />

decken sich fast, nur dass ich etwas zu früh an<br />

Bord bestellt wurde. Die Schiffe hier sind<br />

pünktlich, was man von den Passagieren nicht<br />

sagen kann. So bestellt man sie halt <strong>ein</strong>e St<strong>und</strong>e zu<br />

früh. Wo aber ist denn das verflixte Schiff? Der<br />

Hafen ist <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges unübersehbar chaotisches<br />

Gewimmel. Winde mich zwischen aufgestapelter<br />

Fracht <strong>und</strong> riesigen Lastwagen durch. Unzählige<br />

Riesenschiffe liegen vor Anker, das Kreuzfahrtschiff,<br />

prächtig, weiter links. Nach dreimaligem<br />

Fragen sehe ich die “Lady Christina” endlich<br />

vor mir.<br />

Aus der <strong>ein</strong>en St<strong>und</strong>e, die das Schiff später<br />

abfahren soll, werden dann schlussendlich zwei.<br />

Man habe mich am Fahrkartenschalter falsch<br />

informiert. Geduldiges Warten gehört zum<br />

Bootsfahren nun mal dazu. Was ist schon <strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>zige St<strong>und</strong>e, verglichen mit den 24 hin <strong>und</strong><br />

den 18 her, die noch vor mir liegen? Zwar flößt<br />

mir die Hängematte noch etwas Respekt <strong>ein</strong>.<br />

Aber “Camarote”, Kabine ist viel, vielleicht fünf<br />

Mal so teuer. Außerdem seien die Überlebenschancen<br />

in der Kabine sozusagen gleich<br />

Null, sollte es zu <strong>ein</strong>em Schiffsunglück<br />

kommen ….<br />

Später, St<strong>und</strong>en später kann ich auch jene Frau<br />

verstehen, die im Zentrum unschlüssig um <strong>ein</strong>e<br />

grell farbene, schrecklich warme <strong>und</strong> schrecklich<br />

synthetische Decke, Made in China, feilschte. Der<br />

Straßenhändler will von <strong>ein</strong>em Rabatt nichts<br />

wissen. Das alles bei über 35 Grad, die nachts<br />

höchstens auf 30 runterheizen. Das soll auf den<br />

Wassern anders s<strong>ein</strong>, haben sie mir prophezeit.<br />

Wie krass die Diskrepanz zwischen –Schondavon-gehört-haben-<br />

<strong>und</strong> -am-Eigenen-Leiberfrieren-<br />

ist, kann ich nun selbst bezeugen. Dass<br />

die Nächte hier im Amazonas auf dem Festland<br />

zwar tropisch üppig <strong>und</strong> feuchtheiß sind,<br />

bedeutet nicht, dass sie es auf den Wassern<br />

ebenso sind! Der Fahrtwind <strong>und</strong> das unendliche<br />

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Nass lassen die Temperaturen um empfindliche<br />

Grade sinken. Wer dann zwischen sich <strong>und</strong> der<br />

feuchtkalten Luft nur <strong>ein</strong>e Hängematte hat, ist um<br />

<strong>ein</strong>e wohlig-synthetisch-warme Decke mehr als<br />

froh. Schlimmer nur, wenn man nur noch <strong>ein</strong>en<br />

der letzten Plätze ganz außen, exponiert <strong>und</strong> ganz<br />

ungeschützt von anderen Körpern - Sehrfahreres<br />

erste Reise - erwischt hat.<br />

Also, Hängematte montiert, Gepäck darunter<br />

verstaut, Geld <strong>und</strong> Wertsachen sicher auf dem<br />

Köper versteckt – es wird viel geklaut auf dem<br />

Schiff - Fre<strong>und</strong>schaft mit den Belegern der<br />

Nebenhängematten geschlossen, gegen den Wind<br />

schon die Strickjacke übergezogen <strong>und</strong> dann<br />

endlich das Schiff erk<strong>und</strong>en! Den Schiffsh<strong>und</strong>, <strong>ein</strong><br />

falbfarbener, muskulös-magerer, misstrauischbissigen<br />

Straßenköter, kenne ich schon. Zwar ist<br />

er nur mittelgroß, macht aber s<strong>ein</strong>er Rolle als<br />

Wachth<strong>und</strong> alle Ehre. S<strong>ein</strong> Körbchen, eigentlich<br />

<strong>ein</strong> Plastikbecken, bequem mit <strong>ein</strong> paar Decken<br />

ausstaffiert, steht gleich unter dem<br />

Kommandotisch Dona Christinas. Auch er hat<br />

gegen den Zug <strong>und</strong> die Kühle der Nacht <strong>ein</strong><br />

Mäntelchen abgekriegt. Spät in der Nacht höre<br />

ich ihn immer wieder, tap, tap, tap, nach vorne<br />

zum Kapitän gehen, oder an Land, um da s<strong>ein</strong>e<br />

kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> großen Geschäfte zu erledigen. Auf<br />

dem Komandotisch steht <strong>ein</strong> billiger<br />

Taschenrechner, daneben liegt <strong>ein</strong> offiziell<br />

aussehendes Buch, wohl das Schiffsbuch, <strong>ein</strong>e<br />

unförmige Rolle Klebband, denen <strong>ein</strong><br />

ockerfarbener Porzelanbuddha Gesellschaft<br />

leistet. Das riesige Schiff sch<strong>ein</strong>t gut unterhalten<br />

<strong>und</strong> somit vertrauenswürdig. Wer sich unter das<br />

das <strong>ein</strong>fache Volk mischt, sich, statt zu fliegen,<br />

st<strong>und</strong>en, ja tagelang von riesigen Booten<br />

schaukeln lässt, sollte vorsorgen: Ortsk<strong>und</strong>ige<br />

empfehlen gerne <strong>ein</strong> sicheres Schiff. Leider kommt<br />

es hier immer wieder zu Bootsunfällen.<br />

Schauergeschichten, zwei, dreifach über die<br />

erlaubte Kapazität hinaus überladene Boote, die<br />

festfahren, gar Schiffbruch erleiden, Tod <strong>und</strong> Leid<br />

hinter sich lassen.<br />

Immer wieder werfe ich <strong>ein</strong> paar Blicken aufs<br />

endlose Wasser <strong>und</strong> die monoton<br />

vorbeigleitenden Ufer; <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger, endlos<br />

schmaler, grüner Strich. Zwischendrin vergnüge<br />

ich mich mit der Ladung, offen auf Deck<br />

aufgestapelt. Der Schiffsbauch quillt wohl schon<br />

über. Es gibt <strong>ein</strong> paar stattliche Autos. Nicht<br />

gerade die billigsten, gerne stellt man hier s<strong>ein</strong>en<br />

hochb<strong>ein</strong>igen Luxuslandrover zur Schau. Daneben<br />

aufgetürmt alles, was man in <strong>ein</strong>em gut<br />

ausgestatteten Supermarkt auch kaufen könnte.<br />

Insektenvertilgungsmittel, Waschpulver,<br />

Riesensäcke mit Mehl, Multikpackete Kaugummi,<br />

Fernseher, viereckige Rieseneierkartons randvoll<br />

mit Eiern, alles gleich im dreifachen Duzend, in<br />

starke Plastikumhüllungen <strong>ein</strong>geschweißt. Wohl<br />

nur Dona Christina <strong>und</strong> ihre Crew wissen, was<br />

welchem Empfänger zugedacht ist. Bodenfließen<br />

stehen neben Waschmaschinen, Milch im<br />

Tetrapack neben Wegwerfwindeln <strong>und</strong><br />

Erfrischungsgetränken - auf die Errungeschaften<br />

der Zivilisation will auch hier draußen k<strong>ein</strong>er<br />

verzichten. Nochmehr Ufer, monotone, schmal<br />

grüne Striche, ziehen vorbei, mal weiter, mal<br />

näher. Immer wieder hebt sich <strong>ein</strong> Baumriese<br />

aus den anderen hervor, <strong>ein</strong>e Art Merkpunkt im<br />

endlos grünen, tellerflachen Meer. Da! <strong>ein</strong>e der<br />

typischen Kirchen, hoch auf Stelzen gebaut. Im<br />

Jahresrhythmus steigen <strong>und</strong> fallen die Wasser,<br />

<strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er kann voraussehen, wie hoch sie<br />

dieses Jahr steigen werden. “Assembléia de<br />

Deus”, auch hier in den amazonischen Einöden<br />

ist man protestantisch-oder katholischf<strong>und</strong>amentalistisch<br />

geworden.<br />

Da, was ist das? Das trübe, schlammbraune<br />

Wasser sch<strong>ein</strong>t plötzlich flecking, immer mehr<br />

klarere Striemen, riesige bläulichere Tupfer<br />

tauchen auf. “Encontro das Águas” – hier treffen<br />

klarere Wasser auf die trüben des Amazonas. Wir<br />

verlassen den Amazonas, schiffen schon bald in<br />

anderen, blaueren Wassern. Noch treiben die<br />

beiden neben<strong>ein</strong>ader her, mischen sich nur<br />

partiell, kilometerweit, bis sich dann endlich die<br />

klare Farbe durchsetzt. Das selbe kann man von<br />

den Himmeln nicht sagen. Seit lägerer Zeit schon<br />

verschließen sie sich, rücken zusammen. Schon<br />

wischen graue Regenstreifen, gleichförmig<br />

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diagonale Striche, Land, Wasser, Himmel zu<br />

<strong>ein</strong>em monotonen Braungrau zusammen. Ohne<br />

Hast werden die seitlichen, starkblauen<br />

Plastikplachen heruntergelassen. Noch mehr<br />

Leute ziehen sich in ihre Hängematten zurück.<br />

Auch ich versuche zu schlafen, was erstaunlich gut<br />

geht, besonders als ich mich noch in <strong>ein</strong><br />

Stück Wachstuch <strong>ein</strong>wickle, das eigentlich als<br />

Tischtuch gekauft wurde. Ein Souvenir, das mich<br />

später auf dem Küchentisch immer an diese Reise<br />

erinnern wird.<br />

Das Essen, der “Rancho”, <strong>ein</strong> im Preis<br />

inbegriffener, sehr willkommener Unterbruch, ist<br />

etwas gewöhnungsbedürftig. Wie auf geheimes<br />

Kommando bilden sich zur Essenszeit geduldige<br />

Schlangen. Rücken äußerst langsam ins kl<strong>ein</strong>e<br />

Speisezimmerchen vor. Da werden randvoll<br />

gefüllte Teller ausgegeben. So randvoll, dass vom<br />

durchsichtig-braunen Glasteller fast nichts mehr<br />

zu sehen ist: Reis <strong>und</strong> Bohnen, dazu Nudeln <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong> paar Stücke Fleisch, lieblos obenauf die<br />

Nudeln geschmissen. Daneben, hart am<br />

Tellerrand, Mayonnaise. Die paar<br />

Gemüsestückchen drin sollen sie wohl zum Salat<br />

machen. Daneben starkgelbes Maismus. Auf<br />

geheimnisvollem Weg wird immer wieder<br />

unsichtbar aus dem Schiffsbauch Nachschub<br />

nachgehoben. Alle werden satt. Ein ganz anderes<br />

Erlebnis aber das Frühstück, total den örtlichen<br />

Gegebenheiten angepasst. Dreierlei Früchte: Zwei<br />

eher kümmerliche Orangenhälften, bis auf die<br />

weiße Haut herunter geschält, fertig zum<br />

Aussaugen. Winzige Bananen, die w<strong>und</strong>erbar<br />

schmecken <strong>und</strong> zwei kl<strong>ein</strong>e Scheiben<br />

Wassermelone. Dann tiefviolette Carás, <strong>ein</strong>e der<br />

vielen Knollen, deren Geschmack von weitem an<br />

Kartoffeln erinnern <strong>und</strong> köstlich orangefarbene<br />

“Pupunhas”, <strong>ein</strong>e lokale Palmfrucht, in Salzwasser<br />

weich gekocht, im Plastikbecher. Sie machen die<br />

Brötchen, labbrig, sicher tagelang in Plastiksäcken<br />

aufbewahrt, überflüssig. Dazu Kaffee <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Stück<br />

übersüßen Maniokkuchen. Den w<strong>und</strong>erbar<br />

verkochten “Munguzá”, <strong>ein</strong> Brei aus ganzen,<br />

weißen Maiskörnern, hebe ich mir zum Schluss<br />

auf. Köstlich!<br />

Die Reise ist <strong>ein</strong>tönig, langweilig <strong>und</strong> monoton.<br />

Irgendwie sch<strong>ein</strong>t sie sich ständig zu wiederholen.<br />

Irgendwie sch<strong>ein</strong>en wir nicht vom Fleck zu<br />

kommen oder fahren ständig durch die immer<br />

gleichen Wasser. Dazu gießt es ununterbrochen<br />

<strong>und</strong> die blauen Plachen lassen nur Streifen grauer<br />

Himmel sehen. Irgendwie habe ich schon alles<br />

gelesen, gesehen, kann nicht mehr liegen noch<br />

stehen. Aber halt! Plötzlich beginnt es überall zu<br />

rumoren. Hängematten werden aufgerollt, Gepäck<br />

herumgeschubst, die steilen Leitern<br />

hinuntergeschleift. Der grasgrüne Boden des<br />

Schiffes ist in kürzester Zeit wie sauber gefegt.<br />

Ansteckende Erwartung ergreift alle. Aha, wir<br />

nähern uns dem Ziel der Reise. Irgendwo aus<br />

dem Nirgendwo taucht dann auch promt <strong>ein</strong><br />

improvisierter Hafen auf. Unzählige Schiffe liegen<br />

vor Anker. Ein schwimmender Pier aus Eisen<br />

schiebt sich in die Wasser hinaus. K<strong>ein</strong>er hält es<br />

mehr aus an Bord. Kaum hat das Schiff auch nur<br />

behelfsmäßig angelegt, springen <strong>ein</strong> paar<br />

Wagemutige auf den Pier, gleichzeitig wuseln,<br />

schieben <strong>und</strong> drücken muskulöse Gepäckträger<br />

durch alle Löcher an Bord. Ein <strong>ein</strong>ziges Schieben,<br />

Heben <strong>und</strong> Drängen. Schwere Koffer werden<br />

über Bord gehievt bis dann endlich der Steg,<br />

nicht viel besser als <strong>ein</strong>e Hühnerleiter,<br />

festgemacht ist. Endlich ergießt sich, ungeordnet<br />

<strong>und</strong> chaotisch, die ganze Menschenfracht auf die<br />

Kais. Taxifahrer schreien, preisen ihre Dienste an,<br />

packen ungefragt das Gepäck, um das sich schon<br />

Gepäckträger balgen. Verwandte <strong>und</strong> Bekannte<br />

fallen sich in die Arme, Kinder werden hastig von<br />

<strong>ein</strong>er Hand zur nächsten weitergereicht. K<strong>ein</strong>s<br />

gibt auch nur <strong>ein</strong>en Ton von sich. Auch das<br />

unförmige Schlagzeug, das halbe Dutzend Besen,<br />

der Blumentopf werden sicher an Land gehievt.<br />

Was für die <strong>ein</strong>en Heimkommen ist, ist für mich<br />

der Beginn <strong>ein</strong>es neuen Abenteuers, die Hälfte<br />

m<strong>ein</strong>er ersten Reise auf See.<br />

Good bye, Lady Christina, bis zur Rückfahrt, Lady<br />

Christina! Hat sich gelohnt, Lady Christina!<br />

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Fast im Paradies<br />

Fast wähnt man sich im Paradies. Oder ist das hier<br />

<strong>ein</strong> Stück Europa mitten im Amazonas? Weiße,<br />

hochb<strong>ein</strong>ige Rinder, Nelore, <strong>ein</strong>e Mischung<br />

europäischer <strong>und</strong> indischer Rassen, grasen auf<br />

grünen Weiden. Dazwischen wie hingestreut <strong>ein</strong><br />

paar streng geometrische Holzhäuschen,<br />

winkende Menschen, magere, aber glückliche<br />

Mistkratzer, <strong>ein</strong> schwarzrosa Schw<strong>ein</strong>, zwei<br />

Straßenköter.<br />

Schau mal, <strong>ein</strong>e hölzerne Kirche! Wie viele Häuser<br />

hier ist sie auf Pfählen errichtet. Die Wasser<br />

steigen <strong>und</strong> fallen hier im Jahreszyklus <strong>und</strong> die<br />

Hochwasser können ihr schon mal den Boden<br />

lecken. Quadratisch, rustikal, so liebevoll roh aus<br />

Brettern zusammengefügt, dass sie mit ihrer<br />

vorgesetzten Fassade eher an <strong>ein</strong>e Theaterkulisse,<br />

<strong>ein</strong>en Schattenriss, gar an <strong>ein</strong> potemkinsches Dorf<br />

als <strong>ein</strong> Gotteshaus erinnert. Daneben <strong>ein</strong>ige<br />

Häuser, auch auf Pfählen, Kanus, lächerlich kl<strong>ein</strong>,<br />

manche aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Baumstamm<br />

geschnitzt <strong>und</strong> größere, bullige Schiffe mit<br />

flachem Kiel, am Ufer verankert. Der Fluss schiebt<br />

sich träge dahin, stattlich. Hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>e<br />

r<strong>ein</strong>weiße Landzunge, <strong>ein</strong>same Buchten mit<br />

blendenden Sandstränden. Wähne mich irgendwo<br />

in Europa, wenn, ja wenn, da nicht dieses Paar<br />

träger Augen wäre. Augendeckel nur, gelbgrüne<br />

beschattete Sterne, die sich lautlos durchs Wasser<br />

schieben – <strong>ein</strong> Krokodil! Wir sind mitten in <strong>ein</strong>em<br />

sehr schönen Stück Amazonas, auf dem Kanal<br />

„Jari“, der bei Santarém den Tapajós mit dem<br />

Amazonas verbindet. Die Jahreszeit sei die beste.<br />

Die endlosen Sandstrände der Flüsse liegen frei,<br />

später, in der Jahresmitte, werden sie alle unter<br />

dem ansteigenden Wasserspiegel verschwinden.<br />

Treffe diese Urkirchen immer wieder, zu Wasser<br />

oder zu Land. Sch<strong>ein</strong>en sich alle irgendwie<br />

verblüffend ähnlich. Wie <strong>ein</strong>e der anderen<br />

abgeschaut, von<strong>ein</strong>ander kopiert oder geklont, alle<br />

vom selben Baumeister gezeichnet <strong>und</strong><br />

hochgezogen. Wie wenn <strong>ein</strong>e zentrale<br />

Kirchenstelle für fast alle Kirchen des<br />

amazonischen Hinterlandes das selbe Muster, <strong>ein</strong>e<br />

identische Form festgelegt hätte. Wohl aber eher<br />

lokalen Handwerkern anvertraut, die in naiver<br />

Freiheit <strong>ein</strong>fach jenes Gotteshaus nachbauen, das<br />

sie aus ihren inneren Bildern kristallisieren. Die<br />

<strong>ein</strong>zelnen Kirchl<strong>ein</strong> sind sorgfältig <strong>und</strong><br />

demokratisch auf die unterschiedlichsten<br />

Abspaltungen katholischer <strong>und</strong> evangelischer<br />

Kirchen verteilt, jede entsprechend identifiziert.<br />

Berührend schön, schmucklos, oft gar flach. Die<br />

charakteristischen Kirchtürme oft nicht mehr als<br />

<strong>ein</strong>dimensionale Scherenschnitte, hoch aus der<br />

flachen Holzfassade herausgeschnitten, immer<br />

den Wassern zugewandt. Normalerweise zwei,<br />

manchmal gar drei Türme, immer von simpelsten<br />

Kreuzen überragt, <strong>ein</strong>fach vor <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>fachen<br />

Quader, das Kirchenschiff, gestellt. Ihr kalkiges<br />

Weiß oder ausgewaschenes Blau hebt sich klar von<br />

den hohen, weiten Himmeln ab, an denen schon<br />

die nächsten Gewitter drohen.<br />

Kinderzeichnungen, Scherenschnitten gleich sind<br />

sie auf die allertypischsten Elemente reduziert,<br />

verzichten auf Vorsprünge, Balustraden oder<br />

andere dekorative Elemente, die ihnen etwas<br />

Tiefe oder Dreidimensionalität verleihen würden.<br />

Ihre Einfachheit <strong>und</strong> Rustikalität erinnert an Exvotos,<br />

von rauen Händen gezimmert <strong>und</strong><br />

kunstvoll mit <strong>ein</strong> paar Resten Farbe bemalt.<br />

Plötzlich wie <strong>ein</strong> Theatervorhang fällt die Nacht<br />

her<strong>ein</strong>. Schon länger haben wir angelegt. Die<br />

Hitze allerdings hat noch k<strong>ein</strong> Grad nachgelassen,<br />

es ist gut möglich, dass sie die ganze Nacht durch<br />

anhält. Wer sagt denn, dass man im Paradies<br />

nicht schwitzen muss?<br />

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Am Kai<br />

Könnte wohl st<strong>und</strong>enlang an den Kais stehen <strong>und</strong><br />

dem Kommen <strong>und</strong> Gehen zusehen. Kilometerlang,<br />

<strong>ein</strong> hässlicher Betonstreifen, oben abgeflacht <strong>und</strong><br />

seitlich abgeschrägt, grenzt er die Hauptstraße<br />

gegen den Fluss Tapajós ab, wir sind in Santarém,<br />

etwa in der Hälfte zwischen Belém <strong>und</strong> Manaus.<br />

Weit draußen trifft das kobaltene Blau des<br />

Tapajós, nur um Nuancen dunkler als der Himmel,<br />

auf die ockerschlammfarbene Trübe des<br />

Amazonas, <strong>ein</strong> lehmiger Strich, weit dahinter <strong>ein</strong><br />

flacher Streifen Grün, <strong>ein</strong>es der vielen Ufer.<br />

Fließen noch kilometerweit neben<strong>ein</strong>ander her.<br />

Endlich gewinnt die Lehmfarbe Oberhand.<br />

In der Stadtmitte dominiert billigster Kommerz,<br />

der von <strong>ein</strong>er endlosen Reihe Geschäfte abgelöst.<br />

Die verkaufen all das, vom Bootszubehör über<br />

Fischernetze bis zum Badetuch, was man im<br />

weiten Hinterland nicht selber herstellen oder<br />

anbauen kann. Nahe beim Zentrum sind die Kais<br />

schicker, werden gar von <strong>ein</strong>em Geländer<br />

gesäumt. Bilden <strong>ein</strong>e Art bombastische<br />

Strandpromenade ohne den winzigsten Schatten.<br />

Nachts leuchten futuristische Straßenlaternen die<br />

Anlage grell aus. Dann trifft man sich, abends,<br />

wenn es kühler wird. Jugendliche mit ihren<br />

Motorrädern, Familien mit Kindern, ältere<br />

Matronen. Darunter mischen sich fliegende<br />

Händler, die aus ihren vollgestopften Rucksäcken<br />

die neuesten Filme, die DVDs natürlich<br />

raubkopiert, unter die Leute bringen. Die Kinder<br />

klettern auf die riesige Betonschildkröte oder<br />

purzeln auf dem bonbonfarbenen Zug herum,<br />

während die Eltern schwatzen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Eis essen.<br />

Noch im Zentrum, gleich schräg vor der<br />

türkisblauen, weiß abgesetzten Barockkirche <strong>und</strong><br />

dem Pavillon im selben Blaugrün, improvisieren<br />

die Hängematten- <strong>und</strong> Taschenverkäufer ihre<br />

Verkaufsstände, haben hier ihre festen<br />

Standplätze. Ihr Angebot ist vielfarbig, bunt <strong>und</strong><br />

grell, gar aus Nylon <strong>und</strong> tarnfarben bedruckt, die<br />

klassisch weißen will k<strong>ein</strong>er mehr. Noch modischer<br />

nur die Sonnenbrillen, in Reih <strong>und</strong> Glied durch <strong>ein</strong><br />

riesiges Styroporblatt gesteckt. Verspiegelt,<br />

verchromt oder tiefschwarz arrogant <strong>und</strong><br />

windkanalgestylt warten sie auf Käufer. Daneben<br />

allerlei Gürteln <strong>und</strong> Taschen, die pinkfarbenen mit<br />

den japanischen Comiczeichnungen oder Barbie<br />

sind wohl nicht nur für kl<strong>ein</strong>e Mädchen. Schatten<br />

spenden <strong>ein</strong> paar verknorzte, faszinierende<br />

Urwaldbäume, deren Astwerk, oder sind es<br />

Luftwurzeln? So über<strong>ein</strong>ander gewuchert ist, dass<br />

sie mich an freigelegte Nerven, Sehnen <strong>und</strong><br />

Blutstränge mager-muskulöser Riesenarme<br />

erinnern. Gegenüber liegen schon die ersten<br />

Schiffe vertäut, <strong>ein</strong>s hinter dem nächsten<br />

unterstehen sie alle diszipliniert <strong>ein</strong>er<br />

unsichtbaren Ordnung. Die Marine ist streng.<br />

Weiter vorne sind die Kais schmucklos, <strong>ein</strong> Wehr<br />

gegen die Wasser, die alle sechs Monate steigen<br />

<strong>und</strong> dann wieder fallen, im ewig<br />

gleichbleibenden, ständigen Zyklus,<br />

unberechenbar, gottgegeben. Sind die Wasser<br />

hoch, springen die Boote fast bis auf die<br />

Hauptstraße. Haben sie ihren Tiefstand erreicht,<br />

ankern sie weit draußen an den sandigen<br />

Bänken.<br />

Etwa in der Mitte befindet sich der ganz große<br />

Güterumschlagplatz. Fasziniert beobachte ich<br />

wie Lastwagenladungen hinter Lastwagenladungen<br />

in den Bäuchen <strong>und</strong> unter Deck<br />

verschwinden. Es ist <strong>ein</strong> Heben, Stemmen,<br />

Ziehen, Zirkeln <strong>und</strong> Verstauen. Verladen wird<br />

<strong>ein</strong>fach alles. Mehl, Margarine, hochb<strong>ein</strong>ige<br />

Motocross-Motorräder, Maschinenersatzteile,<br />

12er-Pakungen Limonade, deren Namen mir<br />

fremd sind, Gaspatronen, Fernseher <strong>und</strong> viele<br />

andere unverzichtbare Gr<strong>und</strong>versorgungsmittel<br />

balancieren starke Hafenarbeiter auf wackligen<br />

Hühnerstegen ins Schiffsinnere. Auf den <strong>ein</strong> oder<br />

zwei Oberdecken hängen schon <strong>ein</strong>zelne<br />

Hängematten, noch gibt es viel Platz für andere.<br />

Ganz an Ende, auf Stelzen in den Fluss hin<strong>ein</strong><br />

gebaut, der „Tablado“, <strong>ein</strong>er der Fischmärkte.<br />

Hier kann man den frischesten Fisch der Welt<br />

kaufen <strong>und</strong> gleich auch die für <strong>ein</strong>e Fischsuppe<br />

nötigen Zutaten. Kl<strong>ein</strong>kuglige Limetten, um den<br />

Fisch zu waschen <strong>und</strong> kl<strong>ein</strong>e, schäbige Tomaten<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 306


in gelben Netzen. Daneben „Cheiro verde“,<br />

Stangenzwiebeln, zusammen mit viel Koriander,<br />

etwas Basilikum <strong>und</strong> lokalem „Coentrão“, B<strong>und</strong><br />

für B<strong>und</strong> gleich da vor Ort zusammengeb<strong>und</strong>en.<br />

Vergessen Sie auch die allgegenwärtigen<br />

Pfefferschötchen, grünere, kugelig gelbe <strong>und</strong> rote,<br />

auch fixfertig <strong>ein</strong>gelegt, nicht.<br />

Die Fischverkäufer halten sich <strong>ein</strong> paar Delphine<br />

als Maskottchen. Die sind nur präsent, wenn die<br />

Wasser hoch sind. Gräulichrosa springen sie gleich<br />

neben <strong>und</strong> unter der Halle <strong>ein</strong>em, an <strong>ein</strong>er L<strong>ein</strong>e<br />

ausgeworfenen, Fisch nach. Deutlich kann man ihr<br />

schnabelartige Schnauze sehen, wenn sie das<br />

trübe Wasser durchpflügen <strong>und</strong> gleich unter<br />

<strong>ein</strong>em zu verspielten Sprüngen ansetzen.<br />

Mahnend warnt mich <strong>ein</strong>er der Fischverkäufer:<br />

Achtung, die verzaubern! Sind die Wasser niedrig,<br />

werden sie durch die „Garças“, weiße Reiher<br />

ersetzt, die gerne mal <strong>ein</strong> paar hingeworfene<br />

Fischkiemen verschlingen, unzerkaut. Man kann<br />

deren Weg die unendlich lange Kehle, den ganzen<br />

Hals runter Stück für Stück mitverfolgen.<br />

Aufgescheucht fliegen sie malerisch wieder<br />

davon.<br />

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt die<br />

Markthalle, hässlich <strong>und</strong> funktionell, die bis elf<br />

Uhr morgens rege besucht wird. Auch auf den<br />

Kais ist das Kommen <strong>und</strong> Gehen be<strong>ein</strong>druckend.<br />

Kommt gerade <strong>ein</strong> Schiff an, bilden sich<br />

Grüppchen, <strong>ein</strong> fliegender Händler verkauft aus<br />

s<strong>ein</strong>em Bauchladen selber gemachten, leckeren<br />

Brei, „Munguzá“, weißer Mais oder grüne<br />

Bananen. Auch die billigen, etwas armseligen<br />

Grillspießchen, nie Fisch, immer Huhn oder Rind,<br />

vor dem Servieren schnell in Farinha gewendet,<br />

verströmen schon früh ihren unverwechselbar<br />

leckeren Duft. Ein Mann trägt hoch aufgerichtet<br />

<strong>ein</strong>en riesigen Korb voller noch riesiger Fische auf<br />

dem Kopf, <strong>ein</strong> Arm sichert mühelos das<br />

Gleichgewicht. Vor ihm schiebt <strong>ein</strong> anderer s<strong>ein</strong>en<br />

neuen, noch unbemalt rohen Holzkahn aufgebockt<br />

auf <strong>ein</strong>em Zweirad vor sich her. Ein paar verlorene<br />

Ziegen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bulliges, schwarzes Schw<strong>ein</strong> warten<br />

in der brütenden Sonne, bevor sie zum Schlachten<br />

geführt werden.<br />

Schau, da legt soeben <strong>ein</strong>er von diesen<br />

Bananenbooten an, doppelstöckig schiebt es<br />

s<strong>ein</strong>en flachen Kiel immer näher auf das bisschen<br />

Sand am Ufer des Kais. Ein aus dem Nichts<br />

aufgetauchter Hilfsarbeiter in grellfarbenen<br />

Bermudas, sicher hat er das Schiff erwartet, greift<br />

nach dem hingeworfenen Seil, schlingt es um<br />

<strong>ein</strong>en eisernen Pflock, watet dann ins nicht sehr<br />

vertrauenswürdig aussehende Wasser voller Abfall<br />

<strong>und</strong> lotst das Boot, noch <strong>ein</strong>mal etwas<br />

zurückgesetzt <strong>und</strong> dann wieder vor, perfekt <strong>und</strong><br />

dicht neben das letzte der endlosen Reihe. Es sind<br />

40, 50 Boote, die alle neben<strong>ein</strong>ander auf Anker<br />

liegen. Viele haben riesige Satellitenschüsseln auf<br />

Deck, nicht nur für den Fernsehempfang,<br />

sondern auch für die Kommunikation mit dem<br />

Hafenmeister. Schon nimmt er die Hühnerleiter,<br />

hoch oben vom Schiff heruntergereicht, in<br />

Empfang. Legt sie, gefährlich schief, auf den<br />

Sand, kratzt <strong>ein</strong> paar St<strong>ein</strong>e weg, noch etwas<br />

Sand, prüft die Standfestigkeit. Steil, halb im<br />

Wasser, ist weder er noch die Schiffsbesatzung<br />

befriedigt. Da reicht ihm der Verantwortliche<br />

vom Schiff <strong>ein</strong>en zweiten Steg herunter, der wird<br />

nun über den anderen gelegt, was den Winkel<br />

etwas verbessert.<br />

Mich fasziniert die Seelenruhe, mit der alles vor<br />

sich geht. Amüsiert schauen <strong>ein</strong> paar junge<br />

Mädchen vom Oberdeck zu, wo auch noch<br />

verschiedene Hängematten im Wind schaukeln.<br />

Die Passagiere, die schon ungeduldig alle ihre<br />

Siebensachen zusammen gesucht haben, ihre<br />

Hängematte <strong>ein</strong>gerollt <strong>und</strong> nach vielen St<strong>und</strong>en<br />

auf dem Fluss nun nach festem Land unter den<br />

Füßen lechzen, können nun trockenen Fußes<br />

aussteigen. Nun springen, - Männer first - schon<br />

<strong>ein</strong> paar Kerle waghalsig heraus, benutzen ihr<br />

Gepäck in der <strong>ein</strong>en Hand als Gegenbalance,<br />

tänzelnd über die Hühnerleiter ans Ufer. Dann<br />

kommen <strong>ein</strong> paar Frauen, k<strong>ein</strong>er hilft ihnen bei<br />

Sack <strong>und</strong> Pack, die Plateauplastiksohlen sind<br />

sicher sehr hilfreich! <strong>und</strong> gleich darauf das<br />

Crossmotorrad. Heftig wackelnd <strong>und</strong><br />

tonnenschwer sehe ich es schon im Wasser, aber<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 307


n<strong>ein</strong>, langsam, das Hinterrad voraus, wird es über<br />

Bord gelassen, bedächtig, zirkelnd, nun den<br />

Lenker, den die Hilfskraft wie <strong>ein</strong>en Stier an den<br />

Hörnern packt <strong>und</strong> unendlich sorgfältig über den<br />

schmalen Steg hinunterzieht. Jetzt gilt es nur<br />

noch, das schwere Ding, schon sind sie zu dritt,<br />

die schieben, stemmen <strong>und</strong> ziehen, das steile<br />

Uferbord hinauf zu bekommen. Geschafft. Die<br />

letzten Passagiere, <strong>ein</strong>e ältere Frau mit <strong>ein</strong>er<br />

Madonna auf dem Shirt <strong>und</strong> Leggins, <strong>ein</strong> Mann<br />

steigen aus, ihr hält der Hilfsarbeiter gar helfend<br />

<strong>ein</strong>e Hand entgegen, als sie mit weit<br />

ausgebreiteten Armen das Stegchen<br />

hinunterzirkelt.<br />

wohl gerade, um irgenwo im Hinterland noch <strong>ein</strong><br />

Zimmerchen anzubauen. Schon verschwinden sie,<br />

roten Staub auf dem Asphalt hinterlassend, <strong>ein</strong>er<br />

nach dem anderen, in <strong>ein</strong>em der kl<strong>ein</strong>eren Boote.<br />

Ob ich wohl auch so auffällig weißhäutigausländisch<br />

aussehe, wie das ältere Ehepaar auf<br />

Landgang? Ihr Kreuzfahrtschiff liegt weit draußen.<br />

Sie tragen schwer an ihren Wasserflaschen <strong>und</strong><br />

sind sichtlich von der Hitze mitgenommen. Nur<br />

Ausländer wie ich wollen die ganzen Kilometer der<br />

Kais zu Fuß erk<strong>und</strong>en…. . Da, ziemlich erschlagen<br />

steigen sie in <strong>ein</strong>s der wartenden Taxis. Für das<br />

Mototaxi fehlt ihnen dann doch der Mut.<br />

Die Mototaxis allerdings sind immer da. Je nach<br />

Tageszeit, Rushhour ist der frühe Morgen <strong>und</strong> der<br />

späte Nachmittag, da sind sie alle unterwegs.<br />

Nach dem Mittagessen wird es deutlich ruhiger.<br />

Nachmittags, wenn die Hitze am stechensten ist,<br />

gibt es nur <strong>ein</strong> paar verlorene Passagiere. Auch<br />

die Träger haben ihre tischblattgroßen Ziehkarren<br />

beiseite gestellt. Mir bleibt nur noch das frei an<br />

der abfallenden Mauer hängende Fahrrad, n<strong>ein</strong><br />

halt, es ist ganz <strong>ein</strong>fach an <strong>ein</strong>en der vielen in der<br />

abfallenden Böschung <strong>ein</strong>gelassenen Schiffsringe<br />

gekettet, schwer mit <strong>ein</strong>em luftigen Korb <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>em recycelten Mehlsack bepackt, als <strong>Foto</strong>sujet.<br />

Faszinierend sind auch die herbei gekarrten, zu<br />

<strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Mauer aufgebauten Ziegelst<strong>ein</strong>e, die<br />

darauf warten, verschifft zu werden. Reichen<br />

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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 309


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Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die Glorie Gottes<br />

“Tô abençoado“ – „Bin gesegnet“, lese ich zwar<br />

auf <strong>ein</strong>em Auto, aber wenn es davon abhinge,<br />

hätte ich reichlich Auswahl: Könnte mit der<br />

„Gottes Segen“, der „Glorie Gottes“ oder mit der<br />

„Geh mit Gott“ <strong>ein</strong> Stück den Amazonas hinauf<br />

schippern, wenn ich m<strong>ein</strong> Leben nicht lieber der<br />

„Jerusalem“, „Mit Dir Israel“, dem „Heiligen Herz<br />

Jesu“, den „Heiligen Petrus, Karl oder Benedikt“<br />

oder gar „Jesus auf dem Meer“ oder Josué<br />

Jeshuah“ persönlich anvertrauen möchte. Besser<br />

wohl nur mit solch <strong>ein</strong>em Schiff bis ins „Heilige<br />

Land“ zu schippern, denn so heißt <strong>ein</strong>es der<br />

angepriesenen Fahrziele.<br />

Schifffahrten mit den Linienschiffen dauern. „-Oh,<br />

das ist doch ganz nah, drei bis viert Tage mit dem<br />

Schiff!“- kann man von Einheimischen hören. Da<br />

gehört schon <strong>ein</strong>e Portion Geduld, viel Toleranz<br />

<strong>und</strong> Abenteuerlust dazu. Dafür stehen auch<br />

„Frieden <strong>und</strong> Liebe“, die „Allianz“, „Vertrauen“<br />

<strong>und</strong> der „Weiße Schwan“ zur Verfügung. Ich muss<br />

nur m<strong>ein</strong>e Hängematte unter h<strong>und</strong>ert anderen in<br />

ihrem Bauch aushängen. Nur nicht die<br />

exponierten Stellen wählen, nachts soll es da<br />

empfindlich kalt werden, <strong>und</strong> sich auch nicht<br />

w<strong>und</strong>ern, wenn die Dinger immer mal wieder<br />

gegen<strong>ein</strong>anderstoßen, denn unerklärlicherweise<br />

schaukelt jede in <strong>ein</strong>em eigenen Rhythmus. Ja,<br />

klar, es gibt auch Kabinen, “Camarote”, viel,<br />

vielleicht fünf Mal so teuer <strong>und</strong> zehnmal so<br />

stickig. Außerdem seien die Überlebenschancen in<br />

den Kabine sozusagen geich Null, sollte es zu<br />

<strong>ein</strong>em Schiffsunglück kommen.<br />

Wer es etwas intimer mag, heuert auf „M<strong>ein</strong>er<br />

Blume“, „Göttin m<strong>ein</strong>es Lebens“, „Geliebter“, der<br />

„Maria Vitória“ oder der „Erineuza“ an.<br />

„Prostituierte“ nennt sich, Gott sei Dank, nur <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>es Beiboot. Ob mir der Galgenhumor des<br />

„Thubarão“, des Haifischs, des „Schatten der<br />

Meere“, des „Tieres“, der „Verrücktheit des<br />

Meeres“, die „Meerjungfrau vom Tapajós“ oder<br />

der „Titania“ wohl maritime Abenteuer<br />

garantieren? Gut möglich, immer wieder kommt<br />

es zu den absurdesten Bootsunfällen, besonders<br />

schlimm, denn die Mehrzahl der Passagiere kann<br />

oft nicht schwimmen. Also vielleicht besser nicht<br />

die „Marinelson II“ oder der „Löwe III“? Wer weiß,<br />

was mit den ersten, respektive dem zweitem<br />

passiert ist!<br />

Wie auch immer, ob echt portugiesisch „Lusitana“,<br />

„Oliveira Junior“ oder „Teixeira Ramos“ oder<br />

indianisch, dem „Medizinmann Jarak“, fantasievoll<br />

wie „Julibel“ oder „Lady Lourdes“, gar mit der<br />

Schönheit „Tainá“ – ich sammle sie alle, die<br />

w<strong>und</strong>ersamen, w<strong>und</strong>erbaren Namen der Schiffe,<br />

<strong>ein</strong>s weißer geschrubbt als das andere, mit blauen<br />

<strong>und</strong> roten Details, liegen sie dickbauchig <strong>und</strong><br />

flachdachig hinter<strong>ein</strong>ander am schnurgeraden,<br />

schattenlosen Quai vor Anker, der übrigens so<br />

lange ist, dass es <strong>ein</strong>e Buslinie gibt, die ihn mit drei<br />

oder vier Stationen bedient. Volkstümlich<br />

werden sie als „Gaiolas“, Käfige bezeichnet, was<br />

wohl mit ihrer Form <strong>und</strong> den Abschrankungen,<br />

die die Stockwerke sichern, zu tun hat.<br />

M<strong>ein</strong> absoluter Favorit? „Nhengatu“, eigentlich<br />

<strong>ein</strong>e der verloren gegangenen, vom<br />

portugiesischen Minister <strong>und</strong> Erneuerer Marques<br />

de Pombal verbotenen lokalen Universalsprachen,<br />

Linguas francas, halb indianisches Tupi,<br />

halb Romanisch-Spanisch-Lat<strong>ein</strong>, in der sich hier<br />

im Amazonas das wilde Völkergemisch bis 1759<br />

unter<strong>ein</strong>ander verständigte.<br />

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Der Kapitän<br />

„Wissen Sie, dass ich auch Schauspieler bin? Sim,<br />

Senhora!” - Der Kapitän, der uns auf <strong>ein</strong>er<br />

Flussfahrt auf dem Rio Negro begleitet, hat<br />

tausend<strong>und</strong><strong>ein</strong>e Geschichte auf Lager. Man muss<br />

nur zuhören wollen.<br />

Das ziemlich hautnahe Zusammenleben mit den<br />

Caboclos ist sehr bereichernd. Sie sind geborene<br />

Geschichtenerzähler <strong>und</strong> ihr Humor ist<br />

unvergleichlich.Manuel de Souzas Pinto, s<strong>ein</strong><br />

Großvater, Nordestino, hatte ihm nicht nur die<br />

humorvolle, verschmitzte Art vererbt, sondern<br />

auch die deutlich arabischen Gesichtszüge. Aber<br />

es gibt k<strong>ein</strong>en, der sich auf den Flüssen des<br />

Amazonas mehr zu Hause fühlt als er. Abends, die<br />

fremdartige, unerwartete Gesellschaft ist im sehr<br />

willkommen, erzählt er s<strong>ein</strong>e Geschichten. Dreht<br />

hin <strong>und</strong> wieder am großen Steuerrad <strong>und</strong> spricht<br />

ohne Unterbruch. Da ist es k<strong>ein</strong> Problem, dass er<br />

m<strong>ein</strong> Portugiesisch mit deutschem Akzent nicht<br />

versteht.<br />

- „Die Globo, (die größte private Fernsehanstalt<br />

Brasiliens) wenn die <strong>ein</strong>e Novela aufnehmen, da<br />

ist doch alles künstlich, nicht wahr? Also ich habe<br />

es genauso gemacht! Für <strong>ein</strong>e japanische<br />

Fernsehanstalt war das, ja. Die bezahlten wirklich<br />

gut! Ich ließ zwei Malocas (typische R<strong>und</strong>häuser<br />

der Indios) bauen, stattete sie mit allem aus, was<br />

dazugehört: Maniokwurzeln, Kürbisse, <strong>ein</strong> paar<br />

Körbe, Pfeile <strong>und</strong> Speere. Dann rief ich die Indios.<br />

Sie waren alle nackt <strong>und</strong> ich befahl ihnen, sich zu<br />

bemalen. Als alle fertig war, konnten sie mit<br />

Filmen beginnen.<br />

Die kamen von weit her, aus Japan, <strong>ein</strong>mal kamen<br />

auch welche aus England, <strong>und</strong> es gefiel ihnen<br />

ausgezeichnet. Das kann ich Ihnen versichern! Am<br />

besten gefiel es ihnen aber, als ich zu<br />

schauspielern begann. Ich spielte <strong>ein</strong>en<br />

Portugiesen <strong>und</strong> befahl den Indianern, mit ihren<br />

Speeren auf mich zu zielen. Die haben alles ganz<br />

genau gefilmt. Alles. Ich habe sogar <strong>ein</strong>e<br />

Videokassette davon zu Hause. Wenn Sie wollen –<br />

kommen Sie doch mal vorbei <strong>und</strong> schauen Sie sich<br />

an!“<br />

„Die Indios? Die kenne ich gut. Ich spreche vier<br />

indianische Dialekte. Da gibt es <strong>ein</strong>ige Stämme,<br />

Mensch .... Wenn man da ankommt, ist weit <strong>und</strong><br />

breit k<strong>ein</strong>er in Sicht. Die haben sich alle im Urwald<br />

versteckt. Also k<strong>ein</strong> Indio weit <strong>und</strong> breit, aber ich<br />

weiß, dass sie da sind. Deshalb bleibe ich stehen<br />

<strong>und</strong> rufe, in ihrer Sprache natürlich: Kommt,<br />

Fre<strong>und</strong>e, kommt schon! Ich bin hungrig. Ich habe<br />

großen Hunger. Gibt es was zu essen? Ich sterbe<br />

vor Hunger. Kommt! Und dann – da musst du gut<br />

aufpassen, ja, dann stehen sie plötzlich alle um<br />

dich herum <strong>und</strong> richten ihre Speere auf dich. Ich<br />

sage: Ich bin <strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, ich bin <strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>. Habt<br />

ihr etwas zu tauschen? Dann muss ich sie alle<br />

umarmen, <strong>ein</strong>en nach dem anderen. Ich kenne sie<br />

nicht, aber ich sage: Mensch, was für Sehnsucht<br />

ich nach Euch hatte! Ich bin vor Sehnsucht fast<br />

gestorben! Zu der alten India sage ich: Minha<br />

Senhora, ich war so lange weg! Wie gut, Sie wieder<br />

zu sehen! Und ich umarme alle. Das dauert. Erst<br />

nachher frage ich wieder: Gibt es was zu essen?<br />

Ich sterbe vor Hunger. Gibt’s allerdings gebratene<br />

Schlange, puh, das esse ich nicht. Das schmeckt<br />

schauerlich. Ich sage: M<strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, ich bin schon<br />

so satt, ganz satt m<strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, besten Dank!“ Aber<br />

Gürteltier, ja das schmeckt ausgezeichnet,<br />

besonders gegrillt. Nur die Guaribas, die Brüllaffen<br />

sind etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist fast <strong>ein</strong><br />

wenig, wie wenn man <strong>ein</strong> Kind essen würde.”<br />

Erzählte uns nicht nur von den Indios, sondern<br />

auch von den Jaguaren <strong>und</strong> den Riesenschlangen.<br />

„Die Riesenschlangen sind sehr gefährlich. Sie<br />

schnellen aus dem Wasser <strong>und</strong> verschlingen<br />

umherstreunende H<strong>und</strong>e. Ja, <strong>und</strong> manchmal auch<br />

kl<strong>ein</strong>e Kinder! Erst kürzlich habe ich von <strong>ein</strong>em<br />

gehört, das am Ufer des Flusses spielte, als die<br />

Schlange zuschnappte. Als die Mutter auf s<strong>ein</strong><br />

Geschrei reagierte, hatte sie es schon fast bis zu<br />

den Hüften verschlungen!“ Er malte uns die realen<br />

<strong>und</strong> irrealen Gefahren in den tropischten Farben<br />

aus, die hier überall auf uns lauern. „Der Rio<br />

Negro? S<strong>ein</strong> Wasser erinnert an schwarzen Tee,<br />

nicht wahr? Also im Rio Negro gibt es nicht viele<br />

Fische.“ Und Moskitos? Zu unserem Glück hat es<br />

auch praktisch k<strong>ein</strong>e. Das Wasser ist zu sauer. „Der<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 315


Rio Madeira?“ „Der ist reich an Fischen.“ S<strong>ein</strong><br />

Wasser soll schlammig s<strong>ein</strong>, braun, wie die Erde,<br />

die er mitführt. „Wenn du dieses Wasser trinken<br />

willst, musst du es <strong>ein</strong>e Woche stehen lassen, ja.<br />

Aber zum Baden <strong>und</strong> Duschen ist es okay…“<br />

Aber hören wir dem Kapitän zu: „Der Rio Madeira,<br />

der ist wirklich gefährlich. Der führt immer viel<br />

Erde <strong>und</strong> Schlamm mit. Und schwer zu beschiffen<br />

ist der! S<strong>ein</strong> Bett verändert sich ständig. Da gibt es<br />

viele Sandbänke. Manchmal unterspült die<br />

Strömung <strong>ein</strong>e Sandbank, was <strong>ein</strong>e riesige<br />

Flutwelle auslöst. Da muss man schon Bescheid<br />

wissen, ja. - „M<strong>ein</strong> Bruder – Nossa Senhora! –<br />

m<strong>ein</strong> Bruder wachte <strong>ein</strong>es schönen Morgens auf<br />

<strong>und</strong> traute s<strong>ein</strong>en Augen nicht: S<strong>ein</strong> Boot lag auf<br />

dem Trockenen – der Fluss hatte über Nacht s<strong>ein</strong><br />

Bett gewechselt!“<br />

Schlimmer wohl nur, dass er ganz <strong>ein</strong>fach die<br />

Wahrheit erzählt. Nichts ist übertrieben, alles<br />

ganz realistisch. Die brutale Kehrseite des<br />

Sehnsuchtsortes Amazonas.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 316


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 317


Der Dolarsch<strong>ein</strong><br />

Der winzige <strong>und</strong> stickig-enge Krämerladen ist bis<br />

unters Dach vollgestopft. M<strong>ein</strong>e Einkäufe türmen<br />

sich schon auf der wacklig-improvisierten Theke<br />

gleich neben der Kühltruhe <strong>und</strong> der Kasse, als<br />

mich die Hand des Besitzers bannt. Sie hält <strong>ein</strong>en<br />

seltsam unbekannten Geldsch<strong>ein</strong>, reibt ihn<br />

zwischen den Fingern, streicht ihn unentschieden<br />

glatt, hält ihn prüfend weit von sich, dreht <strong>und</strong><br />

wendet ihn, um sich schließlich fragend an<br />

m<strong>ein</strong>en Begleiter zu wenden. – „Ist der echt?“ -<br />

Ja, doch, bei diesem Dollarsch<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t es sich<br />

nicht um <strong>ein</strong>e Fälschung zu handeln.<br />

Es dauert, bis wir endlich merken, dass die<br />

Banknote entscheidender Teil <strong>ein</strong>es komplizierten<br />

Handels ist. Schon wieder haut der Ladenbesitzer<br />

<strong>ein</strong> paar Zahlen in s<strong>ein</strong>en Taschenrechner. Hält<br />

ihn umgehend <strong>ein</strong>em großen, stämmigen<br />

Brasilianer japanischer Herkunft unter die Nase.<br />

Schlägt <strong>ein</strong> paar andere Ziffern r<strong>ein</strong>, die er<br />

lautstark auf Portugiesisch bekräftigt. Aha, es geht<br />

um <strong>ein</strong> Paar blumige Havaianas. Ein letzter<br />

Austausch von Zahlen via Digitalanzeige des<br />

Taschenrechners, von flinken Gesten<br />

unterstrichen, <strong>und</strong> der Handel sch<strong>ein</strong>t, vom<br />

Käufer zustimmend benickt, abgeschlossen.<br />

Schon im Weggehen, in der Hand die<br />

Plastiksandalen <strong>und</strong> sichtlich zufrieden mit <strong>ein</strong>em<br />

erfolgreichen Geschäft, bemerkt der<br />

verm<strong>ein</strong>tliche Japaner unsere fragenden Blicke<br />

<strong>und</strong> wiederholt das portugiesische Wort:<br />

“Tripulação”, Bordbesatzung, wozu er bestätigend<br />

mit dem Kopf nickt, zu dem, was uns schon der<br />

Ladenbesitzer zuraunte. Der Mann, den wir<br />

versehentlich als Brasilianer japanischer<br />

Abstammung <strong>ein</strong>schätzten, ist <strong>ein</strong> Mitglied der<br />

Besatzung des Kreuzfahrtschiffes da draußen.<br />

Entpuppt sich beim näher Hinsehen wohl eher als<br />

<strong>ein</strong> cleverer Chinese oder geschäftstüchtiger<br />

Koreaner. Fast ganz ohne Portugiesisch ist es ihm<br />

gelungen, für s<strong>ein</strong>en sauer verdienten Dollar <strong>ein</strong>en<br />

vorteilhafteren Wechselkurs herauszuschinden.<br />

Auf dem Schiff <strong>und</strong> auch hier auf Landgang sind<br />

reiche, ortsunk<strong>und</strong>ige Touristen nun mal dazu da,<br />

ausgenommen zu werden. Besonders wenn sie<br />

sich <strong>ein</strong>en Trip in die amazonische Karibik, nach<br />

Alter-do-Chão leisten können.<br />

S<strong>ein</strong> Riesenkreuzfahrtschiff ankert, wie viele<br />

andere vor <strong>und</strong> nach ihm, weit draußen. Spuckt<br />

hin <strong>und</strong> wieder gelbe Schlauchboote aus, die ihre<br />

bleiche Touristenfracht am überdimensionalen<br />

Bootssteg ausschütten, von wo aus sie dann für<br />

<strong>ein</strong>e halbe abenteuerliche <strong>und</strong> tropisch-heiße<br />

St<strong>und</strong>e den stillen Flecken überschwemmen. So<br />

wie dieser bleichschnäblige Australier im<br />

kakifarbenen Tropenanzug <strong>und</strong> –hut, der fasziniert<br />

die reichen blumigen Kaskaden <strong>ein</strong>er<br />

Bougainvillea, <strong>ein</strong>e ach so amazonische<br />

Pflanzenart (!) fotografiert. Wie sollte er auch<br />

wissen, dass auch hier die Leute für ihre Vorgärten<br />

nichts lieber mögen als exotisch importierte<br />

Blüher, am besten in den strahlensten Farben.<br />

Blüten gibt es im immergrünen Dschungel halt<br />

fast k<strong>ein</strong>e. M<strong>ein</strong> Begleiter versucht dieses<br />

etwas schiefe Bild insofern zurechtzurücken,<br />

indem er ihn auf den wirklich original<br />

amazonischen Urucumstrauch voller reifer<br />

Samenkapseln aufmerksam macht. Der steht<br />

gleich auf der anderen Straßenseite. Ist allerdings<br />

viel weniger farbenprächtig, respektive fotogen.<br />

Leider fehlt ihm die Courage, es den lokalen<br />

Touristenführer nachzumachen. Die zerreiben<br />

<strong>ein</strong> paar Samen zwischen den Fingern <strong>und</strong> malen<br />

den erstaunt-entzückten Touristen gewagt<br />

tiefrote Farbstreifen auf die welken, rosa<br />

angehauchten Wangen. Dazu ist Urucum nämlich<br />

unter anderem da.<br />

Und so wird der Lauf der Welt wohl bald auch<br />

den Amazonas <strong>ein</strong>geholt haben: <strong>ein</strong> echter<br />

Dollar, <strong>ein</strong> gefälschter Amazonas - <strong>und</strong> da soll es<br />

noch Leute geben, die das bedauern.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 318


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Letzte Grenzen<br />

Caboclos Universum<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 323


Caboclos Universum<br />

Letzte Grenzen<br />

Indigenes – die ewige Faszination 328<br />

Negiertes Erbe 335-337<br />

Vom Kolonisiert-Werden 339-342<br />

Ein Platz an der Sonne 347/348<br />

Fremde unter sich / Zo’é 352<br />

Von den Quilombolas, den Nachfahren geflüchteter Sklaven 355/356<br />

Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos 366/367<br />

Arigó – oder im Land der Blinden ist der Einäugige König 369/370<br />

Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name 371<br />

Caboclos Haus 377<br />

Die Mutter der Wasser 380/381<br />

Von Schönheit leben 383/384<br />

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Indigenes – die ewige Faszination<br />

Mitten auf dem Dorfplatz, in <strong>ein</strong>er Ecke <strong>ein</strong><br />

richtiger Auflauf. Touristen formen <strong>ein</strong>e animierte<br />

Schlange. Stehen an, um sich ihr Tattoo malen zu<br />

lassen. Die Indigena ist extrem geschickt. Ihre<br />

Zeichnungen sind be<strong>ein</strong>druckend, symmetrisch,<br />

traditionell. Man sieht, dass sie viel Übung hat<br />

<strong>und</strong> geschickte Hände. Wieder steckt sie das<br />

Stäbchen in den schwarzblauen Jenipaposaft.<br />

Drückt noch <strong>ein</strong>e exakte Linie auf <strong>ein</strong>en bleichen<br />

Arm im exakt genauen Abstand zur letzten. Ganz<br />

Wagemutige halten gar das Gesicht hin. Die<br />

indigene Bemalung hebt sich w<strong>und</strong>erbar ab von<br />

den Tattoos, tendenziell ordinär, die die Touristen<br />

schon mitbringen. Die Kommunikation mit der<br />

geschickten Indigenen ist nur per Zeichen<br />

möglich. Sie spricht nur die Sprache ihres<br />

Stammes. Aber alle sind zufrieden.<br />

Andere, fremde Kulturen <strong>und</strong> Völker, auch wenn<br />

sie mitten aus Brasilien kommen, faszinieren.<br />

Etwas über sie zu lernen erweitert den Horizont,<br />

bereichert. Verändert sich die Welt, werden<br />

<strong>ein</strong>zelne Aspekte <strong>ein</strong>er Kultur, früher geächtet<br />

oder verachtet, heute neu bewertet. Das selbe<br />

passiert gerade mit den indigenen Kulturen<br />

Brasiliens. Plötzlich ist es „cult“, sich vergängliche<br />

indigene Muster aus dem traditionellen Saft des<br />

Jenipapos auf s<strong>ein</strong>e bleiche Haut, gar <strong>ein</strong>e blaue<br />

Linie, vom Augenwinkel bis zum Haaransatz <strong>und</strong><br />

von der Unterlippe übers Kinn zum Beispiel ins<br />

Gesicht malen zu lassen. Tattoos sind sowieso in<br />

Mode <strong>und</strong> die hier halten mal gute zwei Wochen.<br />

In indigenen Gesellschaften wird den Körper, der<br />

Ästhetik <strong>und</strong> der Haut im besonderen viel Wert<br />

zugemessen, der schon im Kindesalter beginnt.<br />

Die Körperbemalung variiert von Stamm zu Stamm<br />

<strong>und</strong> hat somit den Status <strong>ein</strong>er nicht verbalen<br />

Sprache. Körperbemalung zeigt den Status <strong>ein</strong>er<br />

Person in der Gruppe. Ihre Bedeutung ist sehr weit<br />

definiert. Geht von r<strong>ein</strong>er Ästhetik bis zur<br />

Vorbereitung auf <strong>ein</strong>en Krieg oder kann auch<br />

Dämonen fern halten, ist vitaler Teil von<br />

Zeremonien, Übergangsriten <strong>und</strong> anderen<br />

Ritualen. Die Bemalung wird zur zweiten Haut. Die<br />

Haut, Limit zwischen Körper <strong>und</strong> Umwelt, wird<br />

<strong>ein</strong>e Schlüsselfunktion zugeschrieben. Ein<br />

bemalter Körper ist <strong>ein</strong> ges<strong>und</strong>er Körper. Zudem<br />

schützt die Bemalung vor Sonnenstrahlen <strong>und</strong><br />

Insektenstichen.<br />

Die indigenen Völker bemalen ihre Haut mit<br />

Jenipapo, Urucum, Kohle <strong>und</strong> Kalk <strong>und</strong> färben sich<br />

auch die Haare damit. Sie mischen die Farben mit<br />

den unterschiedlichsten Palmölen, Tucum, Inajá<br />

oder mit Pequi, Copaíba, Andiroba. Ein<br />

überliefertes, gefährdetes Wissen. In Gefahr, für<br />

immer verloren zu gehen. Überrollt von der<br />

Moderne. Es handelt sich hier vermutlich um das,<br />

was die lokalen Intellektuellen als “Ethnozid”<br />

anprangern.<br />

Das Kinderfest findet <strong>ein</strong>mal pro Jahr statt. Eine<br />

<strong>ein</strong>zelne oder Gruppen von Gönnerinnen<br />

veranstalten <strong>ein</strong> Fest für all die, die es nicht so<br />

<strong>ein</strong>fach haben. Laden die Unterprivilegierten,<br />

oder besser ihre Kinder zu all dem <strong>ein</strong>, was man<br />

hier s<strong>ein</strong>en eigenen Kindern zum Geburtstag<br />

anbietet. Und alle kommen. Die meisten<br />

Indigene. Die paar blonden, plötzlich extrem<br />

weißhäutigen Kinder <strong>ein</strong> paar Intellektuelle<br />

stechen exotisch heraus. Als dann das<br />

Puppenspielerpaar aus São Paulo beim<br />

Her<strong>ein</strong>fallen der Nacht alle demokratisch um sich<br />

versammelt, sehe ich mich, leider, leider,<br />

gezwungen, mich zurück zu ziehen. Ihre traurige<br />

Geschichte erzählt von <strong>ein</strong>em der “Navios<br />

Negreiros”, den Schiffen, die die schwarzen<br />

Sklaven übers Meer brachten.<br />

Sitze gut <strong>ein</strong>gequetscht auf den <strong>ein</strong>fachen<br />

Tribünen des Sairódromos. Gleich werden die<br />

zwei “Botos”, die Delphine, der Rosa Delphin <strong>und</strong><br />

der Tucuxí, der Graue, gegen <strong>ein</strong>ander kämpfen.<br />

Es ist schon spät, aber irgendwann wird es schon<br />

losgehen. Wie <strong>ein</strong> Schlag trifft mich die<br />

Erkenntnis, dass ich von den wenigen<br />

Außenstehenden bin. Bin sehr bleich, exotisch<br />

bleich, <strong>und</strong> dazu noch Ausländerin! R<strong>und</strong> um<br />

mich herum nur Indigene. Kann mir die<br />

ungeheure Frage nicht verkneifen: Woher<br />

kommen die nur alle? Wo leben die nur alle? Im<br />

Alltag jedenfalls sind sie so gut wie unsichtbar.<br />

Ein paar nur kenne ich als Touristenführer.<br />

Am 7. September, bei der paramilitärischen<br />

Parade sind sie auch alle wieder da. Manche gar<br />

als portugiesische Eroberer verkleidet. Wie war<br />

das gleich mit dem Ethnozid? .....<br />

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Negiertes Erbe<br />

Sie erzählen, dass wenn <strong>ein</strong> Indiobaby zur Welt<br />

komme, s<strong>ein</strong>e Nabelschnur mit <strong>ein</strong>em gut<br />

geschärften Stück Bambus durchtrennt werde.<br />

Die Nabelschnur vergrabe man anschließend<br />

hinter dem höchsten Baum des Waldes, was<br />

erkläre, wie stark <strong>und</strong> unlösbar der Indio mit der<br />

Natur verb<strong>und</strong>en sei. Eine griffig-schönes, sicher<br />

wahres Bild, wenn auch ziemlich romantisch <strong>und</strong><br />

romantisiert, die perfekte Gegenwelt/Gegenthese<br />

zur ach so verdorbenen, schauerlichen Zivilisation,<br />

der wir angehören. Zweifellos, nur <strong>ein</strong> Indio<br />

bewegt sich so frei im ursprünglichen,<br />

unheimlichen amazonischen Dschungel, kennt alle<br />

Pflanzen <strong>und</strong> Tiere, manchmal gar besser als die<br />

Wissenschaftler. Nur die Indios leben mit der<br />

Natur in <strong>ein</strong>em gottgeschaffenen Gleichgewicht.<br />

Eine griffig-schönes, sicher wahres Bild, wenn<br />

auch ziemlich romantisch <strong>und</strong> romantisiert.<br />

Die sozusagen reale amazonische Realität<br />

relativiert es deutlich, ist nackter, brutaler,<br />

erbarmungsloser. Die Indios unterstehen <strong>ein</strong>em<br />

Sondergesetz <strong>und</strong> haben <strong>ein</strong>en staatlichen<br />

Beschützer/Tutor, die Funai. Wird heute <strong>ein</strong> noch<br />

unbekannter Stamm Indigener lokalisiert, man<br />

basiert dabei auf von Menschen im Dschungel<br />

hinterlassenen Spuren, mündlichen Erzählungen<br />

nachbarlicher Stämme <strong>und</strong> Luftaufnahmen, die<br />

von Menschenhand geschlagene Lichtungen<br />

zeigen, beschränkt man sich heute darauf, den<br />

Aufenthaltsort des Stammes festzustellen. Es soll<br />

mindestens 46 bis heute zwar „bekannter“, aber<br />

sogenannt „isoliert lebender“ Stämme geben. Man<br />

setzt voraus, dass diese Stämme bis heute k<strong>ein</strong>en<br />

Kontakt mit der „weißen Welt“ aufnehmen<br />

wollten <strong>und</strong> so wird k<strong>ein</strong> direkter Kontakt<br />

hergestellt, <strong>und</strong> es kann <strong>und</strong> darf ihnen niemand<br />

die „W<strong>und</strong>er der Zivilisation“ bringen. Einmal<br />

geografisch lokalisiert soll es besser möglich s<strong>ein</strong>,<br />

sie effizient vor eben dieser Welt, die der<br />

Missionare, Goldgräber, Abenteurer, Wilderer <strong>und</strong><br />

Drogenschmuggler, zu schützen. Wünschten sie<br />

selbst Kontakt, werden sie von der Funai, der<br />

Indianerbehörde, abgeschirmt. Die Funai erlaubt<br />

nur sehr sporadischen <strong>und</strong> sehr kontrollierten<br />

Besuch von „Indigenistas“, Anthropologen, die ihre<br />

Sprache <strong>und</strong> Lebensweise studieren oder von<br />

Ärzteteams, die <strong>ein</strong>e rudimentäre Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />

gewährleisten.<br />

All das spiegelt die aktuelle, hart erkämpft Politik<br />

der indigenen Bevölkerung gegenüber.<br />

Auch in ihre zum Teil auch sehr grausamen Regeln<br />

<strong>und</strong> Riten, ihre Traditionen wird nicht <strong>ein</strong>gegriffen.<br />

Bei manchen Stämmen werden neugeborene<br />

Zwillinge der Natur zurückgegeben <strong>und</strong> auch<br />

behinderte Kinder werden nach der Geburt sofort<br />

getötet. Sie wären nicht überlebensfähig. Somit ist<br />

es alles andere als <strong>ein</strong>fach, <strong>ein</strong> Indiodorf, <strong>ein</strong>e<br />

„Aldeia“, zu besuchen. Nichts darf mitgebracht<br />

<strong>und</strong> nichts mitgenommen werden. Das Einzige, das<br />

sie aus „unserer Welt“ erhalten, ist <strong>ein</strong> Messer pro<br />

Person. Mit oder ohne Bewilligung der Funai -<br />

nicht jeder verfügt über die Mittel oder die<br />

körperlichen Voraussetzungen, <strong>ein</strong> Privatflugzeug<br />

zu chartern <strong>und</strong> dann noch tagelange<br />

Fußmärsche durch den Dschungel auf sich zu<br />

nehmen. Und so dominieren leider noch immer<br />

die sensationslüsternen Dokumentarfilme, voller<br />

Abenteuerromantik <strong>und</strong> Exotismus, die sich auf<br />

<strong>ein</strong>zelne, medienwirksame Rituale <strong>und</strong> fotogene<br />

Tänze der Indios konzentrieren. Auch <strong>ein</strong>zelne<br />

Stämme wie die Xingus werden so zu wirklichen<br />

Medienlieblingen. Aber auch die NOGs oder gar<br />

die missionarischen Kirchen sind sich oft nicht<br />

darüber <strong>ein</strong>ig, was nun das Beste für „ihre<br />

Indios“ sei.<br />

Wird die heile Welt der indigenen Bevölkerung<br />

als Antithese zu unserer, sich selbst<br />

zerstörenden Zivilisation gehandelt, fallen<br />

akkulturierte Indigene sozusagen zwischen Stuhl<br />

<strong>und</strong> Bank. Sie haben freiwillig oder gezwungenermaßen<br />

ihre Kultur verloren <strong>und</strong><br />

widersprechen somit dem idealisierten Bild <strong>ein</strong>es<br />

freien Indios. Werden dann sehr schnell <strong>und</strong><br />

pauschal zusammen mit Goldgräbern,<br />

Holzhändlern <strong>und</strong> anderen Regenwaldzerstören<br />

in denselben Topf geworfen.<br />

Verblüffend, wie sich die Geschichte wiederholt,<br />

auch wenn die nötigen Korrekturen gerade<br />

vorgenommen werden. In den ersten, heute<br />

335


verfügbaren, schriftlichen Aufzeichnungen über<br />

Brasiliens Norden, zwar oft als unberührt <strong>und</strong><br />

somit <strong>ein</strong>e Art Garten Eden oder exotisches<br />

Paradies beschrieben, spricht der spanische<br />

Seefahrer Vicente Yañez Pinzón, von ganz<br />

anderem. S<strong>ein</strong>e Logbücher, die aus dem Jahr 1500<br />

datieren, zeugen vom Gegenteil,<br />

beschreiben große „Aldeias“, Indiodörfern, dicht<br />

besiedelt <strong>und</strong> nah bei<strong>ein</strong>anderliegend, gut<br />

strukturiert <strong>und</strong> von mächtigen lokalen Chefs<br />

kontrolliert! Als erster Ausländer, der des Deltas<br />

des Amazonas ansichtig wurde, Teil <strong>ein</strong>es<br />

faszinierend riesigen, neu entdeckten Stück Erde,<br />

wurden s<strong>ein</strong>e Aufzeichnungen bis vor Kurzem als<br />

zu fantastisch <strong>und</strong> fantasievoll abgetan. Außer<br />

unzähligen „Sambaquis“, große, künstliche <strong>und</strong><br />

über Jahre aus Muscheln aufgeschüttete Hügel,<br />

<strong>ein</strong>e überaus reiche Keramik voller Geheimnisse,<br />

riesige Begräbnisurnen, töpferne, stilisierte<br />

Puppen <strong>und</strong> Figuren, Höhlenzeichnungen <strong>und</strong><br />

noch viel mehr, was auf Ur<strong>ein</strong>wohner mit <strong>ein</strong>er<br />

komplexen Kultur schließen lässt, gab es wenig,<br />

das von dieser Zeit erzählen könnte.<br />

Die Geschichte dieser vorcabralischen Indios,<br />

geschätzte Zahlen sprechen von mehr als 300<br />

unterschiedlichen Indiostämmen, die nicht nur<br />

alle ihre eigene Sprache sprachen, sonder sich<br />

unter<strong>ein</strong>ander bekämpften <strong>und</strong> abwechslungsweise<br />

mit den Eroberern gegen andere Allianzen<br />

<strong>ein</strong>gingen, muss noch geschrieben werden.<br />

Revolutionäre neuere Ausgrabungen <strong>und</strong><br />

Luftaufnahmen versprechen überraschende<br />

Rückschlüsse, die alles, was man bisher zu wissen<br />

glaubte, auf den Kopf stellen sollen.<br />

Die während der letzten Jahrzehnten entdeckten<br />

Knochen, Fischgräten <strong>und</strong> Muschelschalen,<br />

Keramikfragmente <strong>und</strong> Höhlenzeichnungen <strong>und</strong><br />

andere archäologische F<strong>und</strong>e beweisen,<br />

zusammen mit neuer Forschungen, dass der<br />

amazonische Regenwald alles andere als <strong>ein</strong><br />

unbewohnt jungfräuliches Paradies war <strong>und</strong> ist.<br />

S<strong>ein</strong>e Entjungferung muss vor sehr langer Zeit<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben. Es wird vermutet, dass<br />

präkolumbianische Völker von den Anden<br />

herunterstiegen <strong>und</strong> das Delta des Amazonas<br />

erreichten. Noch vor kurzer Zeit glaubte man, dass<br />

sie kaum Spuren hinterlassen hätten. Heute kann<br />

man beweisen, dass diese Gem<strong>ein</strong>schaften in die<br />

Fauna des Tropenwaldes <strong>ein</strong>griffen, sie<br />

veränderten. Diesen Völkern gelang es 8.000<br />

Jahre vor Christus Pflanzen, die ihnen von Nutzen<br />

waren, zu domestizieren. Analysen zeigen, dass sie<br />

85 Arten von Pflanzen, unter ihnen die Paranuss<br />

<strong>und</strong> den Kakao, anpflanzten, so dass diese<br />

Pflanzenarten r<strong>und</strong> um archäologische F<strong>und</strong>stellen<br />

herum gehäuft auftreten. Was nichts anderes<br />

bedeutet, dass hier Menschen gerodet, angebaut,<br />

Nutzpflanzen verbessert <strong>und</strong> als Spuren die<br />

berühmte «Terra Preta», Schwarze, sehr<br />

fruchtbare Erde, <strong>ein</strong>e Art Kompost<br />

zurückgelassen haben <strong>und</strong> natürlich viel<br />

Sambaquis, Muschel- oder Fischgrätberge.<br />

Seltsamerweise sch<strong>ein</strong>t diese Tatsache nicht so<br />

gut ins Bild zu passen, das sich <strong>ein</strong>e breite<br />

Öffentlichkeit <strong>und</strong> auch <strong>ein</strong> Teil der<br />

Umweltbewegung vom unberührten Amazonas<br />

macht. Nicht nur Hinterwäldler, die Cabocolos<br />

wohnen schon viel länger hier als erwartet, es<br />

gibt gar Städte <strong>und</strong> überhaupt viele, sehr viele<br />

noch ungelesene Spuren.<br />

Das Verhältnis zur indigenen Bevölkerung<br />

Brasiliens ist bis heute gebrochen. Zwar werden<br />

sie nicht mehr als Ausstellungsgut missbraucht,<br />

sozusagen lebende Souvenirs, Zeugen, die man<br />

anfassen kann, wie die 1820 von den<br />

Naturforschern Spix <strong>und</strong> von Martius nach<br />

Europa mitgenommenen vier Indiokinder oder<br />

das Indiopaar vom Stamm der Botokuden, das<br />

neben zahlreichen Tieren, 1835 im Wiener<br />

„Brasilianum“ des anderen Naturforschers<br />

Johann Natter riesige Erfolge verbuchte. Sie<br />

überlebten das Exil nicht lange. Auch wenn es<br />

uns heute missfällt, kann man in den<br />

Aufzeichnungen fast all dieser Naturforscher<br />

laut, deutlich <strong>und</strong> politisch unkorrektesten <strong>und</strong><br />

nachlesen, was sie von den Indianern oder Indios<br />

hielten. Sie erforschten die Exoten zwar<br />

<strong>ein</strong>gehend, brachten viele Kultgegenstände <strong>und</strong><br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 336


Federschmuck nach Europa mit, bis heute in den<br />

Sammlungen unterschiedlichsten Völkerk<strong>und</strong>emuseen,<br />

fanden sie <strong>und</strong> ihre Kultur zwar<br />

hochinteressant, stuften sie aber unisono als<br />

unterentwickelte, primitive Wilde <strong>ein</strong>.<br />

Das ist <strong>ein</strong>e harte Bürde. Indigener im Amazons<br />

zu s<strong>ein</strong> ist alles anderes als leicht. Sieht man den<br />

Amazonas als <strong>ein</strong>e letzte Grenze der Zivilisation,<br />

als <strong>ein</strong>e der letzten Gegenden, die sich an die<br />

Modernität anpassen müssen, trifft man hier<br />

immer noch auf <strong>ein</strong>e sehr unflexible soziale<br />

Hierarchie. Die Schichten in der sozialen Pyramide<br />

sind extrem ungerecht verteilt <strong>und</strong> werden von<br />

den Minderbemittelten selber selten oder nie<br />

infrage gestellt. Wie das restliche Brasilien leidet<br />

der Norden besonders darunter, dass sich der<br />

Besitz <strong>und</strong> die Macht in den Händen <strong>ein</strong>iger<br />

weniger Privilegierter konzentrieren, die in k<strong>ein</strong>er<br />

Art <strong>und</strong> Weise Willens sind, auch nur <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es<br />

Stück vom lukrativen Kuchen abzugeben.<br />

Einer der Hinterlassenschaften <strong>ein</strong>er Gesellschaft,<br />

die sich in Klassen aufteilte, sich gar auf Sklaverei<br />

gründete, ist das Beispiel, dass harte <strong>und</strong><br />

körperliche Arbeit k<strong>ein</strong>erlei Wertschätzung<br />

erfährt. Das Ausgrenzen von ganzen Bevölkerungsgruppen<br />

hat <strong>ein</strong>e lange Tradition <strong>und</strong><br />

besonders die Indigene Bevölkerung wird bis<br />

heute als <strong>ein</strong>e Art Unterklasse, als Bürger zweiter<br />

Kategorie angesehen.<br />

Schon der Soziologe <strong>und</strong> Ethnologe Levi Strauss,<br />

s<strong>ein</strong> Buch über die brasilianischen Indigenen<br />

„Traurige Tropen“ basiert auf den Reisen in<br />

brasilianische Hinterländer, die zwischen 1935 <strong>und</strong><br />

1938 stattfanden, sagt schon im Titel, welche<br />

Schlüsse er daraus zog. Auch die Gebrüder Villas<br />

Bôas, Orlando, Cláudio e Leonardo, drei<br />

abenteuerlustige Paulistas, die sich gegen Ende<br />

1930 für den von Präsident Getúlio Vargas vorgeschlagenen<br />

Marsch gegen Osten <strong>ein</strong>schrieben,<br />

dabei vorgeben mussten, Analphabeten zu s<strong>ein</strong>,<br />

machten sehr viele traurige Erfahrungen. Die erste<br />

Expedition, genannt Roncador-Xingu, gab ihren<br />

Leben <strong>ein</strong>e ganz neue, nicht voraussehbare<br />

Richtung. Orlando, der älteste, wurde zum großen,<br />

weitsichtigen Anführer. Nachdem sie erleben<br />

mussten, wie die Indigenen von Grippewellen<br />

dahin gerafft wurden, machten sie sich für die<br />

ersten indigenen Schutzgebiete am Xingu stark<br />

<strong>und</strong> arbeiteten bis an ihr Lebensende als<br />

renommierte “Indigenistas” <strong>und</strong> “Sertanistas”. Sie<br />

waren die Pioniere <strong>ein</strong>es neuen Verhältnisses <strong>und</strong><br />

Verständnisses, das Brasilien s<strong>ein</strong>er indigenen<br />

Bevölkerung entgegenbringt.<br />

Leider, leider fehlt noch viel. Aber Brasilien sch<strong>ein</strong>t<br />

erwacht. Und vor allem auch die Indigenen haben<br />

verstanden, dass nur sie sich selbst retten können.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 337


In der lokalen Schule, die nach dem indigenen Stamm der Boraris benannt ist, lernen die Kinder der<br />

Unterschicht so nützliche Dinge wie Nheengatu. Nheengatu, <strong>ein</strong>st Lingua franca, <strong>ein</strong>e Art “Generelle<br />

Sprache”, wurde von den Kolonisatoren <strong>und</strong> den Jesuiten im Schulunterricht <strong>und</strong> in der Katechese<br />

verwendet. Sie wird heute aber als ethnische Affirmation indigener Bevölkerungsteile, die ihre<br />

Muttersprache verloren haben, an verschiedenen öffentlichen Schulen unterrichtet.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 338


Vom Kolonisiert-Werden<br />

„Nascer português era obrigação de morrer<br />

peregrino“, so schrieb es <strong>ein</strong>er der berühmtesten<br />

Jesuiten, der bis heute für s<strong>ein</strong>e „Sermões“ hoch<br />

gerühmte Antônio Vieira. „Wer als Portugiese<br />

geboren wird, ist dazu bestimmt als Pilger zu<br />

sterben.“ Ob er damit wohl die Mission der<br />

Jesuiten (<strong>und</strong> anderer religiöser Orden) <strong>und</strong>/oder<br />

den Amazonas gem<strong>ein</strong>t hat, den er selber sehr<br />

gut kannte? S<strong>ein</strong> Orden schickte ihn, den<br />

geschickten Politiker, den mächtigen Vertrauten<br />

<strong>und</strong> intimen Berater des portugiesischen Königs<br />

zwischen 1653 <strong>und</strong> 1661 auf <strong>ein</strong>e Mission den<br />

Amazonas hoch. Im s<strong>ein</strong>en unvergleichlich<br />

bildhaften „Sermões“, Predigttexte <strong>und</strong> Briefe,<br />

beschreibt er den Amazonas s<strong>ein</strong>er Zeit als <strong>ein</strong>e<br />

Art Turmbau zu Babel. Auf s<strong>ein</strong>en Reisen stieß er<br />

auf so viele verschiedene indigenen Sprachen,<br />

dass er dafür den biblischen Vergleich schuf. Der<br />

wiederum zeigt uns, dass der Amazonas schon zu<br />

dieser Zeit k<strong>ein</strong>esfalls <strong>ein</strong> unbewohntes Paradies<br />

war.<br />

Wen überrascht´s? Mitten im Amazonas versteckt<br />

sich <strong>ein</strong> hochkomplexer Teil Weltgeschichte. Noch<br />

versteckt <strong>und</strong> nur zögerlich stoßen die neuesten<br />

Forschungen <strong>und</strong> mit ihnen die unterschiedlichsten<br />

Neubewertungen der amazonischen<br />

Geschichte der Zeit vor <strong>und</strong> während der<br />

Besetzung durch die Portugiesen bis zu <strong>ein</strong>em<br />

breiteren Publikum vor. Auch hier im Amazonas<br />

wird, wie auf der ganzen Welt, die Geschichte der<br />

Kolonisation ganz neu bewertet. Manche Forscher<br />

sprechen, je nach politischer Couleur <strong>ein</strong>e sehr<br />

anklägerische Sprache, sehen in der Ausrottung<br />

der Indigenen Bevölkerung <strong>ein</strong>en der größten<br />

Genozids oder Ethnozids der Geschichte. Auch die<br />

Betroffenen melden sich immer mehr <strong>und</strong> immer<br />

artikulierter zu Wort. Längst haben sie sich im<br />

Ausland potentere Partner zugelegt als hier in<br />

Brasilien, wo der Frage der Indios noch immer <strong>ein</strong>e<br />

gute Lobby fehlt.<br />

Wie die neuesten Forschungen beweisen, soll es<br />

laut Schätzungen bei der Ankunft der Portugiesen<br />

in Brasilien zwischen drei <strong>und</strong> fünf Millionen<br />

Indigene gegeben haben. Die teilten sich in<br />

ungezählte Stämme mit eigener Sprache <strong>und</strong><br />

Kultur auf. Die Aufzeichnungen der ersten<br />

Chronisten aus dem 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert, die<br />

die Flüsse Solimões <strong>und</strong> Amazonas bereisten,<br />

sprechen von unzähligen indigenen Nationen, die<br />

entlang der Flussufer siedelten. Sie wiesen<br />

besonders auf das reiche Angebot an Nahrungsmittel<br />

hin, über das die lokale Bevölkerung<br />

verfügte.<br />

Arm in Arm mit den Kolonisatoren, den ersten<br />

Portugiesen, kamen die unterschiedlichsten<br />

katholischen Orden, ausgeschickt von der<br />

allmächtigen katholischen Kirche in den Amazonas.<br />

Sie fanden, <strong>und</strong> finden hier, heute sind es<br />

besonders die evangelikalen Kirchen, ihre letzten<br />

Grenzen, um missionarisch tätig zu werden. Es<br />

gilt in der Zwischenzeit als bewiesen, dass es<br />

Portugal vor 500 Jahren wohl ohne die tatkräftige<br />

Hilfe, der, zu dieser Zeit bis zum Hals in die<br />

Gegenrevolution verstrickte, katholische Kirche<br />

nicht gelungen wäre, sich Brasilien, besonders<br />

den Amazonas, so erfolgreich untertan zu<br />

machen. Schon 1587 war <strong>ein</strong> Teil der<br />

Indiobevölkerung, in eigenen Indiodörfern<br />

ansiedelt, direkt den Orden unterstellt, der sie<br />

erziehen, zivilisieren <strong>und</strong> damit christianisieren<br />

sollte.<br />

Die Katholische Kirche ging systematisch vor.<br />

Allen voran wurden die allerbesten Kräfte, die<br />

Jesuiten, straffstens organisiert <strong>und</strong> mit ihrer<br />

eigenen, glasklaren, komplett globalisierte Vision<br />

<strong>ein</strong>es weltumspannenden religiösen Imperiums<br />

von Brasilien bis Japan, in die Wildnis geschickt.<br />

Wo sie sich den Seelen genauso annahmen wie<br />

dem Kommerz mit dem Mutterland Portugal.<br />

Parallel dazu wurde in Europa, besonders in<br />

Spanien <strong>und</strong> Rom, komplexe Weltpolitik<br />

betrieben. Die war für die amazonischen<br />

Indigenen von entscheidender Bedeutung. Im<br />

Jahre 1452 gestattete <strong>ein</strong>e päpstliche Bule das<br />

Versklaven von Sarazenen, Heiden <strong>und</strong> anderen<br />

Ungläubigen. Damit war die Sklaverei offiziell<br />

etabliert. Viele Jahre später aber wuchs unter<br />

der Federführung des Dominikaners Bartolomé<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 339


de Las Casas <strong>ein</strong>e moralische <strong>und</strong> humanistische<br />

Diskussion, die in der päpstlichen Bule Sublimis<br />

Deus vom Papst Paul III im Jahre 1537 sanktioniert,<br />

gipfelte. Sie hatte das Ziel, die indigene<br />

Bevölkerung der neu entdeckten Welten von der<br />

Versklavung auszunehmen. Die selbe hatte der<br />

spanische König Karl V. schon 1530 in s<strong>ein</strong>en<br />

Kolonien verboten.<br />

Einen wichtigen Anteil daran hatte der<br />

Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der damit<br />

eigene Erlebnisse in Mexiko aufarbeitete <strong>und</strong><br />

dadurch zum Fürsprecher der Indigene<br />

Bevölkerung konvertierte. In dem als “Disput von<br />

Valladolid” in die Geschichte <strong>ein</strong>gegangene<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzung zwischen dem Dominikaner<br />

Bartolomé de Las Casas <strong>und</strong> dem Humanisten<br />

Juan Gunés de Sepúlveda, abgehalten in der Stadt<br />

mit dem selben Namen, disputierten die beiden<br />

1550/51 über die Legitimität der Versklavung der<br />

Amerindianer. Die Sklaverei wurde in den neu<br />

entdeckten Ländern als ökonomische Notwendigkeit<br />

angesehen.<br />

In der Aus<strong>ein</strong>andersetzung standen sich zwei<br />

entgegengesetzte Weltbilder gegenüber. Die Pro-<br />

Sklaverei argumentierten damit, dass die indigene<br />

Bevölkerung Barbaren seien, gar Tiere, direkt vom<br />

Teufel inspiriert, die im Fall <strong>ein</strong>er Notwendigkeit<br />

deshalb Versklavung <strong>und</strong> Krieg unterworfen<br />

werden könnten. Die andere Seite proklamierte,<br />

dass die Indigenen <strong>ein</strong>e Seele hätten, damit<br />

Menschen <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>e Tiere seien <strong>und</strong> ihnen <strong>ein</strong>e<br />

Reihe von Gr<strong>und</strong>rechten wie Freiheit <strong>und</strong><br />

Eigentum zugestanden werden müsse. Als Wegzoll<br />

solle ihnen allerdings das Evangelium beigebracht<br />

werden. Menschen mit Seelen mussten also<br />

gerettet werden, was wiederum die religiösen<br />

Orden übernahmen. Sie verwandelten die<br />

Eingeborenen in wahre Menschen <strong>und</strong> legitimen<br />

Untertanen der Kolonisatoren.<br />

Auf welcher Seite man auch immer stehen mag,<br />

soweit man weiß, waren es zuerst die hochgebildeten,<br />

immer mehrsprachigen Jesuiten, die sich<br />

die indigenen Sprachen aneigneten. Der Tatsache<br />

gewiss, dass <strong>ein</strong>e effiziente Bekehrung nur möglich<br />

war, wenn sie die Sprache, Sitten <strong>und</strong> Gebräuche<br />

der Indios kennen lernten. Sie gingen sehr systematisch<br />

vor, erarbeiteten die ersten Wörterbücher<br />

<strong>und</strong> Grammatiken Tupí-Portugiesisch <strong>und</strong><br />

übersetzten dann den Katechismus in die<br />

verschiedenen Indiosprachen. Um sich im<br />

herrschenden Sprachensalat verständigen zu<br />

können, etablieren sich auch verschiedene<br />

„Generalsprachen“, unter ihnen Nhengatu, die<br />

bald überall gesprochen werden.<br />

Neben diesen Oasen aber bleibt der Amazonas<br />

wild, unzivilisiert, <strong>ein</strong>e Art Wilder Norden. Nicht<br />

von ungefähr nennen die Peruaner ihren Teil des<br />

Amazonas bis heute offiziell <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> simpel “A<br />

Selva”, die Wildnis. Immer wieder kommen der<br />

portugiesischen Kolonialverwaltung<br />

Aufzeichnungen von Missbrauch der Autoritäten<br />

gegenüber der Bevölkerung, Versklavung von<br />

Indigenen unter die Augen. Weit weg von<br />

Portugal, dem selbst ernannten Zentrum dieser<br />

Welt, sch<strong>ein</strong>t alles möglich, Gutes <strong>und</strong> Schauerliches.<br />

Es herrscht Pragmatismus, anders<br />

ausgelegt wohl auch der Gleichgültigkeit, so<br />

typisch für die Haltung, mit der Portugal der<br />

Kolonie gegenüber steht, nur an der ökonomischen<br />

Ausbeutung interessiert. Immer wieder<br />

flackern lokal kl<strong>ein</strong>e Revolutionen auf – nicht alle<br />

indigenen Stämme lassen sich widerstandslos<br />

kolonisieren. Sie gehören aber seit Anfang an zu<br />

den Verlierern <strong>und</strong> werden immer mehr hinter<br />

die letzten Grenzen zurückgedrängt, irgendwo<br />

noch tiefer in den Tropenwald hin<strong>ein</strong>.<br />

Geschichte, die sich immer wiederholt <strong>und</strong> die<br />

erst noch aufgearbeitet werden muss.<br />

Erst der portugiesische Minister Marques de<br />

Pombal setzt 1758 den „Generellen Sprachen“<br />

<strong>ein</strong> Ende, lässt alle Wörterbücher Tupí-<br />

Portugiesisch verbrennen, Portugiesisch wird zur<br />

offiziellen Landessprache. Er bricht das Monopol<br />

der Jesuiten im Schulwesen <strong>und</strong> schickt so<br />

Brasilien auf <strong>ein</strong>en aufgeklärteren, wechselhaften<br />

Weg in die Zukunft. Für die indigene<br />

Bevölkerung aber ändert sich wenig. Der Verlust<br />

der eigenen Kultur ist unaufhaltsam. Vom<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 340


Zusammenleben profitieren beide Seiten, wenn<br />

auch unter ungleichen Bedingungen. Die<br />

vergleichsweise bequeme Leben in den Dörfern<br />

<strong>und</strong> Städten zog <strong>und</strong> zieht die Indigenen, wie<br />

heute noch, magisch an. In allen Aufzeichnungen<br />

der verschiedensten Naturalisten kann man<br />

nachlesen, dass es wahrsch<strong>ein</strong>lich am Rande von<br />

allen amazonischen Dörfern <strong>und</strong> Städten <strong>ein</strong> paar<br />

eher behelfsmäßige Behausungen mit <strong>und</strong> von<br />

Indios <strong>und</strong> Schwarzen gab, die Vorläufer der<br />

heutigen Favelas. Die der Indios erinnerten mit<br />

ihren Strohdächern wohl eher an <strong>ein</strong>en nach allen<br />

Seiten offenen Lagerraum, in den <strong>ein</strong> paar<br />

Hängematten aufgespannt waren. Zur<br />

Gesellschaft gehören sie offiziell nicht. Den<br />

pragmatischen Portugiesen gelingt es anderseits,<br />

sehr viel von den lokalen Gewohnheiten, dem<br />

Essen, dem Ackerbau zu assimilieren <strong>und</strong> damit in<br />

den Tropen zu überleben. Und auch die indigenen<br />

Frauen verachten sie nicht.<br />

Zwar kreiert im Jahr 1857 José de Alencar in<br />

s<strong>ein</strong>em Fortsetzungsroman den idealen, edlen<br />

Indio aus „O Guarani“, später von Carlos Gomes<br />

als Oper idealisiert, <strong>und</strong> danach die unglückliche<br />

Häuptlingstochter „Iracema“, aber erst 1922<br />

besinnt sich Mário de Andrade mit dem höchst<br />

unmoralisch cleveren „Macunaíma“, <strong>ein</strong> Held<br />

ohne Charakter, auf urbrasilianische Wurzeln -<br />

Brasilien beginnt sich endlich vom erdrückenden<br />

europäischen Einfluss zu lösen <strong>und</strong> sucht <strong>ein</strong>e<br />

eigene Identität.<br />

Zur selben Zeit stellt sich auch Cândido Mariano da<br />

Silva Rondon, der sich in <strong>ein</strong>er heroischen Leistung<br />

mit s<strong>ein</strong>en Soldaten, die Mehrheit zwangsverpflichtet,<br />

<strong>ein</strong>ige haben Frauen <strong>und</strong> Kinder mit<br />

dabei, im Malaria verseuchten Tropenfeuchtwald<br />

den Weg für s<strong>ein</strong>e Telegrafenleitung frei schlägt,<br />

nach vielen Begegnungen mit den Indios auf deren<br />

Seite. Wird aus „humanistisch-religiösen“ Gründen<br />

zu deren paternalistischem Beschützer. Einer der<br />

neueren Amazonasstaaten, Rondônia, ist nach ihm<br />

benannt.<br />

Aber zurück zum Anfang. Laut Schätzungen soll es<br />

bei der Ankunft der Portugiesen zwischen drei<br />

<strong>und</strong> fünf Millionen Indigene Einwohner gegeben<br />

haben. Denen stehen heute ca. 180 indigene<br />

Völker entgegen, deren Bevölkerung 208 Millionen<br />

Individuen zählt. Von denen über 70 % im<br />

Amazonas leben. Dass die Zahlen wieder zunehmen,<br />

gibt nicht nur der indigenen Bevölkerung<br />

Hoffnung. Wie es sch<strong>ein</strong>t, wird die Geschichte <strong>und</strong><br />

die Zukunft jener Völker, die mit der Ankunft der<br />

Portugiesen jäh <strong>und</strong> brutal unterbrochen wurde,<br />

etwas weniger dunkel s<strong>ein</strong>. Waren die religiösen<br />

Orden mit all ihrem kulturellen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

ihrer Weltgewandtheit nicht in der Lage, den gut<br />

entwickelten lokalen Kulturen den ihnen<br />

zustehenden Wert beizumessen, so sch<strong>ein</strong>t sich<br />

das Blatt doch ganz langsam zu wenden.<br />

Zwar sind die indigenen Bevölkerung, <strong>ein</strong>e Folge<br />

der Versklavung, Christianisierung <strong>und</strong> des<br />

Ethnozides seit 1850 nicht mehr in der Mehrzahl.<br />

Dazu trug auch die brutale Unterdrückung der<br />

Revolution der „Cabanagem“ in der ersten Hälfte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts das ihre bei. Sie hatte<br />

großen Zuspruch der indigenen Bevölkerung, <strong>und</strong><br />

die Mehrheit sah sich gezwungen, sich der<br />

Verfolgung dadurch zu entziehen, indem sie sich<br />

hinter die letzten Grenzen zurückzogen. Aber<br />

auch hier wurden sie später von der Zivilisation<br />

<strong>ein</strong>geholt. Der Boom des Kautschuks brachte<br />

viele Verzweifelte dazu, sich immer weiter in den<br />

Dschungel vorzuwagen. Der Luxus der<br />

Kautschukbarone forderte <strong>ein</strong>en hohen Preis an<br />

Menschenleben.<br />

Mit der Integrationspolitik des Amazonas in den<br />

Jahren 1960 bis 70 gingen die Massaker an der<br />

indigenen Bevölkerung weiter. Im Namen des<br />

Fortschrittes wurden Schneisen, die zu Straßen<br />

wurden in die unendlichen Wälder geschlagen.<br />

Es entstanden die Transamazônica <strong>und</strong> die Belém<br />

Brasilia, BR 364, 174 <strong>und</strong> die Perimetral Norte.<br />

Viele indigene Stämme verloren ihre Gebiete,<br />

wurden von ihren Ländern verjagt oder <strong>ein</strong>fach<br />

ausgetilgt. Aber die 1970 Jahre stehen auch für<br />

<strong>ein</strong>e Kehrtwende in der indigenen Resistenz.<br />

Besonders die Kirche, vertreten vom Conselho<br />

Indigenista Missionário (Cimi), half der indigenen<br />

Bevölkerung sich besser zu organisieren <strong>und</strong> ihre<br />

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Probleme in übergreifenden Versammlungen zu<br />

diskutieren. Mit Hilfe der Medien begannen sie,<br />

die fortschrittsgläubigen Megaprojekt der<br />

Militärdiktatur anzuprangern, die aus dem Ziel die<br />

Indios auszurotten k<strong>ein</strong>en Hehl machte.<br />

Mit der Konstitution von 1998 gelang es der<br />

indigenen Bevölkerung dann, historische Rechte<br />

geltend zu machen <strong>und</strong> als soziale Gruppe<br />

akzeptiert zu werden. Damit wendete sich das<br />

Blatt endgültig. Die indigene Bevölkerung rief zum<br />

Widerstand auf. Im Jahre 2000 an der “Marcha e<br />

Conferência Indígena 2000” machte <strong>ein</strong><br />

Spruchband darauf aufmerksam: "Reduzidos sim,<br />

vencidos nunca“ – Reduziert ja, besiegt nie. Heute<br />

gibt es, wie schon zur Zeit der “Cabanagem”,<br />

interethnische Allianzen, zusammen mit anderen<br />

Minderheiten <strong>und</strong> Randgruppen. Und auch die<br />

ersten indigenen Universitätsabsolventen kehren<br />

schon zu ihren Stämmen zurück. Mit <strong>und</strong> ohne<br />

Hilfe des Auslandes beginnt die indigene<br />

Bevölkerung sich zu organisieren, zu mobilisieren<br />

<strong>und</strong> nimmt auch die Selbstbestimmung <strong>und</strong><br />

Selbstbehauptung immer ernster. Stämme, die<br />

ihre Identität verdeckten <strong>und</strong> versteckten,<br />

nehmen sie öffentlich für sich in Anspruch, auch<br />

wenn man hinter vorgehaltener Hand noch<br />

immer hört, dass sie hier nur zu Indios werden,<br />

wenn man etwas dafür bekommt. Die wohl<br />

größte Kehrwende ist die Anerkennung indigener<br />

Bevölkerungsgruppen in den Städten.<br />

Aber es ist noch viel zu tun. Minderheiten zu<br />

hören hat k<strong>ein</strong>e Tradition im Amazonas. Das<br />

neueste Beispiel ist der Staudamm für das<br />

Kraftwerk Belo Monte, das während der<br />

Regierungszeit Dilma Ruseffs in Betrieb<br />

genommen wurde <strong>und</strong> das Erden unter Wasser<br />

setzte, die der lokalen indigenen Bevölkerung als<br />

heilige Territorien gelten.<br />

Persönlich stehe ich, wie man auf Portugiesisch<br />

sagt, “em cima do mur”, auf der Mauer drauf,<br />

ohne mich auf <strong>ein</strong>e der Seiten zu schlagen. Denn<br />

immer, wenn ich an <strong>ein</strong>em populären Volksfest,<br />

<strong>ein</strong>em Aufmarsch zu <strong>ein</strong>em Nationalfeiertag hier<br />

um mich schaue, sind sie alle da, r<strong>und</strong> um mich<br />

herum, alles Indigene, ihre Züge streiten ihre<br />

lokale Herkunft nicht ab. Nur ihre Kultur haben sie<br />

verloren, die meisten aber freiwillig, leider.<br />

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Ein Platz an der Sonne<br />

Als mir die Ehre zuteilwird, gebe ich gerne zu,<br />

dass ich nun wirklich nicht so genau weiß, ob ich<br />

denn nun, oder nicht, starren nicht, aber diskret<br />

vielleicht schon, hinschauen dürfte, sollte. Mitten<br />

im armseligen, lokalen Supermarkt steht er,<br />

sozusagen Auge in Auge mit den Gestellen mit<br />

Eingebüchstem, als wirklicher, echter Indigener<br />

vor mir, der dekorativ in die Unterlippe<br />

<strong>ein</strong>gelassene, nicht gerade diskrete, flache Teller<br />

lässt k<strong>ein</strong>en Zweifel daran. Heute weiß ich, dass<br />

dieser Pflock ihn als Mitglied der Caiapós<br />

ausweist, so wie andere Stämme sich mit <strong>ein</strong>em<br />

Keil im Kinn schmücken oder mit vier Stöckchen,<br />

stilisierte Schnauzhaare, <strong>und</strong> sich damit als<br />

Jaguare nachschöpfen. Weiß auch, dass er s<strong>ein</strong>e<br />

Blößen nur hier in der Gesellschaft bedeckt.<br />

Hier im Norden Brasiliens sind die Indios mit ihren<br />

hohen Wangenknochen <strong>und</strong> den geschlitzten<br />

Augen, den flachen Nasen, breit <strong>und</strong> fleischig<br />

Nasenflügeln, dem pechschwarzen <strong>und</strong><br />

schnurgerade wie <strong>ein</strong> Wasserfall fallenden Haar<br />

<strong>und</strong> der olivfarbenen Haut klar in der Überzahl.<br />

Man begegnet ihnen überall. Leider ist ihnen ihre,<br />

von uns so hochstilisierte, Kultur irgendwo auf<br />

dem langen Weg abhandengekommen. Wie<br />

könnte es auch anders s<strong>ein</strong>. S<strong>ein</strong>e Codes, s<strong>ein</strong>e<br />

Verhaltensweisen, s<strong>ein</strong> Wissen haben im urbanen<br />

Kontext k<strong>ein</strong>en Wert, verlieren ihre Funktion.<br />

Werden, wenn überhaupt, noch in irgendwelchen<br />

Nischen praktiziert <strong>und</strong> werden bis heute hinter<br />

vorgehaltener Hand als minderwertig, rückständig<br />

<strong>und</strong> abergläubisch angesehen. Wer sie praktiziert,<br />

gehört tendenziell zur Unterschicht <strong>und</strong> ist schon<br />

damit abgestempelt <strong>und</strong> diskriminiert. Er ist zum<br />

Leben am Rande der Städte verbannt, in jenen<br />

Favelas, die hier aus Stelzen in die vielen Wasser<br />

hin<strong>ein</strong> gebaut werden. Auch dass die Indios<br />

pudelnackt herumlaufen, was Brasilianer nie tun<br />

würden, hilft nicht, sie uns anzunähern.<br />

Auch das Gegenteil passiert oft. Viele verbergen<br />

ihre kindliche Faszination nicht, bemitleiden die<br />

Indigenen oder verniedlichen ihre Bew<strong>und</strong>erung<br />

für alles was Indigen ist. Wie in <strong>ein</strong>em kulturellen<br />

Selbstbedienungsladen, meist von purem<br />

Unwissen genährt, bemächtigen sie sich<br />

bestimmter Rituale oder Weltansichten ohne sie in<br />

<strong>ein</strong>em größeren Zusammenhang zu sehen.<br />

Bezeichnen Sie deshalb k<strong>ein</strong>en, auch wenn ihm<br />

das Indioblut ins Gesicht geschrieben steht, als<br />

Indio! Indios leben, fast nackt, im Urwald, bemalen<br />

sich st<strong>und</strong>enlang den Körper <strong>und</strong> tanzen. Sie<br />

überlassen es ihren Frauen, Maniok zu pflanzen,<br />

während sie sich in endlosen „Nhanhanhas“,<br />

weitschweifigen Gesprächen, die zu nichts führen,<br />

verlieren oder sich in sinnlose Kriege verstricken,<br />

wenn sie nicht schon längst dem Alkohol oder der<br />

Prostitution verfallen sind. Hinter vorgehaltener<br />

Hand oder in Gesprächen auf Stammtisch oder<br />

Taxifahrerniveau werden sie gar als nicht viel mehr<br />

als Tiere bezeichnet.<br />

Auch lokale Intellektuelle, für mich ganz klar<br />

indianischer Abstammung, sch<strong>ein</strong>en blinde<br />

Spiegel zu haben. Dieselben Intellektuellen,<br />

denen man mit böser brasilianischer Zunge<br />

nachsagt, dass sie k<strong>ein</strong>e lieberen Studienobjekte<br />

hätten als Armut <strong>und</strong> Misere, sehen nicht die<br />

geringste Notwendigkeit, diese Facette ihres<br />

S<strong>ein</strong>s auch nur anzuerkennen. So bleibt den<br />

indigenen Völkern ihre komplizierte Nische<br />

vorbehalten, in der Anthropologen alle 10 Jahre<br />

ihre Ansichten wechseln, sich unter<strong>ein</strong>ander<br />

bef<strong>ein</strong>den, „ihre“ Indios retten wollen oder nicht,<br />

folkloristisch verbrämt, <strong>ein</strong> mystischer Halbschatten.<br />

Bew<strong>und</strong>ert/bedauert unterstehen sie, nicht von<br />

ungefähr, <strong>ein</strong>em Sonderstatus, haben mit der<br />

Funai <strong>ein</strong>e Art Tutor oder Fürsprech gegenüber<br />

dem/n restlichen Brasilien/Brasilianern <strong>und</strong><br />

besiedeln nicht immer respektierte Reservate,<br />

wenn sie sich nicht längst unter das Volk<br />

gemischt haben, denn der Frage der Rassenmischungen<br />

steht man seit der Kolonisierung<br />

opportunistisch gegenüber. Früher <strong>ein</strong>e<br />

willkommene Variante, <strong>ein</strong> Land zu kolonisieren,<br />

nicht von oben, aber von unten hatten weder die<br />

Portugiesen, noch die katholischen Padres, die<br />

ersten, die mit den Indios in Kontakt traten, viele<br />

Vorurteile oder Skrupel gegenüber den Indios<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 347


oder besser Indias, besonders da es an weißen<br />

Frauen fehlte. Noch <strong>ein</strong>er dieser typisch<br />

brasilianischen Widersprüche.<br />

Die Neuzeit, in der selbst der Ex-Präsident<br />

Fernando Henrique Cardoso damit kokettierte,<br />

<strong>ein</strong>en Fuß in der Küche zu haben, <strong>ein</strong>en Tropfen<br />

Negerblut in s<strong>ein</strong>en Adern, gilt <strong>ein</strong> Indio immer<br />

noch als <strong>ein</strong>e Art Außerirdischer, Außerzivilisierter.<br />

Anders als die in der brasilianischen<br />

Kultur überaus präsenten, verehrten, geehrten,<br />

dokumentierten Schwarzen, als Beispiel nur der<br />

bis heute heiß geliebte Pelé. Der Karneval wäre<br />

<strong>und</strong>enkbar ohne die Mulattinnen <strong>und</strong> die<br />

obligatorischerweise schwarzen „Puxadores do<br />

Samba“. Jeden, der über Brasilien liest, oder gar<br />

hierherkommt, faszinieren die synkretistisch<br />

assimilierten afrikanischen Religionen, ist heute<br />

der „Schwarze Teil“ Brasiliens Teil des nationalen<br />

Selbstbewussts<strong>ein</strong>s, was auf der anderen Seite<br />

nicht ausschließt, den <strong>ein</strong>zelnen Schwarzen zu<br />

diskriminieren. Ob <strong>und</strong> wie sich der Indio in den<br />

Nationalstolz <strong>ein</strong>schließen lasse, wenn überhaupt,<br />

ist <strong>ein</strong>e Frage, auf die ich noch k<strong>ein</strong>e<br />

zufriedenstellende Antwort gef<strong>und</strong>en habe.<br />

Denn irgendwie existieren die Indigenen nicht,<br />

bilden <strong>ein</strong> sozusagen negiertes Erbe, unterschlagen,<br />

versteckt, inexistent, hervorgeholt<br />

sozusagen nur am Alibitag, dem 19. April, der<br />

offiziell ihnen gewidmet ist. Ansonsten lokalisiert<br />

sie die Gesellschaft in <strong>ein</strong>er Grauzone. M<strong>ein</strong>e<br />

Privattheorie beweist mir, dass viele<br />

Gewohnheiten <strong>und</strong> Bräuche, ihre Mythen <strong>und</strong> ihr<br />

S<strong>ein</strong>, die ganze Kulinaria, besonders hier im<br />

Norden, genauso tiefe Spuren in der brasilianischen<br />

Kultur hinterlassen haben, wie die der<br />

Schwarzen.<br />

Aber das Erbe der Indios ist weit davon entfernt<br />

entdeckt, wertgeschätzt oder gar glamourisiert,<br />

verehrt zu werden. Zwar lernen immer mehr<br />

Indios neben ihrer eigenen Sprache <strong>und</strong> Kultur<br />

auch Portugiesisch, lernen Schreiben, konstruieren<br />

<strong>ein</strong>e eigene Lobby, beginnen, sich offiziell <strong>und</strong><br />

politisch wirksam in Szene zu setzen, besuchen<br />

Universitäten, aber noch beschränkt sich das, was<br />

man von ihnen sieht <strong>und</strong> weitergibt, auf <strong>ein</strong> paar<br />

w<strong>und</strong>erschöne Mythen aus dem gefürchtet<br />

mystifizierten Regenwald oder werden zur<br />

urbanen Legende oder Fabel wie dieser: Der<br />

namenlose Indigene, von <strong>ein</strong>er NGO nach Europa<br />

mitgenommen, um da für s<strong>ein</strong>e Rechte zu<br />

kämpfen, brachte das Erlebte so auf den Punkt: -<br />

Nach s<strong>ein</strong>er Europareise könne er nun wirklich<br />

nicht mehr verstehen, warum ausgerechnet er<br />

s<strong>ein</strong>en Regenwald nicht abholzen dürfe. Sei ihm<br />

hier im Dschungel doch immer gepredigt worden,<br />

dass er <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> Stamm, wenn sie s<strong>ein</strong>en Wald<br />

abholzten, Hunger leiden würden <strong>und</strong> alles andere<br />

aus dem Gleichgewicht gerate. Aber da in Europa,<br />

wo der ganze Wald schon so lange weggeholzt<br />

worden sei, habe er nur Leute gesehen, die gut<br />

lebten, genug zu Essen hätten, viele hätten gar <strong>ein</strong><br />

schönes, komfortables Haus.... .<br />

Wie auch immer - Brasilien ist Weltmeister im<br />

„Vergessen“: Kaum <strong>ein</strong>er k<strong>ein</strong>er kennt die<br />

Herkunft s<strong>ein</strong>e Vorfahren, geschweige dann deren<br />

Hautfarbe, welche praktischerweise, wie von<br />

Zauberhand über die Generationen immer weißer<br />

wurde. Verständlich, denn wer will schon von den<br />

Verlierern der Geschichte abstammen?<br />

Auf der anderen Seite, echte Brasilianer, lernen<br />

die Indios sehr schnell. Holen auf, sorgen gar an<br />

der Seite von Popstar Sting für kontroverse<br />

Schlagzeilen. Anders ausgedrückt: Sie sind unter<br />

uns, immerzu, menschlich, gut oder schlecht,<br />

geschäftstüchtig oder Banditen, bis sie allerdings<br />

selbstverständlicher Teil des Nationalstolzes s<strong>ein</strong><br />

werden, dieser Platz an der Sonne, der liegt noch<br />

<strong>ein</strong> schönes, hochkomplexes Stück Weg vor ihnen.<br />

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Fremde unter sich<br />

Will gerade <strong>ein</strong>kaufen, hier im Dorf, im lokalen<br />

Wir-haben-fast-alles-Supermarkt, als er mich<br />

anhält. Ein Mann wie viele hier, in Bermudas, Flipflops,<br />

indigene Züge, in der Hand <strong>ein</strong>en großen<br />

Beutel.<br />

- „N<strong>ein</strong>, Marcelo?“ - Durchsuche m<strong>ein</strong>e<br />

Namenslisten im Hinterkopf, vergeblich, vern<strong>ein</strong>e<br />

schulterzuckend. Tut mir leid. N<strong>ein</strong>, den kenne ich<br />

nicht.<br />

Der Dialog war kurz, rudimentär. Trotzdem – er<br />

reicht aus, mich stutzig zu machen. Irgendwie ist<br />

s<strong>ein</strong> Portugiesisch ungewohnt. Nicht, dass er, wie<br />

ich, mit Akzent spricht, n<strong>ein</strong>, es ist etwas Anderes,<br />

Unbekanntes. Es hat mehr mit der Stellung der<br />

Wörter im Satz zu tun…<br />

Schon klärt sich das Mysterium selber auf. Er<br />

suche jenen Marcelo, weil er ihm s<strong>ein</strong><br />

Kunsthandwerk verkaufen wolle. Er sei<br />

M<strong>und</strong>urucu. Marcelo kaufe ihm immer s<strong>ein</strong>e<br />

Waren ab. Portugiesisch ist nicht s<strong>ein</strong>e<br />

Muttersprache.<br />

Kann mich fast nicht zurückhalten, selber <strong>ein</strong>en<br />

Blick auf s<strong>ein</strong> sicher w<strong>und</strong>erschönes Kunsthandwerk<br />

zu werfen. Die M<strong>und</strong>urucus, Zo‘é,<br />

Waiwai sind <strong>ein</strong>er der indigenen Stämme die hier<br />

<strong>ein</strong>e Tagreise oder zwei oder drei hinter <strong>ein</strong>er der<br />

letzten Grenzen leben. Ihr Kunsthandwerk ist<br />

w<strong>und</strong>erschön, f<strong>ein</strong> ziseliert, in unendlicher<br />

Geduldsarbeit erschaffen. Es gibt Leute, die<br />

finden, ich hätte schon <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Museum zu<br />

Hause. So lasse ich ihn also ziehen.<br />

Wir verabschieden uns. Er zückt s<strong>ein</strong> Handy,<br />

spricht hin<strong>ein</strong>. Ich bleibe mit jenem schalen<br />

Nachgeschmack zurück.<br />

Wer von uns beiden ist nun der Fremde, der<br />

Ausländer? Ich, die Ausländerin, oder er, der<br />

Portugiesisch als zweite Sprache spricht <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />

Kunst als Kunsthandwerk an Touristen verkaufen<br />

muss?<br />

Zo’é<br />

Wieder entscheide ich mich dagegen. Habe k<strong>ein</strong>e<br />

Strategie, wie ich ihnen entgegentreten soll.<br />

Verzichte darauf, zwei Mitgliedern der Zo’és,<br />

Mitglieder <strong>ein</strong>er der sozusagen erst gestern<br />

entdeckten Stämme, direkt in die Augen zu<br />

schauen. Nur von Weitem durch den Gartenzaun<br />

betrachte ich ihren langen Keil, den sie, die Frau<br />

<strong>und</strong> der Mann, als Zeichen ihrer Stammeszugehörigkeit<br />

unübersehbar mitten im Kinn tragen.<br />

Der erste Kontakt der Zo’és mit dem Rest der Welt<br />

datiert aus dem Jahr 1987. Die Zo’és gaben dem<br />

Drängen amerikanischer Missionare nach, mit<br />

ihnen in Kontakt zu treten. Die ersten Kontakte<br />

waren fatal. Mitgebrachte Krankheiten<br />

dezimierten den Stamm brutal. 1991 gelang es der<br />

Funai, die Missionare zu entfernen <strong>und</strong> die Zo’és<br />

unter ihren Schutz zu stellen. Bis 2011 wurden sie<br />

komplett abgeschirmt. Heute werden, <strong>ein</strong> Wechsel<br />

der Doktrin, punktuelle Kontakte mit der<br />

Zivilisation unterstützt. Heute wächst der Stamm<br />

wieder <strong>und</strong> hat im Moment fast 250 Mitglieder.<br />

Zwei sind nun also hier, begleitet von <strong>ein</strong>em<br />

Verantwortlichen der Funai, der auch ihre<br />

Sprache radebrecht, um selbstgewählte Kontakte<br />

mit der Zivilisation aufzunehmen. Sie wollten<br />

Kunsthandwerk verkaufen <strong>und</strong> anderes.<br />

Irgendwann vielleicht wird <strong>ein</strong>er ihrer Mitglieder<br />

an der hiesigen Universität studieren. Für alle<br />

Beteiligten <strong>ein</strong>e riesige, fast übermenschliche<br />

Aufgabe. Sie pendelt zwischen Mitleid, Empathie<br />

<strong>und</strong> Weltenretten wollen hin <strong>und</strong> her. Wie auch<br />

immer, von Seiten des brasilianischen Staates gilt<br />

<strong>ein</strong>e riesige, historische Schuld zu tilgen. Der<br />

Prozess nimmt s<strong>ein</strong>en Gang, unaufhaltsam.<br />

Rette mich in <strong>ein</strong> Zitat der großen Bertha K.<br />

Becker, Geografin: Die amazonischen Indígenen<br />

sind sehr clever. Sie lernen sehr schnell. Sie<br />

bewahren nicht nur ihre Kultur, sondern nehmen<br />

auch zahlenmäßig viel schneller zu als der<br />

Durchschnitt der brasilianischen Bevölkerung. Sie<br />

sind international sehr gut vernetzt <strong>und</strong> sehr<br />

wohl imstande, sich selber zu helfen.<br />

Oder wie man hier zu sagen pflegt: Ihr Wort in<br />

Gottes Ohr!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 352


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 353


Gr<strong>und</strong>schule der Qu ilombolas<br />

Ich bin k<strong>ein</strong> Nachfahre von Sklaven. Ich stamme<br />

von menschlichen Wesen ab, die versklavt wurden<br />

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Von den Quilombolas, den Nachfahren geflüchteter Sklaven<br />

Die Lage der Schule direkt über dem Wasser ist<br />

w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> gleichzeitig praktisch. Die<br />

Schulschiffe, sie bringen die kl<strong>ein</strong>en Schüler zum<br />

Unterricht, liegen <strong>ein</strong>s neben dem anderen<br />

aufgereiht vor Anker. Den Haupt<strong>ein</strong>gang der<br />

Schule schmückt <strong>ein</strong> buntes Plakat: „Não sou<br />

descendente de escravos. Eu descendo de seres<br />

humanos que foram escravizados.“ – „Ich bin k<strong>ein</strong><br />

Nachfahre von Sklaven. Ich stamme von<br />

menschlichen Wesen ab, die versklavt wurden.“ –<br />

Wortklauberei oder hat das Politisch-Korrekt-S<strong>ein</strong><br />

auch hier hinter den letzten Grenzen Einzug<br />

gehalten? Die Schule jedenfalls ist nur <strong>ein</strong>e<br />

Gr<strong>und</strong>schule, 1.-4. Klasse. Weiterführende Stufen<br />

gibt es nur in der mehr als <strong>ein</strong>e Bootsst<strong>und</strong>e<br />

entfernten Stadt, in Oriximiná. Für viele<br />

Quilombolas ist das allerdings zu weit, zu teuer<br />

<strong>und</strong> überhaupt zu kompliziert. So absolvieren<br />

viele nur die Gr<strong>und</strong>stufe. Wohl die Regel hier in<br />

der weiten Region Oriximinás, in <strong>ein</strong>em der<br />

hintersten Hinterländer des Amazonas.<br />

Hier befinden sich auch ungefähr 60 Comunidades“,<br />

Gem<strong>ein</strong>schaft von „Quilombolas“,<br />

direkten Nachfahren entflohener Sklaven, die mit<br />

ihren Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen das komplexe Puzzle<br />

des amazonischen Schmelztiegels vervollständigen.<br />

Die hiesigen Quilombolas allerdings haben<br />

Pionier- <strong>und</strong> Vorzeigestatus. Es gelang ihnen 1989<br />

<strong>ein</strong>e Assoziation zu gründen, die ARQMO,<br />

(Associação das Comunidades Remanescentes de<br />

Quilombos do Município de Oriximiná), die sie<br />

repräsentiert. Ein Herkulesunternehmen, das nur<br />

sehr wenigen Hinterwäldlern <strong>und</strong> Indigen gelingt,<br />

zu tief verankert das ständige Misstrauen s<strong>ein</strong>en<br />

Mitmenschen gegenüber. Dank der Assoziation<br />

<strong>und</strong> mit Hilfe der immer stärker werdenden Pro-<br />

Schwarzen-Bewegung Brasiliens gelang es, den<br />

ständigen Invasionen <strong>und</strong> auch den Mächtigen,<br />

unter anderen der Mineração Rio do Norte,<br />

gem<strong>ein</strong>sam entgegenzutreten. Und das mit Erfolg.<br />

Der selben Assoziation ist es zu verdanken, dass es<br />

ihnen 1995 nach jahrelangem, mühsamem Kampf<br />

<strong>und</strong> Gang durch die endlose Bürokratie gelang, das<br />

Besitzrecht jene Ländereien zu erlangen, auf<br />

denen sie seit Menschengedenken leben <strong>und</strong><br />

deren Besitz ihnen durch die Konstitution von<br />

1988 garantiert ist.<br />

Auf der Fahrt über die spiegelglatten Wasser<br />

treffen wir auch die großen Schleppschiffe. Bauxit<br />

heißt das Zauberwort, Segen für die <strong>ein</strong>en, Fluch<br />

für die anderen. Die Stadt Oriximiná ist so reich<br />

wie hässlich, unterscheidet sich damit deutlich von<br />

anderen Städten im selben amazonischen<br />

Hinterland. Verantwortlich dafür ist die<br />

„Mineradora“, Mineração Rio do Norte, die hier<br />

seit 1976 Bauxit abbaut, weiterverarbeitet <strong>und</strong> gar<br />

ihren eigenen Bahntransport hat, der die<br />

Mineralien direkt bis zu den Ladeschiffen bringt.<br />

Der Bauxitabbau Oriximinás gilt als <strong>ein</strong>e der<br />

größten der Welt, ist die größte Brasiliens <strong>und</strong><br />

leider überlappen sich ihre Abbaugebiete mit den<br />

Ländereien der Quilombolas.<br />

Gigantisch sind somit auch die Kontraste. Die<br />

Quilombolas sind bis heute Selbstversorger,<br />

mehrheitlich Kl<strong>ein</strong>bauern, Farinhaproduzenten<br />

<strong>und</strong> Paranusssammler. Wenn sie nicht ihre<br />

Felder bestellen, buckeln in mühevollster,<br />

schweißtreibenster, extrativistischer Arbeit die<br />

Paranüsse <strong>und</strong> viele andere Produkte wie<br />

Copaiba <strong>und</strong> Andiroba aus <strong>ein</strong>em mehrheitlich<br />

noch intakten Tropenwald, von den malerischen<br />

Mäandern des Flusses Trombetas durchzogen.<br />

Die Produkte verkaufen sie an „Atravessadores“,<br />

Wiederverkäufer, die beim Weiterverkaufen<br />

derselben den Löwenanteil des Gewinns<br />

<strong>ein</strong>streichen. Das war schon immer so <strong>und</strong> nur<br />

dem Kampf dieser <strong>ein</strong>fachen Leute ist es zu<br />

verdanken, dass es wohl in Zukunft besser<br />

werden wird. Interessanterweise sch<strong>ein</strong>t auch<br />

bei den NGO-lern <strong>und</strong> anderen Hilfsorganisationen<br />

<strong>ein</strong> Umdenken in Gang. Sie versuchen<br />

denen, denen sie helfen wollen, nun sogar auf<br />

Augenhöhe entgegenzutreten <strong>und</strong> nicht mehr<br />

wie noch vor kurzer Zeit ihnen großspurig <strong>und</strong><br />

autoritär das aufzuoktroyieren, was sie für<br />

Verbesserungen halten. Der brasilianische Staat<br />

<strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esländer allerdings halten es noch<br />

mit dem Althergebrachten, gehorchen lieber den<br />

Mächtigen <strong>und</strong> regieren per autoritärem Dekret.<br />

Und so ist die Geschichte wohl noch <strong>ein</strong>e Weile<br />

dazu verdammt, sich in <strong>ein</strong>er endlosen Spirale<br />

immer wieder zu wiederholen. Zu weit weg jene<br />

Erden, mitten im unwirtlichen Dschungel, auf die<br />

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sich menschliche Wesen nur deshalb<br />

zurückzogen, weil sie wie die Indigenen <strong>und</strong> die<br />

geflohenen Sklaven k<strong>ein</strong>e andere Wahl hatten.<br />

Nur dort hatten sie <strong>ein</strong>e gewisse Garantie, ihren<br />

unmenschlichen Herren genauso zu entkommen<br />

wie der blutigen Revolution der Cabanagem. Eine<br />

Revolution, zu ihren <strong>und</strong> den Gunsten anderer<br />

Unterdrückter angezettelt, vom herrschenden<br />

Regime aber blutig unterdrückt wurde.<br />

Die meisten Schwarzen hier wurden ab dem 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert aus dem Kongo <strong>und</strong> Angola in den<br />

Amazonas verschleppt. Sie sollen in der Mehrheit<br />

zum Stamme der Bantus gehören. Sie waren dazu<br />

verdammt, auf Vieh- <strong>und</strong> Kakaofarmen der Region<br />

zu arbeiten. Bald gelang den ersten die Flucht <strong>und</strong><br />

schon in Aufzeichnungen aus dem Jahr 1812 wird<br />

<strong>ein</strong>e Expedition geschildert, die das Ziel hatte, die<br />

Quilombos der Region zu zerstören.<br />

Später, <strong>ein</strong>e Bootsviertelst<strong>und</strong>e weiter den Fluss<br />

Trombetas hinauf, schon beim Mittagessen bei<br />

<strong>ein</strong>er der kl<strong>ein</strong>en Gem<strong>ein</strong>schaften, hören wir den<br />

alarmierenden Schrei <strong>ein</strong>es Vogels, begleitet von<br />

<strong>ein</strong> paar kurzen, heftigen Schlägen ins Wasser.<br />

Auch das Krokodil hat Hunger. Ein unvorsichtiger<br />

Vogel deckt ihm den Tisch. Sie erzählen, dass<br />

gestern das unachtsame Hausschw<strong>ein</strong> nur knapp<br />

<strong>und</strong> mit verletztem B<strong>ein</strong> sozusagen aus den<br />

Zähnen <strong>ein</strong>es anderen Krokodils gerettet<br />

werden konnte. Spare mir die Nachfrage über<br />

s<strong>ein</strong>en Zustand.<br />

Hier im Quilombo sch<strong>ein</strong>t die Zeit still zu stehen,<br />

<strong>ein</strong>e Art Zeitreise. Im Hausgarten gibt es hoch<br />

aufgeschossenes Zuckerrohr <strong>und</strong> r<strong>und</strong> ums Haus<br />

wachsen wild Baumwollsträucher. Vergessene<br />

Nutzpflanzen, die noch vom Selbstversorgen<br />

zeugen, aber natürlich längst mit dem Plastikgeschirr<br />

aus China <strong>und</strong> überall verstreutem<br />

Plastikmüll koexistieren. An der Hauswand hängt<br />

<strong>ein</strong>e Rispe primitiven Maises, die winzigen Körner<br />

w<strong>und</strong>erschön gesprenkelt. Es ist Hochwasser <strong>und</strong><br />

um die Farinhaproduktion zu sehen, werden wir in<br />

<strong>ein</strong>em Winzboot, s<strong>ein</strong> Rand schaukelt weniger als<br />

<strong>ein</strong>e Handbreit über dem Wasserspiegel, zum<br />

nahen Ufer übergesetzt. Das andere Boot, <strong>ein</strong>e Art<br />

bessere Nussschale, bietet gerade <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen<br />

Person Platz.<br />

Die Mobilität der Bewohner, sie pflegen wie<br />

überall hier <strong>ein</strong>e weitverzweigte Verwandtschaft,<br />

ist groß <strong>und</strong> wird durch Heiraten, Scheidungen<br />

<strong>und</strong> manch nachbarlichen Streit, dem man <strong>ein</strong>fach<br />

durch Wegziehen ausweicht, noch verstärkt. In<br />

den Häusern gibt es weder fließendes Wasser<br />

noch Sickergruben. Manche verfügen über<br />

Elektrizität, die von dieselbetriebenen<br />

Generatoren erzeugt wird. Alle paar Jahre wird<br />

dem Dschungel <strong>ein</strong> neues Feld für die<br />

Maniokpflanzung abgerungen. Durch Brandroden<br />

natürlich, manchmal auch als Puxirum,<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftsarbeit, organisiert. Dabei geht<br />

neben dem gerodeten Feld oft auch <strong>ein</strong> weiteres<br />

Stück intakten Tropenwaldes in Flammen auf.<br />

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Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos<br />

Sie sind wohl die ersten die kommen, gleichzeitig<br />

Vorhut <strong>und</strong> Nachzügler, <strong>und</strong> die letzten die<br />

aufgeben: die Ribeirinhos. Sie sind <strong>ein</strong>e Art<br />

Helden des amazonischen Alltags. K<strong>ein</strong>er, außer<br />

vielleicht <strong>ein</strong>e Handvoll Missionare, viele von<br />

sogenannten Freikirchen, wagt sich so weit die<br />

Flussarme hoch wie sie. Sie bilden, zwei oder drei<br />

Häuser, <strong>ein</strong>e Schule <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Kirche zusammen,<br />

gar <strong>ein</strong>e „Comunidade“. Ein Wort, das hier noch<br />

k<strong>ein</strong>en kriminellen Beigeschmack hat. Ihre<br />

Rassenmischung, dieser Frage steht man seit der<br />

Kolonisierung opportunistisch gegenüber,<br />

verraten ihr Indioblut oder das des „Arigós“, des<br />

Nordestinos, interbrasilianische Migrationen, die<br />

in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren des letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts ihren Höhepunkt erreichten, die<br />

sich die neu konstruierten Straßen, die den<br />

Tropenwald durchschneiden, zunutze machten.<br />

Heute gesellen sich immer mehr Gauchos,<br />

Südbrasilianer dazu. Die Migration war so stark,<br />

dass in <strong>ein</strong>er bedeutenden Zahl amazonischer<br />

Gem<strong>ein</strong>den mehr als 50 Prozent der Bevölkerung<br />

aus Migranten besteht. Wenige Abenteuerlustige<br />

migrieren aus Spaß. Migration bedeutet, dass<br />

man s<strong>ein</strong>e Kultur hinter sich lässt <strong>und</strong> sich auf<br />

etwas ganz Neues, Unbekanntes, erschreckend<br />

Fremdes <strong>ein</strong>lassen muss. Normalerweise<br />

migrieren die weniger Instruierten, wie man hier<br />

sagt, die Minderbemittelten.<br />

All diese ungekannten Massen suchen sich in<br />

ihrem neuen Leben irgendwie <strong>ein</strong>zupassen.<br />

Wohnen sie irgendwo im Landesinnern, werden<br />

sie auch „Caboclos“ genannt, oder „Colonos“,<br />

Hinterwäldler, <strong>ein</strong>e Art Bauern, arm, ungebildet.<br />

Teil all derer, die sich tagtäglich irgendwie<br />

arrangieren, leben, überleben, mit oder gegen die<br />

Natur, tagtäglich die endlosen Wasserstraßen<br />

hinauf- <strong>und</strong> hinunterfahren. Vielleicht gehören sie<br />

auch zu den Goldgräbern <strong>und</strong> anderen,<br />

moderneren Schatzsucher, die Bodenschätze sind<br />

unvorstellbar reich, sind Farmer, Jäger, Freibeuter,<br />

Minenarbeiter oder Prostituierte, denn der<br />

Amazonas ist so riesig, so unendlich weit, dass er<br />

in vielen Teilen <strong>ein</strong>em sehr wilden, brasilianischen<br />

Westen gleicht, um nicht zu sagen <strong>ein</strong>em wie <strong>ein</strong><br />

riesiges Armenhaus vorkommt. Ein Schmelztiegel,<br />

<strong>ein</strong> komplexes soziokulturelles Mosaik der<br />

unterschiedlichsten Rassen, Kulturen <strong>und</strong> Werten,<br />

die sich auch oft entgegengesetzt gegenüber<br />

stehen <strong>und</strong> gar versuchen, ihre Konflikte mit<br />

Waffengewalt zu lösen. Dem Staat gelingt es nicht,<br />

will es nicht gelingen, bis dahin vorzustoßen.<br />

Ihr hartes Leben gehorcht dem Ansteigen <strong>und</strong><br />

Fallen der Wasser, den Regen, den Dürren, die die<br />

Klimaveränderungen auch hier spürbar machen.<br />

Die Ribeirinhos leiden, Gottes Geiseln, an<br />

Falschernährung, Tropenkrankheiten <strong>und</strong> im Fisch,<br />

der tagtäglich auf den Tisch kommt, gibt es zu viel<br />

Quecksilber. Ein Teil, der von bösen Goldgräbern<br />

ausgewaschen wird, das Problem sch<strong>ein</strong>t nur<br />

teilweise unter Kontrolle. Schlimmer - das<br />

Quecksilber kommt aus natürlichen Vorkommen,<br />

gelangt ins Wasser <strong>und</strong> damit in die Fische. Nur<br />

Hunger leiden sie hier nicht. Hier am Fluss gibt es<br />

fast immer <strong>ein</strong>en Fang. Auch Jagdbeute kommt<br />

gerne auf den Tisch. Als Sonntagsfestbraten gar<br />

<strong>ein</strong> paar illegale Schildkröten oder je nach<br />

Jahreszeit auch deren leckere Eier, deren Inhalt<br />

zwar als „sandig“ aber überaus wohlschmeckend<br />

beschrieben werden. Für die <strong>ein</strong>heimische<br />

Bevölkerung gibt es Sonderregeln, was die Jagd<br />

<strong>und</strong> den Verzehr der sonst so streng geschützten<br />

lokalen Fauna betrifft. Dazu etwas Farinha, auch<br />

im Frühstückskaffee, wenn es gerade k<strong>ein</strong>e<br />

Maniok, Cará, Pupunha oder andere Knollen gibt.<br />

Das Heute lösen, denn morgen ist immer <strong>ein</strong><br />

anderer, neuer Tag, <strong>und</strong> Gott, oder die<br />

evangelische Sekte, wird´s schon richten. Der<br />

Nachbar macht´s doch auch nicht anders <strong>und</strong> die,<br />

die arbeiten wollen, oder <strong>ein</strong>e gute Schulbildung,<br />

wandern sowieso in die Städte ab. Die sind hier<br />

noch Magnete. Sie bieten alles, für den der<br />

weiter kommen will im Leben oder vom ewigen<br />

Tropenwald genug hat. Denn auch hier wollen<br />

sich viele den Wald vom Hals halten. So <strong>ein</strong> tolles<br />

Shopping ist doch viel attraktiver, zivilisierter, die<br />

Temperaturen auf Antartikaniveau reduziert <strong>und</strong><br />

die Regen ausgesperrt.<br />

Die Zahlen sprechen für sich. Heute lebt schon<br />

die Mehrheit der Einwohner <strong>Amazonien</strong>s in<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 366


Städten. Einige davon gehören zu den<br />

Desillusionierten. Sie sind in den Favelas gelandet,<br />

in denen auf Stelzen mit den wackligen Stegen<br />

ohne Geländer, wo sie wirklich Hunger leiden,<br />

ohne Papiere, k<strong>ein</strong>en Geburtssch<strong>ein</strong> <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>en<br />

Wahlausweis haben. Optimisten sagen, es sei alles<br />

<strong>ein</strong>e Frage der Zeit. Die Internetgeneration oder<br />

<strong>ein</strong>e nächsten werde das Paradigma schon<br />

brechen.<br />

Nestlé jedenfalls hat das Potenzial schon erkannt.<br />

- Nestlé an Bord - Nestlé bis hin zu Ihnen! -<br />

strahlend blau mit knallbunten Produkten<br />

garniert, liegt es für <strong>ein</strong> paar Tage im Hafen, das<br />

brandneue Supermarktschiff, das natürlich nur<br />

Nestléprodukte verkauft. Noch strahlend lichten<br />

sich ganze Familien gegenseitig davor ab, bevor es<br />

weiter den Amazonas hoch tuckert, um auch<br />

jenen kl<strong>ein</strong>en Jungen mit den deutlich indigenen<br />

Zügen, dessen affenartig lange Zehen mich sehr<br />

be<strong>ein</strong>druckten, von der Kaufkraft des Geldes zu<br />

überzeugen. Wies er doch cool die paar Münzen<br />

zurück, gegen die wir s<strong>ein</strong>e Bananen tauschen<br />

wollten. – Hier könne er mit so was gar nichts<br />

anfangen!<br />

halbem Weg entnervt auf. Zu kompliziert die<br />

Bürokratie, zu langsam oder unmöglich die<br />

verlangen Auflagen, Bestimmungen, <strong>ein</strong> wahrer<br />

Dschungel, die vielen Instanzen, manche wollen<br />

gar ganz unverhohlen Bestechungsgelder, jedes<br />

mal zu entrichten, wenn wieder <strong>ein</strong> paar h<strong>und</strong>ert<br />

Tiere freigegeben werden. Die obersten Instanzen<br />

sind noch weiter weg, weit weg in Brasilia.<br />

Ministerien arbeiten hier immer noch im<br />

Elfenb<strong>ein</strong>turm, halten <strong>ein</strong>e ureigene Maschine mit<br />

sehr vielen, sehr wortgewaltigen Vorschriften,<br />

Gesetzen, Verordnungen in Gang, die mit der<br />

hiesigen Realität nicht sehr viel zu tun hat. Zudem<br />

- kommt die Moral nicht von oben.....<br />

M<strong>ein</strong>e erste <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zige Schildkröte hat übrigens<br />

gar nicht besonders gut geschmeckt. Was für <strong>ein</strong>e<br />

Enttäuschung. Ob sie nur so lecker sch<strong>ein</strong>en, weil<br />

sie verboten sind?<br />

Zu den Schildkröten <strong>ein</strong> Nachtrag. Das lokale<br />

B<strong>und</strong>esland hier macht es bis heute kafkaesk<br />

unmöglich, legal Schildkröten zu züchten wie es<br />

schon in anderen Staaten möglich ist. Farmen, die<br />

ihre Tiere legalisiert verkaufen wollen, geben auf<br />

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Der Arigó<br />

ist starrköpfig<br />

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Arigó – oder im Land der Blinden ist der Einäugige König<br />

Fast alle Witze, die sie erzählten, begannen mit: -<br />

Als der „Arigó“ nach Brasilien kam…… . –<br />

Enthüllten damit <strong>ein</strong>e so überraschende, wie<br />

unerwartete Weltsicht. Wer die Witze erzählt,<br />

willkommene Auflockerung <strong>ein</strong>es Workshops zur<br />

Qualifikation lokaler Produktion, ganz im Zeichen<br />

von „Empowering“ der lokalen Bevölkerung, lebt<br />

irgendwo, weit weg im amazonischen Hinterland.<br />

Um die ganze Ironie <strong>und</strong> die extrem lokale<br />

Weltsicht, für die lokale Bevölkerung ist Brasilien<br />

da, wo sie wohnen, ihre Heimat, zu verstehen,<br />

muss man allerdings ziemlich weit ausholen.<br />

An die Arigós erinnern heute nur noch <strong>ein</strong>zelne<br />

Namen, besonders in den großen<br />

Geschäftszentren, denn vom Handel verstehen sie<br />

viel. Und auch vom Humor. Den haben sich auch<br />

die Nachkommen der Arigós, leicht an ihren<br />

bleichen Zügen zu erkennen, bewahrt. Die Arigós<br />

kamen aus dem brasilianischen Nordosten.<br />

Bezeichneten sich oder wurden als Arigó<br />

bezeichnet, bis heute <strong>ein</strong> mehr oder weniger<br />

diskriminierendes oder wenigstens ausschließendes<br />

Wort, <strong>ein</strong>e Art lokalen Synonyms für<br />

Fremder.<br />

Die Arigós vervollständigen das bunte Puzzle des<br />

amazonischen Schmelztiegels. Sie sind<br />

interbrasilianische Immigranten, hergebracht aus<br />

Brasiliens bitterarmem Nordosten, flohen in<br />

großen Wellen aus unhaltbaren Zuständen, auf<br />

der Suche nach <strong>ein</strong>em menschenwürdigeren<br />

Leben, viele noch zur Zeit der Hochblüte des<br />

Kautschuks. In jenen gloriosen Zeiten, Ende des<br />

19., Anfang 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, als der Norden<br />

Brasiliens als <strong>ein</strong>e der aufstrebensten,<br />

fortschrittlichsten Regionen Brasiliens galt. Der<br />

Nordosten aber, besonders der Staat Ceará, wurde<br />

von extremen, immer wiederkehrenden<br />

Dürreperioden heimgesucht, die s<strong>ein</strong>e Landbevölkerung<br />

in bitterster Armut in <strong>ein</strong>er Art<br />

Halbwüste zurückließ. Für viele, wie immer die<br />

Ärmsten der Armen, die meisten Analphabeten,<br />

war die Migration der <strong>ein</strong>zige Ausweg. Leichte<br />

Beute für die skrupellosen Vermittler voller<br />

falscher Versprechen , die den Amazonas als <strong>ein</strong>e<br />

"Terra da Fartura", <strong>ein</strong>e Erde des Überflusses,<br />

anpriesen. Gummizapfen im wilden Dschungel als<br />

Ausweg aus der Ausweglosigkeit. Schiffsladungen<br />

über Schiffsladungen wurden sie als billigste,<br />

willigste Arbeitskraft in den Amazonas geholt,<br />

gelangten nach wochenlanger Reise an <strong>ein</strong><br />

fragwürdiges Ziel.<br />

- „Wie viele Arigós, (Nordestinos) kannst du<br />

gebrauchen?“ – wiedergegeben von s<strong>ein</strong>em<br />

Nachkommen, klingt die Frage des Kapitäns <strong>ein</strong>es<br />

Schiffes voller brasilinterner Emigranten an die<br />

lokalen Herren des Amazonas, glaubwürdig. S<strong>ein</strong><br />

Schiff <strong>und</strong> viele ähnliche spuckte so nach <strong>und</strong> nach<br />

immer weiter flussaufwärts all jene armen<br />

namenlosen H<strong>und</strong>e aus, Nordestinos, alle als<br />

extrem genügsam <strong>und</strong> fleißige Arbeiter bekannt.<br />

Es muss <strong>ein</strong> Kulturschock sondergleichen<br />

gewesen s<strong>ein</strong>, von <strong>ein</strong>er Halbwüste in die<br />

monotonen grünen Dschungel katapultiert zu<br />

werden. Schlimmer wohl nur die raffinierte<br />

Ausbeutung, die hier auf sie wartete. Sie wurden<br />

zu nicht viel mehr als modernen Sklaven.<br />

Wer will, kann viele grausame Geschichten lesen<br />

<strong>und</strong> hören. So wie die jenes Mordes aus Rache:<br />

Als s<strong>ein</strong> Vater auf Befehl des Gummiplantagenbesitzers<br />

umgebracht wurde, war er noch <strong>ein</strong><br />

Kind. Schon erwachsen, Jahre später, erfuhr er<br />

zufällig, dass der Auftraggeber des Mordes im<br />

selben Hotel wie er abgestiegen war. Zweifelte<br />

k<strong>ein</strong>e Sek<strong>und</strong>e, lud den immer bereiten Revolver<br />

<strong>und</strong> rächte den Tod s<strong>ein</strong>es Vaters so spät wie<br />

blutig.<br />

Nach dem Zusammenbruch des Kautschukbooms<br />

brachte <strong>ein</strong>e zweite Migrationswelle, diesmal<br />

vom brasilianischen Staat organisiert, geschätzte<br />

60.000 Arbeitskräfte, wieder aus dem<br />

Nordosten, wieder Arigós, in den Amazonas. Die<br />

sogenannten Soldaten des Kautuschuks,<br />

„Soldados da borracha“ wurden während des<br />

Zweiten Weltkriegs hierher gebracht. Die Hälfte<br />

der Männer soll das Ende des Krieges nicht<br />

erlebt haben. Das von Getúlio Vargas im Jahr<br />

1942 ins Leben gerufene staatliche Programm<br />

sollte der vor sich hin serbelnden<br />

Kautschukproduktion wieder Auftrieb geben. Es<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 369


galt, den amerikanischen Truppen um jeden Preis<br />

den kriegswichtigen Rohstoff Kautschuk zu<br />

liefern. Denn nach Pearl Harbor waren die USA<br />

von Kautschuklieferungen aus Südostasien<br />

abgeschnitten. Zudem hatte Präsident Franklin D.<br />

Roosevelt s<strong>ein</strong>em Amtskollegen hohe Kredite <strong>und</strong><br />

Militärtechnologie zugesichert. Auch dazu kann<br />

man Zeitzeugen hören. – Wie viele Traktoren<br />

brauchst du? 10? Bewilligt. Wer sich auskannte,<br />

die richtigen Beziehungen hatte, war <strong>ein</strong><br />

gemachter Mann.<br />

Einmal hier im Amazonas angekommen, wiederholte<br />

sich die Geschichte für die Emigranten.<br />

Wieder viele leere Versprechen, skrupellos<br />

ausgebeutete Seringueiros, Kautschuk-Zapfer,<br />

wenige Landbesitzer, die reich <strong>und</strong> reicher<br />

wurden. Wer von den Kautschuksoldaten<br />

überlebte, blieb oft viel länger als die versprochenen<br />

fünf Jahre. Und viele von denen, die<br />

sich hier niederließen, fanden ihr Motto im<br />

Sprichwort: «Im Land der Blinden ist der<br />

Einäugige König.» Sie profitierten von ihrem<br />

ausgeprägten Geschäftssinn <strong>und</strong> viele von ihnen<br />

wurden «Regatão» oder «Caixeiro viajante»,<br />

Handelsreisende, wochenlang zu Boot unterwegs.<br />

Als die Geschäfte dann florierten, investierten sie<br />

in Läden <strong>und</strong> es heißt, dass der Kommerz von<br />

Manaus bis heute zu 90 Prozent in den Händen<br />

von Nachkommen von «Nordestinos» sei. Der<br />

Erfolg s<strong>ein</strong>erseits zog ihnen aber auch den Neid<br />

Der Zurückgebliebenen, der ewigen Verlierer zu<br />

<strong>und</strong> den Spitznamen «Arigó».<br />

Aber zurück zum Witz vom Beginn der Geschichte.<br />

Der Wechsel der Perspektive ist radikal. In den<br />

Augen <strong>ein</strong>es Einheimischen, in die hintersten<br />

Ecken des amazonischen Hinterlandes verdrängt,<br />

da wo Brasilien liegt, ist der «Arigó», der zu ihnen<br />

in ihr Brasilien kam, nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />

aufgezwungener Eindringling. Er ist fast so bleich<br />

wie der Gummisaft, den er da anzapfen sollt <strong>und</strong><br />

mit dem Lokal so wenig vertraut wie die<br />

fremdesten Fremden.<br />

Kurz <strong>und</strong> gut, <strong>ein</strong> «Arigó» ist so fremd <strong>und</strong> so weit<br />

gereist, dass er sicher von <strong>ein</strong>em anderen Planeten<br />

stammen muss. K<strong>ein</strong>esfalls kann er aus Brasilien<br />

kommen. Hinterwäldler sind sich wohl auf der<br />

ganzen Welt gleich.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 370


Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name<br />

Beim Nachbarn, <strong>ein</strong> sehr alternatives Paar, sie<br />

Professorin <strong>und</strong> er Musiker, bewegt <strong>ein</strong> junger<br />

Mann gerade in brachialer Arbeit <strong>ein</strong> paar<br />

Erdhügel. Bessert mit der abgehobenen Erde die<br />

Naturstraße aus, in die der Tropenregen<br />

regelrechte Krater gefressen hat.<br />

- „Kaffee“, kannst Du nachher noch hier etwas<br />

abtragen?“ - bittet der Hausherr. - „Kaffee“, wie<br />

hieß nun gleich wieder jene Musik?“ - fragt ihn<br />

der Sohn. – Kaffee - ? Nur ich stolpere darüber.<br />

Besonders wenn ich s<strong>ein</strong>e um Nuancen dunklere<br />

Hautfarbe, nur etwas dunkler als die des<br />

Hausherrn, mit s<strong>ein</strong>em Namen in Verbindung<br />

bringe. Später, viel später allerdings werde ich<br />

<strong>ein</strong>es Besseren belehrt. Kaffee, Café geschrieben<br />

ist <strong>ein</strong> ganz normaler Name. Es gab in den Jahren<br />

1954/55 gar <strong>ein</strong>en brasilianischen Präsidenten,<br />

Café Filho mit diesem Namen. Apropos, auch am<br />

Namen “Branco”, Weißer, hat k<strong>ein</strong>er etwas<br />

auszusetzen... .<br />

Morgen ist Samstag, da gehe ich immer hier auf<br />

den lächerlich kl<strong>ein</strong>en lokalen Markt. Kaufe beim<br />

„Baixinho“ das, was gerade frisch <strong>und</strong> appetitlich<br />

ist <strong>und</strong> in m<strong>ein</strong>en Speiseplan passt. Kann auch mal<br />

<strong>ein</strong> elend teures Freilaufhuhn s<strong>ein</strong>. Schmeckt<br />

<strong>ein</strong>fach unvergleichlich viel besser. Jedes mal<br />

wenn jemand s<strong>ein</strong>en Namen ausspricht,<br />

„Baixinho“ bedeutet sowas wie der Niedrige, groß<br />

ist er wirklich nicht, widerstehe ich der<br />

Versuchung <strong>ein</strong>er Korrektur. Kontrolliere mich.<br />

Hier findet k<strong>ein</strong>er solche Übernamen respektlos,<br />

politisch unkorrekt, verabscheuungswürdig, am<br />

wenigsten die, die ihn tragen… .<br />

Die lokale Musikgruppe, die tollen Carimbó singt<br />

<strong>und</strong> nicht nur bei religiösen Anlässen auftritt, zeigt<br />

den lokalen Humor <strong>und</strong> den Geist, in welchem<br />

solche Namen entstehen <strong>und</strong> verstanden werden<br />

wollen. Sie nennt sich „Espanta cão“ –<br />

„Erschreck/vertreib den H<strong>und</strong>“…..<br />

hier?<br />

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Caboclos Haus<br />

Zuerst sehe ich nur den Wasserturm. Gleich<br />

neben den Anlegeplatz auf hohen Stelzen in den<br />

Schatten <strong>ein</strong>es riesigen Mangobaums gestellt.<br />

Parallel zum breiten Weg der Steg. Drei Bretter<br />

breit führt er gleich zum zurückgesetzten Haus. Es<br />

ist, wie alle hier, die Kirche, die Schule, das<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftshaus, auf Stelzen gebaut,<br />

amazonische Pfahlbauten. Zu den Häusern führen<br />

Holztreppen, hohe Stege, zwei, drei Bretter breit,<br />

ganz ohne Geländer, lose hingelegt. Auch jetzt,<br />

wo die Wasser noch tief sind. Aber schon steigen<br />

sie, jeden Tag etwas mehr. Setzen langsam alles<br />

unter Wasser, auch da, wo jetzt angepflanzt ist,<br />

Maniok, die Stängel so dick wie m<strong>ein</strong> Handgelenk,<br />

Bananen, Papayas. Die Fluten, trübe <strong>und</strong> reich an<br />

Sedimenten, überschwemmen das Land hier in<br />

den „Várzeas“ den flachen Flussufern im Jahreszyklus.<br />

Wenn sie sich wieder zurückziehen, lassen<br />

sie extrem fruchtbare Erde zurück. Exotisch nur<br />

für den, der nicht daran gewöhnt <strong>und</strong> darauf<br />

<strong>ein</strong>gestellt ist.<br />

Die Holzhäuser sind farbig, türkis, himmlisches<br />

Blau, starkes Pink. Alle haben sie <strong>ein</strong>en<br />

Küchengarten, Kräuter, Stängelkohl, <strong>ein</strong> Strauch<br />

mit den obligaten Pfefferschötchen, klar, auch auf<br />

Stelzen. Die Dächer der Häuser sind flach <strong>und</strong> kurz<br />

<strong>und</strong> die Fenster quadratische Höhlen, fast wie<br />

Augen. Nachts werden sie mit hölzernen Läden<br />

verbarrikadiert. Die <strong>ein</strong>zelnen Zimmer, die<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftsräume, die Toilette, oft etwas<br />

verwirrend angeordnet, sind durch Holzwände<br />

von<strong>ein</strong>ander abgeteilt. Dreiviertel hoch nur, so<br />

kann oben die tropische Luft ungehindert<br />

zirkulieren. Man sieht sich nicht, teilt aber jeden<br />

Seufzer oder Furz.<br />

Das Leben spielt sich auf den Varanden ab. Hier<br />

weht immer <strong>ein</strong> frischer Wind. Die Häuser, etwas<br />

zurückgesetzt ans Ufer des Flusses gebaut, sind<br />

von den wenigen Bauten hier im Amazonas, die<br />

perfekt ans Klima angepasst sind. Der kl<strong>ein</strong>ste<br />

Luftzug, <strong>ein</strong> etwas weniger heißer Schatten<br />

ersetzen die Klimaanlage. Die spartanischen<br />

Küchen, gut ventiliert auch sie, meist nicht viel<br />

mehr <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, langgezogene Arbeitsfläche,<br />

ergänzt von <strong>ein</strong>em Tisch als Abstellmöglichkeit,<br />

überblicken die Wasser oder die frei laufenden<br />

Hühner. Speisereste <strong>und</strong> anderes werden so<br />

gleich schwungvoll dem Kreislauf zurückgegeben.<br />

Auch mit den immer gegenwärtigen Wassern weiß<br />

man umzugehen. Manche Bewohner haben als<br />

Alternative <strong>ein</strong> zweites Haus, Verwandte, die auf<br />

der „Terra firme“, auf der sozusagen „Festen Erde“<br />

leben. Farinha <strong>und</strong> andere Dinge werden<br />

normalerweise auch nicht hier hergestellt. Steigen<br />

die Wasser, noch <strong>ein</strong> wenig, <strong>und</strong> noch etwas,<br />

unvorhersehbar, ständig, die Klimaveränderungen<br />

machen sich auch hier bemerkbar, zieht man als<br />

letzte Maßnahme <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>en zusätzlichen,<br />

provisorischen Boden <strong>ein</strong>, höher <strong>und</strong> noch etwas<br />

höher als der ursprüngliche. Stellt die Möbel hoch,<br />

noch höher. Jeden Tag reagiert auf das, was<br />

gerade kommt <strong>und</strong> wartet, bis die Wasser wieder<br />

fallen. Auch das Vieh wird auf immer höhere<br />

Landstriche getrieben, zum Schluss gar auf<br />

<strong>ein</strong>gezäunte Holzplattformen, auch sie auf<br />

Pfählen gebaut. Fallen die Wasser wieder,<br />

entledigt man sich der doppelten <strong>und</strong> dreifachen<br />

Böden. Man bessert die Treppen <strong>und</strong> Leitern aus,<br />

die nun bis zu den Wassern runter reichen <strong>und</strong><br />

beginnt <strong>ein</strong>en neuen, fruchtbaren Zyklus.<br />

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Die Mutter der Wasser<br />

Wer hier zuhören will, bekommt die<br />

unvorstellbarsten Geschichten vorgesetzt. So ganz<br />

anders als der Sehnsuchtsort Amazonas, ist das<br />

Hinterland des Amazonas nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>zige, riesige Favela, <strong>ein</strong>e Art riesiges<br />

Armenhaus, <strong>ein</strong>e letzte Grenze, irgendwo von der<br />

Weltgeschichte vergessen, aber der Humor, die<br />

Menschlichkeit <strong>und</strong> die Schlitzohrigkeit der Leute<br />

kompensieren!<br />

Glauben, Aberglauben, Überlieferungen der<br />

Indios <strong>und</strong> der katholische <strong>und</strong> heute oft auch die<br />

evangelikalische Doktrin bestehen hier im<br />

Amazonas <strong>ein</strong>trächtig neben<strong>ein</strong>ander, je<br />

intensiver, desto weiter weg man von der<br />

„Zivilisation“ der Städte kommt. Dass der Glaube<br />

hier vielleicht k<strong>ein</strong>e Berge, aber <strong>ein</strong> Haus versetzt,<br />

geht so:<br />

Die weit ausgedehnten Ländereien, irgendwo im<br />

Nirgendwo hatte er nur überflogen, bevor er den<br />

Kaufvertrag unterschrieb <strong>und</strong> das Geld überwies.<br />

Nun wollte er wissen, ob er, wie man auf<br />

Portugiesisch sagt, statt <strong>ein</strong>es Kaninchens,<br />

versteckt vom Sack, wohl <strong>ein</strong>e Katze angedreht<br />

bekommen hatte. Heuerte sich Männer an, die<br />

k<strong>ein</strong>e Angst vor dem Dschungel hatten <strong>und</strong> vor<br />

allem sich darin auch zurechtfanden, <strong>und</strong> machte<br />

sich, zusammen mit ihnen auf. Ein schwerer<br />

Rucksack blieb übrig. K<strong>ein</strong>er wollte ihn buckeln,<br />

aber ausgerechnet der musste mit. Es war <strong>ein</strong>e<br />

Heiligenstatue, die er, wenn s<strong>ein</strong>e Mission<br />

beendet war, da, mitten im Dschungel aufstellen<br />

wollte, dann wenn es ihm wirklich gelungen war,<br />

s<strong>ein</strong>en Besitz in Besitz zu nehmen. Würde der<br />

Heiligen gar <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Kapelle bauen lassen, als<br />

Dank, Einlösen <strong>ein</strong>es Gelübdes, das er in ihrem<br />

Namen abgelegt hatte.<br />

Das Eindringen erwies sich als gar nicht so<br />

schwierig. Die brasilianische Erdölcompagnie hatte<br />

in diesem Teil schon nach Erdöl gebohrt, war aber<br />

nicht fündig geworden. So <strong>ein</strong>e Suche hinterlässt<br />

alle paar Kilometer <strong>ein</strong>e Art Schneise, die zwar<br />

wieder zuwächst, aber doch <strong>ein</strong>facher wieder zu<br />

öffnen ist, als wirklicher Ur-Wald. Unter Strapazen<br />

gelang es der kl<strong>ein</strong>en Kolonne bis zum<br />

bezeichneten Gr<strong>und</strong>stück vorzudringen. Einmal<br />

angekommen, mussten sie feststellen, dass sie<br />

nicht die Ersten waren, die dieselbe Idee hatten.<br />

Der Jungfrau oder der Beredsamkeit des aktuellen<br />

Besitzers gelang es aber, die Leute, Caboclos <strong>und</strong><br />

arme Hungerleider, von der Rechtsgültigkeit<br />

s<strong>ein</strong>es Besitzes zu überzeugen, <strong>und</strong> sie,<br />

w<strong>und</strong>ersamerweise ohne ernste Gegenwehr oder<br />

gar <strong>ein</strong>em blutig ausgetragenen Streit, zu<br />

vertreiben. Und so kam die Jungfrau, oben, etwas<br />

vom Ufer des Flusses zurückversetzt, ihre Kapelle<br />

<strong>und</strong> die Statue ihren definitiven Platz.<br />

Wie es nun aber der Brauch will, <strong>ein</strong>mal in Besitz<br />

genommen, galt es nun anderen Übergriffen <strong>und</strong><br />

wilden Invasionen vorzubeugen. Es musste also<br />

<strong>ein</strong> währschafter, standfester Caboclo her, der<br />

hier ständig wohnen würde. Bald schon hatte die<br />

kl<strong>ein</strong>e Mannschaft <strong>ein</strong> Palmblätter gedecktes<br />

Haus hingestellt, <strong>und</strong> auch der Caboclo,<br />

zusammen mit Frau <strong>und</strong> Kind war schon<br />

gef<strong>und</strong>en. Nur schien ihn irgendetwas zu<br />

bedrücken. Irgendwie sollte der Deal nicht zu<br />

Stande kommen. Endlich konnte ihn <strong>ein</strong>er<br />

überreden, mit dem Gr<strong>und</strong> heraus zu rücken. Es<br />

war das Haus. Es stand viel zu nahe am Fluss.<br />

Und er hatte vor nichts mehr Respekt, als vor der<br />

„Mãe d‘ água“, der Mutter der Wasser. Die<br />

wohnt, wissen Sie das nicht? In allen Gewässern.<br />

Sie würde ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Familie das Leben zur<br />

Hölle machen, besonders wenn er zu nah am<br />

Fluss wohnen <strong>und</strong> schlafen würde.<br />

Der arme Mann hatte aber nicht mir der guten<br />

Gottesmutter gerechnet <strong>und</strong> der<br />

Überzeugungskraft s<strong>ein</strong>es Patrãos. Diesem<br />

gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass er Mãe<br />

d‘água hin oder her, Aberglauben oder nicht, vor<br />

letzterer sicher sei, wenn er der Jungfrau jede<br />

Nacht <strong>ein</strong>e Kerze anzünde. Die lasse er dann die<br />

ganze Nacht brennen <strong>und</strong> sei so vor allen Übeln<br />

geschützt.<br />

Gesagt, getan, geglaubt. Es funktionierte <strong>ein</strong> paar<br />

Monate lang perfekt. Aber <strong>ein</strong>es schönen Tages<br />

allerdings kam <strong>ein</strong> aufgelöster Caboclo in die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 380


Stadt <strong>und</strong> war fast nicht mehr dazu zu bewegen,<br />

wieder in die Wildnis zurückzugehen. Er war,<br />

s<strong>ein</strong>e Frau hatte unter <strong>und</strong>efinierbaren<br />

Schmerzen gelitten, st<strong>und</strong>enlang bis in die Stadt<br />

gelaufen, um <strong>ein</strong>e Medizin zu kaufen.<br />

Unglücklicherweise musste er in der Stadt<br />

übernachten. Konnte somit logischerweise der<br />

Jungfau k<strong>ein</strong>e Kerze anzünden.<br />

Und ausgerechnet in jener, lichtlosen,<br />

stockdunklen Nacht passierte das Unfassbare. Ein<br />

Gewittersturm brach aus, mitten im Tropenwald,<br />

wild, mächtig <strong>und</strong> unheimlich ungestüm. So<br />

ungestüm, so wild <strong>und</strong> so mächtig, dass die<br />

Mutter der Wasser die ihr dienstbaren Wasser<br />

hoch, sehr hoch, hoch bis zur Kapelle geschickt<br />

hatte. Erzürnt oder entzückt über die fehlende<br />

Kerzen, die die Macht der Jungfrau brach <strong>und</strong> ihr<br />

die ihrige zurück gab!<br />

Die <strong>ein</strong>zig mögliche Lösung? Das Wohnhaus<br />

musste nun endlich weiter vom Ufer, vom Wasser<br />

weg neu gebaut werden. Gesagt <strong>und</strong> getan. Und<br />

wenn sie nicht gestorben sind, so lebt die ganz<br />

Familie bis heute unbehelligt irgendwo im<br />

Nirgendwo, ganz ohne Angst vor der ach so<br />

rachsüchtigen, nassen Mutter der Wasser.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 381


Entwicklungszusammenarbeit auf<br />

amazonisch: Ein fix fertiges Haus, um<br />

Obst zu verarbeiten, ganz ohne<br />

Früchte. Eine Station, die darauf wartet,<br />

Jungfische zu züchten – auch Helfen<br />

will nicht nur gelernt s<strong>ein</strong>, sonder muss<br />

auch erwünscht s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> angenommen<br />

werden... .<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 382


Von Schönheit leben<br />

Der Mann mittleren Alters nähert sich uns, den<br />

Bootstouristen, für <strong>ein</strong>en, beiden Seiten<br />

willkommenen, Schwatz. Wir fragen ihn, was er<br />

denn von Beruf sei oder wovon er denn lebe? Die<br />

Antwort ist so kurz wie ironisch: – Von der<br />

eigenen Schönheit! – Den schmalbrüstigen<br />

Oberkörper entblößt, am Arm <strong>ein</strong>e dicke<br />

Armbanduhr <strong>und</strong> im Gesicht deutlich indigene<br />

Züge, sch<strong>ein</strong>t er gerade damit nicht sonderlich<br />

gesegnet.<br />

Und das Haus da drüben? Der noch intakten, fast<br />

frischen Bemalung nach wohl erst kürzlich<br />

hingestellt, in dem man, wie man lesen kann, hier<br />

in Urucurea Früchte verarbeite, welche da denn<br />

verarbeitet würden? - Oh, gar k<strong>ein</strong>e. Hier gäbe es<br />

gar k<strong>ein</strong>e Früchte, n<strong>ein</strong>. Das habe noch gar nie<br />

funktioniert. Ob der Ford Fo<strong>und</strong>ation <strong>und</strong> der<br />

Konrad Adenauer Stiftung, die zusammen mit<br />

brasilianischen Institutionen stolz ihre<br />

Partnerschaft auf den Wänden verewigt haben,<br />

wohl schon zu Ohren gekommen ist, dass hier<br />

nicht mal die Samen für <strong>ein</strong>en Obstgarten zu<br />

existieren sch<strong>ein</strong>en? Ja, Weltverbessern, helfen<br />

wollen ist nicht <strong>ein</strong>fach.<br />

Die Szene wiederholt sich an anderen Orten mit<br />

anderen Projekten <strong>und</strong> Gebäuden. Gähnende<br />

Leere <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erschöne Prospekte mit<br />

w<strong>und</strong>erbaren Worthülsen von erfolgreichen<br />

Kooperativen erzählen, die dem Augensch<strong>ein</strong><br />

nicht standhalten. Komischerweise sind die von<br />

außen aufgezwungenen Verbesserungen oft<br />

defekt, funktionsuntüchtig, auf Gr<strong>und</strong> gelaufen,<br />

die Pumpe verrostet. Auch wenn man das wie<br />

immer fehlende Ersatzteil herbeischaffen würde,<br />

könnte sowieso k<strong>ein</strong>er die Maschine reparieren.<br />

Der Anspruch auf Gleichberechtigung <strong>und</strong><br />

Nachhaltigkeit, der die moderne Entwicklungszusammenarbeit<br />

predigt, sch<strong>ein</strong>t hier noch nicht<br />

angekommen zu s<strong>ein</strong>. Hier ist man, wie mir<br />

sch<strong>ein</strong>t, noch in der Entwicklungshilfe verfangen,<br />

nicht nur im Diskurs. Bilaterale Projekte,<br />

kurzfristige Lösungen, die die Leute, wenn das<br />

„Projekt“ abgewickelt ist, all<strong>ein</strong>e lassen.<br />

Mangos <strong>und</strong> viele andere Früchte werden hier<br />

auch bei denen zu modrig stinkendem Schlamm,<br />

die sehr wenig haben, oder wie man in m<strong>ein</strong>em<br />

Land sagt, zu wenig zum Leben <strong>und</strong> zu viel zum<br />

Sterben. Die Leute hier seien halt mit sehr wenig<br />

zufrieden. Oder mit dem, für das sich nun die<br />

verschiedenen lokalen <strong>und</strong> nationalen<br />

Regierungen Stimmen kaufen, im Tausch gegen<br />

alle Arten von „Bolsas“, Stipendien, für Familien,<br />

Kinder, Landarbeiter oder Fischer. Denn das ist der<br />

Beruf unseres Gesprächspartners, nur dass er halt<br />

während der Schonzeit <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Gehalt dafür<br />

bekommt, dass er die gefährdeten Fischstände<br />

nicht noch weiter dezimiert. Wie die bösen Zungen<br />

der Erfolgreicheren lästern: dass die Leute, die<br />

ebendiese monatliche Zuwendung der Regierung<br />

bekämen, nun nicht mal mehr Açaí ernten<br />

würden oder Kastanien, k<strong>ein</strong> Kunsthandwerk<br />

mehr herstellten, mit dem sie sich früher ihre<br />

<strong>ein</strong>fache Existenz sicherten. Dona Eva, Besitzerin<br />

<strong>ein</strong>er Metzgerei <strong>und</strong> <strong>ein</strong>es Großhandels bringt es<br />

w<strong>und</strong>erbar neoliberal auf den Punkt: Sogar die<br />

Küchenkräuter, die früher jeder hinter dem Haus<br />

im kl<strong>ein</strong>en Hochbeet aussäte, würden sie nun in<br />

der Stadt kaufen!<br />

Monatsanfang. Wie immer bilden sich vor den<br />

Lotterieverkaufstellen endlos lange Schlangen<br />

Die Regierung hat soeben den monatlichen<br />

Zustupf ausgezahlt. Der wird sofort in<br />

Gr<strong>und</strong>lebensmittel umgetauscht, Reis, Bohnen,<br />

Milchpulver, Pasta. Es ist wohl <strong>ein</strong>facher, über<br />

Nacht reich zu werden, als im zu protestantischen<br />

Schweiße s<strong>ein</strong>es Angesichts.<br />

Die Leier ist endlos, sch<strong>ein</strong>bar unlösbar. Leer<br />

stehende Verkaufsbaracken, von lokalen<br />

Politikern geschenkt, an denen es nur an der<br />

<strong>ein</strong>en oder anderen hin <strong>und</strong> wieder was zu<br />

verkaufen gibt. Ob an der Geschichte des<br />

faschistischen, aber für s<strong>ein</strong>e Volksnähe heiß<br />

geliebten Gouverneurs <strong>Barata</strong>, von der Diktatur<br />

Getulio Vargas als Verwalter in Pará <strong>ein</strong>gesetzt,<br />

etwas Wahres ist? Als wohl <strong>ein</strong>er der ersten<br />

Lokalpolitiker, <strong>ein</strong> echter „Caudilho“, <strong>ein</strong><br />

militärisch-politischer Leader, reiste er weit bis<br />

ins Landesinnere <strong>und</strong> kam deshalb auf <strong>ein</strong>er<br />

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s<strong>ein</strong>er Reisen in <strong>ein</strong> jener abgelegenen<br />

Kl<strong>ein</strong>städte. Hielt, wie es der Brauch war, auf dem<br />

zentralen Platz vom hohen Podest herunter, <strong>ein</strong>e<br />

s<strong>ein</strong>er populären Reden. Versprach den<br />

staunenden Zuhörern, von tosendem Applaus<br />

unterbrochen, nicht nur Asphalt für die staubige<br />

Dorfstraße, <strong>ein</strong> properes Schulhaus, in dem alle<br />

ihre wurmbäuchigen Kinder lesen <strong>und</strong> schreiben<br />

lernen würden. Mahlte ihnen das neue<br />

Gem<strong>ein</strong>dehaus in den schönsten Farben aus, <strong>und</strong><br />

noch viel mehr. Brachte den anhaltenden Beifall<br />

mit <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Geste, <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Satz<br />

dann aber jäh zum Verstummen. Stolz verwies er<br />

auf den soeben her gekarrten Lastwagen hin: -<br />

Seht her, m<strong>ein</strong>e lieben Mitbürger! Für jeden die<br />

passende Schaufel, <strong>ein</strong> Pickel! Hier findet jeder<br />

das passende Werkzeug, um selbst mit Hand<br />

anzulegen! Zusammen werden wir unsere<br />

glanzvolle Zukunft errichten! – Die Menge soll sich<br />

in Minutenschnelle verdrückt haben.<br />

zwanzig Jahren k<strong>ein</strong>er mehr ernten will? K<strong>ein</strong>er<br />

hat ihnen gelehrt, dass man s<strong>ein</strong> Schicksal in die<br />

eigenen Hände nehmen könnte. Schwer, den<br />

Argumenten unseres Mannes etwas Konkretes<br />

<strong>und</strong> vor allem Reales entgegenzusetzen.<br />

Und so leben sie weiterhin all<strong>ein</strong> von ihrer<br />

Schönheit, nicht unzufrieden, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Leben. Es<br />

gibt gar Intellektuelle, die in diesem Sich-<br />

Entziehen, in der Verweigerung <strong>ein</strong>e Art späte<br />

oder infame Rache der Einheimischen sehen….. .<br />

Persönlich kann ich es ihnen, dem Mann, der von<br />

Schönheit lebt, <strong>und</strong> anderen, nicht mal verargen.<br />

Zu lange, Generation nach Generation wurden sie<br />

in absoluter Abhängigkeit belassen,<br />

Analphabeten, ständig ihren reichen paternalen<br />

Chefs <strong>und</strong> Zwischenhändlern Geld schuldig. Wieso<br />

nur sollen sie plötzlich Hand anlegen, gar<br />

unternehmerisch denken, sparsam s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>teilen,<br />

alles anders machen, als ihre Vorfahren? Gar<br />

Obstgärten pflanzen, die dann in zehn oder<br />

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Amazonischer<br />

Alltag<br />

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Amazonischer Alltag<br />

Reale Realitäten 400-402<br />

Das ist halt so….. 404<br />

Globalisierung auf amazonisch 406<br />

Die Bibliothek 408-411<br />

Der Portraitkult 417<br />

Paternal 419/420<br />

Abends auf dem Kirchplatz 426<br />

Glaubensbekenntnisse 430/431<br />

Noch mehr Glaubenssachen 432<br />

Der Ur-Zaun 433<br />

Bettwäsche / Sehr erfreut, Kakerlake 436<br />

Von allerlei Krankheiten 438-441<br />

Das geografische Tier 442<br />

Allerlei Verkehrsmittel 443-456<br />

Vom Transportieren 457-474<br />

Allerlei Verkehrsmittel II 475-477<br />

Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? 479<br />

N.T. <strong>und</strong> i9 481<br />

Chic caboclo 484/485<br />

Ekel, ganz privat 490-493<br />

So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn! 498/499<br />

Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit 502/503<br />

Überliefertes 504<br />

Vom Anpreisen 513/514<br />

Der König der schwarzen Cocada 518/519<br />

Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann 521<br />

Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier, verehrte K<strong>und</strong>in! 526/527<br />

Deutscher Brandtw<strong>ein</strong> / Späte <strong>und</strong> andere Ein- <strong>und</strong> Ansichten /<br />

Tierisches 528<br />

Im Kreuzfeuer 530<br />

Hinter Gittern 537/538<br />

Art-Cabocla 542<br />

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Traditionelle Küchenutensilien, Ruder, Tipitis <strong>und</strong> Siebe für die Farinhaherstellung, Heilpflanzen, Fächer.<br />

Trichter, Schirme <strong>und</strong> Taschen aus China.<br />

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Hotel Tropical, heute Barrudada, Santarém, PA<br />

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Reale Realitäten<br />

Es ist drei Uhr morgens. Das Flugzeug ist soeben<br />

gelandet. Noch denke ich, es sei ironisch<br />

aufbauend gem<strong>ein</strong>t, wenn mir die Flugzeugbesatzung<br />

<strong>ein</strong> fre<strong>und</strong>liches „Guten Tag“<br />

hinterherschickt. Zu m<strong>ein</strong>er totalen Überraschung<br />

ist der Winzflughafen belebt wie kaum Untertags.<br />

Die Taxisten reißen sich um die frühen K<strong>und</strong>en.<br />

Auch der Taxifahrer wünscht strahlend „Guten<br />

Tag!“. Es sind schließlich schon frühstmorgentliche<br />

drei Uhr dreißig. Wenigstens die Stadt<br />

schläft. Nur die taghell erleuchteten<br />

Plastikschwimmbecken grüßen von Ferne<br />

kühlblau in allen Formen <strong>und</strong> Größen. Ob er doch<br />

bitte die Klimaanlage etwas weniger kalt<br />

<strong>ein</strong>stellen könne. In São Paulo waren die<br />

Temperaturen um die Null Grad. Als sich dann die<br />

gläserne Tür des enormen Hotelkastens aus den<br />

50er Jahren, s<strong>ein</strong>erzeit verschwenderisch mit<br />

Regierungsgeldern hochgezogen, hinter mir<br />

geschlossen <strong>und</strong> mir noch <strong>ein</strong> fre<strong>und</strong>lich waches<br />

„Guten Tag“ entgegenschallt, gebe ich mich<br />

geschlagen.<br />

Auch das Frühstück, nach dem Bad im<br />

hollywoodverdächtigen Pool, so unwirklich türkis<br />

wie die Fertigschwimmbecken, konfrontiert mich<br />

mit noch <strong>ein</strong>er der realen Realität <strong>Amazonien</strong>s.<br />

Einer privilegierten Realität. Die muss der<br />

überwältigenden Natur <strong>ein</strong>en Hotelkomplex<br />

entgegenstellen, <strong>ein</strong>en überwältigenden Koloss,<br />

von Menschenhand erschaffen. S<strong>ein</strong>e meterhoch<br />

geschwungenen Rampe, die sich weit zum<br />

Eingang hoch schwingt, erinnert eher an <strong>ein</strong><br />

Fußballstadion, denn an <strong>ein</strong>e Herberge. Hier fährt<br />

man vor, möglichst im hochstelzigen<br />

Geländewagen, damit man sich <strong>ein</strong> bisschen<br />

weniger winzig vorkommt.<br />

Das Hotel, irgendwie wie von <strong>ein</strong>em anderen<br />

Stern, wird seit kurzem von <strong>ein</strong>er lokalen<br />

Hotelkette betrieben. Die lässt die vergangenen<br />

Glorien wieder aufleben. Ziemlich viel schriller<br />

<strong>und</strong> bunter, dafür aber immer gut ausgebucht.<br />

Während der Militärdiktatur war das Hotel Teil der<br />

gigantischen Regierungsprojekte für den<br />

Amazonas. Hier übernachteten die Angestellten<br />

der SUDAM (Superintendência do Desenvolvimento<br />

da Amazônia, 1966 geschaffen <strong>und</strong> später<br />

wegen Korruption in Misskredit geraten). Solche<br />

Forschungsanstalten hatten bis in die Mitte der<br />

1980er Jahre hin<strong>ein</strong> das Ziel, mit ihren<br />

Forschungen den größtmöglichen Profit aus dem<br />

Regenwald zu ziehen. Man kann hier immer<br />

wieder Leute treffen, die diesen goldenen Zeiten<br />

nachtrauern.<br />

Die Hotellobby ist so groß, leer <strong>und</strong> kühl,<br />

Klimaanlage sei Dank, wie <strong>ein</strong> mittlerer<br />

europäischer Bahnhofwartesaal im Winter. In der<br />

Mitte führt <strong>ein</strong>e breite Treppe in <strong>ein</strong>e Art<br />

Zwischenstock. Durch die riesige Glasfront erblickt<br />

man den blaugekachelten Pool. Die immensen<br />

Zimmer, gar mit Balkon, entschädigen für die<br />

Distanz zur auch nicht gerade interessanten<br />

Stadt. Beim Frühstück, überschattet vom immer<br />

<strong>ein</strong>geschalteten, überdimensioniert rechteckigen<br />

Bildschirm, noch mehr reale Realitäten. Hier trifft<br />

man auf den ganzen gehobenen amazonischen<br />

Mikrokosmos: Da gibt es die lässig in Bermudas,<br />

Havaianas <strong>und</strong> ärmellose Hemden gekleideten<br />

jungen Männer, die alle obligatorischerweise<br />

schon zum Frühstück ihre Baseballmützen<br />

aufhaben. Sie kommunizieren mehr mit ihren<br />

Laptops als unter<strong>ein</strong>ander <strong>und</strong> bedienen sich<br />

großzügig von den kalten Pizzavierteln,<br />

übriggeblieben vom gestrigen Nachtessen. Sicher<br />

gehören sie zu den Angestellten irgendwelcher<br />

Bergbaufirmen. Hier im weiteren Umkreis<br />

werden Aluminium, Eisen, Gold <strong>und</strong> viele andere<br />

Mineralien abgebaut. Ständig wird nach neuen<br />

Abbauorte sondiert. Diese Aufgabe ist den schon<br />

etwas gestanderen, gewichtigeren, aber nur um<br />

Nuncen formeller gekleideten Geologen zugeordnet.<br />

Sie sind die Pioniere <strong>und</strong> ziehen den doch<br />

schon etwas angejahrten Kolonialstil ihrer<br />

Jugend den Bermudas vor. Man kann sie hier in<br />

den abgelegensten, hintersten Ecken des<br />

Amazonas antreffen.<br />

Die Spiegeleier sind, wie überall hier, beidseitig<br />

<strong>und</strong> gut durchgebraten. Tee? Man fülle <strong>ein</strong>fach<br />

<strong>ein</strong>e der Tassen da, sie tragen noch den goldenen<br />

Schriftzug des ehemaligen Regierungshotels, mit<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 400


lauwarmem Wasser aus dem Wasserspender,<br />

stelle die Tasse dann in die Mikrowelle <strong>und</strong> warte<br />

<strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb Minuten. Dann nur noch den<br />

Teebeutel im nicht gerade kochend heißen<br />

Wasser baden. Upps. Apropos heißes Wasser:<br />

Nach dem dritten Bad bemerke ich endlich, dass<br />

die Armaturen der Dusche seitenvertauscht sind:<br />

Drehe ich das verm<strong>ein</strong>tlich kalte Wasser auf,<br />

strömt heißes heraus <strong>und</strong> umgekehrt. Der, wie<br />

alles überaus <strong>und</strong> ungewöhnlich großzügig<br />

bemessene, Wasserstrahl allerdings versöhnt<br />

mich mit solch <strong>ein</strong>em nebensächlichen Detail.<br />

Am Nebentisch frühstücken gerade in friedlicher<br />

Koexistenz, die um es etwas locker auszudrücken,<br />

Gegenspieler der Geologen, die NOG-ler, im Blick<br />

Abenteuerlust <strong>und</strong> Idealismus. Ihre beschrifteten<br />

T-Shirts (Amazon Project) verkünden, dass sie,<br />

zumindest in der Theorie, gleich den ganzen<br />

Tropenregenwald retten wollen. Weltgewandt<br />

mischen sie unter ihr Portugiesisch englische<br />

Brocken. Entblößen sich aber bald mit ihren<br />

Fragen nach der lokalen Flora <strong>und</strong> Fauna als<br />

absolute <strong>Amazonien</strong> Greenhorns. Denken, wie die<br />

Mehrheit der Leute von außen, dass es hier<br />

sozusagen nur Natur <strong>und</strong> Tiere, Tiere <strong>und</strong> Natur<br />

gebe. Entzückt sehen sie dem, sicher<br />

ausgesetzten, Kaninchenpaar zu, das am Abend<br />

um den Pool hopst <strong>und</strong> sich nicht sonderlich um<br />

die anderen Gäste in s<strong>ein</strong>em Reich kümmert. Da<br />

sind die so mager wie hochb<strong>ein</strong>igen<br />

panther-artigen Hauskatzen schon viel scheuer.<br />

Gott sei Dank hat niemand die ansehnliche Kröte,<br />

sicher so gutherzig wie hässlich, <strong>und</strong> den winzigen<br />

Frosch gesehen, den ich gestern aus dem Pool<br />

befreite, oder den Leguan, den ich auf m<strong>ein</strong>er<br />

abenteuerlichen <strong>Foto</strong>tour in die Umgebung<br />

aufschreckte. Er suchte sogleich auf langen<br />

Drachenb<strong>ein</strong>en das Weite.<br />

Vielleicht bereiten sich die NGO-ler, der blondhellhäutige<br />

Amerikaner sch<strong>ein</strong>t der Chef zu s<strong>ein</strong>,<br />

auf die öffentliche Audienz vor, die die mächtige,<br />

nordamerikanische Firma Cargill hier abhalten<br />

muss. Ihr übermächtiger Greifarm mitten im Hafen<br />

mahnt überdeutlich daran, dass sie aus der ganzen<br />

Region Soja in die weite Welt exportiert. Noch<br />

mehr Soja soll nun über die endlich fahrtüchtige<br />

BR Santarém Cuiabá her gekarrt werden. Die<br />

Zukunft des Hafens, der ganzen Stadt steht auf<br />

dem Spiel <strong>und</strong> viele komplexe Interessen dazu.<br />

Und das, welch W<strong>und</strong>er, dass mir bis jetzt noch<br />

k<strong>ein</strong>e chinesische Delegation begegnet ist, die sich<br />

hier im Amazonas emsig <strong>und</strong> mit ernsten<br />

Kaufabsichten umsehen.<br />

Während der Woche füllen sich die Tische immer<br />

mehr. R<strong>und</strong> um <strong>ein</strong>en der riesigen Tische trifft sich<br />

gerade die Equipe der „Globo“, mächtigste<br />

Fernsehanstalt Brasiliens. Sie drehen soeben hier<br />

in der Gegend „Tainá III“ - die rührselige<br />

Geschichte <strong>ein</strong>es Indiomädchens, das nun<br />

s<strong>ein</strong>erseits, schon in der dritten Folge, ebenfalls<br />

den Regenwald rettet. Erfahre, dass die kl<strong>ein</strong>e<br />

India, die die Tainá, oder besser ihre Tochter<br />

spielt, in <strong>ein</strong>em richtigen Indiostamm lebt, fünf<br />

Jahre zählt <strong>und</strong> bis zu Beginn der Dreharbeiten<br />

k<strong>ein</strong> Portugiesisch sprach, nur die Sprache ihres<br />

Stammes. Auch, dass das Mädchen nur mit<br />

Bewilligung der Funai, der Indioschutzbehörde<br />

unter Vertrag genommen werden durfte. Einer<br />

der Taxifahrer erzählt, dass sie <strong>ein</strong>e „richtige“<br />

„Maloca“ aufgebaut hätten, <strong>und</strong> dass auch<br />

„richtige“ Indios, nicht verstädterte wie er,<br />

mitspielen würden. Die hielten sich immer<br />

misstrauisch Abseits, mischten sich nicht mal<br />

beim Essen mit den anderen Schauspielern <strong>und</strong><br />

Statisten.<br />

Die wohl <strong>ein</strong>zigen, wirklichen Touristen kommen<br />

soeben vom fantastischen Festival in Parantins<br />

zurück, <strong>ein</strong>e Art amazonischem Karneval, der die<br />

Lende vom „Boi“, von den Nordestinos in den<br />

Amazonas gebracht mit amazonischer Folklore<br />

mischt. Die beiden „Bois“, Garantido, s<strong>ein</strong>e Farbe<br />

ist rot <strong>und</strong> Caprichoso, er ist blau, treten im<br />

Bumbódrom gegen<strong>ein</strong>ander an, das Platz für<br />

35.000 Personen bietet. Alle Zuschauer erküren<br />

schon vor dem Wettbewerb ihren Boi.<br />

Identifizieren sich mit Rot mit dem Boi Garantido<br />

oder ziehen blau für den Caprichoso über <strong>und</strong><br />

tanzen, jedes Mal wenn er auf die Bühne kommt,<br />

extra für ihn <strong>ein</strong>e komplexe, schon vorher<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 401


<strong>ein</strong>studierte Choreografie. Einer der beiden Bois<br />

wird dann nach übervollen drei Tagen Show von<br />

<strong>ein</strong>er Jury zum Gewinner auserkoren. Die<br />

Touristen kommen aus dem Süden Brasiliens <strong>und</strong><br />

wollen die lokalen Schönheiten von Alter do Chão,<br />

bis jetzt nur <strong>ein</strong> paar Kreuzfahrtschiff- <strong>und</strong><br />

Rucksacktouristen bekannt, nicht verpassen. K<strong>ein</strong><br />

Problem, dass zu dieser Jahreszeit Dreiviertel der<br />

berühmten Insel unter Wasser ist.<br />

Am nächsten Tisch sprechen die Professoren der<br />

neuen staatlichen Universität schon beim<br />

Frühstück über nichts anderes als ihre Projekte<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Bürokratie. Heute<br />

beginnt auch der regionale Kongress der<br />

Gr<strong>und</strong>schullehrer. Die Teilnehmer sind in der<br />

Mehrzahl deutlich <strong>ein</strong>facher Herkunft, ach, hier ist<br />

ja auch die Nonne in vollem Ornat, die gerade drei<br />

St<strong>und</strong>en mit dem selben Boot hierhergefahren ist.<br />

Alle, Frauen <strong>und</strong> Männer, unterstreichen<br />

wortstark mit jeder Geste ihren pädagogischen<br />

guten Willen.<br />

Während sie an der Rezeption verzweifelt den<br />

Schlüssel unseres neuen Zimmers suchen, er wird<br />

magischerweise erst am nächsten Tag<br />

auftauchen, w<strong>und</strong>ere ich mich über die<br />

überdimensionierte <strong>und</strong> kitschig Dekoration im<br />

Stil grob behauener Baumstrünke, die als<br />

Sofatische dienen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er modisch<br />

karnevalesken Interpretation lokaler Klischees.<br />

Hinter der Empfangstheke die in viele Hotels<br />

üblichen vier Uhren auf knallorangem Gr<strong>und</strong>, die<br />

neue Hotelfarbe. Entblößen <strong>ein</strong>e überaus<br />

interessante Sicht der Welt, zeigen sie doch die<br />

Uhrzeiten von Santarém, Brasília, New York <strong>und</strong><br />

Madrid an.<br />

Wieder beim Frühstück holt mich der Kellner in die<br />

reale Realität zurück. Nennt mich „Querida“, m<strong>ein</strong><br />

Liebling, was ich nicht gerade passend finde.<br />

Später setzt er sich, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Pause ist fällig, zu<br />

s<strong>ein</strong>em Kollegen an die Bar, um sich von der<br />

Rennerei etwas auszuruhen. K<strong>ein</strong>en stört es, dass<br />

s<strong>ein</strong>e Kollegin beim Servieren Kaugummi kaut.<br />

Aber auch die Gäste mögen es informell. Fragt<br />

doch <strong>ein</strong>er im Gang unverblümt das Zimmermädchen,<br />

ob sie ihm nicht jemand empfehlen<br />

könne, der ihm <strong>ein</strong> paar Shirts wasche, was gerne<br />

bejaht wird. Der Waschservice des Hotels ist ihm<br />

wohl zu teuer.<br />

Tatendurstig will ich nun aber endlich die reale<br />

Realität kennenlernen. Falls ich k<strong>ein</strong> Taxi möchte,<br />

könnte ich in der Bruthitze st<strong>und</strong>enlang auf den<br />

lokalen Bus warten, oder, <strong>ein</strong> ganz alternatives<br />

Programm, <strong>ein</strong>fach zwei, drei Kilometer zu Fuß<br />

gehen, Hut <strong>und</strong> Sonnenschutz nicht vergessen!<br />

Oder –aber halt - das ist schon zu alternativ,<br />

ironisch <strong>und</strong> vielleicht gar etwas gefährlich,<br />

<strong>ein</strong>fach die andere Seite der autobahnartigen<br />

Rampe vor dem Hotel hinunterrollen <strong>und</strong> m<strong>ein</strong><br />

blaues W<strong>und</strong>er erleben, sozusagen in die Realität<br />

fallen, „caír na real“, wie man so schön auf<br />

Portugiesisch sagt. Gleich am Fuß der Rampe<br />

beginnt nämlich der wirkliche Amazonas. Aber<br />

die „Realidade“, giftgrün angestrichen, hat leider<br />

so früh noch nicht geöffnet - Realidade ist der<br />

stilvolle Name <strong>ein</strong>er etwas eruntergekommenen<br />

Bar!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 402


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 403


Das ist halt so…..<br />

Fassungslos, bin absolut fassungslos, aufgelöst,<br />

geschockt <strong>und</strong> verzweifelt. Mit dem ersten der<br />

tropisch-heftigen Regenfälle entpuppt sich das<br />

Dach m<strong>ein</strong>er Wohnstätte, ansonsten ziemlich<br />

tropentauglich, als <strong>ein</strong>e Art Sieb. Weder Eimer,<br />

Schüsseln, Becken noch Lappen reichen aus, das<br />

Tropfen, Fließen, die Bäche, Wasserfälle <strong>und</strong><br />

Sintfluten aufzufangen, geschweige ihnen <strong>ein</strong>e<br />

dezente Bestimmung zu geben! Rette sich, wer<br />

kann! Versuche tief durchzuatmen, weder in<br />

Panik zu geraten noch in Tränen auszubrechen.<br />

Denn ich muss mir <strong>ein</strong>gestehen, dass all m<strong>ein</strong>e<br />

Versuche wohl fruchtlos bleiben werden! Auch<br />

das Naheliegendste, alles irgendwie zu retten,<br />

sozusagen ins Trockene zu bringen, ist für die<br />

Katz. Es gibt kaum <strong>ein</strong> trockenes Eckchen. Schau<br />

mal! Da fließt das Wasser <strong>ein</strong>fach die Wände<br />

runter, <strong>und</strong> das mitten im Wohnzimmer…. .<br />

Die Tür geht auf <strong>und</strong> unser Mann für alle<br />

Umstände kommt her<strong>ein</strong>. M<strong>ein</strong>er offensichtlichen<br />

Verzweiflung ansichtig, zuckt er nur mit den<br />

Schultern. Und es kommt jener unvorstellbare<br />

Satz über s<strong>ein</strong>e Lippen, für den ich ihn schlicht<br />

ohrfeigen oder umbringen könnte: „Dona Susan, é<br />

assim mesmo.“ – „M<strong>ein</strong>e liebe Frau Susan, das ist<br />

halt leider <strong>ein</strong>mal so!!!!“<br />

„É assim mesmo“ - kaum <strong>ein</strong> anderer Satz hat<br />

mich mehr über die Menschen hier gelehrt. Er<br />

kondensiert all das passive Hinnehmen, das sich<br />

<strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> widerstandslos ins Schicksal fügen, das<br />

Gott-Gegebene, Gott-Gewollte all jener, die<br />

schon lange aufgehört haben, sich dagegen<br />

aufzulehnen, wissen, dass sie k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Chance<br />

haben gegen die anderen, die Mächtigen, die, die<br />

hier den Ton angeben <strong>und</strong> die Puppen tanzen<br />

lassen. Fehlt nur, sich neben <strong>ein</strong>en der stetigen<br />

Tropen zu setzten <strong>und</strong> die Hände stoisch im Schoß<br />

zu verschränken <strong>und</strong> warten, bis die Regenzeit zu<br />

Ende geht. Eine Handvoll Intellektueller<br />

interpretiert dieses so typische sich ins<br />

Unabänderliche schicken auch als <strong>ein</strong>e Art passiver<br />

Racheakt, <strong>ein</strong>e Art von lokalem Widerstand... .<br />

Viele der hiesigen NGOs üben sich gerade im<br />

„Empowering“ der Einheimischen, die dann<br />

allerdings mit jener nigelnagelneuen Macht<br />

ausgestattet, oft ziemlich weit übers Ziel<br />

hinausschießen.<br />

M<strong>ein</strong>e Rache ist anderer Art. Genau zwei Tage<br />

später sieht man vom Sofa aus den nicht gerade<br />

strahlend blauen Himmel. Fünf Männer<br />

sind gerade dabei, <strong>ein</strong>e silbergraue Isoliermatte<br />

über die <strong>ein</strong>fache Dachstruktur zu ziehen. Decken<br />

noch <strong>ein</strong>en Meter ab <strong>und</strong> nageln auch da das<br />

Silber fest. Decken dann wieder die Ziegel darüber<br />

<strong>und</strong> ich habe <strong>ein</strong> nigelnagelneues, fast<br />

wasser<strong>und</strong>urchlässiges Dach, das das<br />

Wohnzimmer überspannt. Es ist, <strong>ein</strong>e<br />

willkommene Zugabe, erst noch um <strong>ein</strong> paar<br />

Grade kühler. Die nächsten absolut tropischen<br />

Sintfluten, sie können ganze Nächte runter<br />

gießen, herrlich monoton <strong>und</strong> <strong>ein</strong>förmig, werden<br />

nun nur noch von kl<strong>ein</strong>en, gut lokalisierbaren<br />

Tropfgesängen unterbrochen. Da<br />

Schafft <strong>ein</strong> Becken oder <strong>ein</strong> Topf Abhilfe. Gegen<br />

das stetige Tropfen hilft <strong>ein</strong> weicher Lappen.<br />

„É assim mesmo“ aber begleitet mich fortan<br />

durch den Amazonas. Diese wertvolle Lektion<br />

habe ich gelernt!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 404


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 405


Globalisierung auf amazonisch<br />

Das kl<strong>ein</strong>e Mädchen geht mit der Mode. Trägt<br />

<strong>ein</strong>en kurzen Jeansminirock <strong>und</strong> auf dem Rücken<br />

schlenkert <strong>ein</strong> Plüschtier, das wohl <strong>ein</strong> Rucksack<br />

s<strong>ein</strong> soll. - Bin mal wieder die Einzige, der auffällt,<br />

dass die eitle Mode kl<strong>ein</strong>er, shoppingverrückter<br />

Mädchen nun auch schon hier im amazonischen<br />

Hinterland, in Óbidos, angekommen ist. Und das<br />

auch noch schade findet. Globalisierung nennt<br />

man das wohl.<br />

Dass sich hier alle gegen die kühle Frische, die<br />

nachts auf den Booten, auch ganz ohne<br />

Klimaanlage, herrscht, in chinesisch grellbunte<br />

Plüschdecken hüllen, wusste ich schon. Die<br />

grellen Farben <strong>und</strong> die wilden, fotografisch<br />

realistischen Drucke kommen hier besonders gut<br />

an. Auch aufs Handy verzichtet hier k<strong>ein</strong>er. Zwar<br />

gibt es in manchen abgelegenen Weilern noch<br />

k<strong>ein</strong>e Funktürme oder es hat riesige Funklöcher.<br />

Wer sagt denn, dass man mit dem Handy nur<br />

telefonieren kann?<br />

Eigentlich hätte es mir schon auf der Herfahrt<br />

auffallen müssen. Drei St<strong>und</strong>en <strong>ein</strong>gepfercht in<br />

<strong>ein</strong>e “Lancha”. Das sehr effiziente, voll<br />

klimatisierte Schiff, <strong>ein</strong>e Art schwimmender<br />

Plastikbüchse, flach <strong>und</strong> stromlinienförmig,<br />

verkürzt die Reise ungem<strong>ein</strong>. Die Bootsgesellschaft<br />

wird ja auch von <strong>ein</strong>em “Gaucho”, <strong>ein</strong>em<br />

Südbrasilianer geführt. Die Sitze sind fast so<br />

bequem wie im Kino <strong>und</strong> draußen gießt es<br />

sowieso in Strömen. Wasser von unten, Wasser<br />

von oben, Wasser überall. Aber drinnen<br />

ist es kühl <strong>und</strong> trocken. Da vorne, breitl<strong>ein</strong>wandig,<br />

k<strong>ein</strong>er entkommt ihm, der Film. Hätte nicht mir<br />

mehr Fingerspitzengefühl ausgesucht worden s<strong>ein</strong>.<br />

Fühle mich wie auf <strong>ein</strong>em intergalaktischen<br />

Treffen zweier Favelas, <strong>ein</strong>er indischen, der Film<br />

heißt ausgerechnet “Slumdog Millionaire”!!! <strong>und</strong><br />

der amazonischen. Wie sich die Welten gleichen!<br />

Bald, sehr bald schon werden wir uns alle gleich<br />

anziehen, uniform, Mode der Globalisierung,<br />

globalisierte Mode <strong>und</strong> gleich zudecken. Die<br />

gleichen Filme konsumieren wir schon. Und die<br />

ewiggleichen Hamburger <strong>und</strong> Pizzas muss man<br />

auch hier nicht verzichten. Sie sind nur noch etwas<br />

süßlicher, genauso wie die Fantas, der absolute<br />

Gipfel ist “Fanta Uva”, Fanta mit Traubengeschmack,<br />

dunkellila, oder noch schlimmeres, die<br />

wir dazu trinken. Da muss man vor dem neuen<br />

Shopping, in der nächsten großen Stadt, nur drei<br />

Bootsst<strong>und</strong>en weg, eigentlich den Hut ziehen. Es<br />

heißt, wie unverblümt ehrlich, - Paradies! <strong>ein</strong><br />

klimatisiertes natürlich.<br />

Aber dann beschert mit ausgerechnet Batman<br />

<strong>ein</strong>en unerwarteten Schimmer Hoffnung. Der<br />

kl<strong>ein</strong>e Junge, erklärter Batmanfan, trägt nichts<br />

lieber als die heldenhafte, schon arg<br />

mitgenommene, synthetische Batmanuniform.<br />

Noch passt das schwarze Cape <strong>und</strong> der goldene<br />

Gürtel, aber schon bald ist er daraus<br />

herausgewachsen. Darin batmant er jeden Tag<br />

auf s<strong>ein</strong>er Playstation rum. Geduldig lädt ihm die<br />

Großmutter das Programm immer wieder hoch.<br />

Bald wird er es selber machen. Vergnügt<br />

verkniffen schildert er mir zwischen zwei<br />

missglückten Drückern: Schau mal, <strong>und</strong> jetzt<br />

verwandelt er sich in <strong>ein</strong>en “Macaco arranha”,<br />

<strong>ein</strong>en Spinnen- oder Klammeraffen.” Er” ist das<br />

Ungeheuer, gegen das sich Batman, wild um sich<br />

schlagend, verteidigen muss.<br />

Ich gebe zu, dass ich im schauerlich verzerrten,<br />

metallfarbenen Monster k<strong>ein</strong>en Schimmer von<br />

<strong>ein</strong>em Klammeraffen ausmachen kann. Was mich<br />

aber unheimlich tröstet, ist die unglaubliche<br />

Fähigkeit <strong>und</strong> Unbekümmertheit des Jungen,<br />

etwas global Vorgegebenes, <strong>ein</strong> schauerliches<br />

Spiel mit noch schauerlicherer Ästhetik in s<strong>ein</strong>e<br />

ureigene, amazonische Umwelt <strong>ein</strong>zubeziehen.<br />

Batman zu integrieren, zu veramazonieren, ist<br />

wohl der <strong>ein</strong>zig logische Weg, der noch offen<br />

bleibt, auch mir, Ewiggestriger.<br />

So sei’s denn: Hoch lebe Batmans Spinnenaffe!<br />

Der sieht übrigens mit s<strong>ein</strong>en überlange, dick<br />

behaarten B<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>er grauslich<br />

überdimensionierten Spinne ziemlich ähnlich.<br />

Passt sicher gut zu Batmans Fledermaus!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 406


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 407


Die Bibliothek<br />

Vage nur die Erinnerung an das alte Haus. Es lag<br />

gleich um die Ecke des größten Shopping-Centers<br />

der Stadt. Das starke Türkis von den Regen<br />

ausgelaugt, verblichen, hätte es dringend <strong>ein</strong> paar<br />

Reperaturen gebraucht. Links <strong>ein</strong> Podest auf<br />

Straßenhöhe, der Käfer, postautogelb, nun schon<br />

mehr als zehn Jahre außer Verkehr.<br />

Ein seltsamer Bau, direkt über <strong>ein</strong>en Kanal<br />

gebaut. Man musste <strong>ein</strong> paar Stufen zum Haus<br />

hinuntersteigen, unterhalb das Niveau der Straße.<br />

Wie fast alle Häuser hier war es dunkel. Die<br />

weißen Fensterläden, der intensiv begangen <strong>und</strong><br />

befahrenen Straße zugewandt, blieben immer<br />

geschlossen. Es galt die Hitzen auszusperren. Das<br />

machte es feucht, was nur der überaus üppigen<br />

Tajá wirklich gefiel. In <strong>ein</strong>en enormen Topf direkt<br />

neben der Eingangstür gepflanzt, hob sich ihr<br />

dichtes Grün/Weiß w<strong>und</strong>erbar üppig vom Türkis<br />

der Hauswand <strong>und</strong> dem traditionellen Blutrot des<br />

Eingangs ab. Die Riesenblätter tiefgrün, das<br />

Blattinnere in unregelmäßigen Blattern dekorativ<br />

zwischen den weit verästelten weißen<br />

Blattnerven aufgeworfen. Der glatte Boden aus<br />

unregelmäßigen Kachelscherben, <strong>ein</strong> Stich<br />

Bohème, war <strong>ein</strong>gefasst mit <strong>ein</strong>em passenden<br />

Band schmalerer Kacheln. Zwei antike Korbstühle,<br />

<strong>ein</strong>er neben den anderen gestellt, luden zu <strong>ein</strong>em<br />

Schwatz mit Vorbeigehenden oder den Nachbarn<br />

<strong>ein</strong>. Letztere waren längst weggezogen, schon<br />

länger hatten die Straßenhändler sie abgelöst,<br />

angelockt als der Fortschritt Konsum hier um die<br />

Ecke Einzug hielt.<br />

Neben der Tür das Schild, leise vor sich hin alternd.<br />

Portugiesischunterricht . Hoch über der<br />

Eingangstür die billige Lithografie <strong>ein</strong>er Heiligen.<br />

Das Halbdunkel des Hauses durchdrungen vom<br />

Geruch nach Papier, nach Feuchtigkeit <strong>und</strong><br />

Schimmel, gut durchmischt mit Kollektionen gut<br />

genährter Schimmelpilze. Der Kanal, der unter<br />

dem Haus durchführte, machte sich besonders bei<br />

starken Wasserfällen bemerkbar. Dann brodelten<br />

<strong>und</strong> kochten die Wassermassen, rebellierten<br />

gegen ihre Gefangenschaft, suchten sich zu<br />

befreien. Schäumten schauerlich in den Toiletten,<br />

drückten das Wasser hoch, rumorten <strong>und</strong> ächzten<br />

im alten Geröhr. Gaben dem Haus <strong>ein</strong> tropisch<br />

unkontrollierbares Eigenleben.<br />

Portugiesisch, Sprachen überhaupt, waren s<strong>ein</strong>e<br />

Leidenschaft <strong>und</strong> Freude. Ein schmächtiger Mann,<br />

dürr, mit bräunlicher Haut, <strong>ein</strong> Caboclo. Jener<br />

Mischrasse, was er selber aber k<strong>ein</strong>em<br />

zugestanden hätte. Die hohen Backenknochen, die<br />

schmal-schlitzigen, dunklen Augen <strong>und</strong> die nur<br />

leicht krausen Haare, deren Schwarz k<strong>ein</strong> weißer<br />

Faden trübte, ließen k<strong>ein</strong>en Zweifel übrig. Von<br />

<strong>ein</strong>er guten Stelle in <strong>ein</strong>em Ministerium<br />

pensioniert, hatte er sich nie zum Heiraten<br />

durchgerungen. Lebte mit zweien s<strong>ein</strong>er<br />

Schwestern, beide so dünn wie religiös, auch sie<br />

unverheiratet. Eine ureigene, symbiotischen<br />

Welt, besonders seit sie, zum Hass <strong>und</strong> bösem<br />

Klatsch der ganzen restlichen Familie, die Tochter<br />

<strong>ein</strong>er ehemaligen Zugehefrau <strong>und</strong> inzwischen<br />

deren ganzer Clan adoptiert hatten. Die junge<br />

Frau war <strong>ein</strong>e wilde Mischung aus Ersatzkind,<br />

Pflegerin, Almosenempfängerin <strong>und</strong> Mädchen für<br />

alles. Beklagten sich alle drei abwechselnd <strong>und</strong><br />

immer hinter dem Rücken der anderen, über<br />

wechselnde Krankheiten <strong>und</strong> darüber, von der<br />

Familie vergessen worden zu s<strong>ein</strong>. Stöhnten über<br />

die Frechheiten, die sich die aufgehalste Familie<br />

herausnahm, um dann aber, gegen die Wand<br />

gestellt, sofort deren Partei zu ergreifen <strong>und</strong> alles<br />

abzustreiten.<br />

Die legendären hysterischen Krisen des Onkels, –<br />

die Nerven – wahre Delirien aus blinder Wut, mit<br />

denen er, starrköpfig wie er war, alles erreichte,<br />

was er wollte, durch die er s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Welt<br />

all<strong>ein</strong> um sich kreisen ließ, allen s<strong>ein</strong>en Willen<br />

aufzwang, habe ich nie erlebt. Vielleicht hatte<br />

das Alter s<strong>ein</strong>e Kräfte, <strong>und</strong> die Wut gleich dazu,<br />

unterminiert <strong>und</strong> ausgehöhlt, so dass ihr heute<br />

die explosive Kraft von ehemals fehlte.<br />

Gab es Besuch, buhlte er, der Onkel, den Bart<br />

ungemacht, auf dem Hemd <strong>ein</strong> paar Tropfen des<br />

im Mixer zerkl<strong>ein</strong>erten Mittagessens, trotz des<br />

fortgeschrittenen Alters ohne große<br />

Ges<strong>und</strong>heitsprobleme, sah man vom allergischen<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 408


Husten <strong>und</strong> Schnupfen ab, dessen ständigen<br />

Katarr er immer wieder hochzog oder auf der<br />

Straße eklig <strong>und</strong> unter starken Geräuschen<br />

ausspuckte, mit der Schwester, <strong>ein</strong> ebenso starker<br />

<strong>und</strong> dominierenden Charakter, um dessen<br />

un<strong>ein</strong>geschränkte Aufmerksamkeit. Schimpfte vor<br />

sich hin, beklagte sich, wärmte immer wieder aufs<br />

Neue kl<strong>ein</strong>e Alltagsprobleme auf. Die dritte<br />

Schwester, so unwichtig, ausgedörrt <strong>und</strong><br />

weichherzig wie <strong>ein</strong> Vögelchen, piepste nur hie<br />

<strong>und</strong> da <strong>ein</strong> Wörtchen. Sie litt an den Spätfolgen<br />

<strong>ein</strong>er schlecht verheilten Tuberkulose, an der<br />

auch andere Geschwister, über die man nie<br />

sprach, in jungen Jahren gestorben waren.<br />

Die Likörflaschen, an die sich nur s<strong>ein</strong> Neffe<br />

erinnerte, f<strong>ein</strong>ster „Marie Brizard“, waren längst<br />

vom Beistelltischchen verschw<strong>und</strong>en. Dem Onkel,<br />

<strong>ein</strong>em vorbildlichen Beamten der staatlichen<br />

Steuerbehörde, als Anerkennung oder fre<strong>und</strong>liche<br />

Bestechungsversuche geschenkt, staubten sie vor<br />

sich hin. Noch heute könne er den exquisiten<br />

Geschmack der Liköre auf der Zunge spüren.<br />

Besonders das Viererpack hatte es ihm angetan.<br />

Es war <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Flasche, die gleich vier<br />

verschiedene Liköre in vier ganz unterschiedlichen<br />

Farben in ihrem Glasbauch hütete. Cassis oder<br />

Groselha, Amaretto, Cacau <strong>und</strong> vielleicht Sirope<br />

de Menthe? So genau konnte er sich nicht mehr<br />

erinnern. Nur daran, wie er sich, alle drei hatten<br />

sich in die Hängematten zur mittäglichen Siesta<br />

zurück gezogen, <strong>ein</strong> Glas Likör <strong>ein</strong>goss <strong>und</strong> es<br />

zusammen mit <strong>ein</strong>em auch geschenkten Whiskey<br />

genüsslich schlürfte.<br />

Der Whiskey selber wurde zum Familiengag,<br />

immer wieder gern erzählt. Eines Tages drang <strong>ein</strong><br />

Dieb ins stille Haus <strong>ein</strong>. Unter den Schrecken der<br />

Bewohner mischte sich die Empörung des Onkels.<br />

Wie konnte es dem Dieb <strong>ein</strong>fallen, s<strong>ein</strong>en ganzen<br />

geschmuggelten <strong>und</strong> als Bestechungsversuch<br />

geschenkten Whiskey zu klauen, aber k<strong>ein</strong>es der<br />

ach so wertvollen Bücher aus der Bibliothek!<br />

Damit könne man doch so viel mehr anfangen!<br />

Intellektueller der Familie, war ihm die ganz von<br />

innen heraus kommende Faszination für Sprachen<br />

bis ins hohe Alter geblieben, im Speziellen für<br />

Esperanto, dessen Universum s<strong>ein</strong>e große<br />

Leidenschaft gehörte. Stolz verwies er darauf, in<br />

Brasilien <strong>ein</strong>er der Pioniere dieser Kunstsprache<br />

gewesen zu s<strong>ein</strong>! Entfaltete mit trockener Hand,<br />

die Nägel schlecht geschnittenen, <strong>ein</strong> angegilbtes<br />

Folletim: Hier waren alle s<strong>ein</strong>e Fre<strong>und</strong>e vom Club<br />

des Esperantos! Intellektuelle, auf der ganzen Welt<br />

verstreut, <strong>ein</strong> Pole, <strong>ein</strong> Peruaner, <strong>ein</strong>e Russin, die<br />

ihn aber, wie er immer <strong>und</strong> immer wieder<br />

betonte, alle mit offenen Armen empfangen<br />

würden, gleich morgen schon, falls es ihm<br />

<strong>ein</strong>fallen würde, sie zu besuchen. Zwar seien sie<br />

geografisch weit entfernt, sich aber im Geiste sehr<br />

nah, <strong>ein</strong>e verschworene Gesellschaft, ver<strong>ein</strong>t<br />

durch <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige universelle Sprache.<br />

Zudem sammelte er Wörterbücher, die er<br />

ausgiebig mit dem Ziel studierte, herauszufinden,<br />

was die Struktur der <strong>ein</strong>zelnen Sprachen<br />

mit<strong>ein</strong>ander verbinde. Ordentlich in Zettelkästen<br />

katalogisiert, legte er sich viele Karteikarten an,<br />

auf denen er die Logik der <strong>ein</strong>zelnen Sprachen<br />

mit<strong>ein</strong>ander verglich, im voll gestellten<br />

Studierzimmer im Erdgeschoß, der geliebten<br />

Bibliothek vorbehalten.<br />

Der Dicionère de Français stand gleich neben<br />

<strong>ein</strong>em deutschen Wörterbuch, <strong>ein</strong>em<br />

Lat<strong>ein</strong>ischen, <strong>ein</strong> Aurélio für Portugiesisch,<br />

Enzyklopädien, Regale <strong>und</strong> noch mehr Regale.<br />

Unzählige papierene Buchzeichen <strong>und</strong><br />

Merkzettel mahnten an frühere Entdeckungen<br />

<strong>und</strong> produktivere St<strong>und</strong>en. Dazu viel Literatur,<br />

auch <strong>ein</strong> Goethe, Notizen <strong>und</strong> immer wieder<br />

s<strong>ein</strong>e eigenen Recherchen, die zu veröffentlichen<br />

er k<strong>ein</strong>erlei Anstrengungen oder Mühen<br />

unternommen hatte. Alles hier versammelt,<br />

aufgetürmt, aufgestapelt, gelesen <strong>und</strong> wieder<br />

gelesen, voller Flecken, gealtert, von der Zeit<br />

vergilbt, irgendwie <strong>ein</strong>e Art riesiges, schlecht<br />

organisiertes Buchantiquariat. Ein <strong>ein</strong>samer<br />

Privatgelehrter, wovon auch die schwarze Brille,<br />

die er fast nie mehr aufsetzte, zeugte. Wenn es<br />

ihm endlich gelungen war, die Aufmerksamkeit<br />

des Besuchers auf sich zu lenken, trat sie in<br />

Aktion. Den mageren Rücken steil im Stuhl<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 409


aufgerichtet, schlug er <strong>ein</strong> knochiges Knie über<br />

das andere <strong>und</strong> nahm die Brille zur Hand. Klappte<br />

<strong>ein</strong> Brillenb<strong>ein</strong> sorgsam über das andere <strong>und</strong> legte<br />

sie sorgfältig vor sich auf den Tisch, bevor er zu<br />

<strong>ein</strong>em professoralen Monolog ansetzte. Da blieb<br />

sie aber nie länger als zwei Sätze liegen. Benutzte<br />

sie im ersten aufflackernden Feuer als<br />

Dirigentenstab, die sehnigen Hand ergriff sie,<br />

zusammengelegt, um s<strong>ein</strong>en Monolog zu<br />

verstärken, unterstrich da <strong>ein</strong> Wort, setzte da<br />

<strong>ein</strong>en Akzent. Sprach stolz <strong>und</strong> selbstsicher von<br />

s<strong>ein</strong>em Wörterbuch. Eine universelle Grammatik,<br />

die verschiedene Sprachen mit<strong>ein</strong>ander verglich,<br />

lebende <strong>und</strong> tote, an dem er gerade schrieb.<br />

Vom überladenen Beistelltischchen lud<br />

aufgedeckt die total veraltete Schreibmaschine<br />

zum Schreiben <strong>ein</strong>. Im geheimen aber hatte ihn,<br />

hochgebildeter Eremit, das vorgerückte Alter<br />

schon von allen weiterführenderen Ansprüchen<br />

befreit. Vielleicht hatte es gar nie wirklich in<br />

s<strong>ein</strong>em Interesse gelegen, anderen mitzuteilen,<br />

was er bei s<strong>ein</strong>en Recherchen herausgef<strong>und</strong>en<br />

hatte. Von ihm selber zwar immer vern<strong>ein</strong>t:<br />

Morgen schon werde er alles niederschreiben, die<br />

Veröffentlichung an die Hand nehmen, <strong>ein</strong>e<br />

Bestätigung für s<strong>ein</strong> Lebenswerk erhalten, jenes<br />

Wort nochmals nachsehen. An Ideen fehlte es<br />

nicht. Er litt aber an jener unentschiedenen<br />

Unternehmenslosigkeit, die <strong>ein</strong>em verführt, alles<br />

auf morgen zu schieben. K<strong>ein</strong> Chef, k<strong>ein</strong>e Familie<br />

oder Kollegen saßen voller Erwartung da, <strong>und</strong> so<br />

verschob er das Verschieben, verschob es auf<br />

später.<br />

S<strong>ein</strong>e trockene Hand voller heraus wuchernder<br />

Adern strich liebkosend immer wieder über s<strong>ein</strong><br />

Knie, wie wenn er <strong>ein</strong>er längst vergessenen<br />

Zärtlichkeit auf der Spur wäre. Die Geschichte vom<br />

unehelichen Sohn, den er gehabt haben wollte,<br />

glich eher <strong>ein</strong>em schlecht verhüllten, eher<br />

unwahrsch<strong>ein</strong>lichen Familienphantom.<br />

Geheimnisvoll irreal wie die Frauen, die er, die<br />

äußerst mysteriöse Aura verriet ihn, all<strong>ein</strong> zu dem<br />

Zweck erfand, die Aufmerksamkeit der Zuhörer<br />

un<strong>ein</strong>geschränkt an sich zu fesseln. Impertinent<br />

klatschten die Schwestern <strong>und</strong> die Fasttochter<br />

hinter s<strong>ein</strong>em Rücken. Schon sei wieder mehr als<br />

Dreiviertel der monatlich überwiesenen Pension<br />

<strong>ein</strong>fach verschw<strong>und</strong>en, direkt von s<strong>ein</strong>em Konto!<br />

K<strong>ein</strong>er konnte es sich erklären, weder dieses noch<br />

die anderen früheren Male, k<strong>ein</strong>er traf irgendwelche<br />

Maßregeln dagegen.<br />

Die ganze Familie weigerte sich, niemand wollte<br />

<strong>ein</strong>e der gefürchteten Nervenkrisen<br />

heraufbeschwören, in irgend<strong>ein</strong>er Weise darüber<br />

zu sprechen, das es mit Tod, Testament oder gar<br />

<strong>ein</strong>em letzten Willen oder Vermächtnis in<br />

Verbindung gebracht werden konnte. Das Thema<br />

berühren, hieß den Tod selber herbeizurufen.<br />

Starrköpfigkeit, die es vereitelte, <strong>ein</strong>e Schenkung<br />

der Bibliothek <strong>und</strong> ihres ganzen Inhaltes zu<br />

Lebzeiten vorzubereiten. Morgen schon<br />

wünschte er, süße Illusion, kl<strong>ein</strong>e Selbstbetrügerei,<br />

genau jenes Buch zu konsultieren,<br />

welches ja dann nicht mehr gleich zur Hand<br />

wäre. Schon seit sehr langer Zeit hatte er k<strong>ein</strong>s<br />

davon mehr angerührt, lebte vollständig<br />

zurückgezogen in s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Privatwelt, in der<br />

er ganz <strong>ein</strong>fach nichts verändert haben wollte.<br />

Nach s<strong>ein</strong>em plötzlichen, schmerzlosen Tod<br />

begann die Bibliothek, s<strong>ein</strong> Nachlass, <strong>ein</strong>e<br />

komplizierte <strong>und</strong> fast nicht enden wollende<br />

Reise.<br />

Eines Umzugs wegen, das Haus unter dubiosen<br />

Umständen verkauft, wurde sie ohne viel<br />

Umstände <strong>und</strong> Sorgfalt in Kartonschachteln<br />

verpackt <strong>und</strong> ausgelagert, dem Schimmel<br />

ausgeliefert, den „Traças“ <strong>und</strong> anderen kl<strong>ein</strong>en<br />

papierfressenden Tierchen, <strong>und</strong> der immer<br />

präsenten Feuchtigkeit - fehlte nur, dass die<br />

immer heftiger brodelnden Wasser sie<br />

davongetragen hätten. Lernte auf ihrer Odysee<br />

die unterschiedlichsten Aufbewahrungsplätze,<br />

<strong>ein</strong>er prekärer als der andere, kennen, wo sie,<br />

Maximum der Aufmerksamkeit, auf Druck <strong>ein</strong>es<br />

der Neffen hin <strong>und</strong> wieder mit Insektizid<br />

besprayt wurde. Die nicht wenigen Versuche, sie<br />

<strong>ein</strong>er öffentlichen Institution zu schenken,<br />

verliefen im Sande, besser in den<br />

unergründlichen Tiefen lokalen Bürokratie. Mal<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 410


war es fehlender Platz oder Mittel oder andere<br />

fre<strong>und</strong>liche Ausreden, die aber auch <strong>ein</strong>fach als<br />

fehlendes Interesse interpretiert werden<br />

könnten. Je schlechter der Zustand er Bücher,<br />

desto kräftiger die Argumente fehlender<br />

Fachkräfte, die sich mit der Restauration alter<br />

Bücher auskennen. Um <strong>ein</strong> Haar nur wäre sie<br />

aufgelöst worden, die <strong>ein</strong>zelnen Bücher an<br />

Buchantiquariate verkauft worden.<br />

Es ist der Sensibilität <strong>ein</strong>er Professorin aus São<br />

Paulo zu verdanken, sie absolvierte im Norden <strong>ein</strong><br />

Praktikum, dass die Bibliothek schlussendlich<br />

geschlossen in öffentliche Hände überging. Da<br />

wird sie, wer weiß, vielleicht <strong>ein</strong>es Tages gar<br />

entstaubt, aus ihrem Eremitendas<strong>ein</strong> befreit,<br />

restauriert werden, um von Neuem von jungen<br />

Leuten als Nachschlagewerk benutzt zu werden,<br />

auch in der Zeit des Internets! Sie gäbe dann der<br />

lokalen Gesellschaft <strong>ein</strong> Stück Vergangenheit<br />

zurück, was es erlaubte, auch die Zukunft besser<br />

zu verstehen.<br />

Als Nachtrag sozusagen, von <strong>ein</strong>em entfernten,<br />

angeheirateten Verwandten im Amtsanzeiger<br />

entdeckt, verheiratete die fast Adoptivtochter<br />

posthum den kl<strong>ein</strong>en, alten Mann mit ihrer<br />

Schwester. Die kam so, wie die Jungfrau zum Kind,<br />

zu <strong>ein</strong>er lebenslangen Pension. Wie die<br />

Familiensage geht, wollte k<strong>ein</strong>er gegen sie klagen.<br />

Und die bösen Zungen berichten, dass sich die<br />

zwei Schwestern entzweit hätten, <strong>und</strong> die falsche<br />

Geliebte des alten Onkels nun ganz all<strong>ein</strong> das<br />

sichere Geld durchbringe.<br />

kl<strong>ein</strong>er<br />

Partenon<br />

der Tempel der Erziehung<br />

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Der Portraitkult<br />

Ungezählte Augenpaare blitzen mir gleich beim<br />

Aus<strong>ein</strong>anderfalten der frischen, sozusagen<br />

jungfräuliche Lokalzeitung Beléms aus dem<br />

Kulturteil zu. Es ist Schul- <strong>und</strong> Uniabschlusszeit!<br />

Diplome, Auszeichnungen, <strong>Foto</strong>s, unendlich viele<br />

<strong>Foto</strong>s! Nach amerikanischem Vorbild ist es sich<br />

hier schon der simpelste Hauptschulabschluss<br />

wert, Zeitungsseite um Zeitungsseite mit endlos<br />

hinter<strong>ein</strong>ander gereihten Porträts zu schmücken.<br />

Seite um Seite voller fast identischer, identisch<br />

gestellten, zahnreihenentblößenden,<br />

zahnspangengeschmückten Lächeln, auch die<br />

Frisuren, besonders der Jungen, variieren kaum.<br />

Hintergründe, Kleidung <strong>und</strong> die verschnörkelten<br />

Rahmen wirken antiquiert, fast alle Abgebildeten<br />

haben die hohen Backenknochen, die leicht<br />

geschlitzten Augen <strong>und</strong> die seidig offenen<br />

Schnittlauchhaare der lokalen Bevölkerung. Alles<br />

was Rang <strong>und</strong> Namen hat, respektive Diplom<br />

erreicht, erobert oder erkauft hat, wird<br />

abgelichtet <strong>und</strong> vollfarbig gedruckt. Richtig<br />

aufwendig wird es, wenn die teuren lokalen<br />

Privatuniversitäten all ihre prunkvoll inszenierten<br />

Register ziehen <strong>und</strong> die Schüler neben dem<br />

öffentlichen Auftritt in der Zeitung auch<br />

prachtvolle Erinnerungsalben erhalten.<br />

Im mageren redaktionellen Teil der Zeitung<br />

andere Porträts. Vielleicht etwas weniger<br />

glänzend, aber genauso buntfarben <strong>und</strong><br />

aufmerksamkeit-heischend aufgenommen <strong>und</strong><br />

platziert, allerdings sozusagen unter gegenteiligen<br />

Vorzeichen. Der Lokalteil trieft von Blut. Erschöpft<br />

sich in Unfällen <strong>und</strong> Verbrechen. Es handelt sich<br />

k<strong>ein</strong>eswegs um <strong>ein</strong> unbekanntes Reißerblättchen.<br />

Ich lese die renommierteste Zeitung vor Ort!!<br />

Das zur Probe gekaufte Konkurrenzblatt gleicht<br />

ihm leider wie <strong>ein</strong> Ei dem anderen. Überall <strong>Foto</strong>s<br />

im schlimmsten, schreienden, sensationslüsternen<br />

Polizeireporterstil. Die Perspektiven sind<br />

abstoßend, vollfarbig, übelkeiterregend,<br />

ignorieren jegliche persönlichen Rechte, gehen<br />

<strong>ein</strong>deutig über die Schamgrenzen hinaus. Schon<br />

auf dem Titelblatt <strong>ein</strong> gestern Gemeuchelter. Die<br />

verdrehten Augen gaffend offen, hingestreckt in<br />

<strong>ein</strong>er schlammigen Wasserlache. Neben dem<br />

reglosen Körper dümpelt nutzlos <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zelne<br />

Plastiksandale. Die Nahaufnahme <strong>ein</strong>es<br />

Erstochenen, blutüberströmt, im Tod über die<br />

Ruinen <strong>ein</strong>er niederen Mauer gefallen. Ein<br />

Erschossener auf der nächsten Seite. Das Hemd<br />

<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger blutiger Brei, im eigenen, schon<br />

nachgedunkelten Blut zusammengebrochen. Dass<br />

es für sowas <strong>ein</strong> Publikum geben muss, dass Elend<br />

die Auflage erhöht, ist sicher, aber das hier bewegt<br />

sich unter der Schamgrenze.<br />

Beim nächsten Bild, das auch k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Detail<br />

beschönt, kommt, wohl des effektvollen<br />

Bildwinkels wegen, die dicht stehende Mauer<br />

Schaulustiger mit auf <strong>Foto</strong>. So <strong>ein</strong> richtig<br />

unglückliches Unglück, <strong>ein</strong> brutales Verbrechen,<br />

das <strong>ein</strong>em schauerliche Schauer das Rückgrat<br />

hinunterjagt, lässt sich halt k<strong>ein</strong>er, weder<br />

<strong>ein</strong>facher Gaffer noch gebildeter Zeitungsleser<br />

entgehen. Der Gesprächsstoff, auf tiefstem<br />

Stammtischniveau, ist damit für heute gesichert,<br />

denn wen würde das Elend <strong>und</strong> Leid der anderen<br />

nicht mit wohligen Schaudern anstacheln.<br />

Auf <strong>ein</strong>en anderen Porträtkult stoße ich im<br />

ehemaligen Rathaus, heute Lokalmuseum.<br />

Galerien mit endlosen Reihen Porträts, die<br />

ältesten in Öl, die ersten <strong>Foto</strong>grafien sorgfältig<br />

retuschierte <strong>und</strong> kolorierte Schwarz-Weißaufnahmen,<br />

Dreiviertelansichten, frontale Porträts<br />

wechseln sich ab. Es ist die Galerie der lokalen<br />

Bürgermeister, auch andere lokale Elite ist<br />

vorhanden, <strong>ein</strong> Baron, <strong>ein</strong> Gouverneur. In andern<br />

öffentlichen Gebäuden andere endlose Galerien:<br />

Generationen <strong>und</strong> Generationen der lokalen<br />

Elite, Bürgermeister, Gouverneure, Doktoren,<br />

Professoren, Studenten, Lehrer <strong>und</strong> komplette<br />

Schulklassen. Jahr für Jahr werden die soeben<br />

Diplomierten reproduziert, multipliziert,<br />

wiederholt, uniformiert hinten angefügt -<br />

Referenz, Erinnerung, Hommage, auf geduldiges<br />

<strong>Foto</strong>papier kristallisiert, verewigt. Goldene,<br />

feierlich gewichtige Rahmen betonen den<br />

bemerkenswerten Anlass.<br />

Schulabschlussporträt oder Gemeuchelter, ihre<br />

Porträts sind sich im Gr<strong>und</strong>e erschreckend<br />

ähnlich. Das allen zugängliche Medium <strong>Foto</strong><br />

erlaubt es, <strong>ein</strong>en besonderen Augenblick für die<br />

Ewigkeit <strong>ein</strong>zufangen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zufrieren mit dem<br />

Ziel, Status zu demonstrieren oder Schaudern,<br />

für <strong>ein</strong>en Tag nur oder für die Ewigkeit, ihre<br />

Porträts sind im Leben oder im Tod erschreckend<br />

menschlich, erschreckend identisch.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 417


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Paternal<br />

Komme aus <strong>ein</strong>em der wohl demokratisten<br />

Länder der Welt. Schlucke puncto Demokratie<br />

hier in Brasilien manche Kröten herunter, wie<br />

man auf Portugiesisch zu sagen pflegt. Die<br />

brasilianische Demokratie ist noch sehr jung. Was<br />

besonders hier im Norden vorherrscht, ist<br />

autoritärer Paternalismus. Wer mehr Macht,<br />

Geld, Einfluss oder <strong>ein</strong>e bessere soziale Stellung<br />

hat, bestimmt, was gut für alle anderen ist. Da<br />

finden wenige etwas dabei. Oder nur wenn es<br />

nicht sie selber betrifft. Auch der Zusammenhalt<br />

<strong>und</strong> das Vertrauen zu Personen, die nicht zur<br />

Familie gehören, ist sehr fragil.<br />

Besonders brisant wird es, wenn es um kl<strong>ein</strong>e<br />

Alltäglichkeiten geht. Denn die große Politik kann<br />

man sowieso nur von ferne mitverfolgen <strong>und</strong> je<br />

nach Gutdünken lamentieren. Die wird nach wie<br />

vor diktatorisch <strong>und</strong> zentralistisch von ganz oben<br />

gemacht. Welche Farbe die Regierung auch haben<br />

mag, sie wird den Leidtragenden <strong>ein</strong>fach<br />

aufgezwungen. Als Gegenleistung kommt der<br />

gute alte Assistenzialismus zum Zug. Der tauscht,<br />

mehr oder weniger verschleiert, Unterstützung,<br />

Geld, Privilegien gegen Wählerstimmen. Die<br />

neoliberale Mär vom nachhaltigen, wirklichen<br />

Fortschritt, der Arbeitsplätze bringt, ist noch nicht<br />

bis hierher oder da oben durchgedrungen.<br />

Vor <strong>ein</strong>er Weile konnte ich hautnah am eigenen<br />

Leib miterleben, was man hier unter Demokratie<br />

versteht. Nach <strong>ein</strong> paar Raubüberfällen hier im<br />

Touristenort schlossen sich verschiedene<br />

Instanzen zusammen <strong>und</strong> protestierten lautstark<br />

in den sozialen Medien für mehr Polizeischutz.<br />

Zeitgleich erhöhte die lokale Busgesellschaft den<br />

Fahrpreis. Wie sich die zwei Vorkommnisse dann<br />

in <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges, wirres Knäuel verstrickten, entzieht<br />

sich m<strong>ein</strong>er Kenntnis. Denn die Ideen <strong>und</strong><br />

Ansichten der beteiligten Parteien sind unver<strong>ein</strong>bar,<br />

stehen sich wie zwei Pole gegenüber. Auf<br />

der <strong>ein</strong>en Seite die, die für mehr Sicherheit<br />

kämpfen. Es sind die Hotelbesitzer, Seite an Seite<br />

mit Universitätsprofessoren <strong>und</strong> Zweithausbesitzern.<br />

Eine sozial priviligierte Klasse, die sich<br />

nur im absoluten Notfall, in <strong>ein</strong>er absoluten<br />

Notlage zu <strong>ein</strong>er Fahrt mit dem unklimatisierten<br />

Bus antut. Wer mit dem Bus fährt, sind die<br />

Hausangestellten, die Schulkinder, die<br />

Minderbemittelten <strong>und</strong> die ausländischen<br />

Aussteiger, die hier <strong>ein</strong> privilegiertes<br />

Althippieleben leben.<br />

Wie auch immer, der anfangs friedliche<br />

Bürgerprotest gipfelte in <strong>ein</strong>er Straßensperre.<br />

Gesperrt wurde praktischerweise die <strong>ein</strong>zige<br />

direkte Zufahrtsstraße zu unserem Touristenort.<br />

Verfolge die höchst emotional geführten<br />

Diskussionen in den modernen Kommunikationsmitteln.<br />

Hotelbesitzer/innen, Universitätsprofessor/innen,<br />

Mittelständer sind alle<br />

unisono Feuer <strong>und</strong> Flamme für die Blockade.<br />

Jeder behilft sich auf s<strong>ein</strong>e Weise. Die<br />

Universitätsprofessoren/innen erlassen ihren<br />

Studenten die Vorlesung. Die Straße ist ja<br />

gesperrt. Die meisten der Übrigen fahren zwar,<br />

mit dem eigenen Auto natürlich, gar bis zur<br />

Blockade, denn die Busse wenden <strong>ein</strong>, zwei<br />

Kilometer vor der Barrikade, <strong>und</strong> holen da ihre<br />

Hausangestellten ab, die natürlich mit dem Bus<br />

kommen <strong>und</strong> die Blockade dann zu Fuß<br />

umgehen. Man kann ihnen aber nicht zumuten,<br />

die Kilometer bis zum Dorf zu Fuß zu gehen. Nur<br />

<strong>ein</strong> paar ganz überzeugte legen die weite Strecke<br />

wirklich zu Fuß zurück, <strong>ein</strong>ige gar mit Gepäck.<br />

Alle sprechen den da versammelten streikenden<br />

argentinischen Hippies ihre totale Unterstützung<br />

aus. Wer unbedingt in die Stadt muss, die Kinder<br />

müssen in die Privatschule, nimmt <strong>ein</strong>en riesigen<br />

Umweg in Kauf oder bezahlt <strong>ein</strong> Taxi, oder besser<br />

zwei, <strong>ein</strong>s bis zur Blockade, das andere hinter der<br />

Blockade. Die Angst, dass <strong>ein</strong> Bus angezündet<br />

werden könnte, ist zu groß. Die Straßensperre<br />

dauert. Im kl<strong>ein</strong>en Weiler gibt‘s bald k<strong>ein</strong> frisches<br />

Gemüse mehr. Die Straße bleibt zwei, drei Tage<br />

gesperrt <strong>und</strong> auch nachts campen die<br />

Streikenden <strong>und</strong> lassen k<strong>ein</strong>en durchs Nadelöhr.<br />

Die Wogen gehen hoch, schlagen höher. Immer<br />

neue, immer polemischere Nachrichten kommen<br />

übers Handy. Sie werden die Straße nur öffnen,<br />

wenn der Bürgermeister persönlich mit ihnen<br />

spreche. Und der ziert sich, weicht dem<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 419


Kräftemessen aus, <strong>ein</strong> Machtspiel. Die<br />

Hotelbesitzerin bangt nun schon um ihre<br />

Feriengäste, die ihre Reservierungen stornieren.<br />

Bis mir dann <strong>ein</strong>e banale Frage im Hand den Kopf<br />

vollends durch<strong>ein</strong>ander bringt. Jemand schreibt:<br />

„Wer wird denn nun eigentlich mit dem<br />

Bürgermeister sprechen, wenn er schlussendlich<br />

kommt?“ Die prompte Antwort ist kurz <strong>und</strong><br />

bündig: „As lideranças“. Die Leader. Upps. Da<br />

zieht sich der Knopf in m<strong>ein</strong>em Kopf noch mehr<br />

zu. Zuerst verbieten sie mir, zu kommen <strong>und</strong><br />

gehen wie ich will. Und nun gibt‘s gar Leader?<br />

Namenlose, gesichtslose Leader! Gehören sie zu<br />

<strong>ein</strong>er Partei? Welche Ideale haben sie? Wofür<br />

stehen <strong>und</strong> kämpfen sie? K<strong>ein</strong>er versteht m<strong>ein</strong>en<br />

Knopf im Kopf.<br />

Der Satz, <strong>ein</strong> zufällig hingeworfener Satz, fällt am<br />

nächsten Tag. Es ist <strong>ein</strong>e Gesprächsr<strong>und</strong>e mit den<br />

unterschiedlichsten Personen. –“Ja, später muss<br />

ich noch weg. Die „Liderança“, die mit dem Schiff<br />

kommt, ist verspätet.“ – Der Knopf im Kopf wird<br />

noch größer. Noch <strong>ein</strong>e namenlose, kopflose,<br />

identitätslose „liderança“. M<strong>ein</strong> Gesprächspartner<br />

kennt sie nicht, weiß nur, dass <strong>ein</strong> Leader<br />

unterwegs ist, von weit her, von den letzten<br />

indigenen Stämmen, die hier mithilfe verschiedener<br />

NGO um ihre Rechte kämpfen. Der selbe<br />

Gesprächspartner ist Ausländer. Arbeitet hier im<br />

Prol der Indigenen, finanziert mit <strong>ein</strong>em<br />

Stipendium der Nacional Geografic Society.<br />

Zum Schluss ist es <strong>ein</strong> gescheiter Anthropologe,<br />

der mir auf die Sprünge hilft. Wozu <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fache<br />

Preiserhöhung <strong>ein</strong>er Buspassage doch gut ist….<br />

Hier s<strong>ein</strong>e Erklärung: Einzelnen Gruppen der<br />

indigenen Bevölkerung ist das Konzept der<br />

Leadership, <strong>ein</strong>es Leaders, <strong>ein</strong>es Chefs, fremd.<br />

Indigenen Gruppen haben k<strong>ein</strong>en Chef im Sinne,<br />

wie wir es verstehen. Je nach Situation wird aus<br />

dem Moment heraus <strong>ein</strong> Leader bestimmt. Im<br />

Kontakt mit den „Weißen“ zum Beispiel, kann es<br />

jemand s<strong>ein</strong>, der ihre Sprache spricht <strong>und</strong> versteht<br />

wie die ticken. Zudem gibt es noch das<br />

Sicherheitsrisiko. Zu viele Leaders, allen voran<br />

Chico Mendes <strong>und</strong> Irmão Dorothy Stang wurden<br />

hier gleich um die Ecke meuchelmörderisch<br />

gemordet. Das sitzt tief <strong>und</strong> viele ziehen deshalb<br />

die Anonymität vor. Es gibt auch geteilte<br />

Leadership, je nach Erfordernissen der Situation.<br />

Was hier nun teilweise zutrifft. Vielleicht ist es<br />

aber auch <strong>ein</strong>e clevere <strong>und</strong> freie Neuinterpretation,<br />

die die ganze komplexe Vergangenheit<br />

mit<strong>ein</strong>bezieht.<br />

Eine andere Facette m<strong>ein</strong>es Problems beleuchtet<br />

<strong>ein</strong> Artikel, der über das Phänomen spricht, dass<br />

die Brasilianer generell schlecht über ihre zivilen<br />

Rechte <strong>und</strong> Pflichten informiert sind. Es sch<strong>ein</strong>t<br />

mir glaubhaft, dass Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> Politik<br />

verwechselt werden, verständlich in <strong>ein</strong>em Staat,<br />

der <strong>ein</strong>e sehr junge Demokratie hat. Aus bitterer,<br />

erlebter Erfahrung misstraut man hier dem Staat<br />

von Gr<strong>und</strong> auf. Bis die Idee, dass Brasilien <strong>ein</strong>e<br />

Demokratie ist, auch in den hintersten Winkel<br />

des Landes gedrungen ist, dauert es wohl noch<br />

etwas. Inzwischen bedient man sich bewährter,<br />

alter Strukturen.<br />

Ach, der Buspreis wurde nur <strong>ein</strong> wenig erhöht.<br />

Die Straße ist wieder frei <strong>und</strong> die Raubüberfälle<br />

konzentrieren sich nun auf den Linienbus oder<br />

das Postamt. Die guten alten Zeiten, wo alle ihre<br />

Haustüre Tag <strong>und</strong> Nacht offen ließen sind wohl<br />

auch hier gezählt. Die Gewaltspirale hat nun, wie<br />

zu erwarten, auch das Ende der Welt erreicht.<br />

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Abends auf dem Kirchplatz<br />

Schon dunkelt die Nacht. Fällt schnell wie <strong>ein</strong><br />

Vorhang, wir sind nah beim Äquator. Die Hitze<br />

heizt weiter. Verschnaufpausen sind nicht<br />

<strong>ein</strong>geplant. Trotzdem beginnt sich das <strong>ein</strong>fach<br />

gezimmerte, überlange Holzbänkchen vor der<br />

Kirche zu füllen. Bedächtig schaut noch <strong>ein</strong>er auf<br />

<strong>ein</strong>en Schwatz vorbei. Die bloßen Füße in<br />

Zehensandalen, Bermudas <strong>und</strong> T-Shirts so weiß<br />

wie das schlohfarbene Haar.<br />

Es sind gutnachbarliche Dorfgespräche, an denen<br />

auch viele Kinder teil nehmen. Auch im<br />

Halbdunkel markiert die Kirche Präsenz, stark <strong>und</strong><br />

fest, auch wenn sie mit ihrer flachen, rechteckig<br />

schmucklosen Fassade mehr an <strong>ein</strong>e Theaterkulisse<br />

erinnert, oder <strong>ein</strong> Potemkinsches<br />

Gotteshaus. Einzig die beiden streng<br />

quadratischen Türme, die von zwei kl<strong>ein</strong>en<br />

Kuppeln mit je <strong>ein</strong>em Kreuz abgeschlossen<br />

werden, brechen die Eindimensionalität. In sie<br />

sind hoch oben vier kl<strong>ein</strong>e R<strong>und</strong>bogen<br />

geschnitten, die sich am Fuß derselben, hier<br />

allerdings mit Fensterläden, wiederholen. Sie sind,<br />

wie das Mittelportal mit den blauen Türblättern,<br />

das die strenge Fassade dominiert, blau<br />

<strong>ein</strong>gefasst. Das blaue Band läuft um die ganze<br />

Kontur der Kirche, hoch bis zu den Türmen, teilt<br />

das Fries zwischen den Türmen mit <strong>ein</strong>er<br />

waagrechten Linie ab. Zu besonderen Feiertagen<br />

zeichnen Lichterketten die simple Silhouette nach<br />

oder bunte Fähnchenreihen fächern sich<br />

<strong>ein</strong>ladend von ihrem Eingang her auf. Der Fuß der<br />

Kirche ist <strong>ein</strong>en halben Meter hoch blau<br />

gebändert, <strong>ein</strong> schöner Kontrast gegen den<br />

weißen Kalk der Mauern. Einfachheit <strong>und</strong> rustikale<br />

Eleganz, welche klar maurischen Einfluss verraten,<br />

in ihrer Zweidimensionalität an <strong>ein</strong>en Scherenschnitt<br />

erinnern. Zu schwer, zu wenig beflügelt<br />

<strong>und</strong> aufgekratzt, um sich in die Kategorie der<br />

brasilianischen Barrockkirchen <strong>ein</strong>zureihen.<br />

Zwischen den Türmen, über der blauen Linie, <strong>ein</strong><br />

spitz zulaufendes, abger<strong>und</strong>etes Fries. Es läuft<br />

leicht gewellt in <strong>ein</strong>er flachen Spitze aus, auf dem<br />

<strong>ein</strong> weiteres Kreuz thront. Wie <strong>ein</strong> großer,<br />

hochschmaler M<strong>und</strong> dominiert das majestätische<br />

Eingangsportal die Fassade, hier von <strong>ein</strong>em<br />

halbr<strong>und</strong>en Bogen überspannt. Rechts <strong>und</strong> links,<br />

schon in den Ecktürmen, noch zwei Fensterlöcher,<br />

fast über das Eingangstor geklebt, zwei blicklose<br />

Augen, noch zwei blinde Fensterchen.<br />

Die Strenge der Linien wird durch die Schlichtheit<br />

des Dorfplatzes, auf den sie ohne Formalitäten<br />

gestellt wurde, noch unterstrichen. K<strong>ein</strong> Grün,<br />

k<strong>ein</strong>e Palmen, k<strong>ein</strong> Schmiedeeisen verschwendet,<br />

um ihr etwas Herrschaftlichkeit zu verleihen. Nur<br />

<strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>fache Treppenstufen führen ins<br />

Gotteshaus hinauf.<br />

Ursprünglich <strong>und</strong> bodenständig ist sie, so wie das<br />

Bänkchen, nächtliches Zentrum <strong>und</strong> Treffpunkt der<br />

Einwohner, an <strong>ein</strong>em jener ungezählten Tage in<br />

<strong>ein</strong>em jener abgelegenen, amazonischen Dörfer,<br />

von der Moderne noch fast unberührt -<br />

paradiesisch, bis <strong>ein</strong>em das Handy, das<br />

Fernsehprogramm oder der Computer wieder in<br />

die Realität zurückholen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 426


Zu Ostern “Malhar o Judas”,<br />

<strong>ein</strong>en Judas zum Verprügeln<br />

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Glaubensbekenntnisse<br />

Lese, lese noch <strong>ein</strong>mal, <strong>ein</strong> drittes Mal, ohne zu<br />

verstehen. „100 ele 100 chance“. Aha, da fällt der<br />

Groschen: die Aussprache der Zahl h<strong>und</strong>ert ist<br />

identisch mit ohne. Also: „Ohne ihn, ohne<br />

Chance!“ Gott, oder wenigstens s<strong>ein</strong> Name, ist,<br />

nicht nur hier im Norden, in aller M<strong>und</strong>e. Und das<br />

nicht nur, weil das Land ursprünglich<br />

hochkatholisch war. Faszinierend, dass <strong>und</strong> wie<br />

man das jederzeit <strong>und</strong> jedem K<strong>und</strong> tun muss... .<br />

Seien Sie also nicht erstaunt, wenn Ihnen beim<br />

Abschied <strong>ein</strong> – „So Gott will!“ – (Se Deus quiser)<br />

gewünscht wird. – „Um der Liebe Gottes / Gottes<br />

Liebe wegen“ – (Pelo amor de Deus) - „Gott<br />

befreie mich (davon)“ (Deus me livre) – „Gott ist<br />

gerecht/groß“ – (Deus é justo/grande) <strong>und</strong> viele<br />

andere Aussprüche mit Ausrufezeichen sind nicht<br />

nur den evangelikalen, gottesfürchtigen<br />

Gottessöhnen so geläufig, wie sich gegenseitig<br />

Schwester <strong>und</strong> Bruder im Glauben zu nennen.<br />

N<strong>ein</strong>, sie verstopfen sich gegenseitig <strong>und</strong> oft auch<br />

den anderen die Mailbox mit süßlichen Gebeten<br />

<strong>und</strong> Botschaften. Auch in der katholischen Kirche<br />

empfängt man heute den Segen modernerweise<br />

mit ausgestrecktem Arm. Nach den Messen, auch<br />

der katholischen, umarmen sie die Umstehenden,<br />

schließen Wildfremde, die sie nie mehr<br />

sehen werden, warm in den Arm. Alle sind durch<br />

den Kult zu Mitbrüdern <strong>und</strong> Mitschwestern<br />

geworden, Mitchristen. - W<strong>und</strong>erschön, wenn<br />

sich diese Ideen auch wirklich im Alltag<br />

durchsetzen würden, nicht leere Worthülsen oder<br />

schale Umarmungen blieben, sondern von Taten<br />

begleitet würden.<br />

Dass die Tage der allgegenwärtigen katholischen<br />

Kirche gezählt sind, wird jedem, der nicht<br />

wegschaut, bald klar. Gab es früher im<br />

hochkatholischen Brasilien viele Spiritisten, so<br />

sch<strong>ein</strong>t es nun, als ob mächtige evangelische<br />

Wellen das Land überrollten. Wie Pilze schießen<br />

die verschiedensten evangelikalischen<br />

Sektenkirchen aus dem sch<strong>ein</strong>bar überaus<br />

fruchtbaren Boden. Die religiöse Mobilität ist<br />

be<strong>ein</strong>druckend. Heute sind drei von 10<br />

Brasilianern Anhänger <strong>ein</strong>er evangelischen<br />

Strömung. Nicht nur, dass Gott nach der<br />

alttestamentlichen Auffassung vieler Sekten s<strong>ein</strong>e<br />

Anhänger mit materiellem Wohlstand segnet.<br />

Praktischerweise gibt es auch im verlassensten<br />

Dorf am hintersten Flusslauf <strong>ein</strong>en passenden<br />

Tempel mit regelmäßigen Gottesdiensten, alle<br />

natürlich, wie von allen evangelikalen Kirchen<br />

praktiziert, vom Zehnten Teil des Einkommens der<br />

Gläubigen errichtet. Dazu wird gesungen, der<br />

Teufel ausgetrieben <strong>und</strong> manche Leute fallen in<br />

Trance.<br />

Eine der evangelikalischen Kirchen, hier im Norden<br />

besonders stark <strong>und</strong> prominent vertreten, ist die<br />

„Assembleia de Deus“. Sie wurde 1911 von zwei<br />

schwedischen Missionaren, Gunnar Vingren <strong>und</strong><br />

Daniel Berg in Belém, Pará, gegründet. Ehemalige<br />

Mitglieder der Baptistenkirche, waren sie<br />

Anhänger <strong>ein</strong>er Doktrin, der es eigen war, währen<br />

des Gottesdienstes “in Zungen” zu sprechen. Im<br />

hochemotionellen Brasilien kommen solche<br />

mythischen, transzendentalen Vorstellungen gut<br />

an. Die mächtige, heute weltweit verzweigte<br />

„Assembleia de Deus“, oder besser ihre<br />

Anhänger, verfügen derzeit auch über <strong>ein</strong>e<br />

starke Lobby in der brasilianischen Politik.<br />

Stellten <strong>und</strong> stellen gar die von der ganzen<br />

brasilianischen Mittelklasse als Alternative<br />

umjubelte Präsidentschaftskandidatin Marina<br />

Silva.<br />

Und so sammle ich weiter. Vor allem in weniger<br />

begüterten Vierteln stößt man an jeder Ecke auf<br />

<strong>ein</strong>en aus Spendengeldern, beileibe nicht nur der<br />

Zehnte wird abgeliefert, hochgezogen Tempel: -<br />

Gottes Versammlung - Der Göttliche Garten - <strong>ein</strong><br />

religiöser Kindergarten - die Spirituelle<br />

Kongregation Jesu - das Projekt der<br />

Evangelisierung zu Gottes Glorie - die<br />

Missionarische Promotion für Leben <strong>und</strong> Frieden<br />

- sind nur <strong>ein</strong>ige, schlecht übersetzte Namen von<br />

Kirchen, oder besser Sekte+n, die mir vor die<br />

<strong>Foto</strong>linse gekommen sind. Verwischen,<br />

vertuschen, echt brasilianisch tolerant, auch die<br />

religiösen Grenzen <strong>und</strong> Dogmen. Lassen mich gar<br />

im Zweifel. Glauben sie nicht alle an <strong>ein</strong> <strong>und</strong> den<br />

selben gütigen Gott?<br />

Der religiöse Ladenbesitzer jedenfalls verkündet<br />

jedem, der es lesen will: - „Beim Her<strong>ein</strong>kommen<br />

wird Gott dich beschützen, beim Weggehen wird<br />

Gott dich begleiten.“ Der Besitzer des Bootes<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 430


schreibt es gleich doppelt an den mächtigen Kiel:<br />

- „Glaube an Gott I“ – <strong>ein</strong> paar Schiffe weiter, in<br />

blauen Großbuchstaben r<strong>und</strong> ums Oberdeck<br />

gepinselt: - „Dank Dessen, der mich stärkt, ist alles<br />

möglich“ -. Auch das mächtige Linienschiff kündet<br />

verkaufsträchtig, dass Christus s<strong>ein</strong> General sei.<br />

Der kl<strong>ein</strong>e Marktstand, heute geschlossen,<br />

bestätigt in dicken schwarzen Lettern auf<br />

goldgelbem Gr<strong>und</strong>: - „Er lebt“ – „Wer glaubt, wird<br />

Gottes Glorie sehen - Kaufe <strong>und</strong> verkaufe<br />

Handys.“ Ähnliche Sprüche künden von vielen<br />

Autos, Taxis <strong>und</strong> Motorrädern. Die bedürfen<br />

Gottes Schutz ganz besonders. Frontscheiben<br />

zitieren: Will es der Herrgott so, macht er es auch.<br />

Der gläubige Motorradfahrer verlässt sich gar auf<br />

Jesus Energie, von zwei Batterien gespendet.<br />

Leicht surreal nur die unerwartete Kombination<br />

auf der Heckscheibe: – „Jesus, das Geheimnis<br />

m<strong>ein</strong>es Erfolges! – Zu verkaufen“- , womit<br />

natürlich nur da Auto gem<strong>ein</strong>t ist. Auch für den<br />

Besitzer der immer voll ausgebuchten<br />

Autowaschanlage, praktischerweise da an den<br />

Kais in <strong>ein</strong>er Bretterbude auf den Fluss hinaus<br />

gebaut, ist Christus die <strong>ein</strong>zige Hoffnung. Sie<br />

lechzen nach <strong>ein</strong>em kühlen Wasser? Da drüben,<br />

gleich neben dem Markt, ist die Neue Bar -<br />

Glauben an Gott -.<br />

Leider beschränken <strong>und</strong> erschöpfen sich auch<br />

diese Sekten, so weit ich es beurteilen kann, allzu<br />

oft im f<strong>und</strong>amentalistischen Ab- <strong>und</strong> Ausgrenzen.<br />

Schließen all jene aus, die Nicht-wie-sie-glauben.<br />

Lassen all die Draußen-Gebliebenen, die nicht<br />

Auserwählte direkt in die hölligste Hölle fahren,<br />

auf ewig verdammt. Gottes Reich, voller<br />

Wohlstand, ist leider, leider, wie gerecht <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>zigartig, nur den Rechtgläubigen vorbehalten.<br />

Wer ihren Kulten mit laut schreienden, in Trance<br />

verfallenden, vom Teufel befreiten Massen in Tag<br />

<strong>und</strong> Nacht anhaltenden Litaneien verkündet <strong>und</strong><br />

via Radio <strong>und</strong> Fernsehen mediengerecht ins Haus<br />

geliefert, erwartet nur das Allerschlimmste.<br />

Wage in k<strong>ein</strong>er Weise zu bezweifeln, dass Ex-<br />

Voten <strong>und</strong> bezahlte Versprechen, die in der<br />

katholischen Kirche bis heute ihren Platz haben,<br />

den Gläubigen wirkliche Hilfe bringen. Zu viel<br />

echten Glauben <strong>und</strong> Schilderungen von erfahrener<br />

<strong>und</strong> durch Banner k<strong>und</strong> getaner Erleichterung<br />

oder Hilfe habe ich gesehen. Geht es allerdings<br />

ums Gem<strong>ein</strong>wohl, um echten Dienst am Nächsten,<br />

so sind es interessanterweise auch in diesen<br />

Kirchen die anderen, die Regierung, der Staat, die<br />

die großen, die wirklichen <strong>und</strong> weltlichen Problem<br />

lösen sollen. Die anderen, die löst jeder, mit<br />

Gottes Hilfe natürlich, nur für sich <strong>und</strong> für s<strong>ein</strong>e<br />

Familie.<br />

Da, an der Ecke, ist das <strong>ein</strong>e neue Diskothek? N<strong>ein</strong>,<br />

die verm<strong>ein</strong>tliche Diskokugel ist die Welt, die von<br />

schützenden Händen umspannt wird. Noch <strong>ein</strong><br />

Tempel. Vielleicht liegt gerade in dieser<br />

Konsumierbarkeit, diesem religiösen<br />

Selbstbedienungsladen, der für jeden etwas<br />

schillernd Farbiges bereit hat, der<br />

flächendeckende Erfolg dieser Heilsbringer, die<br />

besonders in den bedürftigen Schichten viele <strong>und</strong><br />

noch mehr Anhänger finden. Austauschbarkeit<br />

spricht auch aus den billigen Plastikanhängetaschen,<br />

in denen die Jungen ihre<br />

Sportsachen mittragen. Auf der <strong>ein</strong>en, der roten<br />

steht: - Jesus Christus gestern heute <strong>und</strong> für<br />

immer – gleich daneben hängt das selbe Modell in<br />

Schwarz. Die Aufschrift? Playboy.....<br />

Die Frau mit dem schneeweißen Haar jedenfalls,<br />

sie ist soeben nach <strong>ein</strong>er längeren Schiffsreise aus<br />

dem Hinterland angekommen <strong>und</strong> lässt sich vom<br />

jungen Mann mit dem muskulösen Oberkörper im<br />

schrillen, ärmellosen Shirt über den Hühnersteg<br />

aus dem Schiff lotsen, trägt zwar noch die Jungfrau<br />

Maria gleich auf dem Herzen <strong>und</strong> überlebensgroß<br />

auf ihrem langen Oberteil, aber vielleicht ist auch<br />

sie schon zu ihnen übergelaufen. Oder ganz<br />

brasilianisch – huldigt allen, den katholischen, den<br />

protestantischen <strong>und</strong> den vielen anderen Göttern<br />

<strong>ein</strong> wenig.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 431


Noch mehr Glaubenssachen<br />

Der Bus von 9h00 ist sehr gut besetzt. Ergattere<br />

den allerletzten Sitzplatz. Sonst hätte ich mich<br />

wohl die nächsten dreiviertel St<strong>und</strong>en im Stehen<br />

durchschaukeln lassen müssen.<br />

Statt <strong>ein</strong>zunicken, bew<strong>und</strong>ere ich gerade die<br />

lokale Mode. Lese auf dem vollsynthetischen Shirt<br />

der Frau vor mir im Bus, fast sitzt sie mir auf dem<br />

Schoß: «Die Vergangenheit wieder aufleben zu<br />

lassen ist unsere Zukunft«. Das Motto von<br />

indigenen Grafismen <strong>und</strong> Sätzen in <strong>ein</strong>er der<br />

indigenen Sprachen unterstrichen.<br />

Gerade ist <strong>ein</strong>e Frau in geblumt-gestreift<br />

assortiertem, auf den Körper geklebten<br />

Zweiteiler, Bluse <strong>und</strong> Leggins, <strong>ein</strong>gestiegen, als<br />

sich die Türen wieder schließen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Mann sich<br />

im Mittelgang aufbaut. Als er s<strong>ein</strong>e Stimme<br />

erhebt, <strong>und</strong> uns alle anspricht, bin ich sicher, dass<br />

die Reihe nun an mir ist. Auch mich muss es ja<br />

irgendwann erwischen. Ein Überfall. Wie gut, dass<br />

ich m<strong>ein</strong>en Computer vorsorglich in <strong>ein</strong>e<br />

unauffällig recycelte Mehlsacktasche steckte. Und<br />

das Glas m<strong>ein</strong>es Handys ist auch zerbrochen.<br />

Zu m<strong>ein</strong>er Überraschung überfällt er aber nur<br />

unsere Seelen. In jeden zweiten Satz lässt er das<br />

Wort Jesu <strong>ein</strong>fließen. Verspricht, dass alle unsere<br />

Sünden, <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>gestanden, im ewigen Meer<br />

des Vergessens versinken werden, gnädig von<br />

Ihm, dem Allergütigsten vergeben. Dazwischen<br />

bittet er alle, die ihm mehr oder weniger freiwillig<br />

zuhören, um beifallendes Klatschen, was auch<br />

sogleich von drei oder vier Passagieren gezollt<br />

wird. Einer wird dabei fast zu Boden gerissen. Der<br />

Bus fährt gerade schwungvoll in <strong>ein</strong>e Kurve. Gott<br />

sei Dank kleben die Passagiere so eng auf<strong>ein</strong>ander,<br />

dass ihm nichts passiert. Vielleicht hat er aber<br />

auch s<strong>ein</strong> Leben vorsorglich in Gottes Hand<br />

gelegt…. . Noch <strong>ein</strong>e Glaubenssache halt.<br />

Bei der Kirche vom <strong>Foto</strong> unten, die „Kirche<br />

der weltweiten Kraft Gottes“ oder so,<br />

findet gerade <strong>ein</strong> Groß-R<strong>ein</strong>emachen<br />

statt, inklusive Gummischlauch <strong>und</strong> sehr<br />

viel Wasser <strong>und</strong> Seife.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 432


Der Ur-Zaun<br />

Primitiv, <strong>ein</strong>e Art Ur-Zaun, die dicht an dicht<br />

gefügten Hölzer gefährlich schieflastig, von<br />

tausend Sonnen bis aufs Mark getrocknet <strong>und</strong><br />

durchgelaugt, von ebenso vielen Regen<br />

silberaschgrau sauber <strong>und</strong> glänzendglatt bis aufs<br />

Essenzielle runter gewaschen, bis zur Seele des<br />

Steckens gedörrt <strong>und</strong> vom Alter schief <strong>und</strong><br />

brüchig, bilden sie, <strong>ein</strong>s endlos hinter das nächste<br />

gereiht, Pfahl folgt Pfahl, Ast schmiegt sich an Ast,<br />

alle <strong>ein</strong>e Handbreit in die arme, sandige Erde<br />

getrieben, <strong>ein</strong>e Art Vorhang, <strong>ein</strong>e improvisierte,<br />

behelfsmäßige Holzmauer r<strong>und</strong> um den Besitz.<br />

Still vor sich hin rottend, vergessen, von<br />

tausenden Flechten <strong>und</strong> Pilzen bewohnt,<br />

überleben irgendwo auf im Hinterland noch<br />

<strong>ein</strong>ige von ihnen, alle in der so antiken Technik<br />

zusammengefügt. Stock für Stock mehr oder<br />

weniger zwei Finger dick, Ast neben Ast, Stamm<br />

an Stamm grob auf Überarmlänge<br />

zurechtgehackt, dickere <strong>und</strong> f<strong>ein</strong>ere, <strong>ein</strong>er wie<br />

der andere schlecht entbastet <strong>und</strong> entrindet,<br />

voller seitlich herausstechender Stümpfe, Knoten,<br />

Verzweigungen, aus wiederverwertetem Unter<strong>und</strong><br />

Abfallholz, aus allem, was so herumliegt, sich<br />

<strong>ein</strong>igermaßen zurechtschneiden <strong>und</strong> brechen<br />

lässt, zusammengefügt. Kompakt <strong>und</strong><br />

<strong>und</strong>urchlässig lassen sie weder Blick noch Tier<br />

hin<strong>ein</strong> oder hinaus. Da, da vorne, unterbricht <strong>ein</strong><br />

Eingangstor, auf die selbe, elementar <strong>ein</strong>fache<br />

Weise zusammengeschustert, endlich, die<br />

Klausur, das Abgeschottet-, das<br />

Ganz-für-sich-s<strong>ein</strong>. Zum Öffnen oder Schließen<br />

muss man etwas nachhelfen, das <strong>ein</strong>e Ende etwas<br />

hochheben, hier etwas anstoßen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

zu sich her ziehen, immer gut festhalten <strong>und</strong> schon<br />

ist der Weg frei. Nach dem Zurückschwingen nur<br />

noch den improvisierten Drahtring über den<br />

stämmigen Eckpfahl ziehen.<br />

Seitenwechsel. Man ist nun drinnen, beschützt,<br />

oder draußen, ausgegrenzt, ganz wie es <strong>ein</strong>em<br />

beliebt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 433


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 434


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 435


Bettwäsche<br />

Sie heißt Marinette <strong>und</strong> ist überaus effizient. Sie<br />

kommt morgens mit dem Fahrrad <strong>und</strong> hat schon<br />

wieder <strong>ein</strong> neues Handy. Viel mehr weiß ich nicht<br />

von ihr. Trägt, wie fast alle hier, den ganzen Tag,<br />

auch zur Arbeit, knappste Shorts <strong>und</strong> <strong>ein</strong> eng<br />

aufgeklebtes Miniblüschen. Auch dass sie die eher<br />

leichte, aber dem Klima angepasste Bekleidung<br />

schon <strong>ein</strong>en Job gekostet hat, bringt sie nicht<br />

davon ab: Die neu zugewanderte Professorenfrau<br />

konnte den Augen ihres liebenden Ehemannes<br />

soviel Freizügigkeit nicht zumuten.<br />

Schon nach ihrem ersten Arbeitstag sehe ich, dass<br />

sie sehr gut arbeitet. Hat m<strong>ein</strong> Bett, die hier<br />

übliche Hängematte verschmähe ich, toll<br />

hingekriegt! Bettwäsche <strong>und</strong> Moskitonetz -<br />

warum nur gibt es k<strong>ein</strong>e weißen, nur rosafarbene,<br />

hellgrüne <strong>und</strong> babyblaue? – sind zusammen straff<br />

unter die dünne Schaumgummimatratze<br />

gesteckt! Bemerke nur beim Zubettgehen, wie<br />

clever sie die sch<strong>ein</strong>bar eher ungewohnte<br />

Aufgabe gemeistert hat: Beide Bettlaken, Ober<strong>und</strong><br />

Unterlaken sind, <strong>ein</strong>s über das andere gelegt,<br />

r<strong>und</strong>um fest unter das Maträtzchen gestoßen. Da<br />

das obere Laken <strong>ein</strong>en Spitzensaum hat, hat sie<br />

ihn kunstvoll hoch gefaltet. Er bildet, am Fußende,<br />

(!) <strong>ein</strong> dekoratives Band – sicher hat sie ihr ganzes<br />

Leben lang, wie jeder hier, arm oder reich, immer<br />

in <strong>ein</strong>er Hängematte geschlafen.<br />

Als ich die fast trockene Wäsche vor dem<br />

nächsten Regen rette, lerne ich von Marinette,<br />

wie man auch fast ohne Wäscheklammern<br />

unseren riesigen Berg frisch gewaschener Wäsche<br />

zum Trocknen aushängen kann: Man nimmt die<br />

Wäschel<strong>ein</strong>e doppelt, verdreht die beiden Seile<br />

vor dem Aushängen eng in<strong>ein</strong>ander. Gehen <strong>ein</strong>em<br />

dann die wenigen Wäscheklammern aus, öffnet<br />

man mit spitzem Fingernagel oder sonst welchem<br />

Geschick <strong>und</strong> etwas Kraftaufwand <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />

Öffnung in den eng verdrehten Seilen. Steckt flink,<br />

bevor sie sich automatisch wieder schließt,<br />

geschickt <strong>ein</strong> Eckchen der zu trocknenden Wäsche<br />

dazwischen, das, streckt sich das Seil wieder,<br />

sicher <strong>ein</strong>geklemmt fest sitzt. Somit sind wir<br />

sozusagen quitt.<br />

Später treffe ich die kreativsten Wäschel<strong>ein</strong>en der<br />

Welt. Gerne wird die Wäsche <strong>ein</strong>fach auf dem<br />

Zaun getrocknet <strong>und</strong> Wäscheklammern gibt’s<br />

sowieso nie.<br />

Sehr erfreut, Kakerlake!<br />

„Nomen ist Omen“! Hier in Brasilien lerne ich zwei<br />

neue Nuancen des Sprichwortes kennen.<br />

Drei gestandene Herren treffen sich. Darf ich mich<br />

vorstellen? <strong>Barata</strong> (Kakerlake). Freut mich, Aranha<br />

(Spinne). Sehr erfreut, Sucuri (Riesenschlange /<br />

Anakonda). Fehlt nur, dass ihnen der Herr Leitão<br />

(Spanferkel), der Herr Coelho (Kaninchen), die<br />

Frau Ganso (Gans) oder der Herr Raposa oder<br />

Fuchs Gesellschaft leisten. Die drei ersten Herren<br />

jedenfalls konnten <strong>ein</strong> Lachen nicht unterdrücken,<br />

auch wenn ihre Namen in unterschiedlichen<br />

Regionen des Landes viel Gewicht haben <strong>und</strong> nie<br />

lächerlich gemacht werden.<br />

Auch in der Botanik kann es zu überraschenden<br />

Treffen kommen, dann nämlich, wenn sich<br />

Junqueira, (<strong>ein</strong>e Palmenart) Carvalho, (Eiche) <strong>und</strong><br />

Pinheiro (Tanne) treffen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 436


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 437


Von allerlei Krankheiten<br />

Der Anruf kam höchst unerwartet. Die Tochter<br />

<strong>ein</strong>er Bekannten war in Not, hier am<br />

amazonischen Ende der Welt! Sie war auf die<br />

spleenige Idee verfallen, den ganzen Riesenfluss<br />

Amazonas hoch bis zur peruanischen Grenze zu<br />

schippern, <strong>und</strong> das im normalen Linienboot! Eine<br />

Reise, die wohl grob geschätzt, um die 40 <strong>ein</strong>tönig<br />

vor sich hin plätschernde Tage dauert. Fast<br />

tauchte sie im emsig wimmelnden Ameisenhaufen,<br />

Passagiere aller Altersklassen, Fernseher<br />

<strong>und</strong> Motorräder, hochbegehrt, immer die<br />

neuesten Modelle, Tiere, andere Waren, unter.<br />

Knüpfte ihre Hängematte zwischen unzählige<br />

andere, gar zweistöckig, malerisch, farbig <strong>und</strong><br />

nicht gerade leise. Privatsphäre war ihr nicht so<br />

wichtig. Auch der lokale So<strong>und</strong>, von strategisch<br />

platzierten Lautsprecher ausgespien, nahm sie<br />

leicht hin. Schipperte, döste, ruhte sich aus,<br />

schlief <strong>ein</strong> bisschen, las noch <strong>ein</strong> Kapitel <strong>und</strong> ließ<br />

das Leben vorbeiziehen. Blendete das unablässige<br />

Geplauder, die unerwartete Kühle der Nacht aus.<br />

Überhörte das Schnarchen, die Seufzer oder die<br />

Albträume der Mitreisenden, schon seit Tagen an<br />

das Murren des Motors oder die pünktlich <strong>und</strong><br />

sintflutartig niederprasselnden Regenmassen<br />

gewöhnt.<br />

Nur das B<strong>ein</strong> ließ ihr k<strong>ein</strong>e Ruhe. Das rechte B<strong>ein</strong>,<br />

auch hoch gelagert, war unheimlich angeschwollen,<br />

monströs <strong>und</strong> beunruhigend. Es<br />

schwoll immer mehr an, jeder Tag <strong>ein</strong> bisschen<br />

mehr auf dem riesigen Strom, eher <strong>ein</strong><br />

Süßwassermeer, flussaufwärts. So sah sie sich<br />

gezwungen, das Schiff im nächsten Hafen zu<br />

verlassen.<br />

Sie wurde unverzüglich sogleich ins beste<br />

Krankenhaus des Ortes <strong>ein</strong>geliefert. Ihre Mutter in<br />

São Paulo hatte schon per Notruf um drei Ecken<br />

herum lokale Bekannte von Bekannten mobilisiert.<br />

Die besuchten sie umgehend am Krankenbett.<br />

Stellten mit ihren Nachfragen nochmals sicher,<br />

dass alle nötigen Vorkehrungen <strong>und</strong> Untersuchungen<br />

vorgenommen worden waren. Trotz all<br />

der Fürsorge kam von allen Seiten <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Rat:<br />

Die allerbeste Medizin für das B<strong>ein</strong> sei der<br />

Flughafen, der nächste Flug nach São Paulo!<br />

Beileibe k<strong>ein</strong> schlechter lokaler Witz - mit<br />

tropischen Krankheiten spielt man nicht!<br />

Besonders Touristen sollten dem schlechten Witz<br />

mit dem nächsten Flugzeug deshalb, falls möglich,<br />

Folge leisten. Krankenhäuser im Norden des<br />

Landes haben, trotz oder vielleicht wegen des<br />

kostenlosen, öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitssystems, das<br />

allen, ohne <strong>ein</strong>en Pfennig zu bezahlen,<br />

Behandlung <strong>und</strong> Versorgung im Krankheitsfall<br />

garantiert, k<strong>ein</strong>en guten Ruf. Nichts ist dem<br />

Heilungsprozess abdinglicher, als wenn man die<br />

Sprache nicht spricht, die lokalen Gewohnheiten<br />

nicht kennt <strong>und</strong> schon <strong>ein</strong> ungewohntes Essen<br />

unliebsame Folgen haben kann.<br />

Noch wichtiger ist Vorsorgen. Gegen Gelbfieber<br />

gibt es <strong>ein</strong>e Impfung, Malaria ist heute heilbar.<br />

Erschwerend kommt dazu, dass fiebrige<br />

Tropenkrankheiten nicht immer sofort <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>deutig zu diagnostizieren sind. Die Symptome<br />

des Gelbfiebers, der Malaria <strong>und</strong> von Dengue<br />

sch<strong>ein</strong>en sich ziemlich zu gleichen, werden<br />

zudem im Anfangsstadium oft als <strong>ein</strong>fache<br />

Grippe abgetan.<br />

Viele berühmte <strong>und</strong> unendlich viele andere<br />

unbekannte Tropenreisende erfuhren das früher<br />

bitter am eigenen Leib. Als nämlich zu Beginn des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts in Europa <strong>ein</strong>e wahre Übersee-<br />

Euphorie ausbrach, die brasilianischen Grenzen<br />

wurden für befre<strong>und</strong>ete Länder geöffnet,<br />

schickte der bayrische König Maximilian I. 1817,<br />

zusammen mit anderen Gelehrten <strong>und</strong><br />

Naturforschern Johann Baptist Spix <strong>und</strong> Carl<br />

Friedrich Philipp von Martius, nach Brasilien,<br />

auch in den Amazonas. Sie befanden sich im<br />

Gefolge der Erzherzogin Leopoldina von<br />

Österreich - sie war dem späteren brasilianischen<br />

Kaiser Dom Pedro I, per Brief angeheiratet<br />

worden <strong>und</strong> reiste nun zu ihm in die Tropen.<br />

Dem Reisebericht von Spix <strong>und</strong> von Martius<br />

zufolge erkrankten die beiden in Maranhão<br />

schwer, wurden, in dauerndem Fieber <strong>und</strong><br />

Fantasien liegend, von Schwarzen in die nächste<br />

Stadt getragen. Wieder genesen, vertrauten sie<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 438


sich später, schon tief im Amazonas, gegenseitig<br />

<strong>ein</strong>en Letzten Willen an, bevor sich ihre Wege<br />

trennten. Sich in unbekannte Tropen vorzuwagen,<br />

war <strong>ein</strong> lebensgefährliches Abenteuer, das <strong>ein</strong>em<br />

in St<strong>und</strong>en oder Tagen problemlos das Leben<br />

kosten konnte. Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren<br />

die Zustände in den großen brasilianischen<br />

Hafenstädten so unges<strong>und</strong>, dass viele<br />

ausländische Schiffe hier gar nicht anlegten.<br />

Brasilien war als das „Grab der Ausländer“<br />

verschrien.<br />

Auch Rio de Janeiro, um 1900 Brasiliens<br />

Hauptstadt, galt als hochriskanter, todbringender<br />

Aufenthaltsort <strong>und</strong> bis zum Zweiten Weltkrieg<br />

zum Beispiel war es gar nicht so <strong>ein</strong>fach,<br />

kompetente Forscher in den Amazonas zu locken.<br />

Zu groß war die Angst, wie viele andere, in den<br />

ersten paar Tagen von <strong>ein</strong>er heimtückischen<br />

Tropenkrankheit dahingerafft zu werden, denen<br />

besonders weiße Europäer wie die Fliegen zum<br />

Opfer zu fallen schienen. Zwar hatte Louis Pasteur<br />

schon 1850 die Bakterien entdeckt, aber erst im<br />

Jahre 1900 wurden in Kuba die ersten Tests<br />

durchgeführt, die die bis dahin unvorstellbare<br />

Idee bewiesen, dass es weder schlechte Gerüche<br />

noch fehlende Hygiene waren, sondern <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>facher Moskito, der das tödliche Gelbfieber<br />

<strong>und</strong> die gefürchtete Malaria übertrug.<br />

Als 1902 Rodrigo Alves zum Präsidenten der<br />

brasilianischen Republik ernannt wurde, setzte er<br />

sich zum Ziel, die Situation radikal zu ändern.<br />

Schon <strong>ein</strong> Jahr später ernannte er Oswaldo Cruz,<br />

<strong>ein</strong>en jungen Arzt mit geradezu revolutionären<br />

Ideen, er hatte bei Pasteur in Paris studiert, zum<br />

Direktor des öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens.<br />

Oswaldo Cruz gelang es 1906 mit <strong>ein</strong>er<br />

spektakulären Antimoskitoaktion Rio de Janeiro<br />

von s<strong>ein</strong>en ständig wiederkehrenden<br />

mörderischen Gelbfieberepidemien zu befreien.<br />

Dass die Aktion sehr autoritär vor sich ging, die<br />

Moskitobekämpfer verschafften sich mit allen<br />

Mitteln, auch mit Gewalt, Zugang zu den Häusern,<br />

führte zu vielen Protesten. Seit 1937 stand dann<br />

<strong>ein</strong>e Impfung gegen die tödliche Krankheit zur<br />

Verfügung.<br />

Nur am Rande sei erwähnt, dass nicht nur die<br />

Weißen in ihrer Europazentriertheit litten. Als<br />

besonders infame Kolonialisierungstechnik, <strong>ein</strong>e<br />

raffinierte Art der biologischen Kriegsführung,<br />

wurden simple Grippe <strong>und</strong> Pockenviren, aus<br />

Europa importiert, <strong>ein</strong>gesetzt. Es reichte, mit dem<br />

Flugzeug <strong>ein</strong> paar infizierte Kleidungsstücke über<br />

<strong>ein</strong>em Indiodorf abzuwerfen. Die Bakterien <strong>und</strong><br />

Viren, gegen die die Einheimischen k<strong>ein</strong>e<br />

Antikörper hatten, dezimierten <strong>und</strong> dezimieren<br />

noch heute ganze wehrlose Stämme indigener<br />

Bevölkerung. Sie starben, <strong>ein</strong>mal angesteckt, wie<br />

die Fliegen.<br />

Viele Tropenkrankheiten unterliegen komplexen<br />

Zyklen, brauchen zur Übertragung <strong>ein</strong>en<br />

Zwischenwirt, oft lästige, winzige, aber gerade<br />

deshalb niemals zu unterschätzende Insekten.<br />

Infizierte Moskitos, Sandfliegen, Flöhe <strong>und</strong><br />

Zecken übertragen mit ihrem blutsaugenden<br />

Stich oder Biss jene Bakterien, Parasiten,<br />

Einzeller, Wechseltierchen oder Viren, die uns<br />

ganz schnell stilllegen können, oder gar<br />

umbringen. Mit der Entdeckung des Penicillins<br />

1928 durch Alexander Fleming <strong>und</strong> den heutigen<br />

Antibiotika gibt es zwar heute wirksame Waffen<br />

gegen die Bakterien. Doch gegen Viren existiert<br />

bis heute nichts Vergleichbares.<br />

Neben den sozusagen gängigen<br />

Tropenkrankheiten trifft man nicht nur in<br />

Brasiliens Norden bis heute auf uralte Leiden,<br />

wirkliche Geiseln der Menschheit: Tuberkulose,<br />

leider wieder auf dem Vormarsch, alle Typen von<br />

Hepatitis <strong>und</strong> die schreckliche Hansenasia, Lepra.<br />

Auf unvorsichtig unglückliche Abenteuertouristen<br />

lauern auch die typischen tropischen<br />

Krankheiten Leishmaniose, Schistosomiasis <strong>und</strong><br />

die Doença de Chagas. Armeleute-Krankheiten,<br />

bis heute wenig erforscht – wie soll man auch<br />

mit den Armen die in die Medikamentenforschung<br />

investierten Milliarden wieder her<strong>ein</strong><br />

verdienen. Zudem werden solche Arme-Leute-<br />

Krankheiten bei Touristen oft nicht oder nur sehr<br />

spät diagnostiziert. K<strong>ein</strong> Arzt vermutet sie<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 439


in solch privilegiertem Umfeld. Wer aber<br />

Anhänger von Radikalsportarten ist,<br />

Abenteuertourismus, Trekking, Rafting <strong>und</strong><br />

Rivering wagt, sich dabei als unschuldiger<br />

Abenteuertourist des Nervenkitzels oder<br />

Naturerlebnisses wegen mitten in den Dschungel<br />

begiebt, setzt sich unerwarteten Risiken aus - <strong>ein</strong><br />

Insektenstich beim Wildcampen <strong>und</strong> Schlafen<br />

ohne Moskitonetz genügt. Eher ungewöhnlich sei<br />

es dagegen, von <strong>ein</strong>er Schlange oder <strong>ein</strong>em<br />

Skorpion gebissen zu werden. Auch Spinnen, nicht<br />

nur die fürchterlichen Taranteln, beißen.<br />

Es war der Biss <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Spinnen, der<br />

schließlich bei unserer Patientin vom Anfang der<br />

Geschichte diagnostiziert wurde. Solche Bisse<br />

können schreckliche allergische Reaktionen,<br />

Atembeschwerden usw. auslösen, bleiben aber<br />

zuerst oft unbemerkt. Denn manchmal wird<br />

zusammen mit dem Biss <strong>ein</strong> Betäubungsmittel<br />

<strong>ein</strong>spritzt. So macht sich der Stich erst nach<br />

St<strong>und</strong>en scherzhaft bemerkbar, dann wenn die<br />

Wirkung des Mittels abklingt <strong>und</strong> die Spinne<br />

längst über alle Berge ist. Die lokale Bevölkerung<br />

schüttelt deshalb alle Kleider vor dem Anziehen<br />

gründlich aus <strong>und</strong> klopft geschlossenes<br />

Schuhwerk vor dem Anziehen kräftig auf den<br />

Boden. Auch w<strong>und</strong>erschön grellfarbene Raupen<br />

oder solche mit pelzigen Haaren sollte man nie<br />

berühren. Streift man sie, auch ohne es zu<br />

bemerken, können deren Nesselhaare ziemlich<br />

unangenehme Hautverbrennungen auslösen.<br />

Nehmen Sie sich auch vor Tausendfüßlern <strong>und</strong> den<br />

tropischen Ameisen in acht! Manche Indiostämme<br />

benutzen die 24-St<strong>und</strong>en-Ameise, so lange soll ihr<br />

Stich oder Schnitt schmerzen, in ihren unzimperlichen<br />

Initiationsritualen.<br />

Auch tropische Gewässer sind nicht über alle<br />

Zweifel erhaben. Fragen Sie besser die<br />

Einheimischen. Tritt man auf den imponierenden<br />

Stachelrochen, wehrt er sich äußerst schmerzhaft<br />

<strong>und</strong> ziemlich traumatisch. Pärchenegel übertragen<br />

den Schistosomiasiserreger <strong>und</strong> die vielen<br />

Insektenstiche, kl<strong>ein</strong>e Schnittw<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> bringen dabei ihr Gift in den Blutkreislauf.<br />

Schürfungen heilen in ständigem Kontakt mit<br />

Wasser oder Schweiß schlecht ab. Können so zu<br />

bösen Infektionen oder allergischen Reaktionen<br />

führen.<br />

Weniger dramatisch, aber dafür besonders eklig<br />

sind jene Parasiten, die sich unter der Haut<br />

<strong>ein</strong>nisten. Das „Bicho do Pé“, das Fußtierchen legt<br />

man sich am Strand oder auf dem Land zu. Ein<br />

kl<strong>ein</strong>er, schwarzer Punkt nur, der sich am liebsten<br />

zwischen den Zehen <strong>ein</strong>nistet <strong>und</strong> schrecklich<br />

juckt. Auch „Bernes“, halbmondförmige, bleiche,<br />

wenig appetitlichen Larven bestimmter<br />

Riesenfliegen gibt es überall. Einmal unter der<br />

Haut, bohren sie sich bis zur Fettschicht vor, wo sie<br />

sich bis zum Ausschlüpfen ernähren. Schlimmer<br />

wohl nur die „Mosca Varejeira“, <strong>ein</strong>e Fliege, die<br />

ihre Eier mit Vorliebe in kl<strong>ein</strong>e, schon<br />

bestehende W<strong>und</strong>en legt, wo sie sich in<br />

kürzester Zeit in unzählige, wimmelnde Larven<br />

verwandeln, die sich dann von ihrem Wirt<br />

ernähren. Seien Sie auch bei <strong>ein</strong>em neuen<br />

Leberfleck misstrauisch – hat er vielleicht beim<br />

sehr genau Hinsehen winzige B<strong>ein</strong>chen? –<br />

Verdammte Zecke! Man holt sie sich am<br />

sichersten auf Kuhweiden oder von Pferden oder<br />

ganz <strong>ein</strong>fach im Regenwald. Beten Sie, dass es<br />

nur tagelang juckt, denn er hätte ja auch mit<br />

„Febre Maculosa“, <strong>ein</strong> heimtückisches Fieber,<br />

das wie <strong>ein</strong>e normale Grippe beginnt <strong>und</strong> nicht<br />

diagnostiziert, gar tödlich enden kann, infiziert<br />

s<strong>ein</strong> können. Zwei lokale W<strong>und</strong>ermittel gibt es<br />

gegen kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>en auf jedem Markt zu<br />

kaufen: Andirobaöl heilt Insektenstiche <strong>und</strong><br />

Copaibaharz <strong>und</strong> Jucá vollbringt wahre W<strong>und</strong>er<br />

bei der W<strong>und</strong>heilung. Beide werden hier im<br />

Amazonas seit Jahrh<strong>und</strong>erten angewendet.<br />

Auch in den Häusern drin lauern unbekannte<br />

Gefahren. Die „Doença de Chagas“ wird von<br />

<strong>ein</strong>em Käfer übertragen, der Raubwanze, hier in<br />

Brasilien „Barbeiro“ genannt, der menschliches<br />

Blut mag <strong>und</strong> sich gerne in mit <strong>ein</strong>fachen<br />

Materialien gebauten Häusern <strong>ein</strong>nistet. Ein<br />

wenig erfreuliches Szenarium, besonders falls<br />

man naturnah <strong>und</strong> billig reisen möchte. Das<br />

obligate Moskitonetz - zum Schlafen immer unter<br />

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die Matratze stecken! – gibt es auch für<br />

Hängematten, im Regenwald lohnt es sich, trotz<br />

der Hitze lange Hosen, lange Ärmel <strong>und</strong><br />

festgeschnürte, geschlossene Schuhe zu tragen.<br />

Andere Parasiten wie Amöben, Wechseltierchen<br />

<strong>und</strong> die unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten Wurmeier, auch<br />

<strong>ein</strong>ige Auslöser der Hepatitis, nimmt man mit<br />

infiziertem Wasser zu sich, im Salat oder in<br />

schlecht gewaschenen Früchten, wohl das<br />

populärste Horrorszenarium. Folgen Sie dem Rat<br />

der Engländer: -„Peel it, boil it, or forget it!“ - <strong>und</strong><br />

auch ges<strong>und</strong>er Menschenverstand empfiehlt sich.<br />

Wen es doch erwischt: Durchfall wird hier in<br />

Brasilien in leichten Fällen mit Kokoswasser,<br />

Knoblauchpillen <strong>und</strong> anderen Hausmitteln <strong>und</strong><br />

hausgemachtem oder fertig gekauftem „Soro“,<br />

<strong>ein</strong>er Elektrolytlösung abgeholfen, in schwereren<br />

Fällen gehen die Leute aber meist gleich ins<br />

Krankenhaus. Da bekommen Sie den selben<br />

„Soro“ intravenös, da hier, besonders bei Babys<br />

<strong>und</strong> alten Leuten der Hitze wegen sehr schnell die<br />

Gefahr des Austrocknens besteht.<br />

Falls Sie es bis hierher geschafft haben, will ich<br />

Ihnen auch die neuesten Horrorszenarien nicht<br />

vorenthalten. Der amazonische Regenwald, auf<br />

der <strong>ein</strong>en Seite als unerschöpfliche Quelle für die<br />

unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten, noch zu entdeckenden <strong>und</strong><br />

entwickelnden Medikamente hochgelobt, kann<br />

auf der anderen Seite zur tödlichen Falle werden.<br />

Ein harmloser Mückenstich, der sich entzündet<br />

<strong>und</strong> dann mit <strong>ein</strong>em unbekannten Bazillus infiziert,<br />

gar <strong>ein</strong>em Pilz, <strong>ein</strong>em Virus, oder solche<br />

zusammen mit schlecht durch gegartem Essen zu<br />

sich genommen, können den sicheren Tod oder<br />

den Auslöser für <strong>ein</strong>e neue Geißel der Menschheit<br />

oder Seuchen bedeuten. Der amazonische<br />

Tropenwald hält, besonders da wo er noch so gut<br />

wie unberührt ist, unvorstellbare Risiken bereit,<br />

die nur dann freigesetzt werden, wenn ihm die<br />

Menschen auf die Pelle rücken, ihn roden, ihn sich<br />

untertan machen wollen. In den wilden Wäldern<br />

<strong>und</strong> s<strong>ein</strong>en Wassern lauern neue, unbekannte<br />

Viren, die bis heute k<strong>ein</strong>en Kontakt mit Menschen<br />

<strong>und</strong> deren Zivilisation hatten. Die Viren Ebola <strong>und</strong><br />

Aids stammen, soviel weiß man heute, von<br />

kranken Tieren, die auf irgend<strong>ein</strong>e Weise,<br />

vielleicht als schlecht gekochte Jagdbeute, mit<br />

Menschen in Kontakt traten, <strong>und</strong> sich dann an<br />

unseren Organismus anpassten.<br />

Bleiben Sie deshalb im Zweifel auf ausgelatschten<br />

Touristenpfaden. Sie brauchen allerdings nicht so<br />

weit zu gehen, wie die ältere Japanerin,<br />

Teilnehmerin <strong>ein</strong>er Kreuzfahrt auf dem<br />

Amazonas, von der sie mir erzählten. Sie verließ<br />

das Schiff für die wenigen, begleiteten <strong>und</strong><br />

bestens organisierten Landausflüge nur in <strong>ein</strong>er<br />

Art Uniform, die mit ihrem Schleier <strong>und</strong> den<br />

Handschuhen wohl eher an <strong>ein</strong>en Bienenzüchter<br />

erinnerte. Die Arme wird wohl ziemlich gelitten<br />

haben – in ihrem Fall ist wohl die tropische Hitze<br />

zum nicht zu unterschätzenden F<strong>ein</strong>d geworden.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 441


Das geografische Tier<br />

Solch <strong>ein</strong>en Hautausschlag hatte ich noch nie! Wie<br />

der juckt! Der juckt so schauerlich, juckt so<br />

grauslich! Bin fast am Verzweifeln. Alle bewährten<br />

Hausmittel helfen nur für <strong>ein</strong> paar Minuten. Am<br />

Unterarm kriege ich ihn irgendwann unter<br />

Kontrolle. Am linken Fuß aber werde ich das<br />

Gefühl nicht los, dass sich der Juckreiz verlagert.<br />

Sich sozusagen unter der Haut weiter bewegt,<br />

auch unter der Sohle. Es juckt immer an <strong>ein</strong>er<br />

neuen Stelle, ist etwas rot, es gibt k<strong>ein</strong>e offene<br />

W<strong>und</strong>e, k<strong>ein</strong>e Schwellung, nur der unerträgliche<br />

Juckreiz.<br />

Lade nur erklärte Fans von «Parasitas Assassinas»,<br />

«Tödliche Parasiten», Danke Discovery! oder «Ein<br />

rätselhafter Patient» <strong>ein</strong>, weiter zu lesen. Der<br />

Juckreiz begleitet mich so <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Weile. Bis<br />

Tage später <strong>ein</strong>e unserer Fre<strong>und</strong>innen mit ihrer<br />

kl<strong>ein</strong>en Tochter zu Besuch kommt. Das kl<strong>ein</strong>e,<br />

süße Mädchen steht sofort im Brennpunkt aller<br />

Interessen. Denn der süße Tropf hat da, an der<br />

winzig blütenbleichen Hand, <strong>ein</strong>en schauerlich<br />

juckenden Ausschlag! Von allen gebührend<br />

bew<strong>und</strong>ert erfahre ich, dass das Schauerding gar<br />

<strong>ein</strong>en Namen hat. Es handelt sich um <strong>ein</strong><br />

sogenanntes «Bicho geográfico», <strong>ein</strong><br />

«Geografisches Tier»!<br />

Dieses Tier, oder besser s<strong>ein</strong> Zerstörungswerk<br />

sieht genau so aus, wie die kl<strong>ein</strong>en Irrwege auf<br />

m<strong>ein</strong>er Haut! Die, die so schauerlich jucken!!!!<br />

Nach der Eigendiagnose ziehe ich weitergehenden<br />

Nutzen aus dem folgenden fre<strong>und</strong>schaftlichen<br />

Gespräch, das sich darum dreht, wie man das Tier<br />

denn nun wieder loswerden könne. Es gäbe<br />

Medikamente oder Salben, die das Tier töten<br />

würden, aber die Leber des Patienten könne etwas<br />

in Mitleidenschaft gezogen werden. Das gelte es in<br />

Kauf zu nehmen. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen<br />

allerdings erinnert sich, dass sie schon<br />

gehört habe, dass man es mit Eis versuchen könne.<br />

Ich bin fasziniert. Es soll ja Leute geben, die<br />

ertränken ihre Würmer in Alkohol. Aber sozusagen<br />

tiefgefrieren, unter der Haut, sowas von genial!<br />

Kann es kaum erwarten, bis sich die Gesellschaft<br />

verabschiedet <strong>und</strong> kühle dann das Tier, das<br />

wirklich unter m<strong>ein</strong>er Haut kl<strong>ein</strong>e Labyrinthe baut,<br />

so lange <strong>und</strong> so ausgiebig aus, bis es den Kältetod<br />

stirbt. Und? Funktioniert perfekt, Erfolg garantiert!<br />

Nach zwei, drei Sitzungen bin ich diesen<br />

schauerlichen geografischen Alptraum wieder los!<br />

Fazit? Habe damit, was ich theoretisch schon<br />

wusste, am eigenen Leib erfahren, dass in den<br />

Tropfen unsch<strong>ein</strong>bare Parasiten oft viel lästiger<br />

s<strong>ein</strong> können als die großen, ach so gefährlichen<br />

Raubtiere, denen man nur mit sehr, sehr viel Glück<br />

begegnet.<br />

passende<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 442


allerlei<br />

Verkehrsmittel<br />

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Ver- <strong>und</strong> geboten<br />

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Vom<br />

Transportieren<br />

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Allerlei Verkehrsmittel II<br />

- „Mensch, jetzt hupt der schon wieder! Was<br />

mache ich denn falsch? Worauf will der mich<br />

denn aufmerksam machen? Ist <strong>ein</strong>e Tür nicht ganz<br />

geschlossen oder <strong>ein</strong> Rad locker?“ - St<strong>und</strong>en<br />

später, oder gar am nächsten Tag fällt der<br />

Groschen. Das Hupen galt gar nicht mir! Es war<br />

<strong>ein</strong> Mototaxi auf K<strong>und</strong>ensuche! Das Hupen<br />

machte potenzielle K<strong>und</strong>en auf das gerade vorbei<br />

schleichende, alternative Taxi aufmerksam!<br />

Will oder muss man sich im amazonischen<br />

Hinterland vorwärts bewegen, so diktiert die<br />

lokale Ökonomie <strong>und</strong> die ungeheuren Distanzen<br />

nicht nur den Rhythmus, sondern auch das<br />

Verkehrsmittel. Vom Ochsenkarren über das<br />

Pferd <strong>und</strong> das Fahrrad oder den zum Bus<br />

umfunktionierte Kombi gibt es alles. Geht es um<br />

das beste Preis-Leistungsverhältnis, so ist das<br />

Motorrad natürlich unschlagbar. Alle jungen<br />

Männer können es kaum erwarten, aus dem<br />

übervollen Bus ohne Klimaanlage auf so <strong>ein</strong><br />

stromlinienförmiges Crossmotorrad umzusteigen.<br />

Sie erinnern mit ihren hoch aufgerichteten<br />

Hinterteilen die in spitze Stacheln auslaufen an<br />

hochb<strong>ein</strong>ige Hornissen, sch<strong>ein</strong>en direkt <strong>ein</strong>em<br />

japanischen Mangacomic zu stammen. Mit so<br />

<strong>ein</strong>em Ding steigt das soziale Prestige zusammen<br />

mit dem Unfallrisiko drastisch.<br />

Die Mototaxis sind allgegenwärtig. „Mototaxis,<br />

Mototaxi! Mototaxi gefällig?“ – winkt,<br />

gestikuliert oder hupt es <strong>ein</strong>em entgegen. Wo man<br />

auch ankommt oder besser anlegt, je weiter ins<br />

Landesinnere man will, desto <strong>ein</strong>facher ist es mit<br />

dem Schiff, stehen sie schon laut gestikulierend,<br />

um K<strong>und</strong>en werbend, <strong>ein</strong>er mit dem anderen<br />

konkurrierend, am Hafen bereit. Ja, klar, es gibt<br />

auch normale Taxis, in allen möglichen Stadien der<br />

Konservierung, <strong>ein</strong>ige kurz vor dem Aus<strong>ein</strong>anderfallen.<br />

Und natürlich auch mit weniger<br />

Komfort, sprich Klimaanlage, je weiter entfernt von<br />

den urbanisierten Zentren.<br />

Wer es aber preiswerter <strong>und</strong> je nach Geschmack<br />

wohl auch authentischer haben möchte, sozusagen<br />

mit dem Fahrtwind als Kühlung <strong>und</strong> dem<br />

Straßenzustand als Nervenkitzel, schwingt sich auf<br />

den Beifahrersitz <strong>ein</strong>es Mototaxi. K<strong>ein</strong>e unnötigen<br />

Bedenken. Die Fahrer sind uniformiert, organisiert,<br />

registriert. Man kann sie auch anrufen, bestellen<br />

oder gar im Monatsabo buchen. Ruft man immer<br />

den selben, kann man auch auf s<strong>ein</strong>en Fahrstil<br />

gebührend Einfluss nehmen. Der Helm wird<br />

übrigens fre<strong>und</strong>licherweise mit ausgeliehen. Bleibt<br />

nur noch <strong>ein</strong> paar letzte Fragen: Wie geht man mit<br />

der ungewohnten Intimität um? Ist ja nicht<br />

jedermanns Sache, <strong>ein</strong>en wildfremden um den<br />

Bauch zu fassen. Genauso wenig, was man macht,<br />

wenn es regnet oder man viel Gepäck dabei hat?<br />

Hier gibt es für alles <strong>ein</strong>e Lösung. Ein Kind mehr<br />

oder <strong>ein</strong>e sperrige Schachtel, gar <strong>ein</strong>e Ladung<br />

Kehrbesen finden auf jedem Moto Platz.<br />

Wer also <strong>ein</strong>em Sonnenstich oder Hitzschlag, den<br />

holt man sich, geht man zu Fuß, der absolute<br />

Geheimtipp ist <strong>ein</strong> Regen- Pardon,<br />

Sonnenschirm, aus dem Weg geht, benutzt diese<br />

vielfältigen Zweiräder. Je weiter weg man vom<br />

Zentrum ist, desto elastischer interpretiert man<br />

leider auch die Helmtragepflicht <strong>und</strong> die maximal<br />

erlaubte Nutzlast. Das schmale Mädchen wird<br />

zwischen den Vater <strong>und</strong> den Lenker geklemmt,<br />

die Mutter kommt mit dem kl<strong>ein</strong>en Sohn auf den<br />

Rücksitz. Auch Fahrräder transportieren, was für<br />

Waden!, ganze Familien inklusive Kl<strong>ein</strong>kind im<br />

Arm der Mutter, die im Damensitz auf dem<br />

Gepäckträger thront.<br />

Im privilegierten, hochb<strong>ein</strong>igen Wagen mit<br />

Vierradantrieb unterwegs, weiß ich allerdings<br />

nicht, was wohl schlimmer ist. Denn wenn ich<br />

mich nicht irgendwo in <strong>ein</strong>en klimatisierten<br />

Elfenb<strong>ein</strong>turm zurückziehen will, muss ich alle<br />

m<strong>ein</strong>e europäischen Vorstellungen von<br />

Verkehrssicherheit irgendwo ganz tief hinten in<br />

m<strong>ein</strong>em Kopf archivieren, vergraben. Und das,<br />

obwohl ich noch nie in irgend<strong>ein</strong>er<br />

Extremsituation war: Im Flugzeug droht mich der<br />

endlose Regenwald zu verschlingen, im Winzboot<br />

fühle ich mich den unendlichen Wassermassen<br />

ausgeliefert, im Taxi den rücksichtslosen Fahrern<br />

<strong>und</strong> hier ist es die Straße von Santarém ins<br />

Landesinnere, <strong>ein</strong>e wichtige Verbindungsstraße,<br />

die mich erschreckt, mir eher wie <strong>ein</strong>e<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 475


Motocrossstrecke, <strong>ein</strong> Schlammloch ersch<strong>ein</strong>t.<br />

Nicht mal die allgegenwärtigen Motorräder<br />

kommen hier zurecht.<br />

Woher nur dieser Morast kommt, auf dem sie alle<br />

herumrutschen? Es hat doch seit Tagen nicht<br />

geregnet? – Ach, schuld ist die Bürgermeisterin.<br />

Das Auto rutsch, schleudert, zieht nach rechts,<br />

rutsch nach links, tastet sich schliddernd, trotz<br />

Vierradantrieb, vorwärts. Halte sich, wer kann!<br />

Die Bürgermeisterin wolle die Straße! – neu<br />

asphaltieren <strong>und</strong> habe deshalb erst mal das alte<br />

Pflaster weggemacht. Vor Monaten schon. Der<br />

dichte Verkehr, die vielen Laster haben dann vom<br />

brachliegenden Boden soviel Staub aufgewirbelt,<br />

dass die Bewohner, deren Häuser sich rechts <strong>und</strong><br />

links der Straße ansammeln, protestiert hätten.<br />

Resultat: Ein Tankwagen wässert nun die Strecke.<br />

Verwandelt die Straße in <strong>ein</strong> Schlammmeer! Ein<br />

bisschen weniger Staub also, <strong>ein</strong>e Übergangslösung,<br />

denn irgendwann habe die Frau<br />

Bürgermeister vielleicht das nötige Geld <strong>und</strong> die<br />

Maschinen, alles zur selben Zeit, zusammen um<br />

zu asphaltieren. Ja irgendwann. Schulterzucken.<br />

Allerdings komme ja jetzt erst mal die Regenzeit.<br />

Längst haben wir die Stadt hinter uns gelassen,<br />

aber noch immer gibt es längs der Staubpiste<br />

kahle Häuser, <strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>same Mangobäume,<br />

keilförmige Jámbozeiros. R<strong>und</strong> um die Häuser nur<br />

Staub, grau, sauber getretene Erde, k<strong>ein</strong><br />

Hälmchen, k<strong>ein</strong> Grün. Sicher würden sie den<br />

Vorgarten gerne zubetonieren, wenn sie das Geld<br />

dazu hätten! So könne man die Schlangen besser<br />

sehen <strong>und</strong> Insekten gäbe es auch weniger! Aha.<br />

Bretterhütten, wellblechgedeckt, perfekter könnte<br />

die Sauna nicht installiert s<strong>ein</strong>. Klar, ich verstehe,<br />

auch hier will man modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> praktisch.<br />

Wofür gibt es denn Ventilatoren? Nur die Indios,<br />

die Hinterwäldler der Hinterwäldler, würden noch<br />

die traditionellen Palmblattdächer benutzen, mit<br />

den mobilen Fensterläden aus demselben<br />

Material, die auch Schatten spenden.<br />

Zwischen den Holzhäusern improvisierte Bars, <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er Laden. Eine der „Lanchonettes”, <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>facher Schnellimbiss, nennt sich ironisch stolz<br />

„McDonalds”. Ah, prustend hält <strong>ein</strong> staubiger<br />

Überlandbus. Er versorgt dieses gesichtslose<br />

Hinterland, wohl im St<strong>und</strong>en oder Zweist<strong>und</strong>entakt.<br />

Wer Waden hat <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Fahrrad, nimmt<br />

deshalb auch mal die schweißtreibende Arbeit des<br />

Pedaletretens in Kauf.<br />

Wir ergänzen unseren Trinkwasservorrat. Vor dem<br />

Winzladen <strong>ein</strong> paar lottrige Fahrräder <strong>und</strong><br />

daneben bullig, aber geduldig, <strong>ein</strong> am Nasenring<br />

angeb<strong>und</strong>ener, weißer Zebustier, vor <strong>ein</strong>en<br />

<strong>ein</strong>fachen Wagen gespannt – <strong>ein</strong>e der ländlichen<br />

Varianten lokaler Verkehrsmittel. Geduldig wartet<br />

er, lässt die tief angesetzten Ohren hitzeresistente<br />

Fliegen <strong>und</strong> Mücken weg scheuchen.<br />

Be<strong>ein</strong>druckender wohl nur die Wasserbüffel,<br />

dunkelbraun, fast schwarz, mit imponierenden<br />

Hörnern, denen man auf der Insel Marajó vor<br />

Belém begegnen kann. Hin <strong>und</strong> wieder reitet in<br />

kurzem Galopp <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Junge, <strong>ein</strong> Mann,<br />

meist ohne Sattel, auf <strong>ein</strong>em dieser Riesentiere<br />

vorbei. Auch Touristen können sie reiten,<br />

allerdings nur so zum Spaß.<br />

Wieder unterwegs stechen mir die vielen<br />

Sägereien links <strong>und</strong> rechts ins Auge. Noch mehr<br />

Sägereien, <strong>ein</strong>e nach der anderen. Ach, dahin<br />

fahren die riesigen Holztransporter! Ihre<br />

Ladeflächen sind voll gerammelt mit<br />

Riesenstämmen. Es ist kürzlich geschlagenes<br />

Tropenholz. Aber was ist das denn? Brüsk bremst<br />

der Fahrer herunter. Eine ganze Kuhherde<br />

kommt uns entgegen. Magere Muttertiere,<br />

Kälber, halbwüchsige Rinder. Werden wohl über<br />

die Hauptstraße zu <strong>ein</strong>er neuen Weide getrieben.<br />

Schsch, schsch, treibt sie <strong>ein</strong> Mann zu Fuß an. Die<br />

Flanken versuchen zwei Reiter zu sichern. Der<br />

<strong>ein</strong>e reitet <strong>ein</strong>es der typischen, kl<strong>ein</strong>wüchsigen,<br />

wendigen „Mangalarga“ Pferde, <strong>ein</strong>e brasilianische<br />

Rasse, die in <strong>ein</strong>er Art zockelndem<br />

Passgang, dem Walking Trott gehen. Der andere<br />

<strong>ein</strong>en schönen Rappen mit schlohfarbener<br />

Mähne. Die Hinterhand kontrolliert <strong>ein</strong> Junge auf<br />

dem Fahrrad, den Hütestock quer über den<br />

Lenker gelegt, die Baseballkappe schief auf dem<br />

Kopf.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 476


Neben dem Ochsenkarren ist auch das Reitpferd<br />

unverzichtbares Verkehrs- <strong>und</strong> Arbeitsmittel im<br />

ländlichen Brasilien. Ein richtiger „Vaqueiro“, <strong>ein</strong><br />

brasilianischer Cowboy lässt nichts über s<strong>ein</strong>e<br />

Tiere kommen <strong>und</strong> auch hier in Nordbrasilien sind<br />

Rodeos viel mehr als <strong>ein</strong>e Art Nationalsport. Die<br />

mehrtägigen Feste mit viel Musik ziehen <strong>ein</strong><br />

großes Publikum an <strong>und</strong> wer <strong>ein</strong> gut trainiertes<br />

Pferd im Stall hat oder Standfestigkeit im Sattel,<br />

kann sehr viel Geld gewinnen.<br />

spricht,<br />

Aber, entschuldigen Sie, schon gibt der Land<br />

Rover wieder Gas, überholt zwei Motorräder <strong>und</strong><br />

dann <strong>ein</strong>en Ochsenwagen. Konzentriere mich<br />

lieber wieder auf die Straße oder das, was sie hier<br />

so nennen. Ob der Schrecken wohl nachlässt,<br />

wenn man ihm direkt, entschlossen <strong>und</strong> zu allem<br />

bereit in die Augen schaut?<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 477


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 478


Will da <strong>ein</strong>er was kaufen?<br />

Alles beginnt mit <strong>ein</strong>em Entenbraten. Ein<br />

Spezialrezept! Unter den raffinierten Zutaten so<br />

ausgefallenes wie „Cupuaçu“, <strong>ein</strong>e Frucht aus der<br />

Familie des Kakaos, die es fast nur im Amazonas<br />

gibt. Sie ist aber hier im Norden, k<strong>ein</strong>e Aufregung,<br />

lächerlich <strong>ein</strong>fach zu bekommen. Wer will, kauft<br />

die ovale hölzerne Frucht mit der pfirsichsamtenen<br />

Haut <strong>und</strong> dem unverwechselbaren<br />

Parfüm auf jedem Markt, ganz oder von<br />

geduldigen Händen von den fest haftenden<br />

Kernen runter geschnitten, als blütenweißes<br />

Fruchtfleisch in kl<strong>ein</strong>e, schwül duftende<br />

Plastiksäckchen abgepackt. Jeder fliegende<br />

Händler, der von der Laderampe s<strong>ein</strong>es<br />

Kl<strong>ein</strong>lasters herunter verkauft, hat ihn. Die Ente<br />

hingegen ist schon etwas kniffliger. Tiefgefroren<br />

aus dem Supermarkt? Nur über die Leiche des<br />

Kochs!<br />

Auf dem Markt verkauft <strong>ein</strong>e Frau Eier, Hühner,<br />

lebende oder schon geschlachtete, mit oder ohne<br />

Federn, auch ausgeb<strong>ein</strong>t, wie immer es die werte<br />

K<strong>und</strong>schaft wünscht. Enten? Ja, das kann sie<br />

organisieren. Man muss den Braten <strong>ein</strong> oder zwei<br />

Tage im Voraus bestellen. K<strong>ein</strong> Problem, wird<br />

fristgerecht erledigt. Die Ente, ja, so zwischen 3<br />

<strong>und</strong> 3,5 Kilos, werde ins Haus geliefert, Samstag,<br />

k<strong>ein</strong> Problem, so gegen fünf. Was es koste?<br />

R$ 35,00. W<strong>und</strong>erbar. Ausgemacht.<br />

plötzlich erinnert sich der Koch an die Ente. Die<br />

lässt auf sich warten! Visitenkärtchen<br />

hervorgekramt, <strong>ein</strong> längerer Telefonanruf, <strong>und</strong><br />

endlich die gute Nachricht: der Entenbraten ist da,<br />

geschlachtet, ausgenommen <strong>und</strong> gerupft. Frisch,<br />

sozusagen <strong>ein</strong>e Freilaufente, schön athletisch, alles<br />

wie bestellt. Nur dass das – w<strong>und</strong>erbar! – gleich<br />

s<strong>ein</strong>en ersten Kratzer abbekommt. Leider, es tue<br />

ihr wirklich Leid, aber es sei nicht mehr möglich,<br />

die fortgeschrittene Uhrzeit, Sie müssen das<br />

verstehen, die Ente noch heute ins Haus zu liefern.<br />

Abholen? Ja, abholen könne man sie, hier sei die<br />

Adresse.<br />

Als das Entenrettungskommando endlich wieder<br />

zu Hause ankommt, ist der Braten <strong>ein</strong> Kilo leichter,<br />

sozusagen als Ausgleich, auch zehn Reais teurer als<br />

ausgemacht. Der Gastgeber, Experte, zieht<br />

folgenden Schluss, der von langer Erfahrung nur so<br />

strotzt: - Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? Selber schuld!<br />

Denn eigentlich wollen die gar nichts verkaufen....<br />

Wie wahr! Wir haben die selbe „Geschäftsphilosophie“<br />

auch schon an anderen Orten zu<br />

spüren bekommen. Mussten uns sozusagen<br />

entschuldigen, dass wir etwas kaufen wollten.<br />

Was soll´s, das Entenrezept jedenfalls war <strong>ein</strong><br />

voller Erfolg, der Abend gerettet.<br />

Es ist Samstagnachmittag, schon gegen sechs, <strong>und</strong><br />

479


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 480


N.t. <strong>und</strong> i9<br />

Wir konstruieren gerade <strong>ein</strong> Haus. Hier in<br />

Santarém, am Ende der amazonischen Welt.<br />

Nicht, dass es mich stören würde, am Ende der<br />

Welt zu wohnen. Unser Alltag ist normal. Nur<br />

beim Bauen sind <strong>ein</strong>ige Besonderheiten zu<br />

betrachten. Man muss mit kl<strong>ein</strong>en<br />

Einschränkungen leben <strong>und</strong> ziemlich<br />

kompromissbereit s<strong>ein</strong>.<br />

Nicht nur die Auswahl an Kacheln, Bodenbelägen,<br />

Wasserhähnen <strong>und</strong> allen anderen dekorativeren<br />

Elementen ist etwas <strong>ein</strong>geschränkt. Auch an<br />

simplem Zement kann man sich mal die Zähne<br />

ausbeißen. Der fehlt nämlich gerade. Morgen soll<br />

<strong>ein</strong>e Ladung kommen, ja. Aber ganz offen gesagt,<br />

die wird dem Erstbesten verkauft, der bar bezahlt.<br />

Und ach ja, der auch gleich den Transport<br />

organisiert hat! Denn der zementgraue<br />

Lagerraum, ist sozusagen nur <strong>ein</strong>e<br />

Zwischenstation. Service exklusive sozusagen.<br />

Später kann man auch den Gr<strong>und</strong> für das fatale<br />

Fehlen des Zements erfahren. Es gibt in der<br />

ganzen Stadt k<strong>ein</strong>en Sack Zement mehr zu kaufen.<br />

Das Zementmonopol hat <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Firma.<br />

Deren Patriarch ist kürzlich ganz überraschend<br />

mitten aus dem Leben heraus gestorben. Und die<br />

Erben sind total überfordert. Waren schlicht nicht<br />

imstande, die Produktion ohne Unterbruch weiter<br />

zu führen. Irgendwann normalisiert sich die Sache<br />

wieder. Kurz darauf halbiert sich der<br />

Preis für <strong>ein</strong>en Sack Zement von gestern auf<br />

heute. Dumping. Ein neuer Anbieter hat die<br />

Marktlücke entdeckt. Der freie Markt beginnt zu<br />

funktionieren.<br />

Bin gerade in <strong>ein</strong>em der drei oder vier<br />

Geschäften, die Fußbodenkacheln verkauft. Aus<br />

Platzmangel sind sie auf dem Bürgersteig<br />

ausgestellt, wo sie sich an der Hauswand zu <strong>ein</strong>em<br />

wilden Mosaik zusammen finden, die Hauswand<br />

hoch. Habe endlich, es gibt zementgewordenes,<br />

künstlichem Gras, grau erstarrte Betonwellen <strong>und</strong><br />

gar kalten Kacheln, die warmes Holz imitieren,<br />

endlich <strong>ein</strong>e gef<strong>und</strong>en, die angenehm neutral ist.<br />

Die ist es! Die Quadratmeter hat mir der Maurer<br />

schon aufgeschrieben. Bitte den Verkäufer, die<br />

Bestellung aufzunehmen, alles auf dem<br />

Bürgersteig. Dieser aber verwandelt m<strong>ein</strong>e<br />

Erleichterung <strong>und</strong> m<strong>ein</strong>er Freude über den<br />

unerwarteten F<strong>und</strong> mit <strong>ein</strong>em Federstrich in<br />

<strong>ein</strong>en Alptraum. –”N.t.! Steht doch da groß <strong>und</strong><br />

handgeschrieben auf der ausgestellten<br />

Musterkachel!”- Die Buchstaben sind, ich gebe es<br />

zu, unübersehbar. ???N.t. ??? Hochnäsig, fast <strong>ein</strong><br />

wenig mitleidig lüftet er mir das Geheimnis des<br />

Geheimcodes: N.T. steht für “Não”, N<strong>ein</strong>, T. für<br />

“tem”, haben. Die Kacheln sind ausverkauft!!!!<br />

Bestellen? N.t.. Bestellen habe man nicht im<br />

Angebot. Erst in zwei oder drei Monaten komme<br />

<strong>ein</strong>e neue Ladung. Und man wisse nie so genau,<br />

was denn da komme .......<br />

Wie immer! Ich bin es, die etwas kaufen will! Der<br />

ach so liebenswürdige Verkäufer macht mir <strong>ein</strong>en<br />

riesigen Gefallen, mir überhaupt etwas verkaufen<br />

zu wollen! Ja, es war schon immer etwas<br />

komplizierter, <strong>ein</strong>en besonderen Geschmack zu<br />

haben.<br />

Bei der Konkurrenz gibt’s <strong>ein</strong>en neuen<br />

Geheimcode. Die Konkurrenz nennt sich “i9”! Es<br />

ist <strong>ein</strong>e Fre<strong>und</strong>in, sie sitzt im selben Boot, auch sie<br />

baut gerade, die mir auf die Sprünge hilft.<br />

“I+nove”, (Neun), ergibt das Wort “inove”,<br />

imperativ von innovieren, <strong>ein</strong>e Innovation<br />

machen. Ja, wenn <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong> Haus baut, innoviert<br />

er in den unterschiedlichsten Dingen.<br />

Eines jedenfalls wird mir immer klarer – perfekt,<br />

genauso wie ich es mir immer gewünscht habe,<br />

wird leider nur m<strong>ein</strong> nächstes Haus .... .<br />

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Chic caboclo<br />

Damit Sie auch etwas auf Ihre Kosten kommen,<br />

lade ich Sie zu <strong>ein</strong>em Stadtbummel <strong>ein</strong>, in <strong>ein</strong>es<br />

der populären Zentren natürlich. Hier finden Sie<br />

alles, was ich im Geheimen, verzeihen Sie mir die<br />

europäisch-überhebliche Arroganz, “Caboclo-<br />

Schick”, nenne. Der doch sehr zweifelhafte Schick<br />

des Nordens ist <strong>ein</strong>e überaus interessante<br />

Mischung aus ordinär <strong>und</strong> proper. Ein Geschmack,<br />

der sehr leicht in Kitsch abgleitet, besonders<br />

wenn er zu schreiend daherkommt, zu farbenprächtig,<br />

s<strong>ein</strong>e unverhüllte, unmittelbare<br />

Schwäche zum Billigen nie verleugnet. Aber meist<br />

balanciert er liebevoll genauf auf der Kante, ohne<br />

wirklich abzustürzen, rettet sich durch die<br />

Naivität, mit der er daher kommt, <strong>und</strong> die Freude<br />

<strong>und</strong> Natürlichkeit, mit der er getragen wird.<br />

Das typische an dieser Art Schick ist, neben der<br />

Lust auf schrille, farbige Farben, dass er k<strong>ein</strong>e<br />

Chance auslässt, hier noch etwas Glanz, da noch<br />

<strong>ein</strong> Spitzchen, <strong>ein</strong>en Strass, <strong>ein</strong>en überaus<br />

ausgefallenen Kragen, Dekolletés oder andere<br />

Aus- <strong>und</strong> Einschnitte, Einblick, Durchblick, <strong>ein</strong>e<br />

Aufschrift, <strong>ein</strong>e kindliche Zeichnung, <strong>ein</strong> Herz oder<br />

irgend<strong>ein</strong>e andere dekorative Kl<strong>ein</strong>igkeit<br />

anzubringen. Mehr sch<strong>ein</strong>t immer besser: noch<br />

enger, noch anliegender, noch zerschnittener,<br />

noch mehr Ausschnitt, am liebsten hinten <strong>und</strong><br />

vorne, noch mehr Transparenz, Spitze, Stickerei,<br />

Glanz. Die durch die Temperaturen auferlegten<br />

Einschränkungen sch<strong>ein</strong>en die lokalen Designer<br />

zur generellen Verblüffung geradezu zu beflügeln!<br />

Wie k<strong>ein</strong>e anderen pflegen sie das Ausgefallen-<br />

Andere, Extravaganzen, lieben neben schrägen<br />

Dekorationen, Drucke, Mix <strong>und</strong> Match, Stickerei<br />

<strong>und</strong> alle anderen denkbaren <strong>und</strong> <strong>und</strong>enkbaren<br />

Handarbeiten, kurz, alles, was herausputzt,<br />

verbessert <strong>und</strong> verschönt <strong>und</strong> natürlich immer die<br />

appetitlichen Körper <strong>und</strong> Kurven jener gut<br />

gepolsterten Mädchen, Frauen, Jungen <strong>und</strong><br />

Männer vorteilhaft zur Geltung bringt, nachzeichnet,<br />

betont, deren eher gedrungene Körperstatur<br />

<strong>ein</strong>e klare Tendenz zur üppigen Fülle zeigt.<br />

Alles wird mit so viel Frische, so r<strong>ein</strong> getragen,<br />

dass es <strong>ein</strong>em ins Herz schneidet, kindlich <strong>und</strong><br />

verspielt, Hauptsache es verschönt, macht auf sich<br />

aufmerksam, erheitert.<br />

Selbst wenn es gar k<strong>ein</strong>en „Jeitinho“, <strong>ein</strong> Kniffchen<br />

mehr gibt, den gerade herrschenden Modeschrei<br />

zu variieren, bleiben da immer noch die<br />

Accessoires. An k<strong>ein</strong>em anderen Ort sehe ich so<br />

viele goldene, lackierte, dekorierte Schuhe, mit<br />

transparentem oder nadelf<strong>ein</strong>em Stilettoabsatz,<br />

höher geht´s nicht, <strong>und</strong> hühneraugengarantierender,<br />

f<strong>ein</strong> zulaufender Spitze - wie wenn die<br />

Kleidung nicht schon auffällig genug wäre. Schreit:<br />

Hier bin ich! Seht her! Krasser nur die absolute<br />

Vorliebe für das unecht blondeste Blondhaar, die<br />

gar nicht diskret gebleichten Lichter <strong>und</strong><br />

Strähnchen, der Welt. Wen interessiert denn<br />

schon, dass es fake ist? Es macht doch Spaß!!!<br />

Schick-Caboclo ist r<strong>ein</strong>, ehrlich <strong>und</strong> konsequent –<br />

Alltags- <strong>und</strong> Straßenmode im besten, populärvulgärsten<br />

Sinn. Mode, die von der Straße<br />

kommt <strong>und</strong> für die Straße gemacht ist, denn sie<br />

setzt das Vulgär-S<strong>ein</strong> mit so viel Lust <strong>und</strong><br />

Augenzwinkern in Szene, missbraucht des<br />

Glanzes mit soviel Naivität, kleckert mit allen<br />

Regenbogenfarben, erfindet solch herzerfrischende,<br />

ausgefallene <strong>und</strong> überraschende<br />

Kombinationen, dass auch der schlechteste<br />

Geschmack liebenswert wird, zum Spiel, r<strong>ein</strong>es<br />

Vergnügen, fast kindlich. Manchmal sch<strong>ein</strong>t mir,<br />

bitte verzeihen Sie mir zum zweiten Mal, als ob<br />

der Karneval hier im Norden, oder besser die<br />

zwei „Bois“, (legendäre Figuren der Folklore,<br />

Ochsen Caprichoso oder Garantido, die bei<br />

<strong>ein</strong>em farbenprächtigen Volksfest in Parintins<br />

gegen<strong>ein</strong>ander kämpfen), immer präsent sind,<br />

jeden Tag <strong>ein</strong> wenig. Und schon erwische ich<br />

mich dabei, wie ich angesteckt werde, <strong>ein</strong><br />

Schleifchen hier, <strong>ein</strong>en Strass da, aber unglücklicherweise<br />

reicht auch das nicht, um m<strong>ein</strong>e<br />

„Gringuez“, m<strong>ein</strong> Ausländers<strong>ein</strong> zu vertuschen,<br />

was es aber nicht weniger vergnüglich macht.<br />

Die Schaufenster, <strong>ein</strong>e Welt für sich, halten mit.<br />

Am tollsten finde ich die, die nicht mal Scheiben<br />

haben. Dreißig, vierzig identisch kopflose<br />

Puppen, Hals, Brust, Hüften <strong>und</strong> mehrheitlich<br />

nackte B<strong>ein</strong>e, <strong>ein</strong> stummes, erstarrtes Ballett,<br />

sind <strong>ein</strong>fach außerhalb des Geschäftes hoch<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 484


unter das Vordach gehängt. Weiter oben <strong>ein</strong>e<br />

weitere identische Reihe, <strong>und</strong> gleich darüber<br />

Torsos, die irgendwo vor der Schamgrenze enden,<br />

bunt, <strong>ein</strong> ausgefallenes, eigenwilliges Ornament,<br />

das sich grellfarbig von der starkgelben, lang<br />

gezogenen Mauer abhebt. Freiluftschaufenster,<br />

die wohl Dreiviertel oder mehr dessen anbieten,<br />

was das Geschäft gerade zu verkaufen hat.<br />

Aber warten Sie nur! Der allerletzte Schrei,<br />

perfekt für Fashion Victims, sind – auch wenn Sie<br />

es mir nicht glauben, kniehohe, winterliche,<br />

weiche Schaftstiefel, hoch bis zum Knie <strong>und</strong> lose<br />

geknautscht, mit dicken Plateausohlen!!!! –<br />

„Verkaufen sich gut, ja“ – bestätigt mir der<br />

aufmerksame Verkäufer. Wie wär´s denn???? –<br />

Hier haben alle Shoppings Klimaanlage.... Sie<br />

werden übrigens gleich Seite an Seite mit den<br />

Havaianas, den Flip-Flops angeboten .... .<br />

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Ekel, ganz privat<br />

Haben Sie den Witz vom Portugiesen, der fast zur<br />

Ente geworden wäre, schon gehört? Wie es<br />

soweit kam? Der badete doch, welches<br />

Missgeschick, in <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Jahr gleich<br />

zweimal: Das <strong>ein</strong>e Mal fiel er, k<strong>ein</strong>er wusste<br />

genau, wie das Unglück geschah, von der Brücke,<br />

direkt in den Sturzbach. Das zweite Mal wurde<br />

der gänzlich Unvorbereitete von <strong>ein</strong>em<br />

gewaltigen Tropenunwetter überrascht, das ihn<br />

bis auf die Haut durchnässte.<br />

Uralt <strong>und</strong> immer wieder gern erzählt, hat hier im<br />

Amazonas doch jeder schon mal von jenen eklig<br />

ungewaschenen Barbaren gehört, die, je nach<br />

Interpretation, bis heute lieber Parfüm benutzen<br />

als gutes, <strong>ein</strong>faches Wasser. Auch wenn der<br />

<strong>ein</strong>fache Mann, der uns, beileibe nicht persönlich<br />

nehmen, den Witz erzählt, selber wohl noch nie<br />

<strong>ein</strong>en nicht gerade gut riechenden Portugiesen zu<br />

Gesicht bekam, auch er nimmt, wie alle hier,<br />

Indioerbe, wie sie stolz bemerken, drei bis viermal<br />

am Tag heilig s<strong>ein</strong> Bad. Und baden oder besser<br />

duschen ist hier beileibe nicht gleich duschen. Da<br />

gibt es das „Banho de Português“, sozusagen fast<br />

wasserlos. Duscht man aus Zeitgründen nur sehr<br />

kurz, zum Beispiel, weil das Essen schon auf dem<br />

Tisch steht, wirft man sich etwas Wasser über -<br />

„Jogar uma água“, denn <strong>ein</strong> wirkliches, köstliches<br />

Bad kann sehr gut <strong>ein</strong>e Viertelst<strong>und</strong>e oder mehr<br />

dauern <strong>und</strong> verbraucht natürlich entsprechend<br />

viel Wasser. Kl<strong>ein</strong>es Detail: Privathaushalte<br />

verfügen in Brasiliens Norden normalerweise nur<br />

über fließend kaltes Wasser – es ist ja sonst schon<br />

heiß genug.<br />

Aber bringen wir es auf den Punkt: Duschen oder<br />

Baden ist für Europäer wohl eher <strong>ein</strong>e<br />

Notwendigkeit, <strong>ein</strong> Müssen, ganz anders für die<br />

Einheimischen. Es ist <strong>ein</strong> lebensnotwendiges<br />

Vergnügen, <strong>ein</strong> Recht, von dem sie oft mehrmals<br />

am Tag <strong>und</strong> sicher immer nach dem Aufstehen<br />

<strong>und</strong> vor dem Einschlafen Gebrauch machen;<br />

belebend, erfrischend, erneuernd oder interessanterweise<br />

beruhigend.<br />

Womit <strong>ein</strong>mal mehr bewiesen ist, wie kulturell<br />

Tabus, Hygienevorschriften, Ekel <strong>und</strong> Widerwillen<br />

sind. Religion <strong>und</strong> lokale Überlieferungen, von den<br />

Indigenen übernommen, vermischen sich hier im<br />

hohen Norden zu <strong>ein</strong>em hochinteressanten<br />

Cocktail, der von allen Gesellschaftsschichten<br />

respektiert wird. Besonders r<strong>und</strong> ums Essen gibt<br />

es <strong>ein</strong>e Reihe von Tabus. Hat man Fieber, soll man<br />

k<strong>ein</strong>e Mangos essen, schon gar k<strong>ein</strong>e Grünen.<br />

Jeder weiß von <strong>ein</strong>em Verwandten, der danach<br />

sogleich ins Krankenhaus <strong>ein</strong>geliefert wurde.<br />

Aber zurück zur Hygiene. Der selbe Mann, der den<br />

Witz mit dem Portugiesen erzählt, produziert in<br />

s<strong>ein</strong>em Hinterhof Farinha. Dabei hat er, wie es <strong>ein</strong>,<br />

ziemlich pingeliger K<strong>und</strong>e ironisch umschreibt,<br />

drei Gehilfen: <strong>ein</strong> frei herumlaufendes schwarzes<br />

Schw<strong>ein</strong>, das s<strong>ein</strong>e abgeflachte Nase selbstbewusst<br />

in alles steckt, <strong>ein</strong> kauziges Äffchen,<br />

dessen Schnur es ihm nicht erlaubt, viel weiter<br />

als auf das Dach des Farinhahauses zu klettern,<br />

wo es den Papagei trifft, der mit s<strong>ein</strong>en heiseren<br />

Schreien alle anfeuert. Dabei hat er die frei<br />

herumlaufenden Hühner <strong>und</strong> Enten gar nicht<br />

mitgezählt <strong>und</strong> auch nicht die verschiedenen<br />

räudigen Straßenköter, die es sich gerne unter<br />

den riesigen Wannen bequem machen.<br />

Gewöhnungsbedürftig ist auch der leere<br />

Schildkrötenpanzer, Schildkröten sind hoch<br />

geschützt, der Panzer hier dient als <strong>ein</strong>e Art<br />

Schaufel. Auch das Abwasser, das kloakig im<br />

Gr<strong>und</strong> versickert ist nicht gerade<br />

umweltfre<strong>und</strong>lich, genauso wie das, <strong>ein</strong>fach<br />

über´s Gitter geworfene, unansehnlich bleiche<br />

Stück Talg, mit dem die riesigen Wannen<br />

<strong>ein</strong>gerieben werden. Was für <strong>ein</strong> Trost, dass<br />

Farinha hoch erhitzt wird, was wohl alle Keime<br />

tötet. Sicher sind so gut wie alle auf dem Markt<br />

erhältlichen Farinhas irgendwie be<strong>ein</strong>trächtigt.<br />

Denn bis heute gibt es für solche handwerklich<br />

hergestellten Lebensmittel k<strong>ein</strong>e vorgeschriebene<br />

Standards. Die Ges<strong>und</strong>heitsinspektion<br />

generell ist recht prekär.<br />

Aber zurück zum Talg. Erst vor kurzem lernte ich,<br />

was „Sebo“, Talg, eigentlich ist. Kaufte, neugierig<br />

wie ich nun mal bin, <strong>ein</strong> Stück <strong>ein</strong>gesalzenes<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 490


Fleisch, ziemlich durchzogen, was mich aber nicht<br />

weiter störte. Weichte das Fleisch <strong>ein</strong>e Nacht <strong>ein</strong>,<br />

überbrühte es mit heißem Wasser <strong>und</strong> schnitt die<br />

Hälfte kl<strong>ein</strong>. Gut frittiert, mit viel Zwiebeln<br />

angerichtet, hatte das verdammte Fleisch auf<br />

m<strong>ein</strong>em Teller aber <strong>ein</strong>en deutlich seifigen<br />

Geschmack! Die Hausangestellte löste das Rätsel<br />

sofort. Denn das, was das Fleisch weißlich<br />

durchzog, ich hielt es für saftiges Fett, war<br />

„Sebo“, Talg. Internet sei Dank lerne ich dann,<br />

dass Talg bis heute für die Herstellung von Seife<br />

<strong>und</strong> Kosmetika verwendet wird. Talg wird deshalb<br />

vor dem Zubereiten sorgfältig weggeschnitten.<br />

Was in der Zivilisation natürlich der Metzger<br />

macht….. . Die Probe auf Exempel lieferte mir<br />

dann das restliche Stück Fleisch, das,<br />

entsprechend in st<strong>und</strong>enlangem Rumschneiden<br />

von allem Talg befreit , zu <strong>ein</strong>em riesen Erfolg<br />

wurde. Der sonst eher zimperliche Handwerker,<br />

der was-der Bauer-nicht-kennt-frisst-er-nicht-<br />

Maurer, hier essen sie am Tisch mit, kratzte auch<br />

das letzte Stückchen Fleisch mit viel Farinha aus<br />

der Bratpfanne.<br />

Ja, mit dem Fleisch ist es hier etwas kompliziert.<br />

Es gibt den Metzger <strong>und</strong> dann aber auch kl<strong>ein</strong>e<br />

Baracken, die nur „Viceras“, Eingeweide<br />

verkaufen. Da hängen malerisch assortiert die<br />

Rinderb<strong>ein</strong>e für die Rindermarksuppe neben den<br />

Kutteln, natürlich noch am Stück <strong>und</strong> auch das<br />

bloß geschabte Gerippe findet Abnehmer. Lerne,<br />

dass solche Knochen, <strong>ein</strong>e Nacht <strong>ein</strong>gesalzen,<br />

nicht nur <strong>ein</strong>e leckere Brühe geben, sondern auch<br />

die tagtäglichen Bohnen geschmacklich ungem<strong>ein</strong><br />

bereichern. Ein Tier vom Scheitel bis zum Schwanz<br />

zu verwerten, ist hier also noch wirkliche<br />

Wirklichkeit. Am Wochenende darf‘s auch mal<br />

Schw<strong>ein</strong> s<strong>ein</strong>. Das arme hängt, ganz ohne Kühlung,<br />

an der freien Luft zum Verkauf. Es hat, solange es<br />

hat. In die selbe Kollektion gehört auch das das<br />

tiefgefrorene Hähnchen, das im Küchenbecken bei<br />

schon frühmorgendlichen 30 Grad auftaut. K<strong>ein</strong><br />

Problem! Aller Ekel wird damit wettgemacht, dass<br />

man es so gut durchbrät, dass es stocktrocken auf<br />

den Tisch kommt. Zudem werden Hähnchen, Fisch<br />

<strong>und</strong> alle Meerestiere, auch alles Eingesalzene vor<br />

dem Zubereiten mit sehr viel Zitronensaft <strong>und</strong><br />

Wasser gewaschen. Oder noch radikaler, das wirkt<br />

auch gegen zu viel Salz, mit kochend heißem<br />

Wasser übergossen. Es gibt hier gar <strong>ein</strong>e spezielle<br />

Zitrone, - ergibt, zusammen mit der Schale<br />

gemixt, <strong>ein</strong>en w<strong>und</strong>erbares Erfrischungsgetränk! –<br />

die nur dazu dient, um Fisch <strong>und</strong> Fleisch zu<br />

waschen.<br />

Denn neben dem Waschen wird hier alles vorher<br />

angerochen. Fischgeruch hat <strong>ein</strong>en eigenen,<br />

lokalen Namen: „Pitiú“ . „Pitiú“ ist <strong>ein</strong><br />

uramazonisches, unübersetzbares indigenes Wort.<br />

Umschreibt den Geruch <strong>ein</strong>es Fisches, der aber<br />

nicht unbedingt „fischig“ riecht, Pardon, stinkt.<br />

Auch Eigelbe werden gr<strong>und</strong>sätzlich vom f<strong>ein</strong>en<br />

Häutchen befreit. Denn auch das hat „Pitiu“.<br />

Auch Essen, Haare, Kleider, Häuser, Straßen, alles<br />

wird berochen - über Nasen, respektive Gerüche<br />

oder ekelerregende Gestänke diskutiert man<br />

wohl besser nicht. Aber Wasser, sehr viel Wasser<br />

<strong>und</strong> noch mehr Wasser wäscht alles, angenehme<br />

<strong>und</strong> unangenehme Gerüche <strong>ein</strong>fach weg.<br />

Man wäscht <strong>und</strong> hygienisiert hier alles. Früchte,<br />

Gemüse, <strong>ein</strong>fach alles was vom Markt, von der<br />

Straße kommt, wird in mehreren Etappen<br />

keimfrei gemacht. – Ist doch schon durch so<br />

viele, nicht immer saubere Hände gegangen!<br />

Gemüse <strong>und</strong> Früchte, auch die, die man vor dem<br />

Genuss schält oder kocht, obligatorischerweise<br />

<strong>ein</strong>e aufwendige Prozedur. Sie werden zuerst gut<br />

<strong>und</strong> kräftig mit viel Seifenwasser abgerieben,<br />

treiben dann für längere Zeit in <strong>ein</strong>er mit<br />

Hardcore Chemie sterilisierten Wasserbad. Nicht<br />

von ungefähr sind hier Hydroponieprodukte sehr<br />

beliebt - die haben ja k<strong>ein</strong>en Kontakt mit der<br />

ach so ekligen Erde!<br />

Dass die sie selben Personen aber problemlos<br />

jeden Tag Margarine statt Butter essen, viel<br />

billiger <strong>und</strong> k<strong>ein</strong> Cholesterin <strong>und</strong> nur Milch aus<br />

Milchpulver, möglichst mit Vitaminzusätzen <strong>und</strong><br />

so trinken, zum Mittagessen fettigst<br />

Ausgebackenes, aber natürlich nur weißes<br />

Fleisch! Rotes ist ja so schrecklich <strong>und</strong> besonders<br />

bei Hackfleisch muss das so eklige Blut unbedingt<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 491


vor dem Braten weg gewaschen werden! stört<br />

k<strong>ein</strong>en. Ekel ist auch der Gr<strong>und</strong>, weshalb k<strong>ein</strong><br />

brasilianischer Sandwich- oder Hotdogverkäufer<br />

s<strong>ein</strong> Produkt ohne Wegwerfplastikhandschuh<br />

<strong>ein</strong>füllt, jedes Brötchen mit <strong>ein</strong>er Zange angefasst<br />

wird, <strong>und</strong> manche Restaurants die Verschlüsse<br />

der Flaschen mit <strong>ein</strong>em Papiertaschentuch<br />

umwickeln. Auch für manche Bierdosen gibt es<br />

hier <strong>ein</strong>en zusätzlichen Aludeckel. Mit bloßer<br />

Hand berührt <strong>ein</strong> Verkäufer nur so etwas eklig<br />

schmutziges wie m<strong>ein</strong> Wechselgeld.<br />

Neben dem sozusagen allgem<strong>ein</strong> etablierte Ekel<br />

vor allen Tieren gehören auch andere weniger<br />

nachvollziehbare Hygienevorschriften ins Kapitel<br />

Sauberkeit. Wie unvorstellbar eklig, sich am<br />

Küchenwaschbecken die Zähne zu putzen! Einfach<br />

unvorstellbar, im Bad Früchte oder Gemüse zu<br />

waschen! - N<strong>ein</strong>! Halt! Was fällt dir <strong>ein</strong>! Hier,<br />

nimm dieses Becken! - Füße oder gar intimere<br />

Körperstellen kann man sich unmöglich im selben<br />

Plastikbecken waschen, in dem normalerweise die<br />

Wäsche <strong>ein</strong>geweicht wird(!).<br />

Allen ist klar, dass man Slips <strong>und</strong> andere<br />

Intimwäsche streng getrennt von der restlichen<br />

<strong>ein</strong>weicht, sie zwar in der selben Waschmaschine,<br />

aber in streng getrennten Waschgängen wäscht.<br />

Perfekte Hausfrauen haben, auch wenn sie streng<br />

katholisch sind, viele Gerätschaften doppelt,<br />

<strong>ein</strong>mal für Süßspeisen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal für Salziges,<br />

<strong>ein</strong>mal für Früchte <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal für Knoblauch <strong>und</strong><br />

Zwiebeln. Wo darf ich denn nun das Gemüse<br />

schneiden? Das Besteck liegt, in der Schublade<br />

drin, in <strong>ein</strong>er fest schließenden Schachtel, deren<br />

Deckel jedes mal abgedeckt werden muss - es<br />

könnte ja, zu nachtschlafener Zeit <strong>ein</strong>er überaus<br />

ekligen Kakerlake <strong>ein</strong>fallen, unbemerkt über<br />

die so sorgfältig gewaschenen Messer <strong>und</strong> Gabeln<br />

schlafzuwandeln.<br />

Aus dem selben Gr<strong>und</strong> kann man hier auch in der<br />

Dusche den Ablauf verschließen, etwas, was ich<br />

erst lerne, nachdem ich die ganze Dusche<br />

knöcheltief unter Wasser gestellt habe. –<br />

Verständlich. Denn, nur wenn man es mit eigenen<br />

Augen gesehen hat, mit welch außergewöhnlicher<br />

Geschicklichkeit <strong>und</strong> unvorstellbarer Schnelligkeit<br />

es so <strong>ein</strong>em geflügelten Ekel gelingt, sich dem<br />

tödlichen Schlag des Schuhs ausgerechnet durch<br />

das winzige Loch des Ablaufes, sicher fünfmal<br />

kl<strong>ein</strong>er als das Insekt, zu entziehen. Dank s<strong>ein</strong>em<br />

versteckt unterirdischen Leben hat sich s<strong>ein</strong><br />

Körper so weit entwickelt, dass er sich so fix <strong>und</strong><br />

so überaus geschickt zusammenzuquetschen kann,<br />

was es ihm erlaubt, zu verschwinden, bevor man<br />

auch nur Zeit hatte, Verblüffung zu zeigen. -<br />

Kakerlaken sollen, sagen sie, als Einzige <strong>ein</strong>en<br />

Atomkrieg überleben... . Dagegen nimmt sich der<br />

kl<strong>ein</strong>e Frosch, ich finde ihn gar nicht eklig, er hat<br />

sich anstelle <strong>ein</strong>er wassergefüllten Bromelie das<br />

stehende Wasser der Toilette zum Pool<br />

ausgesucht, wo er standhaft auch den<br />

energischsten Spülversuchen stoisch Widerstand<br />

leistet, dagegen geradezu sympathisch aus.<br />

Apropos Bad: Brasilianische Badezimmer werden<br />

regelmäßig mit regelrechten, effektvollen<br />

Wasserschlachten geputzt oder besser<br />

überflutet. Wupps, noch <strong>ein</strong> Kessel voller<br />

Seifenwasser spritzt alle Wände hoch. Und gleich<br />

noch <strong>ein</strong>er, wie das effektvolle Platschen verrät.<br />

Was mit dem Wasser passiert? Alle<br />

brasilianischen Badezimmer haben genau in der<br />

Mitte <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>gebauten Ablauf. So manche<br />

Brasilianerin soll im Ausland verzweifelt die<br />

Schwiegermutter angerufen haben, um zu<br />

lernen, wie man hier denn nun <strong>ein</strong> Bad ohne<br />

Ablauf sauber kriegen solle. Hier entkommt auch<br />

k<strong>ein</strong> Küchenboden dem allgegenwärtigen<br />

Wasserschlauch. Wird zentimeterhoch geflutet,<br />

so effizient, dass Kochherde <strong>und</strong> Kühlschränke<br />

mit den Jahren still vor sich hin rosten.<br />

Erstaunt es Sie da, dass die Einheimischen vor<br />

lauter Ekel <strong>ein</strong>en sozusagen verbrannten oder<br />

betonierten Ring um ihre Häuser legen? Schatten<br />

bringende Pflanzen, von denen eklige Tierchen<br />

fallen könnten, nur in gebührendem Abstand<br />

dulden? Alles, was eklig kreucht <strong>und</strong> fleucht<br />

töten, ausrotten, vergiften? Die reichste<br />

Biodiversität der Welt ist wohl auch die am<br />

meisten gefürchtete <strong>und</strong> gehassteste. Hier im<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 492


Norden ist die urbanisierte, betonierte,<br />

plastifizierte Welt der Städte ohne fliegende,<br />

kriechende, wuselnde Ekel die Erfüllung des<br />

Konsumtraums. Symbolisiert Fortschritt,<br />

Wohlergehen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Am interessantesten aber ist, wie überaus relativ<br />

<strong>und</strong> selektiv Ekel s<strong>ein</strong> kann. So wird im Haus drin<br />

<strong>und</strong> gleich darum herum, exakt bis zum<br />

Gitterzaun, nicht das kl<strong>ein</strong>ste Schmützchen<br />

geduldet. Aller ist immer unfehlbar sauber, von<br />

den gefliesten Böden könnte man essen. Eine<br />

winzige Maus sorgt tagelang für Gesprächsstoff.<br />

Überschreitet man dann allerdings die Schwelle,<br />

schließt man die Haustür oder besser das Gitter<br />

hinter sich, türmen sich gleich da, vor dem Haus,<br />

seit <strong>ein</strong>er Woche schon, auf dem Bürgersteig die<br />

Abfallsäcke, ironischerweise in demselben Haus<br />

erzeugt. Die Müllmänner streiken mal wieder?<br />

N<strong>ein</strong>, sie arbeiten, aber sie nehmen nur jenen<br />

„Müll“ mit, der irgendwie in irgendwelche Tüten,<br />

normalerweise Supermarkttüten, abgefüllt ist.<br />

Wie gut, dass wenigstens die allgegenwärtigen,<br />

aber ja so ekligen Aasgeier ihre Arbeit nie<br />

<strong>ein</strong>stellen. Nur sollten sie sich besser mit den<br />

Müllmännern absprechen…<br />

Und der Hügel Bauschutt da drüben? Bietet<br />

mehreren Generationen der selben Rattenfamilie<br />

<strong>ein</strong>en geradezu idealen Unterschlupf. Sch<strong>ein</strong>t<br />

schon seit Monaten s<strong>ein</strong>em unbestimmten<br />

Schicksal zu harren!<br />

Die Erklärung ist <strong>ein</strong>fach. W<strong>und</strong>ersamerweise<br />

verwandelt sich Müll beim Überschreiten der<br />

Schwelle sozusagen in Gem<strong>ein</strong>gut. Einmal<br />

hinausgestellt ist er nicht mehr „m<strong>ein</strong>“ Müll,<br />

„m<strong>ein</strong>“ Problem. Jenseits des Gitters ist die Stadt,<br />

der Bürgermeister, der Gouverneur, was weiß ich<br />

wer, zuständig!<br />

Das gilt auch für die wortwörtlich zum Himmel<br />

stinkenden, ölig-pech-kloakigen Abwasserkanäle.<br />

Klar, auch sie sind schlecht riechendes Gem<strong>ein</strong>gut.<br />

Befinden sich, kurz vor dem Überlaufen, schwarz,<br />

stehend <strong>und</strong> vor sich hin faulend, zwei Straßen<br />

unterhalb der besten Wohngegend. Gewöhnungsbedürftig,<br />

überaus gewöhnungsbedürftig. Wie die<br />

unbebauten Gr<strong>und</strong>stücke, die als Abfallhalden von<br />

gut genährten Aasgeiern frequentiert werden. Die<br />

selben, die sich kurz zuvor der offen zurückgelassenen<br />

Reste des Quartiermarktes<br />

angenommen haben. Sch<strong>ein</strong>bar werden sie nie<br />

satt. – Schon daran gedacht, was passierte, wenn<br />

sie es nicht machen würden?<br />

Ja, Ekel ist wirklich kulturell.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 493


Von der Neuen Welt,<br />

dem Ende der Welt<br />

<strong>und</strong> anderen Welten<br />

Diese <strong>und</strong> nächste <strong>Foto</strong>s<br />

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So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn!<br />

Der Matriarchin der Familie, Gott sei ihrer Seele<br />

gnädig, lag der Spruch, wahlweise als<br />

willkommene Erklärung, wohlfeile Entschuldigung<br />

oder ganz <strong>ein</strong>fach als Ausrede, sozusagen auf der<br />

Zungenspitze: - „M<strong>ein</strong> Sohn, so was gibt´s hier<br />

doch nicht!“ – Ewig <strong>ein</strong>tönige Leier,<br />

praktischerweise immer dann herangezogen,<br />

wenn sie sich <strong>ein</strong> neues Pülverchen, dunkleres<br />

Brot, jene tolle Salbe oder <strong>ein</strong>en Tee zur besseren<br />

Verdauung besorgen sollte. Es waren hilflose<br />

Anstrengungen, um ihre ständigen Ges<strong>und</strong>heitsprobleme,<br />

<strong>ein</strong>ige fanden, sie seien eher<br />

hypochondrischer Natur, zu kurieren oder<br />

wenigstens zu lindern.<br />

<strong>Amazonien</strong> liegt nun mal am Ende der Welt!<br />

Deshalb wusste sie, ohne auch nur nachzufragen,<br />

<strong>ein</strong>fach aus purer Erfahrung, dass alle<br />

Neuigkeiten, Moden, Erneuerungen nur sehr<br />

zögerlich, wenn überhaupt, bis hier in den ach so<br />

abgelegenen Norden Brasiliens gelängen. Nicht<br />

von Ungefähr heißt der zwar etwas chaotische,<br />

aber überaus gut dotierte Laden an den Kais in<br />

Santarém, Ironie hin oder her, ganz schlicht <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>fach „Fim do M<strong>und</strong>o“ - „Ende der Welt“! Fragt<br />

man den Besitzer nach der Wahl, weicht er aus.<br />

Die Geschichte sei zu komplex <strong>und</strong> zu lange, um<br />

wiedergegeben zu werden.<br />

Und um vom kl<strong>ein</strong>en aufs Große zu schließen: -<br />

„Aber du weißt doch, dass es das hier nicht gibt,<br />

m<strong>ein</strong> Sohn!“ – „Aber das weiß doch jeder, dass das<br />

hier nicht möglich ist, m<strong>ein</strong>e Liebe!“ - ist hier bis<br />

heute <strong>ein</strong> geflügelter lokaler Spruch. Nie habe ich<br />

<strong>ein</strong>e Region gesehen, wo es schwieriger war,<br />

etwas zu erreichen, etwas zum Funktionieren<br />

bringen, etwas zu Ende bringen. Es gibt<br />

Intellektuelle, die darin gar <strong>ein</strong>e Art Bauernschläue,<br />

<strong>ein</strong>e Revanche der ewig Unterlegenen<br />

sehen. Eine Auflehnung gegen all die von außen<br />

aufgezwungenen Anforderungen, Neuerungen.<br />

Der Spruch wird immer dann angewendet, wenn<br />

etwas unmöglich sch<strong>ein</strong>t, gar etwas Anstrengung<br />

verlangt oder sonst wie kompliziert ist. Plötzlich<br />

werden dann auch alle, auch die freiesten<br />

Freiberufler zu öffentlichen Angestellten. Angestellte<br />

von der Sorte, die jegliche Arbeit als riesiges<br />

Opfer, unzumutbare Zumutung ansehen. Für den<br />

Patriarchen oder ihre Familie würden sie zwar<br />

sofort <strong>und</strong> augenblicklich, aber für <strong>ein</strong>en<br />

Fremden....<br />

Sehr interessant <strong>und</strong> im Alltag oft ziemlich tricky,<br />

denn mit logischen Argumenten ist dieser Attitüde<br />

nicht beizukommen. Nur auf schlauen Umwegen<br />

oder mit rücksichtsloser patriarchalischer<br />

Autorität. Auch nicht jedermanns Sache. Aber<br />

vielleicht ist das halt der Preis, <strong>ein</strong>e Art Wegzoll,<br />

den es <strong>ein</strong>fach zu entrichten gilt. Im Gegenzug<br />

bekommt man all das, was das überaus<br />

fre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong> bukolische Hinterland ausmacht.<br />

Unfreiwillig ironische wird es dann, wenn die<br />

selben Personen über die „Fünfte Welt“,<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich m<strong>ein</strong>te er die Dritte, herziehen, in<br />

der sie leben. Das schlecke k<strong>ein</strong>er weg -<br />

<strong>Amazonien</strong> haben sie sowieso vergessen, das<br />

liege am Arsch der Welt! Am liebsten morgen<br />

schon würde er fliehen, flüchten. Aus der selben<br />

Welt, in deren Rädchen er aber selbst jeden Tag<br />

<strong>ein</strong> wenig Sand streut.<br />

Wie auch immer. Brasilien, die Welt rückt<br />

zusammen. Und so wird wohl irgendwann auch<br />

das Vorurteil, dass alles, was auch Südbrasilien<br />

komme, oder noch besser importiert sei, nicht<br />

nur besser schmecke, billiger sei, von besserer<br />

Qualität, länger funktioniere <strong>und</strong> das in allen<br />

Bereichen. Und das, auch nur dann, wenn es<br />

überhaupt, siehe oben, bis hierherkommt.<br />

Kann dem nur immer wieder entgegenhalten: Ich<br />

hoffe, ich werde es noch erleben, dass auch in<br />

São Paulo oder im Ausland jemand die<br />

fantastischen lokalen Früchte <strong>und</strong> das<br />

unnachahmliche andere Essen entdeckt.<br />

Sozusagen den Spieß umdreht <strong>und</strong> hochnäsig<br />

sagt, dass der <strong>ein</strong>heimische Fisch ganz <strong>ein</strong>fach<br />

viel frischer <strong>und</strong> besser schmeckt, als die<br />

Mehrzahl der Fische in Südbrasilien oder auch in<br />

Europa. Ich weiß, noch hat fast k<strong>ein</strong>er, oder<br />

wollte fast k<strong>ein</strong>er das Potenzial erkennen, das<br />

logistische Problem, die fehlende Infrastruktur,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 498


die Konservierung <strong>und</strong> den Nachschub lösen!<br />

Warum geht es nur umgekehrt? So kann man,<br />

bald schon, sehr bald, überall die selben,<br />

identischen Produkte kaufen. Das selbe<br />

amerikanische Brot, papieren <strong>und</strong> kraftlos,<br />

identisches Fast Food, die selben chinesischen,<br />

synthetischen Blüschen <strong>und</strong> Regenschirme, die<br />

selben Nachrichten <strong>und</strong> Novelas sehen, <strong>und</strong> den<br />

gleichen, künstlich aromatisierten Kaffee trinken.<br />

Wie wenn der Traktor des unaufhaltsamen<br />

Fortschritts nur Gutes, nur Segnungen bringen<br />

würde!<br />

Ketzerische Fragen - stehe auf verlorenem Posten.<br />

K<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Brasilianer aus dem Norden, auch<br />

die mit ges<strong>und</strong>em Selbstvertrauen, wird mir je<br />

beipflichten wollen oder können. Jeder will, am<br />

liebsten morgen schon, s<strong>ein</strong>e Shoppingcenter-<br />

Kultur, am liebsten gleich vor der Haustür, auch<br />

wenn er damit eigentlich den so schön<br />

<strong>ein</strong>geübten, ewigen Refrain Lügen straft: - „M<strong>ein</strong>e<br />

Tochter, leider, leider gibt es das hier nicht!<br />

Wusstest du das denn nicht?“ –<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 499


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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 501


Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit<br />

Der Geburtstagskuchen ist gigantisch, <strong>ein</strong><br />

rechteckiges Ungetüm. Der Zuckerguss, babyrosa-farben,<br />

hingebungsvoll verziert er die<br />

Ränder. Die Glückwünsche sind in gelben, schwarz<br />

abschattierten Buchstaben geschrieben <strong>und</strong><br />

gleich darüber, mir bleibt die Luft im Hals stecken,<br />

gibt es das übergroße, perfekt in Zucker<br />

gedruckte Abbild des Geburtstagskindes, <strong>ein</strong><br />

strahlendes Lächeln auf dem Kindergesicht!!!!<br />

Gott sei Dank, die <strong>ein</strong>zige Kerze steckt diskret im<br />

rechten Eck des süßen Werkes, wohl der letzte<br />

Schrei des trendigen Zuckerbäckers. Lieber Gott,<br />

mache, dass sie mir nur vom orangen Kleidchen<br />

auftischen! Könnte es nicht über mich bringen,<br />

<strong>ein</strong>en Teil der rosig zuckergussenen Wange oder<br />

gar <strong>ein</strong> Auge zu kannibalisieren. Schon <strong>ein</strong>e<br />

Strähne des lockigen Haares des lieben<br />

Geburtstagskindes herunterzuschlingen, würde<br />

mich was kosten.<br />

Immer wieder gibt es Torten, die <strong>Foto</strong>s zieren.<br />

Das nächste Mal verschmähe ich das Bild, <strong>ein</strong>e<br />

Homenage, das sorgfältig von steifen Cremeringeln<br />

gesäumt die Riesentorte ziert. Es ehrt jene<br />

Matriarchin, die hier im Dorf <strong>ein</strong>e große Rolle<br />

spielte, <strong>und</strong> nun aus den Himmeln auf das Werk<br />

herunterschaut. Auch dem kollektiven <strong>Foto</strong> der<br />

Zumbatänzerinnen zeige ich die kalte Schulter.<br />

Bemerke, als ich mich, natürlich hinter vorgehaltener<br />

Hand, leise <strong>und</strong> diskret beschwere,<br />

dass k<strong>ein</strong>er m<strong>ein</strong>e Skrupel versteht – Neuheiten, je<br />

ausgefallener, desto lieber, kommen an - je<br />

glänzender, ausgefallener, blumiger, farbiger <strong>und</strong><br />

natürlich am liebsten aus Plastik <strong>und</strong> so richtig<br />

schön künstlich sind wirklich gesucht!<br />

L<strong>ein</strong>enbetttücher? Ewig gestrig, ererbt <strong>und</strong> damit<br />

schon etwas fadensch<strong>ein</strong>ig, gehören immer in<br />

m<strong>ein</strong> Tropengepäck. N<strong>ein</strong>, nur wer mag schläft,<br />

krumm wie <strong>ein</strong>e Banane, in der immer kühleren,<br />

aber gewöhnungsbedürftigen Hängematte.<br />

Unglücklicherweise verweigert m<strong>ein</strong> Körper nicht<br />

nur Hängematten, sondern auch die ach so<br />

moderne, synthetische Bettwäsche, die sich so<br />

gerne klitschig, klebrig-heiß auf die Haut klebt, sich<br />

beim Hin <strong>und</strong> Her wälzen als effizienter Brutkasten<br />

entpuppt. Stelle ich die Klimaanlage an,<br />

verwandelt sie die Betttücher sogleich in eisige<br />

Klitschfallen. Wie w<strong>und</strong>erbar kühl ich da in<br />

m<strong>ein</strong>em r<strong>ein</strong>en L<strong>ein</strong>en schlafe!<br />

Das magische Bermudadreieck - modern-neupraktisch<br />

verfolgt mich. Es gilt als überaus schick<br />

oder praktisch?, die plastiküberzogenen Sitze des<br />

neuen Autos nicht zu entfernen. Stur besitzt man<br />

die sich unweigerlich öffnenden Spalten, die<br />

Plastikreste, die sich als <strong>ein</strong>zelne Streifen herunter<br />

schälen um zum Schluss total zerfleddert<br />

herunterhängen. Nur Taxifahrer <strong>und</strong> Buschauffeure<br />

sitzen auf luftigen Holzperlensitz<strong>ein</strong>lagen,<br />

die elegant den direkten Kontakt mit dem ach so<br />

praktischen Plastik vermeiden.<br />

Schlimmer als praktischer Plastik wohl nur das<br />

allgegenwärtige Kunstleder. Sie haben es erraten,<br />

natürlich fast immer in strahlendem Weiß! Meiden Sie<br />

die wolkenweichen Sofas, besonders wenn Sie Shorts<br />

tragen, denn es besteht die Gefahr, ganz<br />

<strong>ein</strong>fach darin festzukleben! Haut <strong>und</strong> ultra-heißer<br />

Plastik <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, klatschige Masse, wenn Sie darin<br />

nicht buchstäblich ertrinken, wenn sich unter Ihren<br />

Schenkeln wahre Seen unschuldigen Schweißes<br />

ansammeln. Aber auch gutbürgerlicher Schick in Form<br />

velourüberzogener Stuhlflächen ist wenig zu<br />

empfehlen, denn er wurde praktischerweise mit <strong>ein</strong>er<br />

millimeter-dick-transparenten Plastikfilmschicht<br />

versiegelt. Strohgeflechtsitze sind total außer Mode!<br />

Die gehören, wie beim Theater Amazon, ins Museum,<br />

wurden in den 70 Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gegen den international obligaten roten Theatervelours<br />

ausgetauscht. Das Argument? Die neu<br />

installierte Klimaanlage hätte das Stroh ausgetrocknet<br />

<strong>und</strong> gebrochen.<br />

Lösen die allgegenwärtigen Klimaanlagen, langärmlige<br />

Jacke (!)nicht vergessen, sie sind unweigerlich auf<br />

eisige 17 Grad <strong>ein</strong>gestellt – <strong>ein</strong> Problem, schaffen aber<br />

tausend andere. Viele können sich <strong>ein</strong>fach nicht<br />

erklären, woher all ihre Wehwehchen kommen. Wenn<br />

sie nur endlich geräuschlose Ventilatoren erfinden<br />

würden, wären m<strong>ein</strong>e Nächte erfrischender. Denn Zug<br />

verabscheuen die Moskitos abgr<strong>und</strong>tief.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 502


Moskitonetze? Die hat k<strong>ein</strong>er. Darunter fühle man<br />

sich bedrängt! Und natürlich? Wie nur haben Sie<br />

es erraten? – die sind nämlich total außer Mode!<br />

Passé auch antike Hotels im Kolonialstil, mit<br />

Geschichte <strong>und</strong> Tradition. Mit viel Glück werden<br />

Sie <strong>ein</strong>e Art Schweizer Alpenchalés antreffen, die<br />

irgendwie in den Tropen gestrandet sind. Die<br />

haben sie noch, die weiten, hohen Räume, glattes<br />

Holz für nackte Füße, sind in den Schatten hoher,<br />

üppiger Bäume gebaut. Terrassen, <strong>ein</strong> paar<br />

Haken, an denen <strong>ein</strong>e Hängematte baumelt, <strong>ein</strong><br />

ruhiger, lauschiger Innenhof, altmodisch mit<br />

f<strong>ein</strong>em, weißem, jeden Tag säuberlich<br />

gerechten Sand bestreut – wie unpraktisch! Beton<br />

muss her! Vielleicht gar Kacheln mit künstlichem<br />

Gras? Die Einheimischen wollen es modern: <strong>ein</strong><br />

sicher-hässlich-anonymes Hochhaus, düster, clean<br />

gar, aseptisch. Appartements, deren Zimmer nicht<br />

größer als <strong>ein</strong> Ei sind, die Fenster immer genaus<br />

so angeordnet, dass nur ja k<strong>ein</strong> Durchzug möglich<br />

ist. Nichts, was Klimaanlage <strong>und</strong> elektrisches Licht,<br />

auch tagsüber, nicht lösen würden! Balkone? Gar<br />

Terrassen? Die werden, wenn vorhanden,<br />

höchstens mal als H<strong>und</strong>eklo oder zum<br />

Wäschetrocknen benutzt.<br />

Aber, wie heißt es so schön auf Portugiesisch –<br />

über Geschmack diskutiert man nicht. Man kann<br />

ihn höchstens bedauern, wie den lokalen Hang<br />

zum Monumentalen, Kolossalen. Kongresshallen<br />

oder Viadukte, Restaurants <strong>und</strong> viele neuere<br />

öffentliche Gebäude kultivieren <strong>ein</strong>e ausgefallene<br />

Ästhetik. Überdimensioniert, wie mit der<br />

Motorsäge herausgeschnitten, zurechtgestutzt,<br />

roh hingeklotzt, ja hingekotzt. Bauten der<br />

Herrschenden, waren es früher Kirchen <strong>und</strong><br />

Schlösser, so sollen die opulenten Fassaden<br />

öffentliche Gebäude wohl vergessen machen, wie<br />

viel Geld in die Taschen von Bauherrn <strong>und</strong><br />

Politikern geflossen ist. Das Volk applaudiert, dem<br />

Volk gefällt´s. Mirabolante Monstrositäten,<br />

Alibikonstruktionen sollen überdecken, in wie<br />

vielen Stadtteilen die Abwässer frei zum Himmel<br />

stinken, beileibe nicht nur in den Pfahlbausiedlungen<br />

am Stadtrand oder am Hafen. Ein<br />

Hauch von Fortschritt, von wortgewaltigen,<br />

geschickten Politikern immer <strong>und</strong> immer wieder<br />

versprochen, nur in Ausnahmefällen gehalten. Je<br />

schöner <strong>und</strong> leerer die Worte, je strahlender <strong>und</strong><br />

komplexer die Grandezza der Versprechen, desto<br />

unwahrsch<strong>ein</strong>licher ihre Umsetzung.<br />

Hier setzte ich, lachen Sie nicht, trotzdem auf den<br />

Fortschritt! Brasilien kann sehr schnell <strong>und</strong><br />

überraschend effizient s<strong>ein</strong>. Morgen schon<br />

vielleicht ist nicht mehr das zuckergussgewordene<br />

<strong>Foto</strong> Mode, sondern wie hier im Süden, Altes,<br />

Entschuldigung, Antikes, der letzte Schrei!<br />

Neuerdings werden die Stadtzentren nicht mehr<br />

zerstört, sondern wiederbelebt <strong>und</strong> restauriert!<br />

Bald, schon sehr bald wird das auch im Norden<br />

Schule machen! Bals, schon sehr bald wird<br />

vielleicht <strong>ein</strong>er aus dem Süden jenen alten<br />

Kasten restaurieren, Kolonialstil, zwei<br />

Fußminuten nur zum neu belebten Zentrum!<br />

503


Überliefertes<br />

Was die wohl in der Küche so überaus energisch<br />

<strong>und</strong> ausdauernd beklopft? Traue m<strong>ein</strong>en Augen<br />

nicht, als ich das Schlachtermesser sehe, das<br />

immer wieder auf das unschuldig blutige Schnitzel<br />

runterhaut, es dann kurz wendet <strong>und</strong> es nun auch<br />

noch übers Kreuz mit ganz vielen, eng<br />

zusammenstehenden Schnitten misshandelt, oder<br />

wohl besser weich schlägt. Auch der Metzger hat<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Maschine bereit, durch die er die<br />

Schnitzel nach dem Zurechtschneiden laufen lässt.<br />

Nun verstehe ich, warum ich den sohlenähnlichen<br />

Schnitzeln immer ausweiche. Nicht besser ergeht<br />

es dem Hackfleisch. Hier im Norden wird es vor<br />

dem Anbraten sorgfältig <strong>und</strong> gründlich<br />

gewaschen. Erinnert verdächtig an jüdische oder<br />

muslimische Hygienegesetze, Ver- <strong>und</strong><br />

R<strong>ein</strong>heitsgebote.<br />

Historisch absolut unf<strong>und</strong>iert ist m<strong>ein</strong> Katalog an<br />

“Überfliefertem”, endlos <strong>und</strong> hochinteressant.<br />

W<strong>und</strong>erbar ironisch ist, dass man <strong>ein</strong>en<br />

bettwarmen Körper nicht auskalten lassen dürfe.<br />

Zu diesem Zweck stehen vor dem Bett <strong>ein</strong><br />

Pantoffelpaar oder Flip-flops, damit sich der<br />

Körper beim Aufstehen nicht erkühle. Und das bei<br />

Dauertemperaturen von über 30 Grad. Auch den<br />

Kühlschrank dürfe man in solchen Umständen<br />

nicht öffnen <strong>und</strong> eiskalte Getränke höchstens,<br />

wenn der Körper schon ausgekühlt sei, trinken.<br />

Tödlicher <strong>und</strong> krankheitsbringender wohl nur der<br />

“Sereno”, jener Tau, der sich wie <strong>ein</strong> feuchter<br />

Schleier im Morgengrauen über alles legt.<br />

Auch weiß hier bis heute jedes Kind, welcher Fisch<br />

<strong>und</strong> welches Fleisch, nicht gegessen werden darf,<br />

wenn der Körper irgendwie aus dem Gleichgewicht<br />

geraten ist. Fische werden generell in zwei<br />

Kategorien unterteilt: die schuppenlosen, mit<br />

lederner Haut, oft als „remoso“, als „kräftig oder<br />

wenig verträglich“ bezeichnet, die mit Schuppen<br />

gelten als „zahmer, leicht verträglicher. Fische <strong>und</strong><br />

andere Speisen, die als „remoso“ gelten, werden<br />

in traditionelleren Haushalten weder Leuten mit<br />

Allergien, Wöchnerinnen oder solchen, die sich<br />

von <strong>ein</strong>er Krankheit erholen, aufgetischt. Sind<br />

verboten, auch wenn es nur <strong>ein</strong> gestauchter<br />

Knöchel ist. Krustentiere gelten als ganz besonders<br />

“remoso”. Ihr Genuss verschlimmert jegliches<br />

Wehwechen augenblicklich. Manche Leute gehen<br />

sogar so weit, Fische mit Lederhaut von ihrem<br />

Speisezettel komplett zu verbannen.<br />

Überliefert ist auch, dass menschenfressende<br />

Raubfische wie Haifische oder Krokodile tabu sind.<br />

Würden sie gegessen, würde man, k<strong>ein</strong>er weiß,<br />

was für unglückliche Umstände zusammen spielen<br />

können, indirekt <strong>ein</strong>en kanibalischen Akt begehen.<br />

Vielleicht hat ja das unglückliche Tier kurz vor<br />

s<strong>ein</strong>em Tod <strong>ein</strong>e Menschenmahlzeit verdrückt!<br />

Sehr unverdaulich sollen auch bestimmte<br />

Kombinationen von Lebensmitteln s<strong>ein</strong>. Açaí zum<br />

Beispiel darf weder mit Früchten noch mit Milch<br />

oder Zitrone zusammen gegessen werden. Da<br />

könnte man glatt daran sterben.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 504


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Jesus da Brot des Lebens<br />

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Bestattungsunternehmen<br />

Goldener Friede, Vergoldeter<br />

Frieden<br />

Ewiges Leben, Neues Leben<br />

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Vom Anpreisen<br />

Ich sammle sie alle, die unschuldig w<strong>und</strong>erbaren<br />

Reklametafeln, das Wort Werbung wäre schon<br />

viel zu f<strong>ein</strong> <strong>und</strong> modern für sie. Ich liebe ihren<br />

freiwilligen <strong>und</strong> unfreiwilligen Humor, ihr Geradeheraus-s<strong>ein</strong><br />

<strong>und</strong> ihre entwaffnende Naivität, die<br />

hart am Hinterwäldlertum vorbeigeht. Warum<br />

sich der abgewrackte Schnellimbiss, irgendwo im<br />

Nirgendwo, ironischerweise Mc Donalds nennt,<br />

kann ja noch jeder verstehen. Auch dass der<br />

schwarze Punkt mit dem Haken, das<br />

Verkaufslokal, eher <strong>ein</strong>e Garage mit zwei<br />

Türlöchern, der grün umrandete „Ponto Certo“,<br />

k<strong>ein</strong> i-Punkt ist, sondern der Richtige Punkt, um<br />

<strong>ein</strong>zukaufen, macht ja noch Sinn. Aber diese<br />

altmodische Weitschweifigkeit, die auch das<br />

hinterletzte Produkt im Angebot in aller<br />

Ausführlichkeit an die Ladenfassade pinselt,<br />

kommt wohl noch aus der Vorschaufensterzeit,<br />

als der „Mascate“ Hausierer <strong>und</strong> die „Secos e<br />

Molhados“ – die wortwörtlich „Trocken <strong>und</strong><br />

Feuchten“, so hießen früher die Tante-Emma-<br />

Läden, <strong>ein</strong>fach alles verkauften.<br />

Auf dem Markt kann man sie heute noch finden,<br />

auf <strong>ein</strong>e Styroporplatte handgeschriebenen: Ich<br />

habe, oder wir haben: Früchte, Fruchtmark,<br />

Tucupí, Gemüse <strong>und</strong> Salate. Manchmal sind<br />

solche Litaneien gar hilfreich, besonders dann,<br />

wenn das Fruchtfleisch in irgendwelchen<br />

Kühltruhen unter dem Tresen versteckt ist.<br />

W<strong>und</strong>erschön sind all die grellbunt gr<strong>und</strong>ierten<br />

Hausfassaden, auf die in gekonntem in Air-Brush<br />

all die Produkte oder Dienstleistungen gesprayt<br />

wurden, die der Kommerz im Angebot hat. So wird<br />

die Hausmauer sozusagen zum Schaufenster.<br />

Stellt auch <strong>ein</strong>iges richtig. Ich errate es sogleich,<br />

der Laden nennt sich zwar leicht doppeldeutig<br />

“Água viva”, „lebendiges Wasser“, auch <strong>ein</strong>e<br />

hochgiftige, fast transparente Quallenart, aber<br />

daneben steht „Aquários“ - Aquarien, aha, hier<br />

werden die hier im Amazonas in die ganze Welt<br />

exportierten, exotischen Zierfische auch an lokale<br />

Liebhaber verkauft. Es sind sechs Fische, auf die<br />

sechs Quadrate <strong>ein</strong>er eisernen Doppeltür gemalt,<br />

die damit jedem s<strong>ein</strong> eigenes, unrealistisch<br />

türkisfarbenes, Aquarium zuteilt. Sie sch<strong>ein</strong>en mir<br />

ausgezeichnet getroffen, sind reich an Details, jede<br />

Flosse, Form sitzt, perfekt die Streifen, Augen <strong>und</strong><br />

Maserungen. Nur die Farben sind schon etwas<br />

mitgenommen, vom Regen ausgeblichen.<br />

Raten Sie mal, was wohl der kraftstrotzende<br />

Zeburindbulle verkauft, der in dunkelrotem<br />

Rahmen die ganze Wand dekoriert? S<strong>ein</strong>er ganzen<br />

Kraft bewusst hält er stier <strong>und</strong> direkt aus<br />

vergleichsweise kl<strong>ein</strong>en Augen m<strong>ein</strong>em Blick stand<br />

<strong>und</strong> fast sch<strong>ein</strong>t mir, als ob s<strong>ein</strong> rechtwinklig<br />

abstehendes rechtes Ohr soeben <strong>ein</strong>e leise lästige<br />

Fliege verscheucht habe. Vier stramme B<strong>ein</strong>e im<br />

hochstehenden Gras tragen die tief hängende<br />

Brust <strong>und</strong> den kraftvollen Körper mit dem<br />

charakteristischen Höcker auf dem Rücken. Der<br />

Arme – wie könnte es anders s<strong>ein</strong>, schmückt er<br />

die Seitenwand <strong>ein</strong>er Metzgerei!<br />

Andere Schilder sind so gut gem<strong>ein</strong>t, dass sie<br />

eher verwirren als informieren. Unter<strong>ein</strong>ander<br />

geschrieben steht „Mani/Pedi“ dahinter doppelt<br />

so groß „Cure“, was m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach auf<br />

<strong>ein</strong>en Heiler, als auf <strong>ein</strong>e Hand- <strong>und</strong> Fußpflegerin<br />

verweist. Da überzeugt die visuelle Botschaft, <strong>ein</strong><br />

überspitz zulaufender, lachender M<strong>und</strong> mit<br />

blitzenden W<strong>und</strong>erzähnen, die aus <strong>ein</strong>em<br />

orangen Ball heraus lachen, schon mehr.<br />

„Laboratório“, Labor <strong>und</strong> Zahnprothesen. Das<br />

mobile Holzdreib<strong>ein</strong>, tagsüber vor <strong>ein</strong>e<br />

wildfarbene Kachelmauer gestellt, wird wohl<br />

nach Geschäftsschluss r<strong>ein</strong> genommen. Die rot<br />

gerahmte Konkurrenz, „Protético Dentário Paulo<br />

Emílio“ schlägt es in Anschaulichkeit um Längen.<br />

Zwei schwarze Löcher auf weißen Gr<strong>und</strong> sind der<br />

Hintergr<strong>und</strong> für <strong>ein</strong> sehr realistisches Gebiss <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>en schauerlich altmodischen Apparat, der<br />

wohl zum Zähneausziehen dient. Man bedient<br />

sich hier, besonders in minderbemittelten<br />

Schichten, des Zahnarztes meist nur zum Ziehen<br />

faul gewordener Zähne. Wenn die Finanzen kurz<br />

sind, sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong> Gebiss <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>malig sichere<br />

Investition. So ließ sich <strong>ein</strong>, vor dem<br />

Millionengewinn im Lotto, fast mittellose<br />

Landarbeiter, als Erstes <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erschönes<br />

Gebiss anpassen. Vor dem überraschenden<br />

Gewinn war ihm nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Vorderzahn<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 513


erhalten geblieben.<br />

Die Mittelklasse allerdings lässt sich, neuen<br />

Techniken <strong>und</strong> Technologie sei Dank, immer<br />

mehr auch Zähne implantieren. Dieser Service<br />

wird auch sehr anschaulich an den Mann oder<br />

besser an den M<strong>und</strong> gebracht. Auch schief<br />

gewachsene Zähne lässt man sich hier auch noch<br />

im fortgeschritteneren Alter richten. Nicht nur<br />

Kinder entblößen überaus selbstbewusst ihre<br />

kl<strong>ein</strong>en Plaketten, die, fast könnte man denken,<br />

die Zähne mehr schmücken als korrigieren.<br />

Manches Zahnarztlogo integriert die kl<strong>ein</strong>en<br />

Plaketten mehr oder weniger kreativ in s<strong>ein</strong>en<br />

Schriftzug.<br />

Einer m<strong>ein</strong>er Favoriten aber ist der Schuhmacher,<br />

der an <strong>ein</strong>er Straßenecke in <strong>ein</strong>er stechend<br />

heißen Bretterbude s<strong>ein</strong>e Laufk<strong>und</strong>schaft bedient.<br />

Er verlässt sich ganz auf das geschriebene Wort.<br />

Auf <strong>ein</strong>em liebevoll quadratisch zurecht gesägten,<br />

handgeschriebenen Plakat setzt er s<strong>ein</strong>e K<strong>und</strong>en<br />

in unorthodoxem Umgang mit dem zur Verfügung<br />

stehenden Platz, den er bis in den letzten<br />

Millimeter voll ausnützt, von s<strong>ein</strong>en Leistungen in<br />

Kenntnis. Trennungsregeln <strong>und</strong> Wortzwischenräume<br />

kümmern ihn nicht. Die Buchstaben sind<br />

sicher <strong>und</strong> regelmäßig hingemalt, aber wie könnte<br />

es anders s<strong>ein</strong>, der Karton ist immer dann zu<br />

Ende, in <strong>ein</strong>em unerwartet unbequemen<br />

Moment, meist mitten im Wort, was ihn wenig<br />

stört. Er schreibt die fehlenden Buchstaben<br />

<strong>ein</strong>fach auf die nächste Zeile. Besondere Mühe hat<br />

er auf die Zahl 30 verwendet: Sie ist in<br />

leuchtendem Rot hingepinselt. Ich brauche<br />

mehrere Anläufe, bis es mir gelingt, die endlose<br />

Wortschlange in sinnvolle Teile zu gliedern:<br />

„Alleanv-ertrau-tenArb-eitenfe-rtigin-nert 30<br />

Tagen“ (Alle anvertrauten Arbeiten fertig innert 30<br />

Tagen).<br />

Als ich aber die Namen der Bestattungsunternehmen<br />

zu sammeln beginne, komme ich aus dem<br />

Staunen nicht mehr heraus. Sie heißen „Goldener,<br />

oder vielleicht auch Vergoldeter Frieden, Neues<br />

Leben, Ewiges Leben oder Grüner Alkoven. Gute<br />

ewige Ruhe!!!<br />

Besser wohl nur die Lotterie, die sich „SONHO<br />

MEU“ – m<strong>ein</strong> Traum nennt.<br />

Auch Parkplätze sind gut für Geschichten. Die <strong>ein</strong>e<br />

haben wir „Mãozinha“, Händchen getauft. Denn<br />

von der Person, die <strong>ein</strong>em den Parksch<strong>ein</strong> gibt,<br />

kann man nur die Hand sehen. Das Glas ist zu<br />

dunkel. Der Parkplatz allerdings, gleich gegenüber,<br />

mitten in der Stadt, gibt per Aufschrift k<strong>und</strong>: „NÃO<br />

ACEITAMOS RECLAMAÇÕES“ – Wir akzeptieren<br />

k<strong>ein</strong>e Reklamationen. Ja, hier ist der K<strong>und</strong>e halt<br />

noch nicht König.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 514


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Der König der schwarzen Cocada<br />

Ein König gefällig? K<strong>ein</strong> Problem - Könige,<br />

Hoflieferanten, gar <strong>ein</strong>en Kaiser findet man hier<br />

fast an jeder Ecke. Da gibt es den König der<br />

Kokosnuss. K<strong>ein</strong>er verkauft königlich köstlicheres<br />

Kokoswasser. Der grellrote Laden „Real Eletrica“<br />

verkauft alles, was <strong>ein</strong> Elektriker so braucht,<br />

Steckdosen, Lampen etc.. Die „reale“ Übersetzung<br />

allerdings hat wohl weniger mit der „Realität“<br />

oder dem „Real“, der brasilianischen Währung zu<br />

tun, als mit dem Titel <strong>ein</strong>es Hoflieferanten. „Real“<br />

kann auch königlich bedeuten. Der König der<br />

Schlüssel, „O Rei das Fechaduras“? Er öffnet<br />

<strong>ein</strong>em alle Türen. Ein riesiger, goldgelber<br />

Pappschlüssel signalisiert, dass es wohl weder<br />

Schloss noch Riegel gibt, die ihm widerstehen.<br />

Brauchen Sie <strong>ein</strong> neues Fahrrad? Der König, der<br />

Fahrräder, s<strong>ein</strong> Geschäft ist, k<strong>ein</strong> W<strong>und</strong>er bei<br />

diesen Straßenverhältnissen, über <strong>und</strong> über mit<br />

Gummiersatzreifen dekoriert. An den seitlichen<br />

Pfeilern prangen alle Fahrradmarken, die er<br />

vertritt. Er verkauft nicht nur königlich Fahrräder,<br />

sondern repariert auch gleich jegliches Stahlross,<br />

neben dem Motorrad wichtiges Verkehrsmittel<br />

bei den amazonischen Distanzen. Sollte es dann<br />

oder irgendetwas anderes Metallenes, doch<br />

irgendwann zu Schrott werden, können Sie es<br />

problemlos zur Schrottkönigin, „Rainha da<br />

Sucata“ bringen! In ihrem Reich handelt man nur<br />

mit Altmetall. Beim Bonbonkönig, „O Rei das<br />

Balas“ oder vielleicht ist es auch <strong>ein</strong>e Königin,<br />

imitieren unbekannt lokale Namen in Schrift <strong>und</strong><br />

Farbe gekonnt national bekannte, viel<br />

kostspieligere Marken. Und wollen Sie wetten?<br />

Sicher noch klebriger <strong>und</strong> süßer als das Original.<br />

Brasilianer sind nun mal geradezu süchtig nach<br />

Süßem, nach Zuckerzeug aller Art.<br />

Einmal sozusagen auf den König gekommen,<br />

stechen mir auch andre, in der Übersetzung oft<br />

etwas hochtrabenden, Namen überall ins Auge:<br />

Die „Prinzessin des Modeschmuckes“ macht wohl<br />

jede Käuferin für Augenblicke zur Prinzessin. Aus<br />

dem Schuhgeschäft „Plattaforma“, Plateausohle,<br />

kommt man wohl hoch erhobenen Kopfes,<br />

natürlich um Zentimeter größer <strong>und</strong> damit Kilos<br />

schlanker, heraus. Was wohl der „Goldfuß“ - „Pé<br />

Dourado“ oder der „MegaPé“ – „Megafuß“<br />

versprechen? Wohl eher <strong>ein</strong>e mega Auswahl als<br />

riese Füße. Die sind hier gar nicht gern gesehen.<br />

Das Schuhgeschäft zur Festung „Sapataria<br />

Fortaleza“ sch<strong>ein</strong>t da wohl <strong>ein</strong>e gute Zuflucht zu<br />

s<strong>ein</strong>. Ob allerdings der „Sichere Schritt“, „Passo<br />

Firme“ Schuhe oder vielleicht Nachhilfeunterricht<br />

verkauft, kann ich im Nachhin<strong>ein</strong> nicht mehr<br />

rekonstruieren.<br />

Der Getränkeverteiler „zum Sternen“ lässt mich<br />

wohl Sterne sehen. Im „Persischen Markt“ gibt‘s<br />

wohl unendlich viele unnütze Kl<strong>ein</strong>igkeiten,<br />

unisono aus China importiert. Das Flair aber, die<br />

Wuselatmosphäre ist wohl echt arabisch.<br />

Nachvollziehbar auch, warum das Farbengeschäft<br />

„Joker“ heißt, oder es im „Paradies“, jawohl,<br />

Unterhöschen, Lingerie <strong>und</strong> Slips, nicht nur vom<br />

F<strong>ein</strong>sten, gibt. Das Jahrh<strong>und</strong>ertgeschäft dagegen<br />

oder vielleicht das Geschäft des Jahrh<strong>und</strong>erts?<br />

stammt wohl noch aus dem letzten. Nichts<br />

wechselt hier schneller, als Geschäftsinhaber <strong>und</strong><br />

Ideen. Was allerdings bis heute widersteht, jedes<br />

Mal noch schlimmer heruntergekommen, ist das<br />

„Grand Hotel“, das wohl außer im Namen nie<br />

irgendwelche Grandezza besaß. In s<strong>ein</strong>em<br />

schlecht isolierten Eingangsbereich regnet es<br />

<strong>ein</strong>fach durch, wie die Pfützen bezeugen. Der<br />

Schriftzug sitzt schräg <strong>und</strong> die Fassade schimmelt<br />

vor sich hin.<br />

Lassen wir das Philosophieren - nehmen wir doch<br />

da drüben auf dem sonntäglichen Hippie- <strong>und</strong><br />

Krimskramsmarkt, <strong>ein</strong>en Frühschoppen.<br />

Cocktails, Drinks <strong>und</strong> Säfte hat sich der<br />

„Alchimist“ auf s<strong>ein</strong> schrillfarbenes Wägelchen<br />

schreiben lassen, zusammen mit zwei<br />

Telefonnummern. Vielleicht wollen Sie ihn ja für<br />

Ihre nächste Garten- oder Swimmingpoolparty<br />

mieten! Wie in <strong>ein</strong>er währschaften Bar zapft er<br />

die richtige Menge Alkohol aus den auf dem Kopf<br />

hin gehängten Flaschen mit den gängigsten<br />

Spirituosen, <strong>ein</strong>ige giftig <strong>und</strong> grellfarben, in den<br />

wackligen Plastikbecher. Ein Caipirinha aus Kiwi,<br />

Erdbeeren oder Maracuja gefällig? Der<br />

hochprozentige Alkohol tötet sicher alle allenfalls<br />

vorhandenen Bakterien ab, auch wenn die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 518


Früchte nicht besonders gut gewaschen sind <strong>und</strong><br />

die Eiswürfel vielleicht etwas fragwürdig. Und<br />

wenn Sie danach doch noch <strong>ein</strong>kaufen gehen<br />

wollen: Da drüben ist <strong>ein</strong> Supermarkt. „Coração<br />

de Mãe“ Mutters Herz - nennt er sich, wenn es<br />

<strong>ein</strong>em da nicht warm ums Herz wird! Aber auch<br />

den „Super Rei“, Super König oder den<br />

„Supermercado Progresso“, der Supermarkt<br />

Fortschritt gehört in die Sammlung. Auch zu den<br />

„Welten“ habe ich schon <strong>ein</strong>e ganze Sammlung<br />

zusammengetragen. Da gibt es die „Novo<br />

M<strong>und</strong>o“, die Neue Welt, o M<strong>und</strong>o do Real, die<br />

Welt des Reals, die Bar....<br />

Falls Sie nach allem hungrig sind – Wie wärs mit<br />

dem „Point dos Assados“, den „Point der<br />

Gebratenen“ oder den Point do Açai“ <strong>und</strong><br />

natürlich den König des Stockfisches, „O Rei do<br />

Bacalhão“. Gut schmeckt es auch im „Mascote“,<br />

im Maskottchen. Aber gleich dahinter, Sie werden<br />

es nie erraten, steht das „Casa Feliz“ – „das<br />

glückliche Haus“!<br />

Nur der „Rei da cocada preta“, der König der<br />

schwarzen Cocada des Titels ist eher ironisch<br />

gem<strong>ein</strong>t. Der König der schwarzen Cocada, <strong>ein</strong><br />

typisches Naschwerk aus Cocosflocken <strong>und</strong> viel<br />

Zucker ist jener, der sich für das Maximum hält,<br />

gar auf die anderen hinab sieht....<br />

Schokolade<br />

vergessen<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 519


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 520


Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann<br />

Nichts mache ich lieber, als lokale Einkaufsstraßen<br />

zu erk<strong>und</strong>en. Am ergiebigsten sind bürgerlichnormale<br />

Stadtteile, wie dieser gewöhnliche hier,<br />

in <strong>ein</strong>em Außenbezirk von Manaus. Die<br />

Hauptverkehrsader nennt hier jeder „Rua do<br />

Comércio“, ganz <strong>ein</strong>fach Straße des Kommerzes,<br />

Einkaufsstraße. Ob sie auch <strong>ein</strong>en wirklichen<br />

Namen hat? Verblüffend der doch sehr<br />

eigenwillige Mix der Geschäfte: Drei oder vier<br />

ziemlich große Pet-Shops, mindestens <strong>ein</strong><br />

Dutzend oder sind es noch mehr? Drogerien <strong>und</strong><br />

Apotheken, <strong>und</strong> unzählige kl<strong>ein</strong>e Boutiquen, die<br />

alle Damen- oder Kinderkleider anbieten,<br />

dazwischen noch zwei oder drei Papeterien, <strong>ein</strong><br />

unwahrsch<strong>ein</strong>lich lausig hergerichteter, aber<br />

ausgezeichnet frequentierter DVD-Verleih <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>en Bauhandel – spiegelt wohl den realen<br />

Bedarf der Anwohner.<br />

wohl nur die Kleidchen <strong>und</strong> die Lederschühchen,<br />

ohne die <strong>ein</strong>ige ganz verwöhnte k<strong>ein</strong>e Pfote auf<br />

die Straße setzen dürfen. Sicher wohnen sie in<br />

<strong>ein</strong>em dieser modernen Winzappartements <strong>und</strong><br />

sind aus diesem Winkel betrachtet, gar privilegiert,<br />

können sie doch immerhin hin <strong>und</strong> wieder<br />

spazieren gehen.<br />

Allerdings hätte ich nicht den Mut, m<strong>ein</strong>en<br />

Pinscher dem hiesigen Pet-Shop anzuvertrauen.<br />

Preist zwar auf starkgelbem Gr<strong>und</strong> das übliche<br />

Programm an: „Banho e tosa“ - Baden <strong>und</strong><br />

Trimmen, aber das Geschäft nennt sich ganz<br />

<strong>ein</strong>fach – Dobermann! Dobermann: Nomen est<br />

omen hat sich wohl auch der geschickte<br />

Werbemaler gedacht <strong>und</strong> gleich unter den<br />

Schriftzug <strong>ein</strong>en überaus naturgetreuen, ziemlich<br />

bissigen Dobermann hin gepinselt!<br />

Besonders faszinieren mich die Pet-Shops.<br />

Brasilianische H<strong>und</strong>e der gehobeneren Klassen<br />

<strong>und</strong> recht oft auch <strong>ein</strong>heimische Hauskatzen (!)<br />

baden, obligatorischerweise (!), <strong>ein</strong>mal pro<br />

Woche. Recht auf das komplette Programm:<br />

Shampoo, natürlich mit Weichmacher, bei hellen<br />

H<strong>und</strong>en gar mit Extra-Weißmacher oder<br />

Aufheller, Bürsten, Trimmen, Schleifchen,<br />

Krawättchen, <strong>und</strong> als Krönung des Meisterwerks,<br />

Parfüm, H<strong>und</strong>eparfüm. Müssen diese fremden<br />

<strong>und</strong> synthetischen Gerüche hassen, die nur den<br />

Nasen ihrer Besitzer schmeicheln. Schlimmer sind<br />

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Haus des Kreateurs<br />

Produkte für Landwirte, Tierhalter <strong>und</strong> Tierärzte<br />

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Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier, verehrte K<strong>und</strong>in!<br />

- „Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“ – Hei, Frau<br />

Doktor – Was befielt die Frau Patronin? - ob ich<br />

wohl gem<strong>ein</strong>t bin? – „Moça, psst, moça! Psiu!” -<br />

Mädchen, psst, psiu! gefällt mir schon besser. Die<br />

in unseren Breitengraden überaus anzüglichen,<br />

scharfzüngigen „Psius“ lassen mich kalt, anders als<br />

die liebe europäische Fre<strong>und</strong>in, die jedes Mal<br />

zusammenzuckte, wenn wieder <strong>ein</strong>er fre<strong>und</strong>lichungehörig<br />

um unsere Aufmerksamkeit zischte.<br />

– „Tia, psiu, Tia“, Tante, ruft´s schon auf dem<br />

Parkplatz. Ein paar kl<strong>ein</strong>e Jungen reißen sich<br />

darum, wem sie hier auf dem Markt die immer<br />

volle werdende Taschen <strong>und</strong> den Einkaufswagen,<br />

natürlich gegen <strong>ein</strong> Trinkgeld, nachtragen <strong>und</strong><br />

nachschieben dürfen. Wir wählen Eniwandro -<br />

oder war s<strong>ein</strong> Name Waston, was sich wie Uoston<br />

ausspricht? die Baseballmütze verwegen verkehrt<br />

auf dem Kopf. Etwas gelangweilt aber folgsam<br />

karrt er den immer voller werdenden Wagen<br />

hinter uns her.<br />

Klappern gehört zum Handwerk. - M<strong>ein</strong>e Liebste!<br />

– m<strong>ein</strong>e Gute -, geschäftstüchtig zärtlich. Ehe man<br />

sich´s versieht, überschreitet man die unsichtbare<br />

Linie <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er ruft mehr – Mädchen ! - oder<br />

„Tia“, Tante, Intimität vortäuschend. Man gehört,<br />

der grauen Haare wegen, zum sogenannten<br />

„besten Alter“, wird respektvoll - „Signora“ -<br />

gerufen.<br />

Der Markt, anachronischerweise beginnt er so<br />

gegen 16h00 Uhr, bekommt <strong>ein</strong> spezielles Flair,<br />

wenn sich die unendlich vielen blauen<br />

Plastikplanen gegen den immer dunkler<br />

werdenden Himmel abheben <strong>und</strong> die an losen<br />

Drähten herunterhängenden Glühbirnen die<br />

Waren in ihren unerbittlichen Lichtkegeln bannen.<br />

Auch hier geht das Klappern weiter.<br />

Handgeschrieben preist <strong>ein</strong>e Wellpappe <strong>und</strong> drei<br />

oder vier, der Länge nach aufgeschnittene,<br />

Prachtexemplare die allersüßesten<br />

Wassermelonen aus Roraima, <strong>ein</strong> Nachbarstaat,<br />

an. Der Preis ist gleich doppelt angezeigt: R$ 10,00<br />

Reais. Verlangsamt man den Schritt, bleibt man<br />

mit den Augen etwas länger hängen, beginnt der<br />

Verkäufer schon zu locken. „Ai, Doutora!“ –<br />

„Manda Patroa“! Gleich daneben Bananen. Ein<br />

halb reifes Riesenbüschel kurzer, dicker Exemplare<br />

<strong>und</strong>, schon in handlichere Vierer- oder<br />

Fünferbüschel runtergeschnitte Langbananen, fast<br />

unterarmlang <strong>und</strong> sichelförmig werben, wie die<br />

Riesentrauben Pupunhas, <strong>ein</strong>e Palmfrucht, s<strong>ein</strong>e<br />

Kokosnüsschen sind kirsch-bis pflaumengroß <strong>und</strong><br />

man isst sie gekocht, ihr Geschmack erinnert von<br />

ferne an Kartoffeln, für sich selbst. Gerne hält der<br />

Verkäufer, s<strong>ein</strong> türkisfarbenes Shirt ist der<br />

perfekte Kontrast zu den orangen <strong>und</strong> gelben<br />

Pupunhas, es gibt auch gelbgrünliche, rote oder<br />

fast dunkelrote, zwei riesige Büschel fürs <strong>Foto</strong><br />

hoch. Er empfiehlt die hier: „Ai, Doutora,“ –<br />

„Manda Patroa“ - Garantiert! Sehen Sie? Die hat<br />

schon irgend<strong>ein</strong> Vogel angepickt. Die cleveren<br />

Viecher suchen sich immer die Besten aus! -<br />

Mache es aber ganz anders <strong>und</strong> bitte ihn mir<br />

doch von jedem Bündel drei oder vier, gar <strong>ein</strong><br />

Dutzend runter zu schneiden. Die<br />

Pfefferfrüchtchen „Psst, Doutora, só dispor<br />

Fregesia ....!“ „Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“<br />

gibt es in allen Schärfen, Formen <strong>und</strong> Farben. Als<br />

Maßbecher dient <strong>ein</strong>e ausgediente Blechbüchse.<br />

Auch bei den herunter gerollten, recycelten<br />

Mehlsäcken, doppelreihig im halben Dutzend<br />

hinter<strong>ein</strong>ander aufgestellt, kauft man per Liter,<br />

<strong>ein</strong>e schon etwas havarierte Öldose voll. Neben<br />

Fisch, Früchte <strong>und</strong> Gemüse gibt es auch <strong>ein</strong>en<br />

Fast Food- <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Non Food-Teil. Hier kann<br />

ich mich mit den typischen Pastel, ausfrittierte,<br />

gefüllte Teigtaschen, „Moça, psst, moça! Psiu!” -<br />

Pastel, Pastel, die besten der ganzen Stadt! – sie<br />

fehlen auf k<strong>ein</strong>em Markt, <strong>ein</strong>decken, oder gleich<br />

auch m<strong>ein</strong>e Garderobe vervollständigen. Das<br />

Angebot an gepunkteten <strong>und</strong> geblümten Slips ist<br />

umwerfend, aber es gibt auch Kleider, nicht<br />

gerade liebevoll auf halben, transparenten<br />

Plastikbüsten ausgestellt.<br />

Daneben werben grellstfarbene Haarklammern,<br />

neben<strong>ein</strong>ander auf <strong>ein</strong> bodenlanges Metallnetz<br />

geklemmt. Auch an die Kl<strong>ein</strong>sten ist gedacht: -<br />

„Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“ Ballone, schöne<br />

Ballone! – <strong>ein</strong> prall aufgeblasener Dinosaurier,<br />

Superman mit rotem Cape, noch von <strong>ein</strong>em<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 526


hellen Faden gebändigt.<br />

Haben Sie Ihre Markttasche vergessen, zu viel<br />

<strong>ein</strong>gekauft? – „Moça, psst, moça, Psiu!“ - Taschen,<br />

praktische Taschen, <strong>ein</strong> Real! - Buntfarbene<br />

recycelte Plastikplanen, wie wär´s mit dieser, die<br />

früher mal prickelnd für Bier warb, werden zu<br />

<strong>ein</strong>fachen Tragetaschen oder haltbaren Einkaufstaschen<br />

mit erstaunlichem Fassungsvermögen.<br />

Wenn Ihre Reise länger dauert, gar übers Wasser,<br />

wie wär´s denn mit <strong>ein</strong>em recycelten H<strong>und</strong>efuttersack?<br />

K<strong>ein</strong> Plastik ist dauerhafter <strong>und</strong><br />

geschickte Hände haben ihm zwei praktische<br />

Henkel angenäht. Am besten gefällt mir aber der<br />

Korb, aus gelben <strong>und</strong> grünen extra-starken<br />

Plastikverpackungsstreifen geflochten. Wird wohl<br />

Jahre den Dienst versehen.<br />

Folkloristischer wohl nur die Stände mit den<br />

ausgefallensten Kräutermedizingebräuen, die es<br />

allerdings nur auf den Hauptmärkten gibt. Sie<br />

haben das Anpreisen nicht nötig – „Ei, Doutora!“<br />

– „Manda Patroa“die listig abgebrühten Verkäufer<br />

versprechen ihre K<strong>und</strong>en von fast allem zu heilen,<br />

überzeugen mit unübersichtlicher Fülle, die<br />

hängt, steht, im Wind schaukelt, frisch oder<br />

getrocknet, in Alkohol <strong>ein</strong>gelegt oder zu<br />

handlichen Bündeln zusammengeb<strong>und</strong>en, im<br />

Naturzustand, oder schon handlich verpackt:<br />

Rinden, Wurzeln, Ästchen, Blätter, Kräuter, Öle,<br />

Harze, Knollen, Pflanzensäfte, Hörner, Fette, pur<br />

oder nach Hausrezept oder dem Wunsch der<br />

lieben Käuferschaft gemischt, die Naturapotheke<br />

des ganzen Regenwaldes ist hier versammelt. Am<br />

meisten faszinieren wohl die abgefüllten Bäder,<br />

Parfums, r<strong>ein</strong>igende Räucherstäbchen <strong>und</strong> andere<br />

Präparate. H<strong>und</strong>erte von kl<strong>ein</strong>en Flaschen, oft<br />

recycelt <strong>und</strong> mit Korken aus „Burití“ verschlossen,<br />

<strong>ein</strong>en billigen, weißen Baumwollfaden vielfach um<br />

den Flaschenhals gerollt, in riesigen Trauben vor<br />

die Baracke gehängt, transparente, <strong>und</strong>urchsichtige,<br />

gar trübe oder milchig helle Flüssigkeiten.<br />

Der Inhalt auf der handgeschriebenen Etikette<br />

wird unter den sprechenden Händen des<br />

Verkäufers noch magischer. Die Seife hier<br />

garantiert den alten, <strong>ein</strong>en neuen Liebhaber, das<br />

schwere Parfüm zieht K<strong>und</strong>schaft an, der<br />

Zaubertrank verdonnert garantiert <strong>und</strong> für immer,<br />

sowohl den Fre<strong>und</strong> wie auch den Ehemann zu<br />

immerwährender Treue. Es gibt k<strong>ein</strong>en bösen Blick<br />

oder Fluch, der ihnen widersteht: Macht <strong>ein</strong>en<br />

Gehörnten fügsam oder räumt unliebsame<br />

Hindernisse aus dem Weg, schon w<strong>ein</strong>t der<br />

Angebetete zu m<strong>ein</strong>en Füßen.<br />

Halt, nur nicht zu lange stehen bleiben. Sehen Sie,<br />

schon ruft´s: - „Psst, Doutora, só dispor<br />

Fregesia ....!“ -<br />

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Deutscher Branntw<strong>ein</strong><br />

In <strong>ein</strong>er der vielen Drogerien stoße ich, inmitten<br />

allerlei Tinkturen <strong>und</strong> altmodischer<br />

Hausmittelchen, auf das kl<strong>ein</strong>e Fläschchen mit<br />

grünem Verschluss <strong>und</strong> grüner Etikette:<br />

„Aguardente Alemã“ – Deutscher Branntw<strong>ein</strong>, das<br />

„ALEMÓ – Deutsch, fett <strong>und</strong> auffällig gedruckt.<br />

Auf der Etikette lese ich, dass es sich um die<br />

Tinktur <strong>ein</strong>er lokalen Firma handle, <strong>und</strong> dass das<br />

Medikament in kl<strong>ein</strong>en Dosen oder Tropfen<br />

genommen werden soll. Aber warum ALEMÃO?<br />

Deutsch? Die Frage beschäftigt mich, ich kaufe<br />

das Fläschchen für <strong>ein</strong> paar Reais.<br />

Tinktur aus Jalapa Composta – aha, Jalapa ist die<br />

kl<strong>ein</strong>e Knolle <strong>ein</strong>er Pflanze, in der Volksmedizin als<br />

Abführmittel verwendet. Macht Sinn, als ich die<br />

Anwendungsbereiche lese: laxierend <strong>und</strong> purgativ<br />

- abführend!!! Vorgeschlagene Dosierung:<br />

1 Suppenlöffel = laxierend, abführend,<br />

2-3 Suppenlöffel purgativ, stark abführend. Gut<br />

schütteln <strong>und</strong> verdünnt in etwas Zuckerwasser<br />

<strong>ein</strong>nehmen!<br />

Wo genau die Verbindung zwischen Purgativ,<br />

(wohl gar <strong>ein</strong> Purgatorium) <strong>und</strong> Deutsch liegt,<br />

überlasse ich der Fantasie <strong>und</strong> Kreativität des<br />

Lesers! Das Einnehmen mit Zuckerwasser aber ist<br />

definitiv brasilianisch! Es würde doch wohl<br />

k<strong>ein</strong>em Deutschen <strong>ein</strong>fallen, bittere Medizin mit<br />

viel Zucker zu versüßen! Aber vielleicht haben sie<br />

nicht unrecht - wozu denn unnötig leiden?<br />

Späte <strong>und</strong> andere Ein- <strong>und</strong> Ansichten<br />

„Se eu pudesse, voltaria lá atrás. Nessa época eu<br />

era feliz e não sabia.”<br />

Ach, könnte ich nur die Zeit zurückdrehen! Denn<br />

damals war ich glücklich – ich wusste es nur<br />

leider nicht!<br />

Tierisches<br />

“Bicho de manga, manga é. Bicha de goiaba,<br />

goiaba é.”<br />

Die Tierchen* der Mango sind ebenfalls Mango.<br />

Die Tierchen* der Guave werden zu Guave.<br />

*Die brasilianischen Fruchtfliegen sind sehr aktiv.<br />

Oft hat man k<strong>ein</strong>e Wahl. Entweder isst man die<br />

angefallene Frucht nicht oder man isst die<br />

kl<strong>ein</strong>en Würmer mit, indem man sie zur Frucht<br />

erklärt, wie es die brasilianische Redensart<br />

vorschlägt.<br />

Der schwarze Parkwächter über m<strong>ein</strong>e schwarze<br />

Hündin, die ziemlich rassistisch ist: - «Mas ela é<br />

tão preta quanto eu! Porque ela não gosta de<br />

mim?» -<br />

Sie ist genauso schwarz wie ich! Warum mag sie<br />

mich denn nicht?<br />

“Bonito o cachorro. A única coisa que não gosto<br />

que ele tem o meu nome.”<br />

Schöner H<strong>und</strong>. Das <strong>ein</strong>zige, was mir nicht gefällt,<br />

dass er genauso heißt wie ich! (Preta)<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 528


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 529


Im Kreuzfeuer<br />

Sie versuchen es auf die unterschiedlichsten,<br />

allerdings nicht sehr kreativen Arten, am<br />

penetrantesten ist wohl die Lautstärke, mich von<br />

ihrer Musikalität zu überzeugen. Dumpf <strong>und</strong><br />

gleichmäßig stampfen <strong>und</strong> pumpen die Bässe,<br />

über die der oder die Sänger/in <strong>ein</strong>en grölenden<br />

Klangteppich mit möglichst obszön-ordinären<br />

Texten schreit. Habe das äußerst zweifelhafte<br />

Vergnügen, mich sozusagen übers Kreuz <strong>und</strong> bis<br />

in alle Morgenst<strong>und</strong>en vom doch etwas<br />

<strong>ein</strong>fachen, ziemlich <strong>ein</strong>seitigen Musikgeschmack<br />

m<strong>ein</strong>er Vor-, Hinter- <strong>und</strong> Nebennachbarn<br />

überzeugen zu können. Vielleicht handelt es sich<br />

um <strong>ein</strong>en Wettbewerb? Ob sie gar um den Preis<br />

der ordinärsten Musik buhlen? Auch mit sehr viel<br />

Wohlwollen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er Toleranz, die <strong>ein</strong>em Engel<br />

wohl anstände, gelingt es mir nicht, ins Klima<br />

<strong>ein</strong>zustimmen, dem Pressluftgehämmer auch nur<br />

das Geringste abzugewinnen.<br />

Sie legen immer wieder ganz unerwartet los.<br />

Sicher haben sie sich nicht abgesprochen,<br />

trotzdem beginnt das Kreuzfeuer fast gleichzeitig,<br />

die letzte Potenz <strong>und</strong> die hinterletzten Dezibels<br />

ausreizend, die ihre mobilen, voll aufgedrehten,<br />

super-potenten Lautsprecherkunstwerke,<br />

kunstvoll ganze Kofferräume <strong>ein</strong>es Mittelklassewagens<br />

füllend, hergeben. Werden noch lauter,<br />

wenn sie die Heckklappe <strong>und</strong> alle Türen weit<br />

aufreißen, um den So<strong>und</strong> so richtig<br />

herausschallen zu lassen, auf öffentlichen Plätzen<br />

genauso wie am Strand. Immer gibt es irgendwie<br />

<strong>ein</strong>e Möglichkeit, mit dem lautstarken Auto ganz<br />

dicht hinunter oder heraufzufahren, zum Beispiel<br />

zu dem exponiert auf <strong>ein</strong>em Hügel gebauten Haus,<br />

von dem die Rhythmen dann auf den halben See<br />

herunterpreschen. Man will doch auch beim Jet-<br />

Ski-Fahren nicht auf den dümmlichen Rhythmus<br />

verzichten. Außer mir sch<strong>ein</strong>t es k<strong>ein</strong>en wirklich zu<br />

be<strong>ein</strong>trächtigen, schließlich haben wir Karneval<br />

<strong>und</strong> da ist alles erlaubt, besonders wenn man die<br />

ganze Geld- <strong>und</strong> Machtsociety um sich herum<br />

versammelt hat. N<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>greifen lohne sich nicht,<br />

man wisse bei solchen Anlässen oder Feiertagen<br />

nie, welche Drogen oder welcher Alkoholpegel im<br />

Spiel sei <strong>und</strong> die lieben Nachbarn wohl etwas<br />

schwerhörig, respektive taub gemacht habe.<br />

Stoisch aussitzen ist angesagt. Die Polizei zuckt,<br />

auch wenn man morgens um drei persönlich<br />

vorbeigeht, nur mit den Schultern. K<strong>ein</strong>er wagt es,<br />

das verlängerte Wochenende ist sowieso schon<br />

bald vorbei, sich mit den ignoranten, reichen <strong>und</strong><br />

halbstarken Nachbarn anzulegen, denn hier regiert<br />

Geld <strong>und</strong> Beziehungen die Welt oder die Politik.<br />

Trinke noch <strong>ein</strong>e Caiprinha <strong>und</strong> stopfe mir die<br />

Ohren zu. Das jedenfalls wird mir, auch mitten im<br />

Kreuzfeuer, vielleicht etwas Schlaf garantieren.<br />

Irgendwann erinnere ich mich auch an die<br />

Geschichte, die mir <strong>ein</strong> Bekannter erzählte. Er<br />

stammt aus Belém <strong>und</strong> nahm an <strong>ein</strong>em<br />

Studentenaustauschprogramm in Frankreich teil.<br />

Bald schloss er Fre<strong>und</strong>schaft mit <strong>ein</strong> paar<br />

Algeriern, die ihn auch umgehend zum Ausgehen<br />

<strong>ein</strong>luden. Was für <strong>ein</strong> Kulturschock, als er<br />

merkte, dass sie sich am Samstagabend nicht wie<br />

in s<strong>ein</strong>er Heimat, <strong>ein</strong>fach zusammen mit<br />

ohrenbetäubender Musik zudröhnen würden.<br />

Die jungen Leute machten nicht nur<br />

Konversation, sondern diskutierten heftig <strong>und</strong><br />

hatten alle <strong>ein</strong>e eigene M<strong>ein</strong>ung!!! Sowas hatte<br />

er, siehe Kreuzfeuer, in s<strong>ein</strong>er Heimat nie erlebt.<br />

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Hinter Gittern<br />

Zwei Bilder haben sich von m<strong>ein</strong>er allerersten<br />

Reise in den Amazonas in m<strong>ein</strong>e Erinnerung<br />

<strong>ein</strong>gebrannt. Eine quer durchs nachtschwarze<br />

Wohnzimmer gespannte Hängematte, in der ich<br />

trotz des Halbdunkels <strong>ein</strong>e Person weiß. Ein<br />

Finger, an den M<strong>und</strong> gelegt, gebietet Stille <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong> paar Gesten machen mir klar, dass es sich<br />

wohl um die Hausangestellte der Gastgeber<br />

handeln muss. Wir bücken uns so leise wie<br />

möglich unter der Hängematte durch -<br />

Privatsphären werden hier im Norden etwas<br />

anders gehandhabt. Man wohnt, getrennt durch<br />

sehr viele Gitter, sehr nah auf<strong>ein</strong>ander. Immer<br />

bellen auch der Fernseher oder das Radio des<br />

Nachbarn, ständige Geräuschkulisse immer<br />

irgendwo im Hintergr<strong>und</strong>.<br />

Das zweite Bild: Der heftige Regenguss fällt schräg<br />

durch das Türgitter mitten in den Wohnbereich.<br />

Peitscht heftig <strong>und</strong> urgewaltig auf den st<strong>ein</strong>ernen<br />

Fußboden. K<strong>ein</strong> Glas, k<strong>ein</strong> Holzladen hindert ihn<br />

daran. Wozu auch? Bei konstanten Temperaturen<br />

um die 30 Grad ist der erfrischende Regen<br />

hochwillkommen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bisschen Wasser schnell<br />

weggewischt. Der Regen aber, der ungehindert<br />

durchs Türgitter <strong>ein</strong>dringt <strong>und</strong> die unendlich<br />

vielen anderen Gitter lassen mir bis heute k<strong>ein</strong>e<br />

Ruhe.<br />

Schmalbrüstig klebt hier in den Städten <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>zimmerbreites Haus am identisch nächsten.<br />

Gleich hinter dem engen Bürgersteig steigen die<br />

Gitter hoch. Identisch auch sie, verriegeln die<br />

gleiche oder fast, tausendste Variante des<br />

halbmetertiefen Eingangsbereichs, zugekachelt,<br />

zubetoniert. Die obligate Ziertischstuhlgarnitur,<br />

mit den abwaschbaren Plastikkissen, schon etwas<br />

abgeschossen, quetscht sich zwischen zwei<br />

altmodische Blumentöpfe. Den kümmerlichen<br />

Zierpflanzen fehlt an Licht, was sie an Wasser zu<br />

viel bekommen. Manchmal belebt <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er,<br />

aggressiver Köter oder <strong>ein</strong> halb nacktes<br />

Windelkind das Stillleben. Auch Halbwüchsige mit<br />

speziellen Bedürfnissen werden zum Luftschöpfen<br />

in diesem Käfig untergebracht. Muss auch noch<br />

der Familienwagen hinter Gitter, greift man listig<br />

Besitz des öffentlichen Raumes. Lässt in den Zaun<br />

in der Höhe des Kofferraums <strong>ein</strong>e Art Ausbuchtung,<br />

wie <strong>ein</strong>en Hintern <strong>ein</strong>bauen, Platz genug für<br />

den Kofferraum des Firmenwagens.<br />

Wird man ins Hausinnere <strong>ein</strong>geladen, vielleicht zu<br />

<strong>ein</strong>em Kaffee in die Küche, kann man das<br />

Schmalbrüstige auch ganz konkret erleben. Man<br />

durchquert nämlich entweder <strong>ein</strong>en endlos langen<br />

Korridor, so schmal, dass man dessen Wände<br />

beidseitig problemlos greifen könnte, von dem alle<br />

Zimmer abgehen oder geht durch <strong>ein</strong>e endlose<br />

Reihe von Zimmern, <strong>ein</strong>s nach dem anderen, bis<br />

man endlich ganz hinten in der Küche landet.<br />

Dahinter nur der mit allerlei Krimskrams<br />

vollgestopfte Hinterhof.<br />

In all diesen Häusern <strong>und</strong> auch allen anderen,<br />

beginnt mit dem frühen, abrupten Her<strong>ein</strong>fallen<br />

der Nacht das große Ein- <strong>und</strong> Zuschließen,<br />

typisch für alle urbanen Zentren. Auch in den mit<br />

Gittern, inklusive Fernbedienung abgeschlossenen<br />

Wohnstraßen, verbarrikadieren man sich.<br />

Nur mich sch<strong>ein</strong>t die buchstäblich gefangene, nur<br />

vom Ventilator ständig durchmühlte Hitze fast zu<br />

ersticken. Auch den zwei, drei, von Nachrichten<br />

unterbrochenen Novelas, von denen man sich<br />

mindestens <strong>ein</strong>e ansehen muss, versüßen mir<br />

das Gefangenens<strong>ein</strong> nicht.<br />

In großen Städten ist alles vergittert. Es gibt Tür<strong>und</strong><br />

Fenstergitter, Gitterzäune, Abschrankungen,<br />

auch der Balkon im zweiten Stock ist vergittert.<br />

Manche Häuser sind richtige Käfige, denn wer<br />

sagt denn, dass die Diebe nicht vielleicht durchs<br />

Dach <strong>ein</strong>steigen? M<strong>ein</strong>e Versuche, den f<strong>ein</strong><br />

ziselierten <strong>und</strong> eleganten, von geschickten<br />

Handwerkern zu Ornamenten <strong>und</strong> Arabesken<br />

verdrehten <strong>und</strong> geschmiedeten Eisen <strong>ein</strong>e<br />

gewisse Ästhetik abzugewinnen, scheitern.<br />

Vergeblich, sie als nützliche, eiserne Kunstwerke<br />

anzusehen, in ihren exotischen Ornamenten<br />

erstarrte Klöppelspitzen sehen zu wollen,<br />

dekorativ <strong>und</strong> filigran. Es bleiben aufwendig<br />

gearbeitete Barrieren, die so tun, als ob sie nur<br />

Schleier wären, diskret <strong>und</strong> romantisch im<br />

Zwiegespräch mit der Architektur. Schlimmer<br />

noch die aggressiv massiven Eisenbolzen, die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 537


grob ausgestanzten Geflechte, durch die kaum <strong>ein</strong><br />

Lichtstrahl dringt. Das Versteckspiel gewinnt<br />

das Dunkel, die Schatten. Oft sind sie, da, hoch<br />

oben, von robust aggressiven Lanzen gekrönt<br />

oder noch schlimmer ganz <strong>ein</strong>fach zum Käfig<br />

umgebogen – moderne Diebe sch<strong>ein</strong>en alle <strong>ein</strong>en<br />

Radikalkletterkurs absolviert zu haben.<br />

Laufe Geviert um Geviert ab <strong>und</strong> alle <strong>und</strong> alles ist<br />

mannshoch, haushoch vergittert. Eine ganze<br />

Bevölkerung hat sich hinter Gitter gerettet,<br />

verschanzt. Nur die uralte Tante weigert sich,<br />

diese neue, perverse Welt zu verstehen.<br />

Hartnäckig stößt sie immer wieder den<br />

Fensterladen auf. Er geht direkt auf die Straße. Sie<br />

lehnt sich hinaus, wie sie es <strong>ein</strong> Leben lang<br />

gemacht hat. Bis es dann <strong>ein</strong>em ihrer Betreuer<br />

auffällt <strong>und</strong> er sie unter Protest, voller<br />

Unverständnis <strong>und</strong> Unwillen, loseist. Den Laden<br />

schließt, gar mit <strong>ein</strong>em langen Brett von innen<br />

verbarrikadiert. Sie wollte sich doch nur, wie<br />

früher, Beschäftigung lauschiger Nachmittage, das<br />

Kommen <strong>und</strong> Gehen auf der Straße, heute ja so<br />

gefährlich, ansehen!<br />

Will lieber k<strong>ein</strong>e Nagelprobe machen, wie real die<br />

in Bild <strong>und</strong> Ton von den niveaulosen<br />

Fernsehprogrammen <strong>und</strong> bluttriefenden<br />

Lokalblättern dargestellte verheerte Welt voller<br />

Schlechtigkeiten wirklich ist. Drehe, was für <strong>ein</strong>e<br />

lächerliche Rache, den Spieß um! Beginne die<br />

absurdesten Gitter zu sammeln. Da sind mal die als<br />

Gesamtpaket in Auftrag gegebenen: Eisen für<br />

Fenster, Türen <strong>und</strong> natürlich, falls vorhanden,<br />

auch für die Balkone. Sozusagen als Dr<strong>ein</strong>gabe<br />

<strong>ein</strong>en Tisch <strong>und</strong> mehrere Stühle oder Bänke im<br />

selben Muster, so eisern wie unbequem, fast<br />

wette ich, dass sie noch nie jemand benutzt hat.<br />

Surrealer nur die Sitzbank mitten auf dem<br />

belebten Bürgersteig, sicher hochwillkommen bei<br />

<strong>ein</strong>er akuten Herzattacke oder plötzlicher<br />

Atemnot. Sitze <strong>und</strong> Rückenlehne wiederholen das<br />

unbeholfen grobe Muster der zugepflastert,<br />

Pardon zugegitterten Fenster.<br />

Schlimmer nur das Haus oder wohl besser <strong>ein</strong>e Art<br />

Aufbewahrungsraum, in <strong>ein</strong>em Außenquartier von<br />

Manaus. Gleich neben das <strong>ein</strong>zige, der Straße<br />

zugewandte Fenster hat der aufmerksame Maurer<br />

die ach so dekorative Kiste der Klimaanlage<br />

platziert. Hinterlistige Dinger, die plopp, nichts<br />

ahnende im Vorbeigehen mit dicken, ekligen<br />

Tropfen Kondenswasser taufen, am liebsten<br />

mitten auf den frisch gewaschenen Scheitel. Vor<br />

das, wie oben bemerkt <strong>ein</strong>zige Fenster hat er, auf<br />

<strong>ein</strong>em Vorsprung abgestützt, <strong>ein</strong>e Doppellinie<br />

dicker, vorfabrizierter Betonsäulen gepfercht. So<br />

eng <strong>und</strong> so düster gedrängt, dass es ja k<strong>ein</strong>em<br />

Sonnenstrahl <strong>ein</strong>falle, sich vorwitzig ins Innere zu<br />

trauen!<br />

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Art-Cabocla<br />

Sie sind, wie so vieles hier, vergänglich, dekorativ,<br />

Gebrauchskunst. „Arte cabocla“, echte<br />

Volkskunst, bunt, grellbunt, populär im weitesten<br />

<strong>und</strong> engsten Sinne, modern als „Graffitis“<br />

bezeichnet ließe sich aber auch als Art-brut oder<br />

Naive Kunst <strong>ein</strong>ordnen. Hätten gar <strong>ein</strong> Museum<br />

verdient! Als Gebrauchskunst schmücken sie<br />

Mauern, zieren den Festplatz genauso wie die<br />

Korridore <strong>ein</strong>es Hotels oder funktionieren als<br />

Hintergr<strong>und</strong> für <strong>ein</strong>e Ladentheke. Sie sind zugleich<br />

Augenschmaus, Hingucker, Verkaufshilfsmittel<br />

<strong>und</strong> Komunikation.<br />

Einen ganzen Zoo treffe ich, nomen est omen,<br />

r<strong>und</strong> um die Baracke der <strong>ein</strong>fachen Parkbar. Der<br />

übergroße, leucht-blau-gelbe Papagei, <strong>ein</strong>e<br />

„Arara“, sitzt still <strong>und</strong> etwas dicklich auf <strong>ein</strong>em<br />

dürren Ast, ist im Profil dargestellt, hat ihr Auge<br />

genau jenen abwägenden, analytischen<br />

Papageienblick. Auch das „Bem.te.v“i-Kücken,<br />

vom Maler genauso mit Punkt geschrieben, ist<br />

sehr gut getroffen, sch<strong>ein</strong>t aber noch etwas<br />

erschrocken, vielleicht erst kürzlich flügge<br />

geworden. Großes Geschick <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e klare Idee<br />

von Perspektive verrät der naive Maler beim<br />

Zeichnen der Krallen. Er sch<strong>ein</strong>t den Vogel in der<br />

Natur sehr gut beobachtet zu haben. M<strong>ein</strong><br />

absoluter Favorit ist aber der fliegende Panther,<br />

verzeihen Sie mir den Übernamen, aber er ist <strong>ein</strong><br />

Meisterstück naiver Malerei. Genau auf der<br />

Grenze zwischen Kopie <strong>und</strong> Eigenschöpfung<br />

sch<strong>ein</strong>t m<strong>ein</strong>e Katze mitten in <strong>ein</strong>em<br />

wahnwitzigen Flug/Sprung erstarrt, sch<strong>ein</strong>t Flügel<br />

zu haben, schwebt reglos über <strong>ein</strong>em dunkelorangen<br />

in den Flammen <strong>ein</strong>es tropischen<br />

Abendrotes stehenden Himmels. Ob sie das denn<br />

nur in der Fantasie des Porträtisten kann oder<br />

auch im Volksglauben? Für mich hat er sozusagen<br />

ihren Mythos nachkreiert.<br />

Je nach Professionalität <strong>und</strong> Kunstfertigkeit des<br />

Ausführenden präsentieren sie sich als naive<br />

Pinselei mit unverfälschter Bildsprache, voller<br />

Details <strong>und</strong> manchmal ungeschliffen in den<br />

Proportionen, können aber auch zum kompliziert<br />

kommerziellen Airbrush ausreifen. Statt der<br />

Wünsche <strong>und</strong> Träumer der Autoren bilden sie oft<br />

das Universum des Käufers ab, nicht von ungefähr<br />

gibt es überall Delphine <strong>und</strong> Panter, die berühmt<br />

berüchtigten „Onças“. Auch landschaftliche<br />

Allegorien sind beliebt oder Darstellungen der<br />

Lebensweise imaginärer indigener Vorfahren <strong>und</strong><br />

ihrer tagtäglichen Verrichtungen.<br />

Amazonische Varianten der Hinterlandidyllen oder<br />

des röhrenden Hirsches.<br />

letzten<br />

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Urbanes<br />

<strong>Amazonien</strong><br />

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Urbanes <strong>Amazonien</strong><br />

Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte - <strong>ein</strong> historischer Abriss 556-560 <strong>und</strong> 566-570<br />

Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I 579-582<br />

Belém der Jesuiten, Museu de Arte Sacra Santo Alexandre 585<br />

Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II 598<br />

Kacheln 601-602<br />

Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige 608/609<br />

Belém modern 614<br />

Von den Mangobäumen 616<br />

Museum Goeldi, Belém 620/621<br />

Paris in den Amerikas 629/630<br />

Wenn die Tiere um ihr Glück spielen 633<br />

Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit 645-647<br />

Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates 653<br />

Im Hinterhof 654<br />

Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro 632-634<br />

Manaus 665/666<br />

Manaus große alte Lady, das Theater 672-674<br />

National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque 683/684<br />

An der Bushaltestelle 686/687<br />

Im Museum des Kautschuks 693<br />

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Belém<br />

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Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte - <strong>ein</strong> historischer Abriss<br />

Entlang der waagrechten Klinge, die messerscharf<br />

<strong>und</strong> ohne die geringste Erhebung das<br />

schlammtrübe Meer süßen, endlos weiten<br />

Wassers zerschneidet, erheben sich in der Ferne<br />

die Silhouetten <strong>und</strong> noch mehr Silhouetten<br />

monochromatischer, angegrauter Gebäude,<br />

funktionell, hässlich-modern. Noch <strong>ein</strong>e jener<br />

uniformen Städte, globalisiert <strong>und</strong> gesichtslos,<br />

gäbe es da nicht die Kirchen, der Verputz<br />

kalkweiß, die Fassaden barocke Scherenschnitte,<br />

stumme Zeugen <strong>und</strong> langsam wiederentdeckte<br />

Erinnerungen an die Kolonialzeit, dem Delta des<br />

Flusses, den unendlichen, schlammfarben<br />

Wassermassen zugewandt, auf dem die kurzstämmigen<br />

Boote im immerwährend feuchtfruchtbaren<br />

Klima vor sich hin dümpeln. Ich<br />

wette, dass sich die Formen der Schiffe mit dem<br />

flachliegenden Kiel <strong>und</strong> den ausholend r<strong>und</strong>en<br />

Formen seit Jahrh<strong>und</strong>erten nicht verändert<br />

haben. Sie erinnern mit ihren tief hängenden<br />

Dächern <strong>und</strong> den flachen Bäuchen, <strong>ein</strong>ige sind<br />

zwei oder mehrstöckig, eher an <strong>ein</strong> paar vor sich<br />

hin schlinkernde Sardinenbüchsen als an die<br />

wichtigsten Verkehrsmittel der Region. Die Flüsse<br />

sind hier die Straßen, das Schiff wird zum Bus<br />

oder Zug.<br />

Es sch<strong>ein</strong>t mir, als ob der Kontrast zwischen den<br />

Booten, jedes <strong>ein</strong>zelne Brett von der Hand <strong>ein</strong>es<br />

lokalen Bootsbauers zurechtgeschnitten, <strong>und</strong> dem<br />

anonymen Beton der konventionellen<br />

Hochhäuser genau den Widerspruch oder handelt<br />

es sich gar um Rückständigkeit? dieser Stadt<br />

ausdrückt, denn hier ist so vieles verwirrend<br />

kontrovers, gleichzeitig sehr modern <strong>und</strong> sehr<br />

traditionell/rückständig, sehr kosmopolitisch <strong>und</strong><br />

sehr hinterwäldlerisch. Ein Abbild Brasiliens mit<br />

noch extremeren Zügen, sozusagen amazonischen<br />

Dimensionen.<br />

Die Stadt Belém ist der älteste Zugang <strong>und</strong> bis<br />

heute das Tor zu der riesigen Region <strong>Amazonien</strong>s,<br />

des größten zusammenhängenden<br />

Tropenwaldgebietes, welches etwa fünf Prozent<br />

der gesamten Landfläche der Erde <strong>und</strong> über 40<br />

Prozent des brasilianischen Territoriums bedeckt.<br />

Ein sich fächerförmig ausbreitendes Flusssystem,<br />

durch welches 1/5 des Süßwassers der Welt fließt.<br />

Belém befindet sich damit in <strong>ein</strong>er<br />

Schlüsselposition, sozusagen im Auge des<br />

Hurrikans - fast alles, was mit dem Amazonas zu<br />

tun hat, beginnt <strong>und</strong> endet auf irgend<strong>ein</strong>e Art <strong>und</strong><br />

Weise im Hafen von Belém. Ein Hurrikan, der<br />

Abenteurer, Geschäftsleute, Wissenschaftler <strong>und</strong><br />

Künstler, aus der halben Welt durchgeblasen hat<br />

<strong>und</strong> noch immer durchbläst, jeder mit s<strong>ein</strong>em<br />

eignen Bild vom Garten Eden im Kopf, gekommen,<br />

um mit eigenen Augen zu sehen, neugierig <strong>und</strong><br />

wissensdurstig, früher gar bereit, s<strong>ein</strong>e Ges<strong>und</strong>heit<br />

oder gar das Leben aufs Spiel zu setzen. An s<strong>ein</strong>em<br />

Hafen dockten die globalsten, komplexesten<br />

Persönlichkeiten an, <strong>ein</strong>e illusterer <strong>und</strong><br />

globalisierter als die andere, alle auf der Suche<br />

nach ebendiesem Art Paradies, <strong>ein</strong>em realen<br />

oder verlorenen, so übermächtig <strong>und</strong> so<br />

be<strong>ein</strong>druckend, dass es für <strong>ein</strong>ige auch zur Hölle<br />

wurde: Padre Antônio Vieira, Jesuit, Berater des<br />

portugiesischen Königs, Diplomat <strong>und</strong> Poet,<br />

Francisco Xavier de Mendonça Furtado,<br />

Gouverneur <strong>und</strong> Capitão-General des Staates<br />

Grão Pará <strong>und</strong> Maranhão, Bruder des illusteren<br />

Marques de Pombal, portugiesischer<br />

Premierminister, aufgeklärter Erneuerer<br />

Portugals <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Kolonien, erklärter F<strong>ein</strong>d<br />

der Jesuiten. Die Deutschen Carl Friedrich<br />

Philipp von Martius <strong>und</strong> Johan Babtist Ritter<br />

von Spix, zwei große deutsche Naturforscher<br />

<strong>und</strong> Ethnologen, Euclides de Cunha, Ingenieur<br />

<strong>und</strong> Poet, hergeschickt vom Diplomaten Barão<br />

do Rio Branco, um die Grenze mit Peru zu<br />

ber<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en nie beendeten Klassiker<br />

über den Amazonas zu schreiben, Parcefal<br />

Farquear, nordamerikanischer Unternehmer aus<br />

der Energie- <strong>und</strong> Verkehrsbranche, Cândido<br />

Mariano da Silva Rondon, Bezwinger <strong>ein</strong>es<br />

unbekannten Sertãos (Hinterlandes) <strong>und</strong> des<br />

teuflisch-tödlichen amazonischen Regenwaldes,<br />

durch den er die erste Telegrafenleitung<br />

verlegte. Viele Begegnungen mit den<br />

unterschiedlichsten Indiostämmen machten ihn<br />

später zu deren paternalistischem Beschützer.<br />

Einer der neueren Amazonasstaaten, Rondônia,<br />

ist nach ihm benannt. Theodore Roosevelt,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 556


nordamerikanischer Ex-Präsident auf der Suche<br />

nach Abenteuer <strong>und</strong> dem „Rio da Dúvida“, dem<br />

Fluss des Zweifels, <strong>und</strong> Emanuel Goeldi,<br />

Schweizer, Wissenschaftler <strong>und</strong> Museologe, um<br />

nur die berühmtesten unter sehr vielen anderen<br />

zu erwähnen.<br />

Eine lange Liste, die das Selbstvertrauen dieses<br />

Ortes eigentlich heben sollte, aber <strong>ein</strong>e Stadt<br />

antrifft, die wie parallelisiert zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t,<br />

schläft, <strong>ein</strong> tief in tödlichem Schlaf versunkenes<br />

Dornröschen, vergessen, nicht hinter<br />

Dornenhecken versteckt, sondern hinter<br />

unendlich <strong>und</strong>urchdringlichen, schwer<br />

zugänglichen Ur-Wäldern. Eine Stadt, die sich bis<br />

heute nicht vom Schlag erholte, durch den sie<br />

über Nacht den ganzen Glanz <strong>und</strong> Reichtums des<br />

Kautschuks verlor, <strong>ein</strong>fach, weil clevere<br />

Engländer, allen voran Henry Wickham in <strong>ein</strong>em<br />

Akt der Biopiraterie die Samen des Gummibaums<br />

nach Asien schmuggelten. Belém schläft bis heute<br />

den Schlaf <strong>ein</strong>er schönen Unbekannten, denn wer<br />

heute über den Amazonas spricht oder schreibt,<br />

erinnert sich sogleich an das viel jüngere <strong>und</strong><br />

kulturell viel ärmere Manaus, <strong>ein</strong>e Flugst<strong>und</strong>e den<br />

Amazonas hoch.<br />

Belém liegt am Delta des breitesten <strong>und</strong> längsten<br />

Flusses der Welt, der Ort wurde strategisch<br />

perfekt ausgewählt. Der Amazonas war die<br />

Hauptverkehrsader, die die wichtigsten Städte der<br />

Region badet <strong>und</strong> <strong>ein</strong> außerordentlich komplexes<br />

tropischen Ökosystem nährt, auf das die Augen<br />

der ganzen Welt gerichtet sind, <strong>und</strong> um das<br />

Brasilien schon früher <strong>und</strong> besonders<br />

heute vom ganzen Planeten beneidet wird. Aber<br />

nicht nur der Regenwald, die Fauna <strong>und</strong> Flora, die<br />

Süßwasserreserven sind viel wert. Unter den<br />

amazonischen Erden liegen andere wertvolle <strong>und</strong><br />

begehrte Schätze: Viele Mineralien wie Eisen,<br />

Magnesium, Uran, Bauxit, Kupfer, Nickel, Silber,<br />

Mangan, Zinn, Uran, Blei, Titan, Phosphat <strong>und</strong><br />

Gold, es gibt fast k<strong>ein</strong>s, das fehlt, werden in der<br />

Region geschürft. Ein Großteil des auf der Welt<br />

verwendeten Bauxits, Hauptbestandteil des<br />

Aluminiums, stammt von hier. Die Chance ist groß,<br />

dass das Rohmaterial Ihrer Cola-Büchse aus dem<br />

hiesigen Regenwald kommt. Bis heute versuchen<br />

die verschiedensten Regierungen Brasiliens sich<br />

diese Erde untertan zu machen, schicken<br />

Goldgräber ebenso aus wie Viehzüchter, Sojaoder<br />

Reisproduzenten <strong>und</strong> Landlose, die alle ihr<br />

Stück Regenwald abbrennen, zerstören. Will man<br />

das Warum dieser langen Geschichte <strong>ein</strong> bisschen<br />

besser verstehen, so lohnt sich <strong>ein</strong> Blick in die<br />

wechselvolle Vergangenheit.<br />

Exotisch <strong>und</strong> voller Mäander ist sie, die Geschichte<br />

der Stadt Belém genauso wie die des ganzen<br />

brasilianischen Teils des Amazonas. Ein Blick auf<br />

die Landkarte zeigt, dass wir über kontinentalen<br />

Distanzen sprechen - von São Paulo fliegt man 4-5<br />

St<strong>und</strong>en bis in den Amazonas. Der bis heute<br />

unwirtliche Regenwald schiebt sich wie <strong>ein</strong><br />

<strong>und</strong>urchdringlicher Schutzwall zwischen den<br />

Norden <strong>und</strong> das Zentrum/Süd Brasiliens. Das<br />

erklärt, warum der Amazonas vielen Brasilianern<br />

genauso so fremd, unbekannt <strong>und</strong> exotisch<br />

vorkommt wie vielen Europäern. Daran hat auch<br />

die in den 70er Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

konstruierte Landverbindung Belém-Brasília nicht<br />

viel geändert. Bis dahin war der Norden praktisch<br />

nur per Schiff oder per Flugzeug zu erreichen. Zur<br />

Zeit der Kolonialisierung war es aus r<strong>ein</strong><br />

geografischen Gründen gar genauso <strong>ein</strong>fach, sich<br />

direkt nach Portugal <strong>ein</strong>zuschiffen wie ins übrige<br />

Brasilien. Der Norden war deshalb während der<br />

ersten 300 Jahre Kolonialzeit, von der Eroberung<br />

durch die Portugiesen bis zur Flucht des<br />

portugiesischen Königs Don João VI nach<br />

Brasilien, <strong>ein</strong>e Art überseeisches Portugal, direkt<br />

Lissabon, Portugal unterstellt. Näherte sich erst<br />

nach 1808, nachdem die Kolonie zum Kaiserreich<br />

geworden war, zögerlich dem restlichen Brasilien<br />

an. Auf dem Höhepunkt des Kautschukbooms zu<br />

Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war Belém dem<br />

restlichen Brasilien weit voran, erstrahlte, für<br />

kurze Zeit nur, als <strong>ein</strong>e der fortschrittlichsten,<br />

modernsten Städte <strong>ein</strong>es noch archaisch<br />

rückständigen Landes. Belém war <strong>ein</strong>e Art<br />

tropisches Paris, reich, avantgardistisch <strong>und</strong> total<br />

kosmopolitisch.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 557


Auf der anderen Seite des Ozeans, wir sind in den<br />

Jahren zwischen 1500 <strong>und</strong> 1530, setzt Portugal,<br />

<strong>ein</strong>e der Seefahrernationen, zu <strong>ein</strong>em<br />

außerordentlichen Sprung nach vorne an. Es wird<br />

zu <strong>ein</strong>em der reichsten Länder s<strong>ein</strong>er Zeit, indem<br />

es ihm gelingt, das Monopol des Gewürzhandels,<br />

über Jahrh<strong>und</strong>erte fest in arabischer <strong>und</strong><br />

venezianischer Hand, zu brechen. Es ist Vasco da<br />

Gama, der 1498 das Unvorstellbare fertigbringt<br />

<strong>und</strong> auf dem Seeweg nach Kalkutta, Indien<br />

gelangt <strong>und</strong> damit die so begehrten Gewürze aus<br />

dem Orient, sie dienen nicht nur kulinarischen<br />

Zwecken sondern werden auch als<br />

Konservierungsstoffe verwendet, sind als<br />

Arzneien genauso begehrt wie für Parfüms, zum<br />

ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes<br />

übers Meer nach Europa bringt.<br />

Über die „Entdeckung“ Brasiliens gibt es <strong>ein</strong>e, bis<br />

heute nicht bestätigte Theorie, die es als sehr<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich ansieht, dass die portugiesischen<br />

Seefahrer lange vor der offiziellen „Entdeckung“<br />

bis zur Küste Brasiliens vorgedrungen seien, den<br />

Fakt aber aus taktischen Gründen für sich<br />

behielten. Folgen wir der offiziellen<br />

Geschichtsschreibung, so war es Pedro Álvaro<br />

Cabral der 1500 in Porto Seguro, Bahia, das erste<br />

Mal der neuen Küste ansichtig wurde. Aus den<br />

unterschiedlichsten Gründen behandelt Portugal<br />

alle s<strong>ein</strong>e Kolonien mit <strong>ein</strong>em rigiden<br />

Merkantilismus. Der portugiesische König sendet<br />

Missionen aus, um die enormen Küsten des<br />

Riesenlandes, eher <strong>ein</strong> Kontinent, zu patrouillieren<br />

<strong>und</strong> sich damit deren Besitz zu versichern. So<br />

wurde die Kolonie auf der anderen Seite des<br />

Ozeans für die nächsten Jahrh<strong>und</strong>erte zu nichts<br />

anderem als zu <strong>ein</strong>e unendlich riesigen<br />

Landwirtschaftsgut, ohne nennenswerte<br />

Gegenleistung bis aufs letzte ausgeplündert. Ein<br />

sehr streng gehüteter Besitz, exklusiv <strong>und</strong><br />

ausnahmslos den portugiesischen Seefahrern <strong>und</strong><br />

Siedlern vorbehalten, der Zutritt von Ausländern<br />

war strickte untersagt. Die ganze Kolonie war bis<br />

zum Schlüsseljahr 1808 von der restlichen Welt<br />

abgeschnitten, abgeschottet <strong>und</strong> zensiert. Wollte<br />

man es bereisen, brauchte man <strong>ein</strong>e königliche<br />

Bewilligung, die zum Beispiel dem<br />

Forschungsreisenden, <strong>und</strong> als wissenschaftlicher<br />

Wiederentdecker Amerikas gefeierter Alexander<br />

von Humboldt (1769-1859) verweigert wurde. Er<br />

konnte nur den den Spaniern unterstellten Teil<br />

Südamerikas bereisen.<br />

Ein Stigma, unter dem Belém, die ganze Region<br />

Nordbrasiliens, mit wenigen Ausnahmen, bis zum<br />

heutigen Tag leidet, denn an der Mentalität der<br />

Ausbeutung hat sich bis heute wenig geändert, es<br />

wird wenig investiert, zu distanziert, zu<br />

kompliziert, zu gigantisch, unübersichtlich <strong>und</strong><br />

komplex ist die Frage, was man mit dem<br />

Amazonas außer Ausplündern denn eigentlich<br />

machen sollte, müsste oder dürfte.<br />

Im Jahr 1542 wagte sich der Jesuit Alonso de<br />

Rojas auf den großen Fluss, auf dem er <strong>ein</strong>e<br />

wirkliche oder fantasierte Begegnung mit den<br />

sogenannten Amazonen hatte, kriegerische<br />

Frauen, die sich die <strong>ein</strong>e Brust amputiert hatten.<br />

Eine Begegnung, die dem riesigen Strom den<br />

definitiven Namen Amazonas verlieh.<br />

Schon im Jahre 1493 teilte die päpstliche Bule<br />

„Inter coetra“, 1494 durch den Vertrag von<br />

Tordesilhas ratifiziert, alle östlich von Afrika<br />

schon entdeckten <strong>und</strong> noch zu entdeckenden<br />

Länder <strong>und</strong> Kontinente <strong>ein</strong>fach zwischen Spanien<br />

<strong>und</strong> Portugal auf. Ein Recht, das aber weder<br />

Frankreich noch Holland anerkannten. Besonders<br />

die Franzosen hatten <strong>ein</strong> Auge auf den Norden<br />

Brasiliens geworfen, wo sie bald zusammen mit<br />

den Holländern <strong>und</strong> Spaniern begannen, die<br />

Gegend um den Amazonas zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

auszubeuten. Da sie k<strong>ein</strong> Gold fanden, machten<br />

sie sich, genau zu <strong>ein</strong>er Zeit, als der Handel mit<br />

Gewürzen im Orient auf dem Rückgang war, auf<br />

die Suche nach den sogenannten “Drogas do<br />

Sertão”, exotischen Gewürzen, Harzen, Nüssen<br />

<strong>und</strong> Pelzen.<br />

Nach <strong>und</strong> nach wird die Region Norden von den<br />

verschiedenen religiösen Orden besetzt <strong>und</strong> bald<br />

geht ihr Einfluss weit über das Bekehren von<br />

unschuldigen Seelen hinaus. Es sind die Jesuiten,<br />

die die Mission Maranhão <strong>und</strong> Grão Pará der<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 558


Gesellschaft Jesu gründen, die 1643 den<br />

berühmten Poeten, Politiker <strong>und</strong> Padre Antônio<br />

Vieira empfängt, der sich höchst angetan vom<br />

Amazonas <strong>und</strong> den jesuitischen Missionen im Rio<br />

Negro <strong>und</strong> an anderen Flüssen der Region zeigt.<br />

Noch mehr, als s<strong>ein</strong>em Orden von Portugal, um<br />

die Ausbeutung besser kontrollieren zu können,<br />

der ganze Überseehandel überlassen wird, was<br />

dazu führt, dass die Jesuiten nun wirklich <strong>ein</strong>e<br />

entscheidende Rolle in der kolonialen Geopolitik<br />

spielen, sie werden, mit ihren weltweiten<br />

Verbindungen, zu globalen Handelsfirmen.<br />

Den Amazonas beschreibt Padre Antônio Vieira,<br />

(1608-1697), Jesuit <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Art<br />

Allro<strong>und</strong>gelehrter <strong>und</strong> Diplomat, der für s<strong>ein</strong>e<br />

Fähigkeiten mit der Feder mit dem Ehrentitel des<br />

„Kaisers der portugiesischen Sprache“<br />

ausgezeichnet, Autor von „Sermões“, die mit zu<br />

den schönsten der portugiesischen Sprache<br />

zählen, der Portugal ausgezeichnete<br />

diplomatische Dienste leistete <strong>und</strong> zudem großen<br />

Einfluss auf den portugiesischen König João IV<br />

ausübte, beschreibt den Amazonas dieser Zeit als<br />

geradezu globales Gemisch. Er spricht vom „Fluss<br />

Babel“ <strong>und</strong> fand den Vergleich gar untertrieben,<br />

schätzte er doch, dass im Amazonasbecken mehr<br />

Sprachen gesprochen wurden, als beim biblischen<br />

Bau des Turmes von Babel! Was auch<br />

Rückschlüsse auf die indigene Bevölkerung<br />

zulässt, laut Schätzung gab es wohl mehr als 300<br />

verschiedene Indiostämme.<br />

1735, schon im Zeichen der Aufklärung, kam der<br />

Franzose Charles-Marie de la Condamine, wohl<br />

der erste „Naturerforscher“ im heutigen Sinn,<br />

hierher. S<strong>ein</strong>e Reise in den Amazonas wurde von<br />

der französischen Académie dela Sciences<br />

gesponsert <strong>und</strong> verfolgte das Ziel, Isaac Newtons<br />

Messungen über die Breitengrade der Erde zu<br />

überprüfen. Die Herrlichkeiten, die er von s<strong>ein</strong>er<br />

Reise nach Hause brachte, stießen in Europa auf<br />

viel Echo <strong>und</strong> Widerhall. Pikante Details: in Quito,<br />

am Anfang s<strong>ein</strong>er Reise durch den Amazonas, trifft<br />

er den Jesuitenpater Samuel Fritz, Autor kostbarer<br />

Karten des Amazonasgebietes - wer <strong>ein</strong> Land<br />

erobern <strong>und</strong> besitzen will, muss als erstes<br />

Landkarten erstellen, <strong>und</strong> macht, unter sehr<br />

vielem anderen, Bekanntschaft mit <strong>ein</strong>em Produkt<br />

der Indios, welches sie „cahuchuc“ Kautschuk<br />

nennen.<br />

Auch Portugal modernisiert sich, denn 1750, wird<br />

Sebastião de Carvalho e Melo, der spätere<br />

Marquês de Pombal, <strong>ein</strong> Aufgeklärter, mit fast<br />

un<strong>ein</strong>geschränkter Macht ausgestattet, Pombal<br />

schickt <strong>ein</strong>e wissenschaftliche Expedition in den<br />

Norden, der s<strong>ein</strong> Halbbruder Francisco Xavier<br />

Mendonça Furtado als Kommandant vorsteht. In<br />

s<strong>ein</strong>er Begleitung befinden sich Physiker,<br />

Astronomen, Geografen, Ingenieure <strong>und</strong> unter<br />

anderen auch der Arquitekt Antônio Guiseppe<br />

Landi. Zum ersten Mal entwickelt Portugal <strong>ein</strong><br />

ökonomisches Projekt für die Kolonie. Im<br />

Amazonas wird der erste Kaffee angepflanzt, der<br />

von Französisch Guyana herunterkam,<br />

Baumwolle <strong>und</strong> Tabak, Zuckerrohr.<br />

Nach dem Vorbild holländischen <strong>und</strong> englischen<br />

Osthandelsgesellschaften gründet die<br />

„Companhia das Índias Orientais“, die<br />

Ostindische Kompanie, die das Handelsmonopol<br />

mit der Kolonie erhält. Er verbietet, in Portugal,<br />

die Sklaverei, reorganisiert das Erziehungswesen<br />

<strong>und</strong> - von entscheidender Bedeutung - nimmt es<br />

aus den Händen der Kirche - verjagt gar die<br />

Jesuiten aus allen ihren Privilegien! Der Orden<br />

wird 1759 definitiv aus Pará vertrieben <strong>und</strong><br />

Portugiesisch wird, konsequenterweise, zur<br />

offiziellen Umgangssprache.<br />

Aber schon nach 1780 gehen die Geschäfte im<br />

Amazonas zurück, die Kolonie verarmt. 1778<br />

wird die Companhia de Comércio do Grão-Pará e<br />

Maranhão aufgelöst <strong>und</strong> der Marquês de<br />

Pombal fällt in Ungnade. In Europa flackern <strong>ein</strong>e<br />

Reihe von Kriegen auf. Der Kolonie geht es<br />

Zusehens schlechter, bis sich König João VI im<br />

Jahr 1807 nach dem Scheitern s<strong>ein</strong>er<br />

Schaukelpolitik zwischen Frankreich <strong>und</strong> England<br />

gezwungen sieht, mit Hilfe der Engländer vor den<br />

Truppen Napoleons nach Brasilien zu flüchten,<br />

<strong>und</strong> damit <strong>ein</strong>e komplett neue Ära <strong>ein</strong>läutet.<br />

Nach der Zerschlagung der Vormachtstellung<br />

Napoleons in Europa, wird Brasilien zum<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 559


Königreich <strong>und</strong> Portugal in Personalunion<br />

verb<strong>und</strong>en. Der König öffnet endlich per Dekret<br />

die Häfen, allerdings nur für die befre<strong>und</strong>eten<br />

Nationen. Eine Politik die bis 1876 aufrechterhalten<br />

wird. So bekommt 1853, strategischen<br />

Interessen der Krone gehorchend, der mächtige<br />

Barão de Mauá das Schifffahrtsmonopol im<br />

Amazonas, das nicht nur die Besetzung des<br />

Territoriums garantiert, sondern auch s<strong>ein</strong>e<br />

Verteidigung gegen fremde Übergriffe absichert.<br />

Zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herrscht in<br />

Europa <strong>ein</strong>e wahre Übersee-Euphorie. Es werden<br />

die verschiedensten Forschungsexpeditionen<br />

nach Südamerika geschickt, von Fürsten oder<br />

Organisationen gesponsert, die auf<br />

Prestigegewinn spekulieren, aber auch handfeste<br />

ökonomische Interessen verfolgen. 1859<br />

veröffentlicht Charles Robert Darwin s<strong>ein</strong>e<br />

Evolutionstheorie.<br />

1817 wird der Kronprinz Dom Pedro I, er<br />

verkündete später Brasiliens Unabhängigkeit von<br />

Portugal, durch <strong>ein</strong>e politische Fernheirat, von<br />

Fürst von Metternich arrangiert, mit der<br />

habsburgischen Erzherzogin Maria Leopoldine<br />

von Österreich, Tochter von Kaiser Franz I.,<br />

verheiratet. Auf ihre Reise zu ihrem Gatten ins<br />

tropische Brasilien begleiten sie viele Gelehrte,<br />

Naturforscher <strong>und</strong> Künstler, sowie der Maler<br />

Thomas Ender. Er bringt aus den Jahren 1817/18<br />

viele Skizzen <strong>und</strong> Aquarelle sowie Illustrationen zu<br />

Reisewerken nach Österreich mit zurück. Auch der<br />

Naturforscher, Zoologe <strong>und</strong> Vogelk<strong>und</strong>ler Johann<br />

Natter ist mit auf der österreichischen<br />

Brasilien-Expedition dabei, die von 1817 bis 1835<br />

dauert. Er beginnt im Jahre 1829 an den Flüssen<br />

Rio Negro <strong>und</strong> Rio Branco s<strong>ein</strong>e 17-jährige<br />

Forschungsarbeit. Nach s<strong>ein</strong>er Rückkehr richtet er<br />

in Wien das „Brasilianum“ <strong>ein</strong>, <strong>ein</strong> riesiger Erfolg.<br />

Der bayrische König Maximilian I. sendet den<br />

Botaniker, Mediziner <strong>und</strong> Ethnologen Carl<br />

Friedrich Philipp von Martius <strong>und</strong> den Zoologen<br />

Johan Babtist Ritter von Spix mit auf die Reise. Die<br />

beiden reisen, unter unvorstellbaren Strapazen,<br />

bis in den Amazonas. In Belém angekommen,<br />

estaunt <strong>und</strong> verblüfft sie die ihnen total fremde<br />

Welt. Sie rudern mit <strong>ein</strong>er Militäreskorte <strong>und</strong><br />

besuchen Santarém, Óbidos, Manaus <strong>und</strong> dringen<br />

bis Egá (Tefé) am Solimões vor, wo sie sich<br />

trennen, denn Spix hat die Malaria sehr<br />

geschwächt. Spix kommt bis Tabatinga <strong>und</strong> bringt<br />

von da <strong>ein</strong>e reiche ethnologische Sammlung mit,<br />

heute im Münchner Völkerk<strong>und</strong>emuseum.<br />

Martius kommt bis zu der damaligen<br />

kolumbianischen Grenze. Nach <strong>ein</strong>em Jahr <strong>und</strong><br />

drei Monaten treffen sie wieder in Belém <strong>ein</strong>, <strong>und</strong><br />

kehren schließlich nach fast 4 Jahren mit <strong>ein</strong>er fast<br />

unvorstellbaren Ausbeute an Pflanzen, Insekten,<br />

Spinnen, Amphibien <strong>und</strong> Fischen nach Europa<br />

zurück, wo Spix bald darauf an den Spätfolgen der<br />

Malaria stirbt. Von Martius macht die Ausbeute,<br />

die in Europa auf fantastisches Interesse stößt, zu<br />

s<strong>ein</strong>em Lebenswerk <strong>und</strong> arbeitet die nächsten 48<br />

Jahre damit. Er bringt die „Flora Brasiliensis“, das<br />

größte botanische Werk des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

<strong>ein</strong> wahrhaftiges Überwerk heraus, daneben die<br />

„Historia Naturalis Palmarum“ <strong>und</strong> andere.<br />

1822 erklärt Brasilien s<strong>ein</strong>e Unabhängigkeit von<br />

Portugal <strong>und</strong> wird zum Kaiserreich Brasilien, das<br />

nun auch den Norden mit Pará <strong>und</strong> Maranhão<br />

<strong>ein</strong>schließt. Don Pedro I. dankt 1841 zugunsten<br />

s<strong>ein</strong>es Sohnes Don Pedro II. ab. Der Norden, viel<br />

stärker als der Rest Brasiliens mit Portugal<br />

verb<strong>und</strong>en, leistet Widerstand <strong>und</strong> erkennt die<br />

Unabhängigkeit erst nahezu <strong>ein</strong> Jahr später an.<br />

Zu viele hier im Norden hätten es vorgezogen,<br />

weiterhin unter portugiesischer Herrschaft zu<br />

bleiben.<br />

1889 wird der Kaiser Don Pedro II unblutig<br />

gestürzt <strong>und</strong> die Republik ausgerufen. Im<br />

Amazonas, s<strong>ein</strong> unwirtliches Innere ist immer<br />

noch so <strong>ein</strong>e Art weißer Fleck auf der Landkarte,<br />

gehen entscheidende Grenzber<strong>ein</strong>igungen mit<br />

Französisch Guyana, Bolivien <strong>und</strong> Peru vor sich,<br />

bei denen sich der Diplomat Barão do Rio Branco<br />

durch s<strong>ein</strong> außerordentliches<br />

Verhandlungsgeschick hervortut. So bringt er<br />

1903 den Staat Acre, wo sich bis dahin<br />

brasilianische Kautschukgewinner mit<br />

Es geht weiter Seite 538<br />

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olivianischen Militärs bekriegten, auf<br />

diplomatischem Weg <strong>und</strong> gegen <strong>ein</strong>e schöne<br />

Summe Geld zu Brasilien, allerdings mit dem<br />

Versprechen, auf Staatskosten mitten durch den<br />

Dschungel <strong>ein</strong>e Eisenbahnlinie zu verlegen, die<br />

berüchtigte Madeira- Mamoré, die Boliviens<br />

Zugang zum Hafen Porto Velho sichern soll.<br />

Zu <strong>ein</strong>er weiteren Grenzber<strong>ein</strong>igung auf dem<br />

Fluss Purus, diesmal mit Peru, lädt der selben<br />

Barão do Rio Branco den berühmten Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Ingenieur Euclides de Cunha <strong>ein</strong>. Dieser soll<br />

mit s<strong>ein</strong>en Aufzeichnungen <strong>und</strong> Erlebnissen <strong>ein</strong><br />

Buch über den Amazonas schreiben. Euclides de<br />

Cunha, an den trocken-heißen <strong>und</strong> kargen<br />

brasilianischen Sertão im Nordosten gewohnt,<br />

findet den Amazonas abstoßend <strong>und</strong> unwirtlich,<br />

<strong>ein</strong>e Art unfertiges, unbewohnbares Paradies. Ein<br />

anderer Unwegsamer, Unbezähmbarer, Cândido<br />

Mariano da Silva Rondon, bekannt als Marechal<br />

Rondon, nimmt das gigantische Mammutprojekt<br />

in Angriff, den unerschlossenen Teil Brasiliens mit<br />

dem Fortschritt <strong>ein</strong>er Telegrafenleitung zu<br />

beglücken, die er von Mato Grosso bis hoch in<br />

den Amazonas zieht. 1913/14 wird er, <strong>ein</strong>er, der<br />

sich s<strong>ein</strong>en Weg im Dschungel frei schlägt wie<br />

k<strong>ein</strong> zweiter, von der brasilianischen Regierung zu<br />

<strong>ein</strong>er andern, höchst abenteuerlichen Mission<br />

abberufen. Er soll Theodore Roosevelt mit <strong>ein</strong>er<br />

ganzen Gruppe Amerikaner, unter ihnen s<strong>ein</strong><br />

Sohn, auf <strong>ein</strong>e “Safari” in den Amazonas<br />

begleiten. Rondon will die Gelegenheit dazu<br />

benutzen, den Fluss “Rio da Dúvida“, (den Fluss<br />

des Zweifels, so genannt, weil man nicht genau<br />

wusste, wo er entsprang) genauer zu vermessen,<br />

aber die Exkursion endet als Desaster.<br />

Nun dreht sich hier im Norden fast alles um den<br />

Kautschuk. Wiedermal macht sich die strategische<br />

Position Beléms bezahlt. Auch soll nun endlich <strong>ein</strong><br />

naturwissenschaftliches Museum, zusammen mit<br />

<strong>ein</strong>er Forschungsstation <strong>ein</strong>gerichtet werden.<br />

Endlich können so die unvorstellbaren <strong>und</strong> so<br />

begehrten exotischen <strong>und</strong> tropischen Schätze an<br />

Ort <strong>und</strong> Stelle erforscht werden, werden nicht<br />

mehr „geraubt“, müssen nicht mehr dem Ausland<br />

abgetreten werden, das hier <strong>ein</strong>e Art lukrative<br />

Industrie mit Tierpräparaten, Botaniksammlungen<br />

<strong>und</strong> ethnologischen Gegenständen betreibt, die<br />

alle für den Export bestimmt sind. 1894 wird der<br />

Schweizer Emil August Goeldi zum Direktor des<br />

Museums, das später s<strong>ein</strong>en Namen tragen wird,<br />

ernannt. Er organisiert, ganz im Stil s<strong>ein</strong>er Zeit, die<br />

zoologische, ornithologische <strong>und</strong> ethnologische<br />

Mustersammlung mit Exponaten aus dem<br />

Amazonasbecken. Lässt <strong>ein</strong>en Zoologischen <strong>und</strong><br />

Botanischen Garten anlegen, der bis heute fast<br />

unverändert besucht werden kann.<br />

Nun tritt auch der unerschrockene Amerikaner<br />

Percival Farquhar (1864-1953) auf den Plan.<br />

Investor <strong>und</strong> überaus erfolgreicher Unternehmer,<br />

er besitzt in São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro große<br />

Beteiligungen an der „Light and Power“, die die<br />

Stadt mit elektrischem Licht <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em<br />

Straßenbahnnetz versorgt. Außerdem verlegen<br />

s<strong>ein</strong>e Firmen in ganz Südamerika <strong>und</strong> auch in<br />

Brasilien, vom Norden bis in den Süden<br />

Eisenbahnschienen. Die Eisenbahn soll das Land<br />

in die Modernität kapitulieren. Er bekommt die<br />

Konzession für den Betrieb des Hafens von<br />

Belém, welchen er total erneuert <strong>und</strong> ihn 1909<br />

mit 120 Metern Kais <strong>und</strong> den ersten Lagerhäusern<br />

in Betrieb nimmt, schon <strong>und</strong> bald weiter<br />

ausbaut.<br />

Percival Farquhar schreckt vor nichts zurück. Nur<br />

s<strong>ein</strong> Megaprojekt, die von der brasilianischen<br />

Regierung für Bolivien in Auftrag gegebene<br />

Eisenbahnverbindung mitten durch den<br />

unwirtlichsten Regenwald verlegt, die<br />

Eisenbahnlinie Madeira-Mamoré, scheitert.<br />

Böse Zungen behaupten, dass unter jeder<br />

Eisenbahnschwelle <strong>ein</strong> von Tropenkrankheiten<br />

dahingeraffter Arbeiter begraben liege, <strong>und</strong> das,<br />

obwohl er vor Ort mitten im Dschungel <strong>ein</strong><br />

Krankenhaus <strong>und</strong> viele andere Vorkehrungen<br />

traf, um das Vorhaben gelingen zu lassen. Als sie<br />

endlich fertig ist, ist der Kautschukboom schon<br />

auf dem Niedergang <strong>und</strong> so wird die Strecke nie<br />

betrieben.<br />

Noch blüht Belém aber wie nie zuvor. Wird für<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 566


kurze Zeit nur, zu jener tropischen Kulturhauptstadt,<br />

zum viel besungenen <strong>und</strong> betrauerten<br />

tropischen Paris. Ein surreal-unwirkliches<br />

Luxusleben, finanziert von armen Gummibaumritzern<br />

<strong>und</strong> Krediten, die den ganzen Norden in<br />

<strong>ein</strong>e starke finanzielle Abhängigkeit von England<br />

manövriert.<br />

Ab 1913 wird Kaffee das brasilianische Exportgut<br />

Nummer <strong>ein</strong>s. Durch den Ersten Weltkrieg <strong>und</strong><br />

den Zusammenbruch des Latexes, clevere<br />

Engländer produzieren ihn in ihren Kolonien viel<br />

billiger, ist der Glanz Beléms dahin <strong>und</strong> es verfällt<br />

schon bald in s<strong>ein</strong>en Dornröschenschlaf, den es<br />

bis heute weiter träumt. Trotzdem 1918 wird die<br />

Escola de Agronomia do Pará, heute als UFRA<br />

bekannt (Universidade Federal Rural da Amazônia<br />

2002, Belém <strong>und</strong> drei Außenstationen) gegründet.<br />

Ein Anfang, um den Regenwald <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e schon<br />

existierenden <strong>und</strong> potenziellen Anbauflächen<br />

wissenschaftlicher <strong>und</strong> ökonomischer ausbeuten<br />

zu können.<br />

Während des zweiten Weltkrieges kommt es in<br />

Nordbrasilien zu <strong>ein</strong>em zweiten Latexboom, denn<br />

alle Gummi produzierenden Länder werden von<br />

Japan kontrolliert. Henry Ford, auf der Suche nach<br />

neuen Rohstoffquellen für die Produktion s<strong>ein</strong>er<br />

Autoreifen verpflanzt gar zu diesem Zweck <strong>ein</strong>e<br />

ganze amerikanische Musterstadt in den<br />

Regenwald, nahe Santarém, genannt Fordlándia,<br />

wo er nach dem Vorbild der Engländer<br />

Gummibaumplantagen errichten lässt. Aber das<br />

Vorhaben scheitert bald. Die brasilianische<br />

Regierung investierte sehr viel in die Pflanzungen,<br />

aber im Gegensatz zu Malaysia bewährte sich hier<br />

im Amazonas die Monokultur nicht, die<br />

Pflanzensetzlinge fallen alsbald Krankheiten <strong>und</strong><br />

Schädlingen zum Opfer.<br />

1943 werden die Staaten Roraima <strong>und</strong> Ronônia<br />

abgeteilt. 1953 kreiert Getúlio Vargas, diesmal als<br />

gewählter Präsident, <strong>ein</strong>e der berühmt/<br />

berüchtigten staatlichen Entwicklungsinstitutionen,<br />

SPVEA (Superintendência do Plano de<br />

Valorização Econômica da Amazônia =<br />

„Superamt/Verwaltung“ des Plans zur<br />

Wertsteigerung der amazonischen Wirtschaft)<br />

genannt, die wie viele nach ihr dem Amazonas den<br />

Fortschritt bringen soll. Alle so gigantisch, nicht<br />

nur im Namen, auch im Konzept, wie der<br />

Amazonas, den es zu bewältigen gilt.<br />

Zweischneidig wie so vieles präsentiert sich der<br />

Nationalismus der Militärdiktatur, der Patriotismus<br />

mit <strong>ein</strong>er strengen Doktrin kombiniert, die aber<br />

von der breiten Bevölkerung mit ihrer<br />

Entwicklungseuphorie sehr positiv aufgenommen<br />

wird. Dass die autoritäre, repressive<br />

Militärregierung alle Andersdenkenden verfolgt<br />

<strong>und</strong> die Presse- <strong>und</strong> Ausdrucksfreiheit<br />

beschneidet, stört wenige, denn für kurze Zeit<br />

erlebt man das brasilianische „Milagre<br />

Econômico“, das wirtschaftliche W<strong>und</strong>er, das<br />

paradoxerweise zwischen 1969 <strong>und</strong> 1973 nicht<br />

nur das Einkommen der Brasilianer, sondern<br />

auch die Armut vergrößert. Nicht von ungefähr<br />

werden die Jahre auch als „Anos de Chumbo“,<br />

als Bleierne Jahre bezeichnet.<br />

Im linken Untergr<strong>und</strong> regt sich Widerstand, es<br />

entsteht <strong>ein</strong>e Guerillia, die 1970 unter dem<br />

Namen Araguaia bekannt wird. Die Guerillheiros<br />

machen die Region des Bico do Papagaio, da wo<br />

sich die Staaten Goiás, Pará <strong>und</strong> Maranhão<br />

treffen, am Ufer des Flusses Araguaia-Tocantins,<br />

zu ihrem Hauptquartier, werden aber schon<br />

1971 von den Militärs entdeckt, gejagt <strong>und</strong><br />

umgebracht.<br />

Langsam <strong>und</strong> zögerlich verwandelt sich das<br />

Verhältnis zur Natur. 1967 wird das Instituto<br />

Brasileiro do Desenvolvimento Florestal – IBDF<br />

gegründet, verantwortlich für die brasilianischen<br />

Naturparks, aus dieser Zeit datieren die ersten<br />

Schutzgebiete im Norden Brasiliens, der Parque<br />

Nacional da Amazônia. Das IBDF wird später zu<br />

<strong>ein</strong>em Teil des IBAMAS (1989, Instituto Brasileiro<br />

do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais<br />

Renováveis), heute <strong>ein</strong>e wichtige Kontrollinstanz<br />

gegen die Zerstörung des Regenwaldes. 1967<br />

wird die Superintendência da Borracha (Latex)<br />

(SUDHEVEA) ins Leben gerufen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 567


Ab Mitte der sechziger Jahre wird in Brasilien<br />

massiv Soja angebaut. 1970 beginnt der Bau der<br />

Transamazônica, sie geht von Westen nach Osten<br />

quer durch Brasilien. Auch sie soll den „leeren“<br />

Raum des Amazonasgebietes erobern, gedacht als<br />

Ventil <strong>und</strong> mit dem Ziel <strong>ein</strong>e Landreform zu<br />

verhindern. Sie leitet unter dem Namen PIN<br />

(Programa de Integração Nacional) <strong>ein</strong>e massive,<br />

staatliche gelenkte innerbrasilianische Emigration<br />

Nordosten-Norden <strong>ein</strong>, alles nach dem heute<br />

schon fast ironischen klingenden Motto: „Terras<br />

sem homens (Amazônia) para homens sem terra<br />

(Nordeste)“ Land ohne Menschen (Amazonas) für<br />

Menschen ohne Land (Nordosten).<br />

Der Regenwald wird wieder <strong>ein</strong>mal „erobert“,<br />

diesmal durch „Garimpeiros“, Goldgräber,<br />

Kl<strong>ein</strong>bauern, die Landspekulation setzt <strong>ein</strong>. Die<br />

Einwohner des Staates Rondônia steigt schlagartig<br />

an <strong>und</strong> all<strong>ein</strong> in diesem Staat wird 80% des<br />

Regenwaldes abgeholzt. Die Konflikte, nicht nur<br />

mit den Indios, ausgetragen in bester<br />

Wildwestmanier, sie unterliegen dem Recht des<br />

Stärkeren, nehmen zu <strong>und</strong> dauern bis heute an.<br />

Die Bodenschätze des Staates Pará werden nun<br />

durch Megaprojekte ausgebeutet, denn die<br />

Militärs wollen Brasilien zu <strong>ein</strong>er großen Potenz<br />

machen, es endlich in die entwickelte Welt<br />

katapultieren. Es soll auch an Krediten nicht<br />

fehlen <strong>und</strong> so wird 1950 die Staatsbank Banco da<br />

Amazônia, Nachfolgerin der 1942 kreierten Banco<br />

de Crédito da Borracha“ gegründet, schließlich<br />

hilft die Industrialisierung auch bei der Sicherung<br />

des Territoriums. Im Rahmen der „Nationalen<br />

Integration“ wird die Freihandelszone von<br />

Manaus ins Leben gerufen <strong>und</strong> viele andere<br />

gigantische Projekte nehmen Gestalt an. Geringe<br />

Lohnkosten <strong>und</strong> niedrige Steuern locken<br />

Bergbaufirmen wie die 1942 gegründete<br />

Staatsfirma Companhia Vale do Rio Doce, 1997<br />

privatisiert <strong>und</strong> heute durch zahlreiche<br />

Übernahmen zum weltweit größten Erzerzeuger<br />

aufgestiegen, beteiligt sich am Projekt der<br />

Mineração Rio do Norte in Oriximiná, Nordosten<br />

Pará, 15 Bootsst<strong>und</strong>en von Santarém, wo Bauxit<br />

abgebaut wird. In Carajás, Bico do Pagagaio, Süden<br />

von Pará war es die United States Steel, die riesige<br />

Eisenerzvorkommen fand. Als 1970 andere<br />

Mineralien gef<strong>und</strong>en werden, wird die Amazônia<br />

Mineração S.A. gegründet, die die Vale später<br />

all<strong>ein</strong> übernimmt <strong>und</strong> 1979 das „Programa Grande<br />

Carajás“ lanciert, das die reichste Miene der Welt<br />

ausbeuten soll. Zusammen mit dem Bergbau ist<br />

auch Landwirtschaft <strong>und</strong> die Ausbeutung des<br />

Regenwaldes geplant.<br />

Um das ambitiöse Projekt in die Tat umzusetzen,<br />

wird die Eisenbahn Carajás, der Hafen Pota da<br />

Madeira <strong>und</strong> das Wasserkraftwerk Tucuruí, nach<br />

Itaipu der zweitgrößte Stausee Brasiliens gebaut,<br />

dessen Energie zu <strong>ein</strong>em großen Teil von der hier<br />

ansässigen Aluminiumindustrie wie die nahe<br />

Belém in Barcarena ansäßige Albrás/ Alunorte<br />

verbraucht wird. Die Region gilt als <strong>ein</strong>e der<br />

vernachlässigsten <strong>und</strong> ärmsten Brasiliens, es gibt<br />

Arbeiter, die unter sklavenähnlichen<br />

Verhältnissen gehalten werden <strong>und</strong> beim<br />

Massaker vom Eldorado dos Carajás wurden<br />

1996 19 Sem Terras, Landlose von der<br />

Militärpolizei des Staates Pará erschlossen.<br />

Andere pharaonische Projekte wie das des<br />

amerikanischen Unternehmers Container- <strong>und</strong><br />

Tankerkönig Daniel Keith Ludwig, <strong>ein</strong>e<br />

schwimmende Zellulosefabrik in den Dschungel<br />

schicken, auf den Fluss Jarí, <strong>ein</strong> Nebenfluss des<br />

Amazonas, an der Grenze Pará/Amapá, erleben<br />

<strong>ein</strong>e wechselvolle Geschichte. 1981 gibt Ludwig<br />

auf <strong>und</strong> <strong>ein</strong> brasilianisches Konsortium<br />

übernimmt s<strong>ein</strong>e Schulden. Heute ist Jarí in den<br />

Händen des brasilianischen Giganten F<strong>und</strong>ação<br />

Orsa, die hier sehr erfolgreich Zellulose aus<br />

Eukalyptus (!) herstellt.<br />

1973 wird die Autostraße BR 163, die Cuiabá,<br />

Mato Grosso mit Santarém, Pará verbindet,<br />

gebaut für Regenwaldschützern das Symbol für<br />

den falschen, zerstörerischen Umgang mit dem<br />

Regenwald. Ab 1979 beginnt Brasilien, auch auf<br />

internationalen Druck hin, s<strong>ein</strong>e<br />

protektionistische, autoritäre <strong>und</strong><br />

paternalistische Wirtschaftsstrategien zu<br />

revidieren, beginnt sich schrittweise zu öffnen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 568


1982 erreicht die Auslandschuld Brasiliens<br />

gigantische Ausmaße an. Das autarke Modell der<br />

Militärs, das alle Importe durch Eigenproduktion<br />

ersetzen will, geht bankrott. 1983 hat die Hälfte<br />

der Bevölkerung nur 12,2% des Inlandkapitals.<br />

Soziale Bewegungen wie MST (Movimento dos<br />

Trabalhadores Rurais sem Terra) <strong>und</strong> die Pastoral<br />

da Criança <strong>und</strong> Pastoral da Terra, beide eng der<br />

Katholischen Kirche verb<strong>und</strong>en, die sich in den<br />

70-er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der<br />

Befreiungstheologie Dom Hélder Câmeras auf die<br />

Seite der Armen schlägt, beginnen sich zu<br />

organisieren. 1984 kommt es zu Massenprotesten<br />

(Diretas já!). 1985 übernimmt der Vizepräsident<br />

José Sarney, er hatte während der Militärdiktatur<br />

hohe Ämter bekleidet, nach dem plötzlichen Tod<br />

Tancredo Neves als der erste Zivilist das Amt des<br />

Präsidenten, allerdings noch in indirekten<br />

Wahlen. Er regiert bis 1990 <strong>und</strong> verweigert dem<br />

Internationalen Währungsfonds mit <strong>ein</strong>em<br />

Moratorium die Zahlung der Zinsen der<br />

brasilianischen Auslandsschulden.<br />

Zwischen 1950 <strong>und</strong> 1980 explodiert die<br />

brasilianische Bevölkerung. Mit von den<br />

wichtigsten Veränderungen das amazonischen<br />

Szenariums ist der Bevölkerungszuwachs, der hier<br />

weit über dem brasilianischen Durchschnitt liegt.<br />

Zwischen 1950 <strong>und</strong> 2007 nimmt die Bevölkerung<br />

im Amazonas um mehr als 500% zu, was direkte<br />

Folgen für die Umwelt hat. Auf der <strong>ein</strong>en Seite<br />

wachsen Abholzung <strong>und</strong> Urbarmachung<br />

unverhältnismäßig, auf der anderen Seite erliegen<br />

immer mehr Menschen der Anziehung der Städte.<br />

International fast gar nicht oder nur punktuell<br />

wahrgenommen, erlebt der Amazonas damit <strong>ein</strong>e<br />

rasche Urbanisierung, die dem Idealbild des<br />

intakten Regenwalds, der grünen, unberührten<br />

Lunge der Welt in allem widerspricht. Ein<br />

unerwarteter, unsichtbarer Kontrast, <strong>ein</strong><br />

Schandfleck frisst sich ins Grün. Heute leben<br />

dreimal mehr Menschen oder fast 80 Prozent oft<br />

unter oft sehr prekären Bedingungen in den<br />

urbanen Zentren. Der unkontrollierte, überaus<br />

rasche Verstädterung sorgt auch hier im<br />

Amazonas dafür, dass all die hiesigen Städte unter<br />

den selben Problemen leiden, wie viele andere in<br />

den unterentwickelten Teilen Brasiliens.<br />

Pessimisten sehen den Amazonas als <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige,<br />

riesige Favela.<br />

Es entsteht auf der <strong>ein</strong>en Seite <strong>ein</strong> Publikum, das<br />

konsumieren will, auf der anderen Seite<br />

explodieren die Kosten mit Infrastruktur <strong>und</strong> der<br />

Versorgung von Gr<strong>und</strong>bedürfnissen, die der<br />

Gem<strong>ein</strong>de zukommen, was durch die enormen<br />

Distanzen <strong>und</strong> die abgelegene Lage erschwert <strong>und</strong><br />

verschärft wird. Immer weiter um sich greifende<br />

Gewalt, das Fehlen jeglicher Infrastruktur <strong>und</strong> der<br />

Mangel an Basisdienstleistungen wie fließendes<br />

Wasser, Elektrizität, Müllabfuhr, Schulen <strong>und</strong><br />

Ausbildung, Krankenversorgung, öffentliche<br />

Verkehrsmittel <strong>und</strong> die Sicherheit führen zu den<br />

selben Problemen wie in den Städten des<br />

restlichen Brasilien.<br />

In den 80-er Jahren kommt in Pará <strong>und</strong> dem<br />

restlichen Brasilien die sensationelle Nachricht von<br />

Goldf<strong>und</strong>en in der „Serra Pelada“ bei Curionópolis,<br />

Südpará in Umlauf. Besonders aus Maranhão<br />

strömen Garimpeiros zu tausenden herbei. Sie<br />

verwandeln den Berg auf dem Höhepunkt s<strong>ein</strong>er<br />

Produktion in <strong>ein</strong>en menschlichen Ameisenhaufen.<br />

1988 wird die bis heute gültige Verfassung<br />

verabschiedet, die zum ersten Mal wenigstens<br />

theoretisch den Amazonas <strong>und</strong> das Pantanal zum<br />

nationalen Naturerbe erklärt <strong>und</strong> die indigenen<br />

Völker unter Schutz stellt, denn so langsam<br />

richten sich die Augen der Welt auf den<br />

Regenwald.<br />

1988 wird Chico Mendes, während der<br />

Militärdiktatur verfolgt, Gründer der Gewerkschaft<br />

der Kautschukzapfer aus Acre, ermordet, als er<br />

sich für die Erhaltung des Regenwaldes <strong>ein</strong>setzt<br />

<strong>und</strong> 2005 geht der Mord an der amerikanischen<br />

Ordensschwester <strong>und</strong> Umweltaktivistin Dorothy<br />

Stang, sie arbeitete für die Pastoral da Terra in der<br />

Region der Transamazônica, um die Welt. Sie wird<br />

Anapu, Pará, kaltblütig ermordet.<br />

Um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende zu Beginn der 2000<br />

Jahre werden die Exporte von industrialisierten<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 569


Gütern von Exporten von Commodities überholt.<br />

Zu diesen Rohstoffen <strong>und</strong> Rohmaterialien<br />

gehören vor allem Soja, Rindfleisch, Hähnchen,<br />

Orangensaft aber auch Eisen, Bauxit <strong>und</strong> Erdöl,<br />

<strong>ein</strong> Teil davon aus dem Amazonas. Dazu kommen<br />

vor Ort riesige, umstrittene Projekte zur<br />

Energiegewinnung wie der Staudamm von Belo<br />

Monte <strong>und</strong> andere, die lokal für große<br />

Spannungen zwischen der traditionellen<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> dem aufgezwungenen<br />

Fortschritt sorgen.<br />

Mütze Schlaf nach <strong>ein</strong>em w<strong>und</strong>erbaren<br />

Mittagessen. Im Traum ersch<strong>ein</strong>en sie mir dann<br />

alle, die Ausländer <strong>und</strong> die Indigenen, die<br />

klingenden Namen mischen sich unter die<br />

Namenlosen <strong>und</strong> zusammen versuchen sie mir das<br />

hochkomplexe, gigantische Puzzle zu erklären, das<br />

Belém, der Amazonas ist <strong>und</strong> für mich wohl immer<br />

bleiben wird.<br />

Gigantisch, widersprüchlich, zweischneidig <strong>und</strong><br />

sehr schnellen Wandeln zum besseren oder auch<br />

schlimmeren unterworfen, das ist auch Belém,<br />

das ist der Amazonas, das ist Brasilien.<br />

Immer wenn ich wieder nach Belém komme, hat<br />

sich <strong>ein</strong>iges getan. Der Dornröschenschlaf ist, wer<br />

weiß, schon ausgeschlafen. Irgendwann wird gar<br />

jemand die w<strong>und</strong>erschön zerfallende Altstadt<br />

sanieren. Schon beginnt sie sich zaghaftestens zu<br />

beleben. Vorreiter sind <strong>ein</strong>zelne In-Lokale,<br />

ver<strong>ein</strong>zelt werden die w<strong>und</strong>erschönen Kirchen<br />

restauriert. Irgendwann werde ich kommen <strong>und</strong><br />

werde die w<strong>und</strong>erschönen Gebäude voller Leben,<br />

voller neuem Leben vorfinden, das <strong>ein</strong>e <strong>und</strong><br />

andere vielleicht noch mit <strong>ein</strong>em dieser<br />

sandbestreuten Hinterhöfe, in denen immer <strong>ein</strong><br />

Mangobaum steht. Zwei, drei Hängematten<br />

wiegen sich <strong>ein</strong>ladend im Wind, ideal für <strong>ein</strong>e<br />

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Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I<br />

Belém ist wie <strong>ein</strong> kostbares, f<strong>ein</strong> zilseliertes Stück<br />

Mobiliar, ehemals allerletzter Schrei, irgendwann<br />

in der amazonischen Vergangenheit, heute leider,<br />

leider in Vergessenheit geraten, in Ungnade<br />

gefallen, weggestellt verstaubt es auf irgend<br />

<strong>ein</strong>em Dachboden. Einer jener Trends, die, wie so<br />

viele andere vor <strong>und</strong> nach ihnen, heute leider,<br />

leider vergessen wurden, komplett <strong>und</strong><br />

hoffnungslos altmodisch sch<strong>ein</strong>en. Ein Puzzlestück<br />

nur das von fernen, verflossen Glorien zeugt.<br />

Zeitzeugin, Überlebende, die schon so viele<br />

neuere Moden vorbeiziehen hat sehen, die, die<br />

k<strong>ein</strong>er zählte <strong>und</strong> alle anderen dazu. Eine Art<br />

Monster, hier ziemlich abgeschlagen <strong>und</strong> da<br />

deutlich zerkratzt, völlig aus dem Leim geraten,<br />

von zu vielen Umzügen, unachtsamen Bewohnern<br />

<strong>und</strong> gleichgültigen Bediensteten misshandelt. Nie<br />

hat sich <strong>ein</strong>er mit mehr als Worten bereit erklärt,<br />

die Bissstellen, hinterlassen vom Zahn der Zeit,<br />

die aufgeschlagenen Kanten <strong>und</strong> die weg<br />

gesplitterte Farbe restaurieren zu lassen. Zu<br />

anstrengend, zu aufwendig <strong>und</strong> überhaupt. Ein<br />

oder zweimal hat <strong>ein</strong>er etwas Lack darüber<br />

geschmiert, der die herausgeschlagenen Scharten<br />

schlecht kaschiert.<br />

K<strong>ein</strong>em ging der Niedergang bis auf´s Herz, so tief,<br />

dass er etwas getan hätte, das über das übliche<br />

Lamentieren, Bedauern, leider, ja leider.....<br />

hinausginge. Sprach zwar mit von Sehnsucht<br />

rauer Stimme von jenen ach so glamourösen<br />

Zeiten, um so vieles besseren <strong>und</strong> schöner, aber es<br />

folgten k<strong>ein</strong>e Taten. Für das Möbelstück ändert<br />

sich nichts. Wurde, in irgend<strong>ein</strong>em Zimmer in<br />

irgend<strong>ein</strong>e staubige Nische, <strong>ein</strong>e dunkle Ecke<br />

gerückt. K<strong>ein</strong> Vorzeigezimmer, k<strong>ein</strong> Hof halten,<br />

wofür es eigentlich gebaut wurde.<br />

Belém steht, immer noch, wacklig zwar, aber<br />

widersteht. Hält tapfer aus, <strong>ein</strong>e echte Lady. Die<br />

tief liegenden Augen gezeichnet. Die Krähenfüße<br />

graben sich immer tiefer. Die papierdünne Haut<br />

des Halses <strong>und</strong> der Hände zerknautscht, von<br />

faltigen Irrwegen durchzogen. Das versprochene<br />

Lifting, tausendfach versprochen, lässt auf sich<br />

warten. Dieses Risiko, sie auf den Operationstisch<br />

zu legen! Hat, richtig überlegt, Glück im Unglück,<br />

wirklich Schw<strong>ein</strong> gehabt! Ist es hier nicht bis heute<br />

Brauch, all das in Schutt <strong>und</strong> Asche zu legen, was<br />

an den soeben Verblichenen, die Vorväter<br />

erinnern könnte? Damit nichts, aber auch gar nicht<br />

an den Verstorbenen <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e Zeit erinnere!<br />

Das Zusammenleben in dieser Stadt ist, war immer<br />

schon eng. Brust an Brust, Mauer an Mauer,<br />

Gitter an Gitter. Jeder Schritt <strong>ein</strong> brüsker Schnitt<br />

durch alle sozialen Schichten. Unerklärlich<br />

kompliziert <strong>und</strong> so intim <strong>und</strong> organisch, dass sich<br />

das Oben <strong>und</strong> Unten mit dem Miserablen ständig<br />

vermischen. Nicht mal Stadtviertel oder<br />

Wohnblöcke trennen, rücken wenigstens die<br />

extremen sozialen Unterschiede aus dem Blickfeld.<br />

Zu <strong>ein</strong>geübt das Weg-, Darüberhinweg-Schauen.<br />

Zementierte, täglich bejahte Strukturen von<br />

Senhor <strong>und</strong> Untergebenen, feudal, von beiden<br />

Seiten zementiert, durch Gott <strong>und</strong> das Schicksal<br />

gegeben, unverrückbar <strong>und</strong> ewiglich durch die<br />

Geburt vorbestimmt.<br />

Hier der w<strong>und</strong>erschöne Stadtpark, wohl gepflegt,<br />

nur Pudel, Cocker Spaniel <strong>und</strong> Bulldoggen. Zwei<br />

Schritte weiter Straßenh<strong>und</strong>e, Underdogs, solche<br />

mit vier <strong>und</strong> andere mit zwei B<strong>ein</strong>en. Die<br />

Bürgersteige voller illegalen Mahlzeitenverkäufer,<br />

Fliegenden Dienstleister <strong>und</strong> Händler,<br />

für viele die <strong>ein</strong>zige Art <strong>ein</strong> Auskommen zu<br />

verdienen. Die <strong>ein</strong>en verscherbeln im mobilen<br />

Bauchladen Raubkopien der neuesten<br />

Hollywood- <strong>und</strong> Playstation-Lancierungen, die<br />

ihrerseits von den oberen Klassen gekauft<br />

werden. Fast an jeder Ecke <strong>ein</strong>es jener<br />

armseligen Tischchen, „Jogo de Bicho“, illegales<br />

Glücksspiel, <strong>und</strong> an <strong>ein</strong>em anderen, noch<br />

wackligeren, richtet <strong>ein</strong> armer Schlucker Handys<br />

her oder verkauft unnütze Kinkerlitzchen. Vor<br />

dem super-schicken Supermarkt hingestreckt <strong>ein</strong><br />

Betrunkener. Seite an Seite mit dem<br />

Zeitungsverkäufer, der für jede Zeitung s<strong>ein</strong><br />

Leben riskiert, wenn er sich vor die<br />

Autoschlangen wirft. Die noch unverkauften<br />

Exemplare sind <strong>ein</strong>fach am Straßenrand<br />

aufgestapelt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 579


Längst hat Belém s<strong>ein</strong>e Schlüsselposition verloren,<br />

der Amazonas wird nicht mehr von hier aus<br />

erschlossen. Und die Stadt leidet wie alle Städte<br />

hier unter der Misere, der Gewalt, der<br />

Informalität, die große Teile der arbeitenden<br />

Bevölkerung betrifft <strong>und</strong> der fehlenden Mittel, die<br />

den ganzen Amazonas prägen. Bis heute werden<br />

Megarpojekte implantiert, deren Konsequenzen<br />

für die ganze Umgebung, die Menschen <strong>und</strong> die<br />

Umwelt gar nicht oder nur unzureichend<br />

abgeklärt werden.<br />

Der majestätisch, hochelegante Gebäudekomplex,<br />

das Kolleg der Jesuiten, heute Sitz des<br />

Archebischofs, <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Museum, lenkt m<strong>ein</strong>en<br />

Blick ab. Der Gebäudekomplex zählt zu den<br />

repräsentativsten <strong>und</strong> ausdrucksstärksten<br />

der brasilianischen Kolonialarchitektur. Die<br />

be<strong>ein</strong>druckende 1719 fertiggestellte Kirche Santo<br />

Alexandre, dessen Barrock deutlich tropische<br />

Züge trägt <strong>und</strong> den repräsentativen Sinn der<br />

Jesuiten bestätigt, beherbergt das w<strong>und</strong>erschöne<br />

„Museu de Arte Sacra“, <strong>ein</strong>es der schönsten<br />

Brasiliens, mit über 300 Ausstellungstücken<br />

barocker Kirchenkunst. Auf der gegenüberliegenden<br />

Seite schließt die Matriz den alten<br />

Stadtkern ab. Die üppig-barrocke Fassade endlich<br />

hochweiß gekalkt <strong>und</strong> nicht mehr vom hoch<br />

kriechenden Schimmel, Wasser <strong>und</strong> anderen<br />

Infiltrationen zerfressen - die schon so lange<br />

angekündigten Restaurierungsarbeiten haben<br />

endlich begonnen!<br />

Wende mich dem Fort zu, dessen Mauern heute<br />

geschleift sind, das hoch über das Delta ragt. Das<br />

Geviert trägt den stolzen, geschichtsträchtigen<br />

Namen „Núcleo Feliz Lusitânea“. Hier ankerten<br />

1616 die ersten Portugiesen <strong>und</strong> gründeten am<br />

1. September 1627 auf <strong>ein</strong>em steuerfreien Lehen<br />

den Flecken Santa Maria de Belém de Grão Pará.<br />

Gaben dem endlosen Kreuzzug gegen die<br />

unliebsame ausländische Präsenz mehr Gewicht,<br />

<strong>und</strong> bemächtigten sich auch gleichzeitig des<br />

lukrativen Handels mit den sogenannten “Drogas<br />

do Sertão”, aromatische Harze, Medizinalpflanzen,<br />

Guaraná, Anil, Salsa parillha, Pfeffer, Urucum, Noz<br />

de pixurim, Gergelim, Kakao, Cashewnüsse,<br />

Vanille, Paranüsse, Ingwer, Erdnüsse, Tabak <strong>und</strong><br />

wild wachsende Baumwolle aus dem Tropenwald<br />

<strong>und</strong> den Landwirtschaftszonen r<strong>und</strong> um Belém.<br />

Außerdem kostbare Hölzer <strong>und</strong> die aus dem Orient<br />

hergebrachten <strong>und</strong> hier anklimatisierten,<br />

wertvollen Gewürze wie Zimt, Nelken <strong>und</strong><br />

Muskatnuss. Nicht nur zum Essen, sondern auch<br />

als Medikamente begehrt, für Parfüms <strong>und</strong><br />

Balsame, zur Räucherung <strong>und</strong> als<br />

Konservierungsstoffe - Spezereien, auf dem<br />

europäischen Markt oft mit Gold aufgewogen.<br />

Das Museum „Forte do Presépio“ arbeitet diese<br />

Geschichte der Kolonisation des Amazonas in<br />

Gr<strong>und</strong>zügen auf, stellt indianische Töpferwaren<br />

gleichberechtigt neben Reste europäischen<br />

Porzellans.<br />

Wo ist die w<strong>und</strong>erschöne Stadt abgelieben, die<br />

1751 unter dem portugiesischen Premierminister<br />

<strong>und</strong> Erneuerer Marques de Pombal zur<br />

Hauptstadt der Provinz Grão-Pará e Maranhão<br />

erhoben wird <strong>und</strong> dazu vom Architekten Antônio<br />

Guiseppe Landi, Italianer aus Bologna (1708-<br />

1790) mit s<strong>ein</strong>em unvergleichlich, klassischen Stil<br />

zu <strong>ein</strong>er tropischen Metropole ausgebaut wird?<br />

Dimensionen <strong>und</strong> architektonische Qualität<br />

zeigen die Wichtigkeit, die die Stadt für den<br />

pombalschen Merkantilismus hatte. Bedeutende<br />

Bauten, wie die große Kathedrale Sé <strong>und</strong> der<br />

Palácio do Governo (1940 in Palácio Lauro Sodré<br />

umgetauft; 1994 zum Museum des Staates Pará<br />

ausgebaut) <strong>und</strong> das Casa das Onze Janelas, das<br />

Elf-Fenstrige-Haus am Ende des Platzes, <strong>ein</strong><br />

ehemaliges Militärkrankenhaus gehören dazu.<br />

W<strong>und</strong>erschön proportioniert, in starkem Gelb<br />

gleich über die Bucht gestellt, beherbergt heute<br />

das lokale Museum für Moderne Kunst <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Restaurant mit wechselvollem Schicksal.<br />

Belém ging <strong>und</strong> geht <strong>ein</strong> paar Mal unter <strong>und</strong><br />

beginnt immer wieder neu. Die Stadt wird<br />

zwischen 1835 <strong>und</strong> 1837 zum Zentrum <strong>ein</strong>es<br />

Volksaufstandes, zum Epizentrum <strong>ein</strong>er<br />

Revolution, der „Cabanagem“ (Cabana ist <strong>ein</strong>e<br />

behelfsmäßig errichtete Hütte), <strong>ein</strong>e Art<br />

Bürgerkrieg. Untere Schichten, verarmte<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 580


Caboclos, ehemalige, frei gelassene oder frei<br />

gekaufte Sklaven, Indios ohne Stammeszugehörigkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar Fazendeiros <strong>und</strong> Händler<br />

zetteln ihn an, von den Ideen der Französischen<br />

<strong>und</strong> Amerikanischen Revolution inspiriert. Sie<br />

proben die Unabhängigkeit, denn die Rio-de-<br />

Janeiro-zentrierten Ideen, der Kaiser<br />

ist seit 1808 in die Kolonie geflüchtet, sch<strong>ein</strong>en<br />

ihnen nicht akzeptabel. Der Aufstand greift auf<br />

alle Staaten Grão-Parás, (heute Pará, Amazonas,<br />

Roraima, Rondônia <strong>und</strong> Amapá) über. Es wird<br />

geschätzt, dass mindestens 40 Prozent der<br />

Bevölkerung, oder 30.000 Bewohner bei den<br />

Unruhen <strong>und</strong> Kämpfen getötet wurden.<br />

Schon ab 1840 setzt der Kautschukboom <strong>ein</strong>. Es<br />

ist Charles Goodyear gelungen in <strong>ein</strong>em speziellen<br />

Vulkanisierungsverfahren den Gummireifen zu<br />

entwickeln, der nun die Gummiproduktion <strong>und</strong><br />

damit das ganze Amazonasbecken in den Blick des<br />

restlichen Brasiliens <strong>und</strong> der Welt rückt. Es geht<br />

nun Schlag auf Schlag. 1866 geht die Schifffahrt<br />

auf dem Amazonas in die Hände der Engländer<br />

<strong>und</strong> Amerikaner über. Nach 1877 emigrieren<br />

Millionen von „Nordestinos“, besonders aus Ceará<br />

im brasilianischen Nordosten in den Amazonas,<br />

fliehen vor den schrecklichen Dürren, unter<br />

denen ihr Staat immer wieder leidet, werden vom<br />

riesigen Ungeheuer Tropenwald verschlungen,<br />

<strong>ein</strong>fach absorbiert, höchst willkommen als<br />

„Seringeirios“, Gummizapfer, <strong>ein</strong>e Art<br />

Unterh<strong>und</strong>e, auf der untersten Stufe der<br />

Produktionskette. Die „Drogas do Sertão“, die<br />

Gewinnung von Medizinalkräutern, Andiroba <strong>und</strong><br />

Copaibaöl, wohlriechenden Samen wie Cumarú<br />

<strong>und</strong> Pelze wilder Tiere werden nebensächlich, nur<br />

Jutte <strong>und</strong> Paranüsse, nach Europa, besonders nach<br />

Deutschland exportiert, behaupten sich,<br />

neben der Viehzucht, als Neben<strong>ein</strong>kunftsquellen.<br />

Als Stadt der Mangobäume stilisiert, <strong>ein</strong>es der<br />

Symbole Beléms, zur Hochblüte des Kautschuks<br />

auf Geheiß des damaligen Bürgermeisters Antônio<br />

Lemos angepflanzt, finden sich überall, beschatten<br />

den Verfall <strong>und</strong> die Nachlässigkeit. Lemos<br />

konstruiert jene wohlhabende, reiche Stadt, die<br />

bald aus allen Nähten platzt. Immer mehr<br />

Ausländer, Portugiesen, Spanier, Chinesen,<br />

Franzosen quellen hier aus den Schiffen. Auch<br />

viele Japaner kommen über die Meere. Sie bilden<br />

die zweitgrößte japanische Kolonie Brasiliens,<br />

Libanesen <strong>und</strong> Syrier strömen herbei. Lemos will<br />

hoch hinaus. Modernisiert die von Malaria- <strong>und</strong><br />

Gelbfieberepidemien geplagte Stadt, passt sie<br />

europäischen Standards an. Das angestrebte<br />

Vorbild ist nichts weniger als das kosmopolitische<br />

Paris. Der Sanitätsarzt Oswaldo Cruz, er hat schon<br />

Rio de Janeiro mit rigorosen sanitären<br />

Maßnahmen vom Stigma der todbringenden<br />

Tropenkrankheiten befreit, saniert nun Belém. Es<br />

wird zum Hauptumschlag <strong>und</strong> -verladeplatz für<br />

die Gummiballen, die nach Europa <strong>und</strong> USA<br />

verschifft werden <strong>und</strong> ihr strenger Geruch soll<br />

die halbe Stadt verpestet haben. Lemos lässt all<br />

die Boulevards <strong>und</strong> Kioske bauen, den „Bosque“,<br />

<strong>ein</strong> angenehm kühler <strong>und</strong> gut gepflegter Ort,<br />

halb Zoo, halb Park, bis heute von vielen Familien<br />

besucht, sorgt für elektrisches Licht <strong>und</strong> die<br />

ultramoderne Straßenbahn. Die neu ausgerufene<br />

brasilianische Republik, die Pará <strong>ein</strong>en größeren<br />

Anteil am Gewinn des Kautschuks zugesteht,<br />

hilft. 1901 wird die aus England importierte<br />

Eisenkonstruktion des „Ver-o-peso“, des<br />

zentralen Marktes errichtet. Der Name „Ver-opeso“<br />

(Sieh das Gewicht) stammt aus der<br />

Kolonialzeit, denn hier wurden alle <strong>ein</strong>geschifften<br />

Waren, um sie richtig versteuern zu können, im<br />

Zollhaus „Haver-o-peso“ gewogen.<br />

Auch die Kultur lässt sich nicht lumpen. Der<br />

berühmte brasilianische Komponist Carlos<br />

Gomes präsentiert in Belém im schönen Teatro<br />

da Paz in den Jahren 1878 <strong>und</strong> 1882 s<strong>ein</strong>e Opern.<br />

Als Kehrseite werden die meisten Konsumgüter<br />

aus Europa <strong>ein</strong>geführt - was aus den Tropen<br />

kommt, galt vor h<strong>und</strong>ert Jahren <strong>und</strong> gilt bis auf<br />

den jetzigen Tag, welch hartnäckiges,<br />

snobistisches Vorurteil, als minderwertig,<br />

zweitrangig. Böse Zungen wissen gar, dass die<br />

Elite, bis heute der Misere relativ gleichgültig<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 581


gegenübersteht, auf welcher sich ihr Reichtum<br />

gründet. Lässt ihre Kinder nun nicht mehr in<br />

Portugal, sondern in Frankreich erziehen. Lässt,<br />

Geld spielt k<strong>ein</strong>e Rolle, da im fernen Europa auch<br />

gleich ihre schmutzigen Kleider waschen <strong>und</strong><br />

stärken.<br />

Auf m<strong>ein</strong>en Besuchen in Belém wünsche ich mir<br />

<strong>ein</strong> wenig dieses Darüber-hinweg-sehen-können.<br />

Ein f<strong>ein</strong>er Nieselregen setzt <strong>ein</strong>, der verspricht.<br />

Ziehe mich zurück, lasse die alte Lady zurück,<br />

leise schaukelt ihr Schaukelstuhl, vor <strong>und</strong> zurück,<br />

oder wohl mehr zurück als vor. Von mir jedenfalls<br />

bekommt sie nur die allerbesten Wünsche mit ihn<br />

ihre Träume geschickt.<br />

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Belém der Jesuiten, Museu de Arte Sacra<br />

Der majestätisch, hochelegante Gebäudekomplex,<br />

das Kolleg der Jesuiten, heute Sitz des<br />

Archenbischofs, fasziniert wie alle von den<br />

Jesuiten erbauten Gebäude. Dieses hier trägt<br />

deutlich tropische Züge, <strong>ein</strong> Barrock, der durch<br />

s<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fach-klaren Linien überzeugt, die von der<br />

stupenden Effizienz <strong>und</strong> dem guten Geschmack<br />

des Jesuitenordens zeugt. Der ganze Komplex gilt<br />

zu den be<strong>ein</strong>druckensten sakralen Bauten der<br />

brasilianischen Kolonialarchitektur, errichtet zu<br />

jenen Glanzzeiten, als der Jesuitenorden auf dem<br />

Höhepunkt s<strong>ein</strong>er Macht angelangt war, viel mehr<br />

als <strong>ein</strong> christlicher Orden, mehr <strong>ein</strong>e Art<br />

straffstens organisierte Christianisierungs- <strong>und</strong><br />

Handelsfirma mit klaren Visionen <strong>und</strong> Vorgaben,<br />

die mit starker Hand zentralistisch <strong>ein</strong>gefordert<br />

wurden. Wie stark die Kontrolle war, zeigt zum<br />

Beispiel, dass die Baupläne aller jesuitischen<br />

Kirchen auf der ganzen Welt, ob sie nun in Japan,<br />

oder im brasilianischen Amazonas errichtet<br />

wurden, von der Zentrale in Rom genehmigt<br />

werden mussten. Und das vor 300 Jahren, als<br />

Belém nur mit dem Schiff zugänglich war.<br />

Glanzlichter Brasiliens, das über 300 Ausstellungsstücken<br />

barocker Kirchenkunst zeigt <strong>und</strong> sie auch<br />

ganz didaktisch in den historischen<br />

Zusammenhang stellt.<br />

Um die Ecke beherbergt <strong>ein</strong> anderer Teil das<br />

kl<strong>ein</strong>e, liebevoll ausgestattete Museum des Círios.<br />

Hier kann man mehr über die wechselhafte<br />

Geschichte des wohl wichtigsten lokalen<br />

Feiertages <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Marienverehrung lernen,<br />

abgehalten immer am ersten Sonntag im Oktober.<br />

Man hatte <strong>ein</strong>e Welt zu be<strong>ein</strong>drucken, <strong>ein</strong>en Ruf<br />

zu repräsentieren, was die 1719 fertiggestellte<br />

Kirche Santo Alexandre, sie steht auch immer<br />

wieder klassischen Konzerten offen, <strong>und</strong> gleich<br />

daneben, öffentlich zugänglich, <strong>ein</strong> Museum,<br />

bestätigt, dass die Jesuiten wohl immer das Beste<br />

wollten. Das Museum zählt zu <strong>ein</strong>em der<br />

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Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II<br />

Er sch<strong>ein</strong>t mir zu folgen. Jedes Mal, wenn ich den<br />

Blick schweifen lasse, drängt er sich irgendwo ins<br />

Blickfeld. Schon gute fünfzehn Minuten nimmt er<br />

den selben Weg, fast sch<strong>ein</strong>t es, als er m<strong>ein</strong> Ziel<br />

erahnt hätte. S<strong>ein</strong> gleichmäßiges Traben, der steil<br />

erhobener Schwanz, Nase <strong>und</strong> Augen immer nach<br />

vorne orientiert, weiß wohl sehr genau, wohin er<br />

will. Er verkörpert im wortwörtlichen Sinn <strong>ein</strong>en<br />

Underdog. Einer jener Straßenköter, alle Viralatas,<br />

Abfallkübeldreher, unbestimmter Rassen,<br />

herrenlos (?), wie sie überall in der Stadt<br />

anzutreffen sind.<br />

Ockerfarben, mittelgroß - schau, da ist er wieder,<br />

da weiter vorne! Riecht an <strong>ein</strong> paar Abfallsäcken,<br />

markiert da <strong>ein</strong>en vergessenen Haufen Bauschutt,<br />

auf dem Bürgersteig entsorgt. Genauer betrachtet<br />

ist nicht mal ausgehungert. Überquert clever die<br />

Straße, <strong>ein</strong> Profi, so als wüsste er um die<br />

Gefahren, die die Autos für ihn bedeuten. Stillt in<br />

<strong>ein</strong>er Pfütze oder der Gosse s<strong>ein</strong>en Durst, da im<br />

Straßengraben, da hat sich der Regen gestaut.<br />

Nur k<strong>ein</strong> falscher Tritt!<br />

Die H<strong>und</strong>emeute im frisch restaurierten Park,<br />

<strong>ein</strong>es der Postkartenmotive der Stadt dagegen, ist<br />

wirklich dabei vor die H<strong>und</strong>e zu gehen. Weder<br />

Bedauern noch <strong>ein</strong> Anti-Wurmmittel können ihre<br />

Probleme lösen. Es sind ihrer zu viele. Drei, n<strong>ein</strong><br />

vier Straßenköter, verlaust, voller Würmer, so<br />

mager, dass ihnen die Haut zwischen jeder Rippe<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Delle formt. Sie paaren sich hier auf<br />

dem Platz. Ignorieren ihren jämmerlichen Zustand<br />

<strong>ein</strong>fach. Spielen, überleben, sich selber <strong>und</strong> dem<br />

Zufall überlassen. An Müll <strong>und</strong> Abfall für<br />

Straßenh<strong>und</strong>e fehlt es jedenfalls nie. K<strong>ein</strong>en<br />

sch<strong>ein</strong>t es zu kümmern, dass sie nicht nur lebende<br />

Kreaturen sind, sondern auch <strong>ein</strong>e Gefahr für die<br />

öffentliche Ges<strong>und</strong>heit. Könnten, unter anderem,<br />

Zwischenwirte für die Mikrobe der Leishmaniose<br />

s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e typische Tropenkrankheit, in deren<br />

Kur/Heilung durch moderne Medikamente nie<br />

wirklich investiert wurde. Eine andere Touristin<br />

fotografiert fasziniert den Paarungsakt.<br />

Schau nur! Da haben sie doch das alte Gebäude<br />

des lokalen Fußballclubs Remo neu gestrichen,<br />

blau mit f<strong>ein</strong> gepinselten, weißen Linien! Ein<br />

Überbleibsel der Belle Époque. Vor Kurzem noch<br />

vernachlässigt, der Witterung preisgegeben, wie<br />

der ganze, w<strong>und</strong>erschöne Komplex der Altstadt,<br />

heruntergekommen, vor die H<strong>und</strong>e gegangen.<br />

Der Nieselregen, leicht wie <strong>ein</strong> Schleier, konstant<br />

<strong>und</strong> lauwarm, setzt <strong>ein</strong>. Er sch<strong>ein</strong>t den<br />

importierten Sträuchern besonders gut zu<br />

bekommen. Sie stehen in voller Blüte. Die Dolden<br />

in lebendigem Rot geben dem Platz etwas<br />

Heiteres, verleihen ihm <strong>ein</strong>en Hauch von Ordnung,<br />

Fortschritt <strong>und</strong> Zivilisation. Geben ihm, streng <strong>und</strong><br />

geometrisch angepflanzt, gar <strong>ein</strong> gewisses Flair,<br />

die künstliche Eleganz <strong>ein</strong>es in die Tropen verirrten<br />

französischen Gartens. Auf der ersten Stufe <strong>ein</strong>er<br />

Statue, da, im Zentrum des Platzes, liegen drei<br />

identisch <strong>ein</strong>gerollte Kugeln, <strong>ein</strong>e dicht neben<br />

der anderen. Der St<strong>ein</strong>, noch, blitzsauber,<br />

strahlend weiß. Der Regen sch<strong>ein</strong>t den<br />

flüchtigen, gleichgültigen Schlaf der drei<br />

Straßenköter nicht zu be<strong>ein</strong>trächtigen.<br />

Wünsche mir etwas von ebendieser<br />

Gleichgültigkeit an diesem ersten Tag in Belém.<br />

Ich will Geld abheben <strong>und</strong> sehe schon bald vor<br />

mir <strong>ein</strong>e Filiale m<strong>ein</strong>er Bank. Der starke Regen<br />

schreckt mich nicht mehr, aber die Szene, mit<br />

der mich dieselbe beschenkt, doch sehr. Gut<br />

beschützt vom schwungvollen Dach <strong>ein</strong>er<br />

modernen Rampe für Körperbehinderte, auf<br />

<strong>ein</strong>er großen, zurecht gerissenen Pape bequem<br />

zurechtgesetzt, sehe ich <strong>ein</strong> Paar Obdachloser,<br />

zusammen mit ihren wenigen Habseligkeiten,<br />

unter ihnen auch <strong>ein</strong> H<strong>und</strong>. Er hat gar, wie<br />

vorsorglich, s<strong>ein</strong>e eigene Pappe abbekommen!<br />

Ich stelle mir vor, wie er sich, dreimal an Ort <strong>und</strong><br />

Stelle im Kreis dreht, sich dann zufrieden darauf<br />

niederlässt, so fürsorglich vor den endlos nieder<br />

triefenden Wassern geschützt!<br />

Eine verkehrte Welt: Die Reichen schicken ihre<br />

H<strong>und</strong>e zum Teufel, während die Underdogs, die,<br />

die selber vor die H<strong>und</strong>e gehen, den ihren umso<br />

besser behandeln.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 598


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 599


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 600


Kacheln<br />

Das Trompe d´oeil der leichten, f<strong>ein</strong>en<br />

Pinselstriche auf weißem Gr<strong>und</strong> ist so raffiniert<br />

ausgearbeitet, dass jeweils vier Kacheln immer<br />

das selbe Quadrat mit dem sich endlos<br />

wiederholenden Blumenornament formen, egal<br />

wie die Kacheln auch gesetzt werden, liegend,<br />

<strong>ein</strong>e an die andere gereiht, oder spitzüber. Eine<br />

f<strong>ein</strong>e Linie aus Punkten durchläuft jede Kachel<br />

diagonal, rahmt <strong>und</strong> trennt jedes Ornament in der<br />

Horizontalen <strong>und</strong> in der Vertikalen. Identische<br />

Punkte schließen sich im Innern <strong>ein</strong>er jeden<br />

Blume zu <strong>ein</strong>em delikat gebrochenen Kreis.<br />

Ich sammle sie alle, Kachel für Kachel, auch <strong>ein</strong><br />

paar modernere Exemplare, hochinteressant <strong>und</strong><br />

landestypisch. Einige bewahre ich in der<br />

Erinnerung, andere fotografiere ich im Detail,<br />

achte auf Friese <strong>und</strong> Einfassungen, registriere<br />

raffinierte Ecklösungen <strong>und</strong> sorgfältig gearbeitete<br />

Fugen. Lege wert auf Einzelheiten, verraten sie<br />

mir doch die delikate Hand des Kunsthandwerkers<br />

<strong>und</strong> des Kachelsetzers. Suche nach Spuren, die es<br />

problemlos auch dem Laien erlauben, die<br />

handgemalten von den industriell hergestellten zu<br />

unterscheiden. Da, in den Fugen treffen sich die<br />

f<strong>ein</strong>en Linien zweier handbemalter Stücke niemals<br />

so präzise, wie bei den industrialisierten. Zeigen<br />

unregelmäßige Schnittpunkte, ovale, eirige Kreise<br />

<strong>und</strong> auch die Farben sind unregelmäßiger,<br />

wurden etwas f<strong>ein</strong>er, <strong>ein</strong>ige gröber oder<br />

dicklicher, mit mehr oder weniger Druck<br />

aufgetragen. Die Intensität, die Mischung <strong>und</strong> die<br />

Nuancen variieren von <strong>ein</strong>er Kachel zur nächsten,<br />

<strong>und</strong> die Oberflächen zeigen fast immer <strong>ein</strong> paar<br />

kl<strong>ein</strong>e Unebenheiten, Unperfektionen, <strong>ein</strong>e leichte<br />

Körnung, winzige Höhenunterschiede.<br />

Die Kachel, <strong>ein</strong>e Erbschaft der Mauren, das Wort<br />

“Azulejo”, Kachel, stammt aus dem Arabischen,<br />

wurde von den Portugiesen nach Brasilien<br />

gebracht. Ihre stilisierten Arabesken, das f<strong>ein</strong><br />

ausgedachte Dekor belegen das. Neben vielen<br />

geometrischen Ornamenten gibt es auch reiche<br />

figurative Motive. Mache sch<strong>ein</strong>en direkt aus<br />

<strong>ein</strong>em imaginären, üppigen Garten zu stammen;<br />

reiche Blumengirlanden, Ranken, von Obst<br />

überquellende Schalen <strong>und</strong> Körbe aber auch<br />

Alltagsszenen. Dekorativ sind sie alle, schmücken<br />

Fassaden von Herrenhäusern oder kl<strong>ein</strong>en<br />

Palästen im portugiesischen oder maurischen Stil.<br />

Zuerst wurden die Kacheln, Stück für<br />

gebrechliches Stück, Quadrat für delikates<br />

Quadrat, von den Portugiesen übers Meer her<br />

verschifft, später dann auch hier in Brasilien<br />

produziert. Wirklich populär wurden sie, als es<br />

möglich war, sie in industrieller Skala herzustellen.<br />

Gekachelte Häuser, oft Herrschafts- <strong>und</strong><br />

Kaufmannshäuser, sind oft nur Überlebende, nicht<br />

im besten Zustand. Die Behörden zögern noch, sie<br />

zu retten <strong>und</strong> zu bewahren, indem sie sie unter<br />

Denkmalschutz stellen.<br />

Kacheln bilden, des Klimas, der hohen<br />

Luftfeuchtigkeit <strong>und</strong> der ständigen Regenfälle<br />

wegen, <strong>ein</strong>en idealen Fassadenverputz, können<br />

überall angebracht werden, schmücken nicht nur<br />

Hauswände <strong>und</strong> Gartenmauern, sondern auch<br />

Treppenhäuser, erfolgreicher Kulturaustausch im<br />

wahrsten Sinne des Wortes, denn die<br />

geometrischen Kacheln bilden <strong>ein</strong>e perfekte<br />

Kombination zu den starken Farben <strong>und</strong> den<br />

anderen Elementen der portugiesischen<br />

Kolonialarchitektur, den massiven,<br />

kontrastfarbenen Fensterstürzen <strong>und</strong> –rahmen,<br />

den endlosen Reihen eng neben<strong>ein</strong>ander<br />

stehender Fenstertüren, die horizontale Friese,<br />

hinter denen die tief liegenden Dächer mit ihren<br />

vier flachen Dachflächen <strong>ein</strong>fach verschwinden,<br />

schaut man von der Straße hoch.<br />

Blau <strong>und</strong> gelb mit schwerelos leichten<br />

Pinselstrichen <strong>und</strong> viel Sorgfalt von geübter Hand<br />

auf den weißen Gr<strong>und</strong> aufgetragen - fast alle<br />

Kacheltypen bevorzugen diese klassischen<br />

Farben, seltener sind Kastanienbraun, Kupferrot<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong> metallisches Grün. Um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

integrieren die Kachelkunsthandwerker<br />

Elemente des Jugendstils <strong>und</strong> Art Deco. Die<br />

Farben werden morbide, die Kacheloberfläche<br />

erhalten charakteristische, reliefartige<br />

Erhebungen. Blumen <strong>und</strong> Ranken<br />

verselbstständigten sich auf üppigen Bändern.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 601


Die 50er <strong>und</strong> 70er Jahre des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

setzen beschwingte Akzente, reizen auf sehr<br />

interessante Weise die Idee des Kontrastes <strong>und</strong><br />

der Repetition aus, modern <strong>und</strong> zeitgenössisch,<br />

Führen auch neue, leuchtend grelle oder gar<br />

schreiende Farben <strong>ein</strong>. Ich mag auch die<br />

populären Zementkacheln, eher als Fußboden<br />

verlegt. Auf <strong>ein</strong>e zementene Unterschicht wird in<br />

<strong>ein</strong>e Schablone <strong>ein</strong>e zweite Schicht aus Zement,<br />

Marmorpuder <strong>und</strong> Farbe gegossen, die<br />

anschließen unter hohem Druck gepresst wird.<br />

Die Kacheln erzählen mir mit ihren Manierismen<br />

oder Modismen Geschichten. Sie erzählen von<br />

endlosen Regengüssen, von glühenden, <strong>ein</strong>en an<br />

den anderen gereihten Sonnentagen.<br />

Verschweigen elegant, wer oder was sie<br />

beschädigt hat, wie <strong>und</strong> warum sie nur<br />

behelfsmäßig repariert wurden, weshalb sich ihre<br />

Farben langsam aber sicher herunter schälen,<br />

oder sie gar, <strong>ein</strong> vergessener Schatz, unter <strong>ein</strong>er<br />

f<strong>ein</strong>en, romantischen Schicht Moos vor sich hin<br />

schimmeln. Sie verkörpern nicht nur fast<br />

unvergängliche Schönheit, sondern auch<br />

Hartnäckigkeit <strong>und</strong> Widerstand, überdauern sie<br />

doch bis heute, wie das hochherrschaftliche<br />

Eckhaus in Manaus, das zu <strong>ein</strong>em majestätischen<br />

Kulturzentrum <strong>und</strong> Theater geworden ist. Oder<br />

schmücken das geduckte Gebäude in Santarém,<br />

das mit s<strong>ein</strong>en neun Spitzbogenfenstern direkt<br />

aus 1001 Nacht zu stammen sch<strong>ein</strong>t. Ein Detail:<br />

jeweils drei Mal drei der Fenster sind in <strong>ein</strong>er<br />

anderen Farbe gemalt. Der kl<strong>ein</strong>e Stadtpalast<br />

wurde, pure Fantasie, vielleicht von <strong>ein</strong>em<br />

libanesischen oder syrischen Einwanderer in<br />

Auftrag gegeben. Einer der vielen Einwanderer aus<br />

arabischen Ländern.<br />

Noch <strong>ein</strong> Fremder, der sich hier im Norden mit<br />

<strong>ein</strong>er exotischen Welt konfrontiert sah, so exotisch<br />

<strong>und</strong> erschreckend-faszinierend, wie die s<strong>ein</strong>e für<br />

uns. Nur die Hitze war ihm wohl vertraut <strong>und</strong><br />

familiär. Vielleicht war er – was für <strong>ein</strong>e verrückte<br />

Idee - als geborener Kaufmann <strong>ein</strong> direkter<br />

Nachkomme Ali Babas oder zumindest <strong>ein</strong>er s<strong>ein</strong>er<br />

Helfer oder waren es Räuber? untergetaucht,<br />

glücklich, in s<strong>ein</strong>em gekachelten Haus in diesem<br />

abgelegenen, exotischen Teils der Tropen.....<br />

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Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige<br />

Erk<strong>und</strong>e sie alle, vorurteilslos <strong>und</strong> ohne jegliche<br />

Diskriminierung, die holprigen Gassen, schmalen<br />

Wege <strong>und</strong> steilen „Ladeiras“ genauso wie die<br />

prunkvollen Alleen <strong>und</strong> breiten „Avenidas“.<br />

Verwünsche, es gibt k<strong>ein</strong> Ausweichen, den<br />

lausigen Zustand der Bürgersteige. Hier löst sich<br />

der Belag, da fehlt er ganz, wohl <strong>ein</strong>e Art<br />

Gradmesser des Zustandes <strong>ein</strong>er Stadt, ihres<br />

Wohlstandes <strong>und</strong> politischen Willens <strong>und</strong><br />

Wohlwollens, aber auch <strong>ein</strong>e Zeitreise durch all<br />

die wechselhaften Zyklen, die die Stadt schon<br />

durchlaufen hat. St<strong>ein</strong> für St<strong>ein</strong>, Kiesel für Kiesel<br />

nimmt mich auf <strong>ein</strong>e Reise durch die<br />

verschiedensten Vergangenheiten mit.<br />

Was es nicht alles gibt: „Travessas“ (TV<br />

abgekürzt….) - Querstraßen, <strong>ein</strong>en „Largo da<br />

Misericórdia“, <strong>ein</strong>en Platz der Barmherzigkeit.<br />

Manche Städte haben <strong>ein</strong>e „Rua direita“ – <strong>ein</strong>e<br />

Rechte Straße, aber nie <strong>ein</strong>e linke. Be<strong>ein</strong>druckend<br />

die “Rua da boa morte“ – die Straße des guten<br />

Todes, so genannt nach <strong>ein</strong>em religiösen Orden,<br />

der nur schwarze Frauen aufnahm.<br />

Erobere die Städte, zu Fuß - ureuropäische<br />

Gewohnheiten legt man nicht so <strong>ein</strong>fach ab.<br />

Schlüpfe in die weichsten Turnschuhe, ignoriere<br />

Höchsttemperaturen oder Regenschauer, laufe<br />

los, bummle, gehe, wohin mich die Füße tragen,<br />

<strong>ein</strong> Stadtplan zur Hand, auch das <strong>ein</strong>e importiertanerzogene<br />

Gewohnheit. Vertraue mich der<br />

Neugier an, versuche unterwegs, welch<br />

hoffnungsloses Unterfangen, nicht zu viel Staub<br />

oder stinkende Abgase abzubekommen. Erforsche,<br />

lerne, von Schweißausbrüchen <strong>und</strong> der<br />

Langsamkeit begleitet, mit jedem Schritt etwas<br />

Neues, dringe mit neugierig-indiskretem Blick <strong>ein</strong>,<br />

will gar bis zur Seele dieses Ortes vordringen. Will<br />

den Zauber jenes Platzes, dieses Hauses<br />

entschlüsseln, Geheimnisse erfahren, hier <strong>ein</strong><br />

offensichtliches, sichtbares, da <strong>ein</strong> streng<br />

verborgenes.<br />

Die riesigen, klaren Blöcke hier, die seit drei, vier,<br />

wer weiß, gar fünf Jahrh<strong>und</strong>erten die Eingänge der<br />

majestätischen Kirchen säumen, ehemals<br />

großartige, heute verkommene Plätze pflastern.<br />

Wie viele Füße vor mir schleiften, hasteten,<br />

sprangen, glitten oder schlurften schon darüber?<br />

In europäischen Kalkst<strong>ein</strong>werken geschnitten,<br />

symbolisieren sie <strong>ein</strong>en sozusagen <strong>ein</strong>seitigen<br />

Handelsverkehr, denn sie wurden als r<strong>ein</strong>er Ballast<br />

im Bauch sonst halbleerer portugiesischer Schiffe<br />

übers Meer hergebracht. Die selben Schiffe, die<br />

dann vollbepackt mit Zucker <strong>und</strong> Edelhölzern<br />

zurückkehrten. Sie säumen auch die offenen<br />

Abwasserkanäle <strong>und</strong> Abflüsse, die bis heute nicht<br />

nur die nie versiegenden Fluten <strong>und</strong> Flüsse des<br />

Regenwassers auffangen. Diese Straße hier<br />

bewahrt noch das Kopfst<strong>ein</strong>pflaster, holprig grob<br />

<strong>und</strong> unregelmäßig. Die runzeligen, quadratisch von<br />

Hand zurecht geschlagenen St<strong>ein</strong>e haben die<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte problemlos überstanden. Bis heute<br />

schlucken <strong>und</strong> verdauen ihre gefräßigen Spalten,<br />

ständig auf der Lauer, fast alles, Ströme <strong>und</strong><br />

Sintfluten Regenwassers genauso wie f<strong>ein</strong>e<br />

Stilettoabsätze.<br />

Zum Innehalten, Ausruhen lädt der überaus<br />

elegante Granitfußboden der antiken Kirche da<br />

drüben <strong>ein</strong>. S<strong>ein</strong>e Schönheit überdauert bis zum<br />

heutigen Tag, so vortrefflich spielt s<strong>ein</strong> elegantes,<br />

regelmäßig zeitloses Muster s<strong>ein</strong> schwarz/weißes<br />

Licht- <strong>und</strong> Schattenspiel, lässt mich für<br />

Augenblicke den Schimmel vergessen, der sich<br />

den Wänden hoch nagt. Er ist im Diagonal verlegt,<br />

was die Sensation von Weite <strong>und</strong> Großzügigkeit<br />

noch erhöht. Aus der Hochblüte des Kautschuks<br />

stammen die resistenten, kl<strong>ein</strong>en Pflasterst<strong>ein</strong>e,<br />

die sich zu Mosaiken zusammenfügen. Sie<br />

wiederholen die paar klassischen Farben:<br />

verschiedene Abschattierungen von Schiefergrau,<br />

oranges Braun <strong>und</strong> klares Beige. Inspiriert an den<br />

klassischen, portugiesischen Vorbildern, werden<br />

sie entweder als großzügige, offene Fächer<br />

gegen<strong>ein</strong>ander gesetzt oder formen kunstvolle,<br />

zwei <strong>und</strong> dreifarbige Mosaike. Schlängeln sich mit<br />

ihren Blumengirlanden wie endlos ausgerollte,<br />

verst<strong>ein</strong>erte Teppiche den repräsentativen<br />

Hauptstraßen <strong>und</strong> Hauptverkehrsadern lang.<br />

Schmücken die Eingänge des Theaters <strong>und</strong><br />

anderer öffentlicher Gebäude, wo sie sich mit<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 608


südlicher Grandezza zu dekorativ verschlungenen<br />

Ornamenten oder komplexen, geometrischen<br />

Figuren zusammen fügen. Auch in den<br />

öffentlichen Parks mit ihren reich ornamentierten<br />

Pavillons der Belle Époque geht man auf ihnen<br />

spazieren. Sie gliedern <strong>und</strong> umfassen die vielen<br />

Rasen- <strong>und</strong> Sandflächen.<br />

Die die vielen Neo´s: Neoklassizismus,<br />

Neobyzantinismus, Neoromanisch, die<br />

Gründerzeit <strong>und</strong> der Eklektizismus haben ihre<br />

Spuren hinterlassen, überdauern in<br />

Haus<strong>ein</strong>gängen hochherrschaftlicher Häuser <strong>und</strong><br />

im Eingangsbereich öffentlicher Gebäude, halten<br />

mit den faszinierend reichen, hochstilisierten <strong>und</strong><br />

geschwungene Gitterzäunen aus der Zeit<br />

Zwiesprache. Andere Eingänge zeigen den<br />

typischen sechseckigen, orangeroten<br />

Klinkerboden. Der Türklopfer hier an <strong>ein</strong>er<br />

massiven Haustür, das schwer-schwarze Blei<br />

abgegriffen <strong>und</strong> poliert, <strong>ein</strong>e mollige Hand, die<br />

aus <strong>ein</strong>er romantisch gerüschten Manschette<br />

schaut <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Gewicht umklammert, mit dem<br />

man Einlass begehrt, ist wohl vergessen<br />

gegangen. Die Kirche aus der selben Zeit<br />

schmückt sich mit industriell gefertigten<br />

Zementkacheln, die sich in dunkeldüsteren Farben<br />

mit ihren reichen Ornamenten zu <strong>ein</strong>er Art<br />

st<strong>ein</strong>ernem Orientteppich zusammenfügen.<br />

In den moderneren oder modernisierten Teilen<br />

der Stadt trete ich auf Beton, viel beklatschter<br />

Fortschritt <strong>und</strong> Ästhetik der fortschritts üchtigen<br />

Jahrzehnte zwischen 1950 <strong>und</strong> 1970. Viereckige,<br />

vorfabrizierte Blöcke aus Zement bilden grauslichgräuliche,<br />

billige Imitationen der traditionellen<br />

portugiesischen Muster. Schachbretter, in langen<br />

Streifen zusammengelegt, in beige, grau <strong>und</strong><br />

fahlem, <strong>und</strong>efinierbarem Rot, voller tückischer<br />

Löcher, fehlender St<strong>ein</strong>e <strong>und</strong> Wasser<strong>ein</strong>filtrationen,<br />

kl<strong>ein</strong>e, hinterlistig gestellten Fallen für<br />

unvorbereitete, unbedacht gesetzte Füße, die mit<br />

achtsamem Blick <strong>und</strong> manchem Hopser entschärft<br />

werden müssen. Heute setzt man, fehlendem<br />

Geschmack oder fehlendem Geld zuzuschreiben?<br />

auf <strong>ein</strong>gefärbten oder übermalten Zement, hier<br />

<strong>und</strong> da <strong>ein</strong>gerissen, fehlerhaft, am Zerbröseln. Die<br />

Trottoirs sind <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes buntes Mach- <strong>und</strong><br />

Flickwerk, denn oft ist der Hausbesitzer für das<br />

Stück Bürgersteig vor s<strong>ein</strong>em Haus verantwortlich.<br />

Aber nun wird‘s edel! Herrrrr<strong>ein</strong>spaziert m<strong>ein</strong>e<br />

Damen <strong>und</strong> Herren. Darf ich Ihnen <strong>ein</strong>e durch <strong>und</strong><br />

durch <strong>ein</strong>heimische Kostbarkeit vorstellen?!<br />

Parkett aus den edelsten Tropenhölzern,<br />

gleichzeitig genial <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> überaus elegant.<br />

S<strong>ein</strong> Geheimnis? Zweifarbene, kostbare, lange<br />

Dielen, abwechselnd <strong>ein</strong>e aus hellem „Pau<br />

Marfim“, Elfenb<strong>ein</strong>holz neben <strong>ein</strong>er aus<br />

fastschwarzem „Jacarandá“ – Ebenholz verlegt.<br />

Fantastisch, dieser großzügige Flur, perfekt<br />

gewachst <strong>und</strong> gebohnert! Und erst der gigantische<br />

Tanzsaal mit der hohen Decke, den<br />

stuckverzierten Spiegeln <strong>und</strong> den schnörkligen<br />

Leuchtern! Zur selben Zeit anheimelnd,<br />

majestätisch <strong>und</strong> fremd – Inseln guten<br />

Geschmacks inmitten <strong>ein</strong>es Meeres zementierter<br />

Gleichförmigkeit, dessen m<strong>ein</strong>e Füße<br />

trotzdem nie müde werden. Entdecke, erobere<br />

jedes Mal etwas Neues, kl<strong>ein</strong>e, charmante<br />

Geheimnisse, die Fetzen <strong>ein</strong>es Gesprächs, <strong>ein</strong>e<br />

unerwartet lauschige, von der Modernität<br />

vergessene Ecke. Setze, Einzelstück für<br />

Einzelstück, Fragment für Fragment, das Puzzle<br />

zusammen, das mir wohl irgendwann die Seele<br />

dieser Stadt verrät.<br />

Nachtrag. Auf der Insel Marajó, irgendwo in der<br />

Vergangenheit vergessen worden, stoße ich auf<br />

unerwartetes Selbstbewussts<strong>ein</strong>. Die Hotelbesitzerin<br />

erklärt mir, wie <strong>ein</strong>fach es sei, sich<br />

hier zurechtzufinden! Die Straßen der Stadt seien<br />

<strong>ein</strong>fach nummeriert, genauso wie in New York!<br />

Die Längsstraßen hätten gerade Nummern, die<br />

Querstraßen, die Travessas, ungerade.<br />

Finde dann auch problemlos an der Ecke der<br />

Fünften mit der Siebten das Lokal, das ich suchte.<br />

Wie in New York….<br />

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Belém modern<br />

Auf der super-eleganten Toilette schließt die Türe<br />

nicht. Traurig hängt das Schloss durch. Es fehlt<br />

ihm <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Schraube. Da wird mir klar wie<br />

<strong>ein</strong> Blitz, dass die Vernachlässigung hier System<br />

hat. Auch in den auf antarktische Temperaturen<br />

runter gekühlen „Docas“, den Doks von Belém<br />

holt sie mich <strong>ein</strong>. Noch <strong>ein</strong> Exemplar dieses<br />

übergangslosen Neben<strong>ein</strong>ander-Existierens,<br />

punktuelle Restauration öffentlicher Gebäude,<br />

die dem Gesamtkomplex aber wenig bringt, wie<br />

<strong>ein</strong> Shopping zu Rückzugsorte der Mittelklasse<br />

wird, die man nur mit dem Auto oder Taxi<br />

erreicht. Auch dass die Doks gleich an den<br />

überaus populären Ver-o-peso anschließen, <strong>ein</strong>en<br />

Kontrast bilden, der schreiender <strong>und</strong> drastischer<br />

nicht s<strong>ein</strong> könnte. Außer mir sch<strong>ein</strong>t das alle<br />

auszublenden.<br />

Der Häuserzeile, fantastisch heruntergekommen,<br />

<strong>ein</strong>ige Häuser sind gekachelt, stammt sicher aus<br />

der Kolonialzeit <strong>und</strong> haben damit sicher drei oder<br />

vier Jahrh<strong>und</strong>erte auf dem Buckel, fehlt allerdings<br />

deutlich mehr als <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fache Schraube. Die<br />

edle Glasfassade der Dokas spiegelt das<br />

Gegenüber in malerischen Nuancen. <strong>Foto</strong>grafiere<br />

es vom rappelvollen Parkplatz aus.<br />

Infrastrukturprojekten, Mienen <strong>und</strong> Eisenwerken<br />

gebot, als großangelegtes Projekt geplant <strong>und</strong><br />

ausgeführt, zeugen sie von der <strong>ein</strong>stigen<br />

Wichtigkeit der Stadt. Die Doks, 1914 <strong>ein</strong>geweiht<br />

verfügten nicht nur über 11 riesige Kräne, sondern<br />

auch elektrisches Licht <strong>und</strong> 13 Lagerhallen. Drei<br />

davon wurden im Jahre 2000 total renoviert. Da<br />

reihen sich nun an privilegierter Lage direkt am<br />

Amazonas vollklimatisierte Einkaufsstraßen <strong>und</strong><br />

Edelrestaurants an<strong>ein</strong>ander. Auch <strong>ein</strong>e trendige<br />

Brauerei <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e der unvergesslichen Eisdielen<br />

mit Eis aus vielen lokalen Früchten gibt es hier,<br />

perfekte Touristenmagnete.<br />

Widerstehe dem Impuls, die Verantwortlichen auf<br />

die fehlende Schraube der Toilettentür<br />

aufmerksam zu machen. Reklamieren ist verpönt,<br />

schickt sich nicht. Zurück in den kühlen Hallen<br />

gehe ich wieder mal durch das kl<strong>ein</strong>e, sehr<br />

informative Museum, das Museu do Porto. Da<br />

kann man <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Reise durch die Zeiten<br />

machen, zivilisiert, sicher <strong>und</strong> kühl. Alles was man<br />

von der gegenüberliegenden Straßenseite nicht<br />

sagen kann.<br />

Die Docks, auch sie sind Zeitzeugen, spiegeln das<br />

heutige, moderne Belém. Vom amerikanischen<br />

Großunternehmer <strong>und</strong> Visionär Percival Farquar,<br />

der hier in Brasilien über <strong>ein</strong> Universum an<br />

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Von den Mangobäumen<br />

Der hohe Korb öffnet s<strong>ein</strong>en Schl<strong>und</strong> weit <strong>und</strong><br />

ausladend, übervoll, fast quillt ihm die fruchtige<br />

Last über den Rand. Mangos, Kokosmangos, gelb,<br />

flach <strong>und</strong> fest <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bisschen gewöhnlich. Sie<br />

haben ziemlich viele Fasern <strong>und</strong> Fäden. Rieche<br />

ganz klar ihren charakteristischen Geruch, erdig,<br />

harzig <strong>und</strong> grün. Der Korb mit dem groben,<br />

luftdurchlässigen Flechtwerk, von den Indios<br />

entwickelt <strong>und</strong> weitervererbt, verhindert, dass die<br />

süße Last verdirbt, wichtig bei <strong>ein</strong>er<br />

Durchschnittstemperatur von 28 Grad <strong>und</strong> 80 %<br />

Luftfeuchtigkeit. – „Wie viel kosten sie?“ – Der<br />

Junge verkauft das halbe Dutzend für <strong>ein</strong>en Real,<br />

<strong>ein</strong> Nebenjob, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Extra<strong>ein</strong>kommen,<br />

eigentlich passt er auf die geparkten Autos auf.<br />

Könnte die Mangos, vielleicht vom Aufprall leicht<br />

angequetscht, gleich hier auf dem Boden selbst<br />

zusammenlesen. Aber die besten befinden sich<br />

immer außer Reichweite begehrlicher Hände.<br />

Müssen verdient/erobert werden, sind, klar, <strong>ein</strong>e<br />

kl<strong>ein</strong>e Anstrengung wert, <strong>ein</strong> paar leichte<br />

Körperübungen, etwas Gymnastik.<br />

Die zwei Männer beobachte ich von Weitem.<br />

Wollen wohl die junge Frau in ihrer Gesellschaft<br />

bezirzen. Wählen mit Bedacht. Jeder zeigt auf<br />

<strong>ein</strong>e andere. Zielen, vergewissern sich noch<br />

<strong>ein</strong>mal, ob sie alles in Betracht gezogen haben.<br />

Dann endlich werfen sie das Projektil hoch hinauf,<br />

<strong>ein</strong> herumliegender St<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e noch grün<br />

heruntergerissene Mango. Strecken sich im<br />

Sprung, lang <strong>und</strong> noch höher, legen das ganze<br />

Gewicht <strong>und</strong> alle Kraft in den Salto, lachen,<br />

vergnügen sich königlich, weichen dem los<br />

geschlagenen Ast- <strong>und</strong> Blätterregen aus, um<br />

endlich jene Mango, die köstlichste von allen,<br />

aufzufangen. Gibt´s <strong>ein</strong>en süßeren ersten Biss als<br />

jener? Ein Spiel für kl<strong>ein</strong>e Jungen, das auch für<br />

größere s<strong>ein</strong>en Reiz nicht verloren hat.<br />

Mangobäume. Alleen aus Mangobäumen. Gibt es<br />

allgegenwärtigere Bilder <strong>und</strong> sich immer<br />

wiederholendere sehnsüchtig-süße Erinnerungen<br />

an die Stadt Belém in Pará? Üppig leiden sie von<br />

Dezember bis Februar unter der kostbaren<br />

Früchtelast. Es sch<strong>ein</strong>t, dass ihnen die ständigen<br />

Regengüsse <strong>und</strong> die hiesigen hohen Temperaturen<br />

sehr behagen. Sie wurden zur Zeit des Kautschuks<br />

extra aus Indien importiert. Bezeugen somit die<br />

Grandezza anderer, vergangener, ziemlich<br />

globalisierter Zeiten. Modernen Urbanisten<br />

würden sie nie unterkommen, die mögen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich lieber Blumen <strong>und</strong> dekorative<br />

Blätter. Fallende Mangos – <strong>ein</strong>e öffentliche<br />

Gefahr! Ein unschuldiges Auto im großzügigen<br />

Schatten <strong>ein</strong>es Mangobaumes abgestellt <strong>und</strong> von<br />

<strong>ein</strong>er herunter schießenden Mango <strong>ein</strong>gedellt! Ob<br />

die Versicherung wohl zahlt? Oder die<br />

Krankenkasse? Dann wenn <strong>ein</strong>er auf <strong>ein</strong>em<br />

übersehenen, schlecht abgenagten <strong>und</strong> damit<br />

äußerst schlüpfrigem Mangokern ausrutschte?<br />

Von jenen angeheiterten Wespen gestochen, die<br />

sich an der süßen Fäulnis, überreichlich<br />

vorhandenen, verderbenden Mangofleisches<br />

alkoholisiert hat?<br />

Die Mangos jedenfalls sind allgegenwärtig.<br />

Schwimmen angebissen, puh, unreif, in den<br />

stehenden Abwässern der offenen Kanäle, halb<br />

Regen, halb Abfluss, färben, neben dem von<br />

unzuverlässigen Müllmännern ignorierten<br />

Müllsäcken, überreif runter geplumpst den<br />

Bürgersteig buttergelb. Wenige gelangen in<br />

menschliche Mägen. Verfallen Sie ja nicht auf die<br />

absurde Idee irgendwo <strong>ein</strong>en Mangosaft trinken<br />

wollen! Die Mangos hier füllen höchstens den<br />

Magen oder den Geldbeutel weniger<br />

Begünstigter. Die sind so zahlreich wie die<br />

Mangos, verkaufen im erfrischenden Schatten<br />

der Alleen, oder sind es vielleicht gar<br />

„Mangazeis“, „Mangenhaine“? des Zentrums an<br />

jeder Straßenecke tausenderlei Kinkerlitzchen.<br />

Ein <strong>ein</strong>zelner, <strong>ein</strong> ganz spezieller Mangobaum<br />

bleibt mir unvergesslich. Mystisch, synkretistisch,<br />

<strong>ein</strong> heiliger, heidnischer Baum, zu Ehren <strong>ein</strong>es<br />

vergangenen Círios mit Satinbändern in den<br />

schönsten Regenbogenfarben geschmückt.<br />

Jedem Band „Promessas“, Versprechen, <strong>ein</strong>e Art<br />

Votivgaben, auf den Stoff geschrieben, dem<br />

Baum anvertraut, <strong>ein</strong>s neben dem anderen in<br />

s<strong>ein</strong> Geäst geb<strong>und</strong>en, schon von Weitem <strong>ein</strong><br />

heiterer Gruß. Schöne, kreative Lesung, <strong>ein</strong>e<br />

neue Interpretation <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Art Versöhnung mit<br />

der Popularität der Mangobäume Beléms.<br />

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Museum Goeldi, Belém<br />

Da schau die “Cutia”, <strong>ein</strong> Nager, etwas größer als<br />

<strong>ein</strong> Meerschw<strong>ein</strong>chen! Posiert auf den<br />

Hinterb<strong>ein</strong>en, <strong>ein</strong>e Samenhülse zwischen den<br />

Pfoten. Knabbert sie auf <strong>und</strong> schon ist sie ins<br />

dunkle Dickicht davon gewieselt, das sogleich<br />

auch das leuchtende Orange ihres Hinterteils<br />

verschluckt.<br />

Der stillgrüne Park des Museums Goeldi ist<br />

wochentags eher leer. Nur an den Wochenenden<br />

drängeln sich hier die Menschen. Sogar die zwei<br />

ausgestopften Perdchen gibt’s noch, auf denen<br />

sonntaglich gewandete Eltern so gerne ihre<br />

ebenso sonntäglich herausgeputzten Kinder<br />

ablichten. Auch die Cutias haben sich längst an die<br />

Besucher gewöhnt. Tolerieren die Menschen, die<br />

tagsüber in ihr Revier <strong>ein</strong>dringen. Mit sehr viel<br />

Glück kann man auch <strong>ein</strong> Faultier sehen, hoch<br />

oben, das sich kopfunter durch die Äste angelt<br />

<strong>und</strong> das nicht mal so langsam. Nur am Boden<br />

bewegt es sich in Zeitlupe. Legen langsam <strong>und</strong><br />

ungelekt <strong>ein</strong>en Arm vor den anderen, mehr<br />

schleifend denn kriechend.<br />

Die Mischung zwischen botanischem Garten, alle<br />

Bäume sind ausgeschildert, frei laufender <strong>und</strong><br />

hinter Gittern ausgestellter Natur <strong>und</strong> Chalets aus<br />

den Schweizer Alpen ist <strong>ein</strong>malig. Zeugt von der<br />

Geisteshaltung der Wende des 19. zum 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein Seel<strong>ein</strong> voller Wasservögel, den<br />

Umrissen des Lago Maggiore nachempf<strong>und</strong>en,<br />

überirdische Grotten, <strong>ein</strong> Teich voller Vitoria<br />

Regias inspiriert am Format des Schwarzen<br />

Meeres <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e überwältigend amazonische<br />

Vegetation ist <strong>ein</strong> Zeitdokument, vielleicht etwas<br />

nostalgisch, aber <strong>ein</strong>e grüne Oase voller<br />

kolonialistischem Charme mitten in Belém.<br />

Das Museum <strong>und</strong> der Park, sie beherbergen auch<br />

<strong>ein</strong>e renommierte Forschungsstation, spiegeln<br />

wichtige lokale Errungenschaften. Verwandelten,<br />

zur Zeit der Hochblüte des Kautschuks, den<br />

blühender Handel mit exotischen Tierpräparaten,<br />

an die Naturwissenschaftlichen Museen <strong>und</strong><br />

Kuriositätenkabinette der halben Welt verschickt,<br />

in <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heimische Forschungsstation <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Museum, die es der lokalen Gesellschaft erlaubt,<br />

ihre reiche Biodiversität selber <strong>und</strong> vor Ort zu<br />

erforschen. Ein Meilenst<strong>ein</strong> für Brasilien, der von<br />

<strong>ein</strong>em ganz neuen Selbstbewussts<strong>ein</strong> zeugt.<br />

Endlich beginnt man sich auch hier vom so<br />

gewichtigen Erde der Kolonialzeit zu befreien.<br />

Die unterschiedlichsten Komponenten spielen<br />

erfolgreich zusammen. Da sind die Naturwissenschaften,<br />

die sich in Brasilien, zusammen<br />

mit <strong>ein</strong>er regelrechten Neubewertung dessen, was<br />

Brasilien ist <strong>und</strong> gehört, professiona-lisieren. Dazu<br />

kommt <strong>ein</strong> visionärer Politiker, Lauro Sodré, er war<br />

zwischen 1858 bis 1944 Gouverneur von Pará <strong>und</strong><br />

organisiert in den Jahren 1891 bis 1897 hier in<br />

Belém verschiedene “Vitrinen”, <strong>ein</strong>e<br />

davon das Museum Goeldi. Die sollten der Welt<br />

beweisen, wie fortschrittlich <strong>und</strong> zivilisiert der<br />

Amazonas ist. Um den Plan des Museums, es<br />

bestand schon in den Gr<strong>und</strong>zügen, weiter zu<br />

treiben, beruft er 1894 den Schweizer Zoologen<br />

Emil Goeldi nach Belém. Der hatte in Leipzig <strong>und</strong><br />

Jena studiert <strong>und</strong> kam als frisch doktorierter<br />

Zoologe ans Museu Nacional nach Rio de Janeiro,<br />

wo er fünf Jahre blieb. Als Direktor des schon<br />

bestehende Museu Paraense nach Belém<br />

berufen, rekonstruiert er dasselbe von Gr<strong>und</strong><br />

auf. Stattete es mit <strong>ein</strong>em klaren<br />

Forschungsprojekt aus, ganz im Geist s<strong>ein</strong>er Zeit,<br />

ziemlich europazentriert, besonders, da auch alle<br />

wissenschaftlichen Mitarbeiter aus Europa<br />

kommen. Brasiliens Universitäten sind erst im<br />

Aufbau. Es etablierte sich <strong>ein</strong>e Art<br />

wissenschaftliche Kolonie deutschen Ursprungs<br />

mitten im Amazonas zusammen mit <strong>ein</strong>er<br />

Forschungsstation, die sich bald <strong>ein</strong>en Namen<br />

macht. Letzte Nachfolgerin Goeldis wird <strong>ein</strong>e<br />

deutsche Ornithologin, Emilia Snethlage. Sie wird<br />

Museumsdirektorin <strong>ein</strong>er Instanz, die zusammen<br />

mit dem Niedergang des Kautschuks in finanzielle<br />

Nöte <strong>und</strong> Dekadenz gerät. Eine Pionierin, nicht<br />

nur die erste Frau, die für den Staat Pará<br />

arbeitet, sondern überhaupt die erste Direktorin<br />

<strong>ein</strong>er Forschungsanstalt in Südamerika. Sie<br />

kommt 1905 ins Museum <strong>und</strong> steht ihm<br />

zwischen 1914 <strong>und</strong> 1922 als Direktorin vor. Sie<br />

muss <strong>ein</strong>e herausragende Persönlichkeit<br />

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gewesen s<strong>ein</strong>, deren Biografie es noch<br />

aufzuarbeiten gilt. Sie durchquerte 1909, zu Fuß,<br />

nur von indigenen Führern begleitet, <strong>ein</strong> bis dahin<br />

der Wissenschaft ungekanntes Gebiet zwischen<br />

den Flüssen Xingu <strong>und</strong> Tapajós. Ihr Grabst<strong>ein</strong><br />

steht in Porto Velho, der Hauptstadt von<br />

Rondônia, denn sie kehrte nie mehr nach<br />

Deutschland zurück.<br />

Wildtiere, Zitteraale, Stachelrochen, Krokodile <strong>und</strong><br />

natürlich die unterschiedlichsten Schildkröten.<br />

Allerdings ist auch der Gitterkäfig der „Onça“, <strong>ein</strong>e<br />

wilde, furchterregende Raubkatze, der<br />

brasilianischer Panther, noch ganz altmodisch<br />

aus Beton. Goeldi hätte besseres verdient.<br />

Das Museum Goeldi ist noch <strong>ein</strong> Puzzlestück<br />

Amazonas, mal in besserem, mal in schlechterem<br />

Zustand. Symbol <strong>ein</strong>es Übergangs, noch<br />

europazentriert in s<strong>ein</strong>er Konzeption, aber schon<br />

vor Ort, in den Tropen etabliert <strong>und</strong> mit dem<br />

klaren Ansatz, den Amazonas vor Ort zu<br />

erforschen. Der Park, ganz Belle Époque, ist bis<br />

heute sehr beliebt bei den Einwohnern. Die<br />

Ausstellungen in den verschiedenen<br />

Museumsräume zeigen <strong>ein</strong> interessantes<br />

Panorama der Natur- <strong>und</strong> Lokalgeschichte.<br />

Paralell dazu wird hier auch geforscht. Es gibt viel<br />

zu tun. Die Geschichte des Amazonas <strong>und</strong> die<br />

s<strong>ein</strong>er überwältigenden Natur ist gerade dabei<br />

erarbeitet zu werden.<br />

In den w<strong>und</strong>erschön kühlen Parkanlage des<br />

Museu Goeldi trifft man <strong>ein</strong>en faszinierenden Teil<br />

des amazonischen Pflanzenreichtums, sozusagen<br />

en Miniatur. Auch lauschige Teiche <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Riesenbambus fehlen nicht. Dazwischen befinden<br />

sich die Gehege <strong>und</strong> Becken für <strong>ein</strong> paar<br />

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Paris in den Amerikas<br />

Ein kl<strong>ein</strong>es, rasches Spiel geht mir durch den Kopf.<br />

K<strong>ein</strong>er wird erraten, wo ich hier in Belém um<br />

Himmels willen die Statue des Merkurs<br />

fotografiert habe. Die unzähligen, w<strong>und</strong>erschönen<br />

Kacheln, alle abgeschlagen <strong>und</strong> vom Zahn der Zeit<br />

deutlich angeknabbert. Vergessen, genauso wie<br />

die Schienen der „Tramway“, der Straßenbahn,<br />

<strong>ein</strong>st viel bejubeltes Symbol für Ordnung <strong>und</strong><br />

Fortschritt. Die haben sich nicht mal die Mühe<br />

gemacht, ihre eiserne Doppelspur zuzupflastern.<br />

K<strong>ein</strong>er wird drauf kommen, wer wohl die knallorange<br />

Unterhose anziehen wird. Sie wird, auf<br />

<strong>ein</strong>en weißen Ring gestreckt, direkt auf der<br />

bloßen Hauswand angeboten. Das Geschäft quillt,<br />

wie alle hier, bis auf den Bürgersteig. Auf der<br />

gegenüberliegenden Hausmauer werden die<br />

Mädchen mit Minist-Tangas in Schwarz <strong>und</strong> Pink<br />

geködert. Wer verkauft wohl all jenes Gold in den<br />

verschiedensten Erststockhinterzimmerchen?<br />

Schreiende Plakate versprechen, es ohne große<br />

Nachfrage sogleich zu versilbern. Ob es dieselben<br />

sind, die dann gleich bei <strong>ein</strong>er der drei Lotterien,<br />

gleich dreifach illegal, ihr Glück versuchen? Hilft<br />

gar nichts mehr, werden sie K<strong>und</strong>en der<br />

„Schutzpatronin“. Sie bedient praktischerweise<br />

gleich mehrere Religionen, jede mit den<br />

entsprechenden Artikeln <strong>und</strong> Artefakten. Ich<br />

verliebe mich sogleich in <strong>ein</strong> wachsbleiches,<br />

w<strong>und</strong>erschön altmodisches Herz, <strong>ein</strong>e Votivgabe.<br />

Was für <strong>ein</strong> Souvenir!<br />

Magisch zieht es mich immer wieder da hoch. Der<br />

hohe Uhrturm von Paris winkt mir schon von<br />

Weitem zu. Er erhebt sich majestätisch über das<br />

wilde <strong>und</strong> farbenprächtige Gewimmsel, <strong>ein</strong> wahres<br />

Mekka der Straßenhändler, hier im<br />

vernachlässigten Zentrum von Belém, schreiend,<br />

pulsierend, gefährlich <strong>und</strong> dreckbillig. Das<br />

Gebäude, <strong>ein</strong> Eckhaus, dominiert die abfallende<br />

Geschäftsstraße. Überragt sie, auf halber Höhe ist<br />

der elegante Schriftzug, „Paris in den Amerikas“<br />

gleich mehrfach r<strong>und</strong>um angebracht. Bleibe,<br />

<strong>ein</strong>mal mehr, mit angehaltenem Atem stehen. Ob<br />

es der Kontrast zwischen den ungezählten<br />

Statuen, alle in arabische Burkas gehüllt, Burkas in<br />

allen unmöglichen <strong>und</strong> möglichen Farben,<br />

Materialien, Drucken <strong>und</strong> billigen Stickereien <strong>und</strong><br />

der spektakulär weit ausschwingenden<br />

Doppeltreppe ist, der m<strong>ein</strong> Herz <strong>ein</strong>en Herzschlag<br />

überspringen lässt?<br />

Ich übersehe die zu St<strong>ein</strong> erstarrten Säulen mit<br />

den Burkas <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> stelle mich vor die<br />

spektakuläre Doppeltreppe, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, sehr<br />

effektvolles Kunstwerk, etwas zurückversetzt. Zu<br />

m<strong>ein</strong>en Füßen überreich verzierte Fließen in<br />

kitschigem neo-klassizistischem Barock. Die Farben<br />

der vorletzten Jahrh<strong>und</strong>ertwende angedunkelt.<br />

Die Treppe beginnt mit zwei weit aus<strong>ein</strong>ander<br />

stehenden Säulen. Holt Anlauf, steigt hoch <strong>und</strong><br />

verjüngt sich dann in halber Höhe wie die<br />

geschnürten Taillen der Damen, die hier<br />

bedient wurden. Auf halber Höhe streckt <strong>ein</strong>e<br />

Bronzestatue mit weit geöffneten Armen weit<br />

zwei Leuchter von sich weg, genau da wo sich die<br />

Treppe zweiteilt. Einer Treppenflügel schwingt<br />

sich nach rechts hoch, der andere schwungvoll<br />

nach links. Sie führen in zwei doppelten, kühnen<br />

Wellen in die Galerie im Obergeschoss, wo sie<br />

sich wieder ver<strong>ein</strong>en. Warte darauf, dass <strong>ein</strong>e<br />

der f<strong>ein</strong>en Damen, anspruchsvolle K<strong>und</strong>schaft<br />

mit blasser Haut, Sonnenschirmchen <strong>und</strong><br />

Spitzenhandschuhen in ihren raschelnden, hellen<br />

Kleidern aus Batist oder ultraleichtem L<strong>ein</strong>en<br />

darüber hochschwebt. Ihre zierlichen Schühchen<br />

berühren kaum den Boden. Schau, da beugt sich<br />

<strong>ein</strong>e über die Balustrade, schaut vergnügt auf das<br />

Getümmel im Erdgeschoss herab.<br />

Klar, das Bauwerk ist kitschig, voller Schnickschnack<br />

<strong>und</strong> schmückendem Tand, aber gerade<br />

deshalb ist es so wertvoll. Alles ist orginal. Die<br />

Leuchter haben alle noch die gläsernen,<br />

gewellten Schirmchen, der filigrane Stuck hat<br />

kaum unter dem Zahn der Zeit gelitten. Auch die<br />

kostbaren Einlegböden sind in ausgezeichnetem<br />

Zustand. Blind sind nur die Spiegel. Die Galerie ist<br />

leer. Hat etwas Magisches, Gespensterhaftes in<br />

ihrer Leere <strong>und</strong> Unberührtheit. Es sch<strong>ein</strong>t sogar,<br />

dass hier sogar jemand regelmäßig Staub wischt.<br />

Das Erdgeschoß allerdings ist bienenfleißig.<br />

Zwischen den unzähligen Burkas aus den<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 629


verschiedensten Stoffen, in allen nur denkbaren<br />

Farben, mit Drucken <strong>und</strong> Stickereien, wieseln<br />

Verkäuferinnen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>en herum. Denn die<br />

Obeliske sind in Wahrheit nur dicke, aufrecht<br />

hingestellte Tuchballen, von geschickten Händen<br />

so drapiert, dass sie den Fall der nicht sehr teuren<br />

Stoffe ins beste Licht rücken – „Paris nas<br />

Américas“ ist bis heute <strong>ein</strong> Tuchgeschäft! Nur<br />

ziemlich viel populärer, als auch schon. Stoffballen<br />

füllen das ganze Erdgeschoss <strong>und</strong> auch die<br />

hohen Schränke mit den verglasten Türen, rechts<br />

<strong>und</strong> links den Wänden entlang, dramatisch lang<br />

gezogen. Hier kauft man noch Stoff <strong>und</strong> lässt sich<br />

daraus Kleider nähen.<br />

Heute setzt allerdings k<strong>ein</strong>e Dame der besseren<br />

Gesellschaft auch nur <strong>ein</strong>en Fuß in den ordinären<br />

Schmutz des Zentrums. Zwar liegt die zentrale<br />

Markthalle „Ver-o-peso“ gleich um die Ecke <strong>und</strong><br />

gleich daneben, <strong>ein</strong> Spaziergang von vielleicht<br />

fünf Minuten, die ultraschicken „Docas“, die zu<br />

Restaurants <strong>und</strong> Geschäften umgebauten Docks.<br />

Aber da fährt man im Auto vor.<br />

„Paris nas América“, <strong>ein</strong>es von Beléms ersten<br />

Warenhäusern, es eröffnete exakt am<br />

15.06.1870, spiegelt perfekt den Glanz der Belle<br />

Epoque. Das Geschäft war Augenzeuge <strong>ein</strong>er<br />

verschwenderischen, wilden Zeit, gebaut, als der<br />

Handel mit dem Kautschuk gerade s<strong>ein</strong>en Aufstieg<br />

zum Gipfel begann. Nicht dass ich den kitschigen<br />

Kitsch des Baus überschätzen würde. Aber hier in<br />

der selben Stadt gibt es so viele unglaublich<br />

unproportionierte <strong>und</strong> hässliche neue Gebäude.<br />

So hässlich, dass kaum <strong>ein</strong> Architekt die Hand im<br />

Spiel gehabt haben kann. Deshalb wird dieses<br />

kl<strong>ein</strong>e Gesamtkunstwerk hier zu <strong>ein</strong>em wahren<br />

Augenschmaus. In jeder anderen Stadt, in Rio de<br />

Janeiro oder São Paulo, hätte man es längst in <strong>ein</strong>e<br />

erstklassige Touristenattraktion verwandelt. Es<br />

wäre <strong>ein</strong> Café, <strong>ein</strong>e Bar oder <strong>ein</strong>e Boutique. Hier<br />

aber überlebt es auf andere Weise. Wird, wie<br />

manches andere, zu m<strong>ein</strong>em Privatmuseum.<br />

Aus <strong>ein</strong>er anderen Perspektive betrachtet, sch<strong>ein</strong>t<br />

es mir hier gar geradezu ironisch, gar von<br />

ausgleichender Gerechtigkeit, dass dieses<br />

hochherrschaftliche Zentrum heute ausgerechnet<br />

jenen gehört, deren Vorfahren es indirekt mit so<br />

viel P<strong>ein</strong>, Leid <strong>und</strong> Opfern finanziert haben.<br />

Einer der Straßenhändler, immer zu <strong>ein</strong>em<br />

Schwatz aufgelegt, hat sich soeben an mich<br />

gewendet. Er hat m<strong>ein</strong>e ach so touristischen<br />

Versuche beobachtet, alles auf Film zu bannen.<br />

Gott sei Dank sind die heutigen Kameras so<br />

winzigkl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> diskret. Sagt zu mir, Beifall<br />

heischend: - „Schönes Gebäude, nicht wahr?<br />

Würde <strong>ein</strong>en besseren Platz verdienen! Finden Sie<br />

nicht auch?“-<br />

Wird m<strong>ein</strong> launiges Spiel leider wohl kaum<br />

durchschauen. Was ich exotisch finde, kitschig,<br />

nostalgisch w<strong>und</strong>erbar, gleichzeitig bedaure, ist<br />

für ihn alltäglichste, banalste Nachbarschaft, s<strong>ein</strong><br />

Alltag.<br />

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Illegales Glücksspiel<br />

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Wenn die Tiere um ihr Glück spielen<br />

Das Plakat ist w<strong>und</strong>erschön, so antik-altmodischheruntergekommen<br />

wie das Zentrum von Belém<br />

selbst. Ich entdecke es auf <strong>ein</strong>em m<strong>ein</strong>er ziellosen<br />

Streifzüge in <strong>ein</strong>er unsch<strong>ein</strong>baren Bar. Eine Bar,<br />

von jenen, bei denen man nicht so genau weiß,<br />

wo die Straße aufhört <strong>und</strong> die Bar anfängt, oder<br />

umgekehrt. Auf dem Plakat sind, <strong>ein</strong>s säuberlich<br />

neben dem anderen, 25 Tiere dargestellt.<br />

Handgemalt, nahm sich der Künstler <strong>ein</strong>ige naive<br />

Freiheiten mit Proportionen <strong>und</strong> Größenverhältnissen.<br />

Trotzdem, jedes Tier ist sofort<br />

erkennbar. Auf dem kreidebeschriebenen Plakat<br />

<strong>ein</strong>e komplexe Reihe von Zahlen. Darüber die<br />

verschlüsselte Nachricht: “Sopa de Leão” <strong>ein</strong>e<br />

Löwensuppe????<br />

Endlich fällt auch bei mir der Groschen. Es handelt<br />

sich um <strong>ein</strong>es jener der Lokale, wo man wetten<br />

kann. Man setzt auf <strong>ein</strong>es der 25 Tiere. Berühmt<br />

berüchtigtes, illegales, aber hier toleriertes „Jogo<br />

do bicho“!<br />

Das „Jogo de bicho“, das Glücksspiel der Tiere<br />

verdankt s<strong>ein</strong>e Existenz der Erfindergabe <strong>ein</strong>es<br />

Barons, João Batista Viana , aus Rio de Janeiro.<br />

Der Baron betrieb <strong>ein</strong>en Zoologischen Garten, der<br />

ihn in ständige Geldnöte stürzte. Um den Zoo <strong>und</strong><br />

damit auch sich selber finanziell wieder fit zu<br />

bekommen, erfand er <strong>ein</strong> Glücksspiel. Man<br />

konnte <strong>ein</strong>en Geldbetrag auf <strong>ein</strong>es der 25 Tiere<br />

s<strong>ein</strong>es Zoos setzen <strong>und</strong> gewinnen, falls das Tier,<br />

auf das man gesetzt hatte, ausgelost wurde. Das<br />

Ganze wurde zu <strong>ein</strong>em so großen Erfolg, dass<br />

seit 1892 ganz Brasilien auf diese 25 Tiere<br />

wettet. Jedes Tier ist mit <strong>ein</strong>er Zahlenserie<br />

assoziiert. Zweimal pro Tag werden bis heute in<br />

Rio die Gewinnzahlen ausgelost <strong>und</strong> sogleich in<br />

<strong>ein</strong>er generalstabsmäßigen Aktion ans ganze<br />

Land weitergeleitet. Die Fäden der ganzen<br />

Millionen bewegenden Aktion laufen in den<br />

Fingern mächtiger „Bicheiros“ zusammen,<br />

wahren Großunternehmern in Sachen illegalem<br />

Glücksspiel <strong>und</strong> Geldwäscherei. Sie verschieben<br />

<strong>und</strong> waschen in <strong>ein</strong>er vom Staat übersehenen<br />

oder tolerierten Grauzone unversteuerte<br />

Riesensummen. Jedem ist bekannt, dass es den<br />

Karneval in Rio nicht gäbe, wenn die Bicheiros<br />

nicht Unsummen in ihn investieren würden.<br />

Neben dem illegalen Wettbusiness sind sie in<br />

noch viel zweifelhaftere Geschäfte verflochten<br />

<strong>und</strong> verfilzt. Die Intimitäten mit korrupten<br />

Politikern aber garantiert allen Straffreiheit, den<br />

Bicheiros <strong>und</strong> den Politikern, die mit großzügigen<br />

Wahlkampfspenden versorgt werden. Und zum<br />

Schluss haben alle, um ganz im Tierreich zu<br />

bleiben, wie man hier sagt, ihre Schwänze<br />

festgeb<strong>und</strong>en, „estão de rabo preso“, haben alle<br />

Dreck am Stecken <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er kann den anderen<br />

verraten, ohne dass es ihm selber an den Kragen<br />

geht.<br />

Das gilt wohl auch für den Staatsanwalt, der<br />

kürzlich in <strong>ein</strong>em Interview verkündete, er<br />

all<strong>ein</strong>e könne nicht Rambo spielen <strong>und</strong> gegen<br />

das illegale Glücksspiel vorgehen. Und so steht<br />

der kl<strong>ein</strong>e, mobile Verkaufskiosk weiter da.<br />

Direkt schräg gegenüber des Justizgebäudes, da<br />

wo der Staatsanwalt jeden Tag daran vorbei<br />

muss. Es wird geschätzt, dass das illegale<br />

Glücksspiel all<strong>ein</strong> in Belém gegen 8.000<br />

„Angestellten“ <strong>ein</strong> zwar illegales, aber<br />

konstantes Einkommen biete.<br />

Da ich heute Nacht weder von <strong>ein</strong>em Vogel<br />

Strauß, Nummer <strong>ein</strong>s, noch von <strong>ein</strong>em Adler,<br />

Nummer zwei, geträumt habe, fehlt mir auch die<br />

Inspiration zum Wetten. Denn wenn es so wäre,<br />

wäre mir <strong>ein</strong> Gewinn so gut wie sicher. Der Vogel<br />

Strauß rennt mit s<strong>ein</strong>en muskulösen B<strong>ein</strong>en über<br />

<strong>ein</strong>e gelbliche Steppe, vielleicht kommt er aus<br />

dem Nordosten. Der Adler s<strong>ein</strong>erseits schaut<br />

uninteressiert in die Ferne, wo sich s<strong>ein</strong> Blick<br />

verliert. Auch der blutarme Löwe, Nummer 16<br />

etwas schwach auf der Lunge, flößt mir k<strong>ein</strong><br />

Vertrauen <strong>ein</strong>. Gehe weiter. Fast stolpere ich<br />

über <strong>ein</strong>en jener etwas aus dem Kontext<br />

gerissenen Stühlen auf dem Bürgersteig. Die<br />

kl<strong>ein</strong>en, abreißbaren Papiertalons allerdings<br />

bringen mich auf die richtige Spur. Sie sind, wie<br />

die mobilen Holzbaracken, die ach so unauffällig<br />

an so vielen Ecken in diesem Land herumstehen,<br />

Glücksspielverkaufsstellen. Parallelwelten wie<br />

diese, offiziell verboten, inoffiziell toleriert,<br />

erklären bis zu <strong>ein</strong>em gewissen Grad, warum es<br />

mit dem Amazonas <strong>und</strong> mit ganz Brasilien nicht<br />

effizienter <strong>und</strong> schneller vorwärtsgeht.<br />

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Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit<br />

Dem schmächtigen Jungen ist schlecht. Ich kann<br />

ihn sehr gut verstehen. Wir sind alle zusammen<br />

hier <strong>ein</strong>gekeilt, an<strong>ein</strong>ander gepresst, <strong>ein</strong>er an den<br />

anderen geklebt. Werden, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Ganzes, im<br />

Kollektiv rumgestoßen, hin <strong>und</strong> her gewalzt. Da<br />

muss er nun halt durch! Die Berlinda ist so nah!<br />

Da ist sie! Ganz, ganz nah! Gleich wird sie vorbeigezogen<br />

werden. Die Berlinda mit der winzigen<br />

Muttergottes hält s<strong>ein</strong>e Mutter davon ab, ihn aus<br />

dem Gewühl hinaus zu führen. Schon taucht sie<br />

da vorne, orangefarben, blumengeschmückt über<br />

der Menge auf. Die Emotionen, die Ergriffenheit<br />

treiben auf den Höhepunkt zu, überschlagen sich.<br />

Und schon geht es dem Jungen, welch´ W<strong>und</strong>er,<br />

wieder besser.<br />

Der Junge ist, zusammen mit s<strong>ein</strong>er Mutter, <strong>ein</strong>er<br />

der auf 4,2 Millionen geschätzten Teilnehmer des<br />

diesjährigen Cirios. Die setzten sich aus Gläubigen,<br />

Pilgern, Zuschauern, Straßenhändlern,<br />

Wasserträgern <strong>und</strong> vielen anderen zusammen,<br />

die alle an <strong>ein</strong>em der vielen Prozessionen <strong>und</strong><br />

Festen teilnehmen. Ob es <strong>ein</strong>er der allgegenwärtigen<br />

Wasserbecher war, der s<strong>ein</strong>en Magen<br />

wieder ins Gleichgewicht brachte? Knöcheltief,<br />

schwimmbadblau <strong>und</strong> leer türmen sie sich zu<br />

m<strong>ein</strong>en Füßen. Der Pilgerstrom zieht vorbei <strong>und</strong><br />

unerschöpfliche Quellen sprudeln Nachschub.<br />

Noch mehr <strong>und</strong> noch mehr Becher werden<br />

weitergereicht, bis zum Epizentrum in der Mitte.<br />

Hilfreiche Hände gießen sie unermüdlich über fast<br />

nackte Körper, zu <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Menschen-<br />

knäuel zusammengepresst. Die an der Kordel<br />

vollbringen jene fast übermenschliche Leistung<br />

<strong>und</strong> ziehen die Berlinda an <strong>ein</strong>er unterarmdicken<br />

Kordel über die ganzen 4,6 km, von der Matriz bis<br />

zur Basílica de Nazaré.<br />

„Wie winzig sie ist!“ So winzig <strong>und</strong> so mächtig! Die<br />

kl<strong>ein</strong>e Heiligenfigur der „Nossa Senhora de<br />

Nazaré“, unserer Herrin aus Nazareth, Maria, die<br />

Gottesmutter, bewegt <strong>ein</strong>mal pro Jahr, am ersten<br />

Sonntag im Oktober, in <strong>ein</strong>er Prozession zu ihren<br />

Ehren alles, was hier im Norden, B<strong>ein</strong>e oder Füße<br />

hat oder sich sonst wie fortbewegen kann. Der<br />

„Círio“ ist das wohl wichtigste <strong>und</strong> größte religiöse<br />

<strong>und</strong> auch profane Fest im Norden Brasiliens. Alles<br />

an diesen drei Tagen Festlichkeiten sprengt die<br />

fassbaren Dimensionen. Es ist <strong>ein</strong> Fest der<br />

Superlative, gleichzeitig religiös <strong>und</strong> profan,<br />

volkstümlich, urwüchsig <strong>und</strong> r<strong>ein</strong>, überbordend,<br />

<strong>ein</strong>e Kirmes, <strong>ein</strong> Kommerz, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger<br />

Überschwang.<br />

Bei fast 40 Grad <strong>und</strong> extrem hoher Luftfeuchtigkeit<br />

zieht <strong>ein</strong> wuselnder, endloser, menschlicher Wurm<br />

an <strong>ein</strong>em 800 Meter langen, oberarmdicken Strick<br />

die Figur durch die Straßen von Belém am Delta<br />

des Amazonas. Fünfzehntausend sollen es s<strong>ein</strong>, die<br />

dieses Jahr <strong>ein</strong> Versprechen <strong>ein</strong>lösen oder<br />

Danksagen <strong>und</strong> das mit <strong>ein</strong>em Gang an der Kordel<br />

der Madonna vergelten. Es sollen in der Mehrzahl<br />

Männer s<strong>ein</strong>, aber auch <strong>ein</strong>zelne Frauen<br />

widerstehen den tropischfeuchten Graden <strong>und</strong><br />

geben sich der kollektiven, barfüßigen Hysterie<br />

hin, im Nachhin<strong>ein</strong> mit leuchtenden Augen als<br />

läuternde, kompensierende Erfahrung<br />

beschrieben.<br />

Wieder <strong>und</strong> wieder flutet die Musik her- <strong>und</strong><br />

hinüber. Die mächtige Bank hinter uns hat <strong>ein</strong>en<br />

der singenden Padres verpflichtet. S<strong>ein</strong><br />

wohlklingender Bass preist Maria <strong>und</strong> schon geht<br />

da auch der schillernde Papierschnitzelregen<br />

über die unübersehbare Menge nieder. Auch das<br />

<strong>ein</strong> Gruß an die winzige, hochverehrte<br />

Heiligenfigur der „Nossa Senhora de Nazaré“,<br />

unserer Herrin aus Nazareth, Maria, die<br />

Gottesmutter. Immer wieder fixieren die Augen<br />

<strong>ein</strong>e mitgetragene Votivgabe. Da hat sich <strong>ein</strong>e<br />

Frau <strong>ein</strong>en Spielzeugkl<strong>ein</strong>laster auf den Kopf<br />

gestellt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e andere trägt das <strong>ein</strong>fache<br />

Modell <strong>ein</strong>es Hauses, blau, die Nummer 10 weiß<br />

aufgepinselt auf der Schulter. Alles mit der<br />

göttlichen Hilfe der Heiligen erreicht. Wächsern<br />

<strong>und</strong> bleich erhebt sich <strong>ein</strong> B<strong>ein</strong> über die Menge.<br />

Der Brauch der „Promessas“, der Gelübde, ist<br />

allgegenwärtig. Wer möchte nicht <strong>ein</strong> Haus<br />

kaufen, <strong>ein</strong> Boot, oder von <strong>ein</strong>er Krankheit<br />

geheilt werden. Wird das Gelübde erhört, wird es<br />

am Círio „bezahlt“, <strong>ein</strong>gelöst. Entweder mit dem<br />

erschöpfenden <strong>und</strong> trotzdem im wahrsten Sinne<br />

des Wortes heiß umstrittenen Gang an der<br />

Kordel oder mit <strong>ein</strong>em Ex-Voto: <strong>ein</strong> selbst<br />

geschnitztes B<strong>ein</strong> für die Heilung <strong>ein</strong>es<br />

B<strong>ein</strong>bruchs, <strong>ein</strong> wächsernes Herz für geheilte<br />

körperliche oder seelische Beschwerden. Für die<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 645


wächsernen Gaben gibt es das Schiff der Gelübde,<br />

in dem alle Wachsfiguren gesammelt <strong>und</strong> später<br />

von den Padres, wie die Sage geht, in <strong>ein</strong>em<br />

ewigen Zyklus <strong>ein</strong>geschmolzen <strong>und</strong> am nächsten<br />

Círio als neue Ex-Votos wieder verkauft werden.<br />

Andere gehen <strong>ein</strong>en Teil des Weges auf den Knien<br />

oder versorgen die Inbrünstigen am Seil mit<br />

Wasser.<br />

Alles beginnt gleich am ersten Tag nach m<strong>ein</strong>er<br />

Ankunft. Wir schlendern über den „Ver-o-peso“,<br />

den legendären Markt, <strong>und</strong> lassen uns von den<br />

exotischen Köstlichkeiten, von den von der<br />

Feuchtigkeit tausendfach verstärkten Gerüchen<br />

<strong>und</strong> exotischen Geschmäckern berauschen. Wir<br />

beobachten den majestätischen Flug der<br />

„Urubus“, der allgegenwärtigen Aasgeier, die<br />

überall auf anfallende Happen lauern. Tauchen<br />

zwischen die magischen Baracken mit den<br />

Medizinal- <strong>und</strong> Heilpflanzen <strong>ein</strong>, wo man <strong>ein</strong>en<br />

Zauber kaufen könnte, der den Geliebten ganz<br />

fest an <strong>ein</strong>en bindet. Zum X-ten Mal schlängelt<br />

sich <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>es der vier oder fünf Versionen des<br />

Ave-Maria ins Ohr. Es ist die Begleitmusik des<br />

Festes, <strong>ein</strong>e ewige Schleife. Begleitet <strong>ein</strong>em durch<br />

die ganze Stadt, schallt aus allen allgegenwärtigen<br />

Lautsprechern in den unterschiedlichsten<br />

Variationen. Wird zwei, ja dreifach runtergespielt,<br />

manchmal sogar gleichzeitig, <strong>ein</strong>e irritierende,<br />

religiöse Kakofonie, haarscharf am Kitsch vorbei,<br />

aber doch herzer-greifend, irgendwie bewegend.<br />

Die fliegenden Händler verkaufen schon die<br />

Raubkopien der offiziellen CD. Auch die<br />

allgegenwärtigen T-Shirts, bedruckt mit dem<br />

diesjährigen offiziellen <strong>Foto</strong> der Heiligen, kann<br />

man an jeder Ecke kaufen.<br />

Später, hoch oben auf dem Platz mit dem Fort <strong>und</strong><br />

dem Casa das Onze Janelas zieht aber die<br />

großmächtige „Mangeira“, der Mangobaum gleich<br />

daneben, magisch m<strong>ein</strong>en Blick auf sich. Er ist<br />

über <strong>und</strong> über mit vielfarbigen Satinbändern<br />

behängt. Sie heben sich effektvoll vom dunklen<br />

Blattgrün ab <strong>und</strong> kräuseln <strong>und</strong> wellen sich leise in<br />

der ständigen Brise. Es sei das Werk <strong>ein</strong>er<br />

Ausländerin, <strong>ein</strong>er Künstlerin, die schon länger<br />

hier wohne. Sie hat ihn als Wunschbaum, als Ex-<br />

Votum-Baum kreiert. Hier kann jeder s<strong>ein</strong>e<br />

Wünsche, Träume, m<strong>ein</strong>en Dank für erhaltene<br />

Gnaden ausdrücken. Kann <strong>ein</strong> Band auswählen, sie<br />

darauf schreiben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er der Helfer knüpft es<br />

dann im Baum fest.<br />

Aber noch ist es nicht soweit. Das Fest ist noch<br />

jung <strong>und</strong> dauert drei Tage. Die winzige Statue der<br />

Nossa Senhora de Nazaré, normalerweise hoch<br />

oben in <strong>ein</strong>em Alkoven, ist schon Tage vor dem<br />

Círio von ihrem Platz heruntergestiegen <strong>und</strong> hat<br />

ihre Kirche verlassen. Sie ist überaus fleißig. In den<br />

Monaten vor dem Cirio reist sie unermüdlich<br />

durch den ganzen Staat bis weit ins Hinterland. Am<br />

Vortag wurde sie von <strong>ein</strong>er tiefgläubigen<br />

Motorradescorte feierlich nach Icoraçi gebracht,<br />

die kl<strong>ein</strong>e Hinterlandstadt, die quer über dem<br />

Amazonasdelta liegt.<br />

Am Tag vor der Hauptprozession kehrt sie per<br />

Schiff nach Belém zurück. Sie wird von vielen<br />

festlich geschmückten Booten empfangen. Eines<br />

nach dem anderen machen sich die Schiffe<br />

frühmorgens auf, alle, ob groß oder kl<strong>ein</strong>, gut<br />

ausgerüstet oder <strong>ein</strong>fache Fischerboote, sind<br />

festlich geschmückt <strong>und</strong> mit Lautsprechern<br />

bestückt: noch mehr Ave-Marias in der klassischen<br />

<strong>und</strong> in der Popversion. Alle havarieren<br />

gefährlich nah am Kitsch. Langsam formiert sich<br />

die Prozession der Boote, richtet sich zur<br />

militärischen Dreiecksform aus. Schau, da am<br />

Horizont! Tausende von Fingern zeigen auf den<br />

Punkt, erschreckt laufe ich auf die Gegenseite<br />

des – Gott sei Dank – großen Schiffes. Der<br />

Kapitän hat die Gefahr auch erkannt. Über<br />

Lautsprecher bittet er das gerührte Publikum,<br />

sich doch bitte nicht alle gleichzeitig auf derselben<br />

Schiffsseite zu versammeln. Das Schiff mit<br />

der Statue ist <strong>ein</strong> Kreuzer der Marine,<br />

schmucklos-hässlich in s<strong>ein</strong>em militärischen<br />

Tarngrau, die Kanone auf dem Vorderdeck im<br />

Anschlag. Wieder das Raunen, wieder die<br />

Schlagseite <strong>und</strong> da steht sie! Winzig kl<strong>ein</strong>,<br />

hochverehrt <strong>und</strong> heilig, streng bewacht von<br />

strammen Matrosen in blendenden Galauniformen!<br />

Zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.<br />

W<strong>ein</strong>en, Rührung, Rosenkränze werden gebetet.<br />

Alle stimmen in die ewig gleiche <strong>und</strong> immer<br />

wieder anrührende Festmusik <strong>ein</strong>. Auch ich bin<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 646


gerührt. Dann schrill <strong>und</strong> überraschend, Misstöne.<br />

Die Gläubigen wollen näher, noch näher an die<br />

Heiligenfigur heran! Der Kapitän widersteht den<br />

Schimpftiraden. Lässt sich zurufen, dass er vor der<br />

Heiligen fliehe! Das Gezeter wird immer emotioneller<br />

<strong>und</strong>… Der Kapitän erhört die Gläubigen<br />

<strong>und</strong> zieht das Schiff in elegantem Bogen so nah<br />

am Kreuzer vorbei, wie es die Marine in ihrer<br />

Majestät auch nur erlaubt. Ein bewegender<br />

Augenblick, feierlich, inbrünstig.<br />

Am Kai, wieder auf sicherem Gr<strong>und</strong>, empfangen<br />

uns inmitten der jubelnden Menge unzählige<br />

Spielzeugverkäufer, <strong>ein</strong>ige halbe Kinder, <strong>ein</strong>e<br />

andere Tradition des Círios. Bieten auf übermannshohen<br />

Doppelkreuzen aus federleichtem<br />

„Burití“, <strong>ein</strong>er Palmenart, traditionelles Spielzeug<br />

feil. Kunterbunt, naiv, w<strong>und</strong>erhübsch.<br />

Farbenprächtige Kanus <strong>und</strong> größere Schiffe,<br />

Vögel, die paarweise mit ihren Schnäbeln auf<br />

fiktives Futter <strong>ein</strong>hacken. Gürteltiere, die mit Kopf<br />

<strong>und</strong> Schwanz wackeln, wenn das Gewicht unter<br />

ihrem Bauch hin <strong>und</strong> her schaukelt. Wendigen<br />

Schlangen, grellbunte Wippen <strong>und</strong> das Karussell –<br />

Spielzeug aus <strong>ein</strong>er vergessenen, altmodischen<br />

Welt ohne Plastik. Es wird auf <strong>ein</strong>er Insel vor<br />

Belém von unzähligen Handwerkern von Hand aus<br />

der ultraleichten Palmfaser geschnitzt, das ganze<br />

Jahr über, <strong>und</strong> nur in den Tagen des Círios in den<br />

Straßen verkauft. Am Kai geht es gleich weiter mit<br />

der „Pavulagem“, der perfekten Mischung aus<br />

Heiligem <strong>und</strong> Profanem. Eine Art Kirmes, <strong>ein</strong><br />

Jahrmarkt, <strong>ein</strong> wahrhaftig populäres Volksfest.<br />

Heute Abend findet bei Kerzensch<strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />

singenden Padres die feierliche „Transladação“,<br />

die Überführung der Heiligenstatue von der<br />

Basílica de Nazaré zur Matriz statt.<br />

Und dann, dann ist es endlich soweit. Am Sonntag<br />

des Círio beginnt die Prozession mit <strong>ein</strong>er Messe in<br />

aller Herrgottsfrühe. Früh, sehr früh am Morgen,<br />

um der gröbsten Hitze <strong>und</strong> dem obligaten Regen,<br />

der normalerweise nachmittags fällt, zu entgehen.<br />

Der ganze riesige Platz vor der Matriz ist<br />

rappelvoll. Die Messe ist feierlich <strong>und</strong> dann geht,<br />

unter Böllerschüssen formiert sich der Umzug. An<br />

der Kordel drängen sie sich, baren Fußes. Die Stadt<br />

brodelt. Viele beziehen schon sehr früh ihre<br />

Logenplätze, st<strong>und</strong>enlanges Warten auf die<br />

Prozession gehört dazu. Andere gehen der<br />

Prozession entgegen, laufen <strong>ein</strong>e Abkürzung, um<br />

sie mehrmals zu sehen. Wir bekommen, <strong>ein</strong>e Hand<br />

wäscht die andere, unsere Plätze hoch oben auf<br />

<strong>ein</strong>er der vielen Tribünen.<br />

Unterdessen habe ich mir auch <strong>ein</strong>en der vielen<br />

Papierfächer besorgt, die praktischerweise auch<br />

gleich den Text der Ave Marias aufgedruckt haben.<br />

Heute ist die Musik live. Viele ausgebildete Sänger<br />

<strong>und</strong> Sängerinnen treten in <strong>ein</strong>e Art Wettstreit, von<br />

den gesponserten Tribünen auf beiden Seiten der<br />

Straße aus. Ihre Klasse <strong>und</strong> Inbrunst sch<strong>ein</strong>t die<br />

Kakofonie wettzumachen <strong>und</strong> weder die immer<br />

zahlreicheren Gläubigen noch die hochverehrte<br />

Heilige sch<strong>ein</strong>en sich daran zu stören. Schon ist die<br />

Spitze der Prozession in Sicht. Hälse recken sich,<br />

Gedränge, Getümmel, Emotion. Unter den Füßen<br />

der Pilger bildet sich <strong>ein</strong> knöcheltiefer Teppich<br />

aus Wasserflaschen, Girlanden <strong>und</strong> anderem<br />

Abfall. Auch das sch<strong>ein</strong>t k<strong>ein</strong>en zu stören. Viele<br />

Gläubige waten mit bloßen Füßen durch ihn<br />

hindurch, die verzückten Augen auf die Kordel<br />

gerichtet. Später kommen alle Familien, die<br />

Nachbarn, die Fre<strong>und</strong>e zusammen <strong>und</strong> essen<br />

„Pato no Tucupí’“, Ente in Tucupí, das<br />

traditionelle Festessen, wohl <strong>ein</strong>es der<br />

ursprünglichsten <strong>und</strong> unverwechselbarsten Essen<br />

Brasiliens.<br />

Was als Erinnerung bleibt, ist die Unbekümmertheit,<br />

die Echtheit, die kräftigen Farben <strong>ein</strong>es<br />

Volksfestes, <strong>und</strong> der Respekt für <strong>ein</strong>e unverfälschte,<br />

pure Gläubigkeit, die, so glaube ich,<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich wirklich Berge versetzen kann.<br />

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Nicht mal der Parkplatz der Pfarrei bleibt verschont<br />

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Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates<br />

Die improvisierten Brücken, die<br />

schwindelerregend <strong>und</strong> ohne Geländer über die<br />

Wasser führen, Wasser, die ich zuerst für Bäche<br />

halte, die aber in Wirklichkeit Abwasserkloaken<br />

sind, sch<strong>ein</strong>en mir auf den ersten Blick<br />

romantisch. Die je nach Regenmengen mehr oder<br />

weniger verdünnten Ausdünstungen steigen mir<br />

der Klimaanlage wegen nur mit Verzögerung in<br />

die Nase. Auch die leuchtenden Blautöne der<br />

Bretterbuden, alle auf Stelzen, jeder<br />

Quadratmeter den Wassern abgerungen,<br />

abgetrotzter günstiger Wohnraum, kontrastieren<br />

gegen die blendenden Schönwetterwolkengebirge.<br />

Die strahlenden Blaus sollen Mücken<br />

fernhalten <strong>und</strong> gleichzeitig Glück bringen.<br />

oder weniger Erfolg aufrecht. Festgezurrte Füße<br />

holen ungelenk Anlauf zu <strong>ein</strong> paar R<strong>und</strong>en. Knie-,<br />

Ellbogen- <strong>und</strong> Kinnschutz waren im Kit nicht<br />

inbegriffen. Immer wieder halten wir im Kollektiv<br />

den Atem an. Schauen, zu Tode erschrocken, feige<br />

weg, wenn noch jemand hinzufallen droht.<br />

Erstaunlicherweise passiert wenig.<br />

Nur die Frage, ob es nicht „sinnvollere“<br />

Weihnachtsgeschenke für <strong>ein</strong> Favelakind gäbe,<br />

verpufft, wird, zu europäisch, von der<br />

freuchtschweren regenschwangeren Luft <strong>ein</strong>fach<br />

verschlungen.<br />

Weiß nicht so genau wie, aber wir fahren an <strong>ein</strong><br />

paar lokalen Favelas vorbei. Der Stadtteil, der<br />

gerade als schick gilt, liegt gleich um die Ecke.<br />

Und dann sind plötzlich alle gefordert. Der Fahrer<br />

beugt sich konzentriert über das Steuer. Einzeln,<br />

zu mehren oder gar in ganzen Schwärmen gleiten<br />

immer wieder kl<strong>ein</strong>ere <strong>und</strong> größere Kinder über<br />

der Fahrbahn. Es ist kurz nach Weihnachten.<br />

Wie’s sch<strong>ein</strong>t, haben sie alle das gleiche<br />

Weihnachtsgeschenk erhalten: Inline-Skates. Da<br />

die Straße sowieso ihr Spielplatz ist <strong>und</strong> es auf<br />

Asphalt noch schöner rollt, wagt sich groß <strong>und</strong><br />

kl<strong>ein</strong> auf die Rädchen. Arme rudern, <strong>ein</strong>geknickte<br />

Knöchel werden immer wieder durchgedrückt.<br />

Schmale Körper balancieren, halten sich mit mehr<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 653


Im Hinterhof<br />

In jenen verlotterten, vergessenen Häusern der<br />

Altstadt, jenen, die noch Türklopfer haben,<br />

grünspanige Händchens mit gerüschter<br />

Manschette, soll es sie noch geben. Einem wie<br />

dieses hier: Die Hausfront direkt an den mit<br />

riesigen rechteckigen Kalkst<strong>ein</strong>platten<br />

gepflasterten Bürgersteig gebaut, der<br />

abblätternde Verputz, <strong>ein</strong> fahles Rosa. So dünn<br />

aufgetragen, das sich an vielen Stellen ältere<br />

Farbanstriche, wieder Geltung verschaffen, <strong>ein</strong><br />

bleiches Türkis-Hellblau, gar <strong>ein</strong> kräftiges Ocker.<br />

Starke Läden verbarrikadieren die doppelten<br />

Fenster, oben Glas, unten Venezianas. Die<br />

Haustür ewig hoch. Schließt mit <strong>ein</strong>em<br />

geschwungenen Gitter, unverglast, ab. Öffnete sie<br />

sich unerwartet, <strong>ein</strong> H<strong>und</strong> will Gassi gehen, all<strong>ein</strong><br />

natürlich, <strong>ein</strong> Bewohner Zigaretten kaufen, gäbe<br />

es, wer weiß, ganz hinten, da wo der Korridor<br />

endet, <strong>ein</strong>en jener kühlen, funktionellen<br />

Hinterhöfe. Kl<strong>ein</strong>e, nostalgische Oasen inmitten<br />

<strong>ein</strong>er pulsierenden Stadt. Schmucklos, die Erde<br />

festgestampft, purer Sand, jeden Tag aufs Neue<br />

mit dem metallenem Rechen, ihm fehlt der dritte<br />

Zahn von Rechts, p<strong>ein</strong>lich gesäubert. K<strong>ein</strong> Blatt<br />

des <strong>ein</strong>zigen Baumes übersehen. Er steht ganz<br />

hinten, Mango oder Avocado, gar <strong>ein</strong>e Caneleira,<br />

<strong>ein</strong> Zimtbaum. In s<strong>ein</strong>em Schatten kann man sich<br />

in der Hängematte in <strong>ein</strong>en kräfterestaurierenden<br />

Mittagsschlaf schaukeln, gleich neben der<br />

st<strong>ein</strong>ernen Bank. Sie lädt zum Meditieren über die<br />

Mäander des Lebens <strong>ein</strong>. Ermöglicht es, vor den<br />

größten Hitzen, die das Gehirn erweichen <strong>und</strong> den<br />

Körper dumpf <strong>und</strong> die Bewegungen schläfrig<br />

machen, zu flüchten.<br />

Ästhetik jeglicher Art ist der Natur solcher<br />

Hinterhöfen völlig fremd. Sie kultivieren die<br />

Zufälligkeit, das Ländlich-Rustikale. Auch das Grün<br />

gedeiht von Ungefähr. Spontan, eher verschont als<br />

gepflanzt, übersehen, wie so vieles hier. K<strong>ein</strong>er will<br />

in s<strong>ein</strong>em Hof <strong>ein</strong>en jener geometrischen Parks,<br />

<strong>ein</strong>en Garten gar, die nur den Konventionen<br />

genügen, zum Herzeigen dienen. Die überlässt<br />

man den öffentlichen Organen oder kultiviert sie<br />

im zubetonierten Eingangsbereich des Hauses, wo<br />

die wenigen Töpfe <strong>und</strong> Zierpflanzen hinter Gittern<br />

gefangenen sind.<br />

In der gleichgültigen Öde des Hinterhofs, <strong>ein</strong><br />

Anhängsel des Hauses nur, gar <strong>ein</strong> später dazu<br />

gekauftes, umfunktioniertes leerstehendes<br />

Gr<strong>und</strong>stück, macht jeder, was <strong>und</strong> wie er will <strong>und</strong><br />

sei es nur dazu da, sich <strong>ein</strong> paar Hühner <strong>und</strong> zwei<br />

oder drei Enten, zukünftige Festtagsbraten zu<br />

halten. Andere treffen hier ihre Fre<strong>und</strong>e. Jeder<br />

schaukelt in s<strong>ein</strong>em plastikbeschnürten<br />

Schaukelstuhl, allgegenwärtig in allen Hinterhöfen<br />

Brasiliens. Auf die Kinder wartet <strong>ein</strong>e Wippe.<br />

Immer ist <strong>ein</strong>er da, sie anzustoßen, hoch <strong>und</strong><br />

höher, ganz hoch, hoch in die immergrünen<br />

Blätterdecken.<br />

<strong>und</strong><br />

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Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro<br />

Die kl<strong>ein</strong>e Kirche, sie schließt den schmucklos<br />

nackten Platz ab, ist weder kunstfertig noch <strong>ein</strong><br />

wichtiges Baudenkmal. Sie erinnert mit ihren zwei<br />

quadratischen Türmen, die das schmale<br />

Mittelschiff fast erdrücken, <strong>ein</strong> wenig an <strong>ein</strong>e<br />

Theaterkulisse, lieblos vor irgend<strong>ein</strong>en Block, <strong>ein</strong><br />

schon bestehendes Gebäude, geklebt. Eine Kirche<br />

wie viele ähnliche in ähnlich gesichtslosen<br />

Städtchen irgendwo im weiten amazonischen<br />

Hinterland. Sie ist gut erhalten, aber schlecht<br />

restauriert. Den hiesigen Padres fehlt es leider<br />

manchmal an Sensibilität im Umgang mit<br />

historischem Baugut. Und von den lokalen<br />

Maurern kann man nicht verlangen, als dass sie<br />

mehr können, als mehr oder weniger geschickt<br />

den Verputz erneuern <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Schicht<br />

Farbe über drei alte pinseln. Die Renovation, die<br />

die Kirche eigentlich “verschönern” sollte, folgt<br />

dabei oft dem eigenen zweifelhaften Geschmack<br />

<strong>und</strong> den noch zweifelhafteren Empfehlungen des<br />

Padres <strong>und</strong> der Kirchgem<strong>ein</strong>de.<br />

Trotzdem trete ich <strong>ein</strong>. Die antike Heiligenstatue<br />

fasziniert mich auf den ersten Blick. Es handelt<br />

sich um die lokale Schutzheilige, <strong>ein</strong>e Holzfigur<br />

der „Nossa Senhora de O“, - „unserer Heiligen<br />

Mutter von O“. Sie nimmt mich total gefangen.<br />

Eine eiserne Tafel belehrt mich, dass das „O“<br />

gleichzeitig das Unendliche verkörpere, aber auch<br />

die gebenedeite Frucht, die im hoch in ihrem<br />

angeschwollen, höchst schwangeren Leibe<br />

heranwächst. Will man dem nach innen<br />

gerichteten Blick <strong>und</strong> dem verhaltenen Lächeln<br />

glauben, so ist unsere abgeklärte Madonna<br />

innerlich schon bereit, das Kind zu gebären, bald,<br />

bald schon.<br />

Muss mir <strong>ein</strong>gestehen, dass dies m<strong>ein</strong>e erste<br />

Madonna ist, die sich so sichtbar, so bekennend<br />

<strong>und</strong> glücklich schwanger zeigt. Eine w<strong>und</strong>erbar<br />

plastische Figur, irden, volksnah, w<strong>und</strong>ersam<br />

greifbar. Schau, da steigt sie schon, nicht ohne<br />

Mühe <strong>und</strong> durch die fortgeschrittene<br />

Schwangerschaft etwas schwerfällig geworden,<br />

von ihrem Piedestal herunter! Mit <strong>ein</strong>er Hand<br />

stützt sie den schmerzenden Rücken, die Füße<br />

sind, um das verlagerte Gewicht besser<br />

ausgleichen zu können, leicht nach außen<br />

gewendet. Mischt sich, etwas kurzatmig <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong> wenig erschöpft, sogleich unters Volk,<br />

verschwindet schon im garagenartigen Bauch der<br />

Markthalle zu ihrer Linken. Versucht hier mit leicht<br />

resignierter Geste <strong>ein</strong>e Handvoll „Farinha d´água“,<br />

n<strong>ein</strong>, dieses ist zu grob, kauft von dem hier, dem<br />

f<strong>ein</strong>eren, nur leicht gekörnten <strong>und</strong> frischknackigen.<br />

Dann soll´s noch <strong>ein</strong> Schäufelchen vom<br />

leuchtend roten „Colorau“ s<strong>ein</strong>, f<strong>ein</strong> zermahlen,<br />

um dem Huhn etwas Farbe zu geben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en<br />

guten Fisch, ja, der hier. Er wird zusammen mit<br />

den klassischen Kräutern <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />

Pfefferfrüchtchen in <strong>ein</strong> frisches Bananenblatt<br />

<strong>ein</strong>geschlagen. Wieder draußen setzt sie sich,<br />

gleich vor der Markthalle, auf dem Hauptplatz an<br />

<strong>ein</strong>en der kl<strong>ein</strong>en Tische der „Tapioqueiras“, <strong>und</strong><br />

bestellt, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Stärkung tut Not, <strong>ein</strong>e<br />

„Tapioquinha“, <strong>ein</strong>e Art Pfannkuchen, leicht <strong>und</strong><br />

ausgesprochen lecker, dick mit frisch geriebenen,<br />

groben Kokosflocken bestreut, die nach kurzer<br />

Wartezeit auf <strong>ein</strong>em zurechtgeschnittenen<br />

Bananenblatt serviert wird.<br />

Ich bestelle das selbe. Sitze am Nebentisch <strong>und</strong><br />

genieße aufs Neue jenen Wohlgeschmack, den<br />

ich vor Jahren schon kennen lernte <strong>und</strong> der <strong>ein</strong>er<br />

der Gründe war, warum ich zurückgekehrt bin.<br />

Eine kulinarische Entdeckung, <strong>ein</strong>e Offenbarung.<br />

Der erste Bissen bestätigt mir mal wieder, dass<br />

es bis jetzt noch niemandem gelungen ist,<br />

leichtere „Tapiocas“ oder schmackhafteres<br />

„Cuscus“, (Maiscuscus, wird mit Milch <strong>und</strong><br />

Kokosflocken gegessen) zuzubereiten!<br />

Aber leider ist heute alles <strong>ein</strong> wenig anders. Auch<br />

hier steht die Zeit nicht still. 1972 wurde die<br />

unendlich lange Brücke gebaut, die den Archipel<br />

Mosqueiro, der sich aus 35 auf ca. 220 km²<br />

verteilten Inseln zusammensetzt, mit der großen<br />

Stadt Belém verbindet. Hier leben normalerweise<br />

r<strong>und</strong> 30.000 Personen. Während der Ferienzeit<br />

erhöht sich die Zahl bis auf 400.000 Seelen,<br />

besonders jetzt, wo der Zugang, er war früher<br />

nur per Schiff möglich, ganz leicht ist <strong>und</strong> der Bus<br />

zum Lokaltarif fährt. So kommen nun, neben den<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 660


traditionellen Sommergästen auch andere, wie<br />

die, die man hier nicht eben fre<strong>und</strong>lich<br />

„Farofeiros“ nennt, was sich so etwa mit<br />

Eintagestouristen übersetzten lässt. Die bringen,<br />

die Ökonomien sind knapp, Restaurants sind im<br />

schmalen Budget nicht vorgesehen, ihr Essen,<br />

eben die „Farofa“, auch gleich selber mit. So ist<br />

nun der elitäre verschlafene Sommerkurort der<br />

lokalen Reichen zu <strong>ein</strong>er Stadt wie viele andere im<br />

Landesinnern geworden, modern <strong>und</strong> etwas<br />

gesichtslos. Auch die berühmten Tapioqueiras<br />

wurden von den Neuerungen nicht verschont <strong>und</strong><br />

bekamen von der Stadtregierung Einheitsstände<br />

verpasst, sodass sie sich nur noch durch die<br />

Namensschilder der Köchinnen unterscheiden.<br />

Die andere Errungenschaft ist, dass es heute an<br />

den traditionellerweise von Frauen betriebenen<br />

Ständen auch Männer gibt, die die Hände in die<br />

weißen vorbereiteten Massen, die „Goma“<br />

versenken, das Feuer unter der Pfanne regulieren,<br />

den fertig gebratenen <strong>und</strong> gewendeten<br />

Pfannkuchen mit Kokosmilch tränken. Die<br />

Veränderung kann nur zwei Ursachen haben.<br />

Entweder wirft der kl<strong>ein</strong>e Kommerz soviel ab,<br />

dass auch <strong>ein</strong>e Familie davon leben kann, oder die<br />

Armut <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit ist so groß, dass auch<br />

Männer diese Jobs akzeptieren müssen.<br />

Wie auch immer – die Tapiocas verdanken wir der<br />

indigenen Bevölkerung die schon vor ca. 12.000<br />

Jahren, lange vor der Ankunft der Portugiesen,<br />

hier in dieser Region des Amazonas lebten. Hier<br />

auf Mosqueiro lebte der Stamm der Tuinambás,<br />

deren Kultur sich durch ihr Nähe zur Natur<br />

auszeichnete. Als sich dann die Portugiesen das<br />

Land untertan machten <strong>und</strong> ihren „Besitz“ via<br />

„Seismarias“ (Schenkung <strong>ein</strong>es Gr<strong>und</strong>stückes<br />

durch die Krone) absicherten, siedelte sich hier am<br />

06. Dezember 1746 als <strong>ein</strong>er der Ersten <strong>ein</strong> Padre<br />

Antônio da Silva an. S<strong>ein</strong>e Nachkommen bauten<br />

den Besitz mit Hilfe afrikanischer Sklaven zu <strong>ein</strong>em<br />

florierenden Bauerngut aus. 1886 erfolgte dann<br />

die Gründung der Stadt Mosqueiro, die<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelang bis zur Belle Époque <strong>ein</strong><br />

ländliches Das<strong>ein</strong> fristete <strong>und</strong> von der Produktion<br />

von Lebensmitteln für die Stadt Belém lebte.<br />

Am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden die Inseln<br />

<strong>und</strong> Mosqueiro mit ihren dunklen Sandstränden<br />

von jenen Ausländern entdeckt, die der<br />

Kautschukboom <strong>und</strong> andere Güter hierhergelockt<br />

hatten. Ihnen gefielen die lang gezogenen<br />

Flussstände, die mit ihrem zwar trüben, aber<br />

süßen Wasser ideal für stille, stilvolle<br />

Sommerfrischen waren. Bald hatten die Lochards,<br />

Ponteds, Smiths, Uptons, Kaulfuss <strong>und</strong> Arouchs,<br />

die im Privatboot ankamen, an privaten<br />

Bootsstegen landeten, hier alle ihr Wochenendhaus,<br />

fern der Stadt <strong>und</strong> brachten damit <strong>ein</strong> Stück<br />

Europa in den Amazonas. Bald folgten ihnen die<br />

vermögenderen Familien Beléms <strong>und</strong> nach kurzer<br />

Zeit besiedelten immer mehr Chalés <strong>und</strong><br />

Bungalows den Sommerkurort. Die schmucken<br />

Häuschen <strong>und</strong> Bungalows aus lokalem Acapú<br />

holz wurden fast alle im eklektischen <strong>und</strong><br />

modernistischen Stil gebaut. Inspirieren sich an<br />

den Chalés der Schweizer Alpen oder des<br />

Schwarzwaldes, den sie kunstvoll in tausenderlei<br />

Varianten variieren. Typisch ist das reich<br />

geschnitzte Filigran im besten Zuckerbäckerstil,<br />

gar dem Hexenhaus von Hänsel <strong>und</strong> Gretel<br />

abgeschaut. Dazu kommen verschnörkelte<br />

Veranden, Balkönchen, Treppenaufgänge,<br />

Nischen <strong>und</strong> Vorsprünge, Girlanden, hölzernes<br />

Zierwerk <strong>und</strong> viele <strong>und</strong> noch mehr Ornamente,<br />

immer dekorativ verspielt, zierlich gearbeitet,<br />

Zierart, angemalt in markanten Farben, wie es<br />

die Mode der amazonischen Belle Époque wollte.<br />

Die schmucken Sommerhäuschen erhielten die<br />

passenden Namen: „Sissi“ oder „Villa Flora.<br />

Heute trifft man nur noch das <strong>ein</strong>e oder andere<br />

Haus in gutem Zustand. Die meisten sind<br />

dekadent <strong>und</strong> verlassen, die Bemalung splittert<br />

<strong>und</strong> von innen nagen die Termiten – lange schon<br />

ist her, seit Mosqueiro als schick galt. Heute zieht<br />

die lokale Elite die weitläufigen Strände des<br />

Ozeans in Salinas vor, <strong>ein</strong> paar Autost<strong>und</strong>en nur,<br />

um Sommerfrischen zu verbringen oder <strong>ein</strong><br />

Wochenende.<br />

Schau, sie ist aufgestanden! Gerne begleite ich<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 661


m<strong>ein</strong>e Madonna noch <strong>ein</strong> Stück. Fast hätte ich ihr<br />

den Arm gereicht. Höre aus ihrem etwas kurzem<br />

Atem die leichte Müdigkeit <strong>und</strong> Anstrengung des<br />

Wartens auf die Geburt heraus. Begleite sie bis an<br />

den Strand hinunter, da wo sich <strong>ein</strong> vergessenes<br />

Stück gepflasterter Strandpromenade <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

endlos lange Kaimauer mit weißen Säulen dem<br />

Wasser entlang zieht. Wie viele bleiche <strong>und</strong> zarte<br />

Frauen haben hier wohl etwas Kühlung <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

frische Brise gesucht? Sind hier, beschattet von<br />

ihren kostbaren Sonnenschirmen, die gepflegten<br />

Hände in elegant gehäckelten Spitzenhandschuhen<br />

spazieren gegangen. Fächelten sich<br />

erschöpft mit duftenden, rüschenbesetzten<br />

Fächern zwischen der <strong>ein</strong>en Laterne <strong>und</strong> der<br />

nächsten die Illusion <strong>ein</strong>er frischen Brise zu.<br />

Die Madonna? N<strong>ein</strong>, sie war nicht nur <strong>ein</strong><br />

nostalgischer Traum. Da! Schau! Das schwindende<br />

Licht schneidet ihre Silhouette aus dem schnell<br />

dunkler werdenden Himmel heraus. Hochschwanger,<br />

im Profil hebt sie sich vom Horizont ab. R<strong>und</strong><br />

wölbt sich der gesegnete Leib.<br />

Auf der Rückfahrt stoppen wir bei der<br />

„Fazendinha“, <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Laden. Da gibt‘s <strong>ein</strong>e<br />

andere Köstlichkeit aus vergangenen Zeiten:<br />

„Qualhada“, Sauermilch, ganz modern in <strong>ein</strong>er<br />

Einliter PET-Flasche verkauft. Sie ist cremig <strong>und</strong><br />

hat gerade die richtige Säure. M<strong>ein</strong>er Heiligen<br />

hätte sie wohl auch geschmeckt. Sie schließt<br />

gerade beim Kosten genießerisch die Augen, die<br />

<strong>ein</strong>e Hand auf dem hohen Leib.<br />

Ja, zu dieser Zeit stand auch der Leuchtturm noch,<br />

strategisch an der Spitze der Insel positioniert.<br />

Heute legt nur noch das herrschaftliche Hotel<br />

„Farol“ Zeugnis davon ab. Es hält Stand, fast<br />

unberührt, nur die originale Möblierung aus<br />

dunklem, fast schwarzem Holz, das dunkle<br />

Getäfer wurde um <strong>ein</strong> paar Plastikstühle <strong>und</strong><br />

Plastiktischtücher ergänzt. Eine überraschend<br />

wilde Stilmischung aus Schwarzwald <strong>und</strong><br />

Alpensanatorium, noch <strong>ein</strong> Hochalpenhotel im<br />

eklektischen Stil aus der vorletzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende, das sozusagen über Nacht in<br />

den Tropen wieder erwachte.<br />

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Manaus<br />

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Manaus<br />

Dass es auch <strong>ein</strong> schickes, <strong>ein</strong> hochmodernes<br />

<strong>Amazonien</strong> gibt, wird mir an der “Ponta Negra”,<br />

Manaus “Miami”, endgültig klar. Wenn die<br />

bräunlichen Wasser des Rio Negros nicht wären,<br />

wähnte ich mich in irgend<strong>ein</strong>em Luxushafen an<br />

der Cote d’Azur. Eine schnittige Jacht dümpelt<br />

neben der anderen. Als ich dann aber sozusagen<br />

die Seite wechsle, nicht schon wieder in Taxi rufen<br />

will, <strong>und</strong> auf dem öffentlichen Bus bestehe, muss<br />

ich m<strong>ein</strong>e Ungeduld zügeln. Der nächste fährt erst<br />

in <strong>ein</strong>er halben St<strong>und</strong>e. Und gegen den Regen<br />

gibt’s auch k<strong>ein</strong>en Unterstand. – Manaus<br />

verleugnet s<strong>ein</strong>e Zwitterhaftigkeit nicht.<br />

Auf der <strong>ein</strong>en Seite die in den letzten zehn Jahren<br />

wie Pilze aus dem tropen-feuchten Boden<br />

geschossenen Shoppingcenters, runter gekühlte,<br />

hermetisch in sich geschlossene Welten, in denen<br />

man für <strong>ein</strong> paar St<strong>und</strong>en alles vergessen kann<br />

<strong>und</strong> ungeniert konsumieren darf, auf der anderen<br />

Seite der absolut chaotische Verkehr, dem<br />

k<strong>ein</strong>erlei Stadtplaner Herr zu werden sch<strong>ein</strong>t.<br />

Manaus ist <strong>ein</strong>e Freihandelszone <strong>und</strong> profitiert<br />

wie k<strong>ein</strong>e andere nördliche Stadt von den<br />

großzügigen staatlichen Subventionen, die der<br />

Stadt aber auch <strong>ein</strong>e spürbare Dynamik bringen.<br />

Die an Miami inspirierte Ponta Negra<br />

kontrastieren mit armen Stadtvierteln <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em<br />

Zentrum, dem noch viel fehlt, um zum Postkartenmotiv<br />

zu werden. Aber Manaus ist auf<br />

dem richtigen Weg. Der Komplex um die zentrale<br />

Markthalle, aus England importierte Eisenkonstruktionen<br />

<strong>und</strong> andere repräsentative<br />

Bauten sind – endlich! - brandneu <strong>und</strong> kompetent<br />

restauriert.<br />

Manaus, der Name der Stadt erinnert an die<br />

indigenen Manaós, die hier schon vor der<br />

portugiesischen Besitznahme siedelten, 1669 als<br />

Fort, als letzter Vorposten in der Wildnis des<br />

Tropenwaldes, <strong>ein</strong>e Art Tor zum restlichen<br />

amazonischen Hinterland gegründet, hat damit<br />

auch s<strong>ein</strong>en Platz in der bewegten Geschichte.<br />

Alles begann mit der Notwendigkeit, die Präsenz<br />

der Portugiesen in diesem abgelegenen Stück<br />

Brasilien zu garantieren <strong>und</strong> gleichzeitig die<br />

Schätze der Region auszubeuten. Konsequenterweise<br />

wurde hier 1755 die Capitania de São José<br />

do Rio Negro gegründet. 1848 wurde Manaus zur<br />

Stadt <strong>und</strong> zur Kapitale des Staates Amazonas<br />

erklärt <strong>und</strong> macht sich bereit zur ersten Hochblüte,<br />

finanziert vom Kautschuk. Das heutige<br />

Manaus erinnert wieder an die kosmopolitische<br />

Metropole, die es schon zur Zeit des Kautschuks<br />

war, etwas moderner zwar <strong>und</strong> weniger<br />

glamourös, aber mit Drive.<br />

Als der Kautschuk von der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts an die Ökonomie finanzierte, fehlte<br />

es Manaus an nichts. Basierend auf den selben<br />

hygienistischen Ideen, die in ganz Brasilien Furore<br />

machten, baute man hier die Stadt um. Legte<br />

breite Straßen an, schachbrettartig funktionell,<br />

für die man ganze Hügel <strong>ein</strong>fach abtrug,<br />

versetzte, Wasserläufe trocken legte oder zum<br />

Verschwinden brachte. Es galt der so<br />

dominierende Natur etwas Urbanes<br />

entgegenzusetzen. Mit dem reichlich fließenden<br />

Geld des Kautschuks wurden Abwassersysteme,<br />

Straßenbeleuchtung <strong>und</strong> Straßenbeläge, <strong>ein</strong>ige<br />

auch aus Katuschuk, finanziert. Fortschritte, auf<br />

die das restliche Brasilien mit leuchtenden Augen<br />

schaute. Die ersten Trambahnen begannen zu<br />

zirkulieren <strong>und</strong> Manaus bekam <strong>ein</strong>en Telegrafen,<br />

der die Kommunikation mit der Welt erlaubte.<br />

Der Kautschuk wurde an internationalen Börsen<br />

gehandelt, die Stadt wurde so quase über Nacht<br />

in die Moderne <strong>und</strong> den Luxus katapultiert.<br />

Saus <strong>und</strong> Braus allerdings dauerten nur kurze Zeit<br />

<strong>und</strong> der Niedergang war umso brutaler. Ein<br />

langer <strong>und</strong> brutaler Abstieg begann <strong>und</strong> nur ab<br />

1960 wurde Manaus von der Militärdiktatur aus<br />

s<strong>ein</strong>em Dornröschenschlaf geweckt, die “Zona<br />

Franca”, <strong>ein</strong>e Freihandelszohne wurde instaliert,<br />

auch sie unter dem Motto “integrar para não<br />

entregar”, den Amazonas ins restliche Land<br />

integrieren, um ihn nicht zu verlieren. Damit<br />

wurden Arbeitsplätze geschaffen <strong>und</strong><br />

Industriebetriebe gebaut, angezogen von den<br />

vielen Vorteilen, die ihnen hier gewährt wurde.<br />

Schon mehr als zwei Mal großzügig verlängert,<br />

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Ein Ende ist erst für 2073 vorgesehen, löst die<br />

Freihandelszone das Problem der aus allen Fugen<br />

berstenden Stadt nicht. Auch hier in Manaus<br />

sucht man nach gangbaren Lösungen für den<br />

Amazonas <strong>und</strong> nach Antworten auf die Frage, wie<br />

der Tropenwald nachhaltig genutzt werden<br />

könnte, ohne abgeholzt zu werden <strong>und</strong> was dabei<br />

mit s<strong>ein</strong>en Bewohnern passieren solle.<br />

Das Zauberwort heißt Biotechnologie. Es ist im<br />

M<strong>und</strong> all derer, die weiter denken. Unter<br />

Biotechnologie versteht man, ziemlich ver<strong>ein</strong>facht<br />

ausgedrückt, sowas wie das Knacken weiterer<br />

Geheimnisse, die die Natur uns immer noch<br />

vorenthält. Natur, <strong>ein</strong>mal mehr der riesiggroße<br />

Tropenwald, soll mit dem durchaus praktischen<br />

Ziel soweit erforscht werden, die daraus<br />

gewonnen Elemente <strong>und</strong> Erkenntnisse in<br />

praktisch Anwendbares, Nützliches für die<br />

Industrie umwandeln lassen. Das erfordert<br />

kompetente Gehirne <strong>und</strong> Forscher, die erst noch<br />

geformt werden müssen <strong>und</strong> Industrien, die es<br />

noch zu gründen gilt.<br />

Ein Ausweg <strong>und</strong> mögliche Zukunft für die<br />

tropischen Wälder <strong>und</strong> die Stadt hier? Oder<br />

<strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e noch raffinerierte Variante der<br />

Ausbeutung, die wir schon so gut kennen?<br />

sie,<br />

sammelt<br />

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Manaus große alte Lady, das Theater<br />

Sch<strong>ein</strong>t erst vor kurzem gewesen zu s<strong>ein</strong>, als wir<br />

uns hier <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erschönes Konzert anhörten.<br />

Die kl<strong>ein</strong>e Warteschlange, sie rührte sich nicht<br />

vom Fleck, hielten wir geduldig aus. Der Sitzplatz<br />

aus rotem Velours im Theater Amazon, dem<br />

Postkartenmotiv von Manaus, war gratis!<br />

Immer wenn ich zurückkomme, bew<strong>und</strong>ere ich<br />

diese alte Dame, Zeugin <strong>und</strong> Symbol der kurzen,<br />

glamourösen Hochblüte des Kautschuks. Es muss<br />

<strong>ein</strong>e unglaubliche Zeit gewesen s<strong>ein</strong>!<br />

Manaus, Tage <strong>und</strong> Tage den Amazonas hoch,<br />

wurde zwar 1669 gegründet, aber erst 1848 zur<br />

Stadt erklärt. Schon ab 1840 setzte hier der<br />

Kautschukboom <strong>ein</strong>. Manaus entwickelte sich<br />

bald zu <strong>ein</strong>em blühenden Umschlagplatz, zur<br />

wichtigen Sammel- <strong>und</strong> Lagerstation der<br />

Kautschukballen. In Reiseberichten kann man<br />

lesen, dass sie die ganze Stadt mit ihrem<br />

charakteristischen Duft imprägnierten. Manaus<br />

war <strong>ein</strong>e aufblühende Stadt im Urwald, in den<br />

tropigsten Tropen, <strong>ein</strong> Anachronismus in sich,<br />

aber auch <strong>ein</strong> Stück hart erkämpfter Zivilisation, in<br />

die man sich flüchten konnte, wenn das Leben<br />

draußen zu unwirtlich war. Man kann nachlesen,<br />

dass Manaus <strong>und</strong> Belém auf dem Höhepunkt des<br />

Kautschukbooms die modernsten, fortschrittlichsten<br />

<strong>und</strong> am meisten kommentierten<br />

Städte Brasiliens waren. Sie waren so modern <strong>und</strong><br />

fortschrittlich, dass sie von den ersten waren, die<br />

elektrisches Licht <strong>und</strong> Straßenbahnen<br />

installierten. Symbole des Fortschritts, noch<br />

symbolträchtiger <strong>und</strong> gewichtiger, wenn man<br />

bedenkt, dass Brasilien zu dieser Zeit <strong>ein</strong>e r<strong>ein</strong>e<br />

Agrarnation war. Gerade 70 Jahre vorher hatte die<br />

Öffnung der Häfen für befre<strong>und</strong>ete Nationen<br />

stattgef<strong>und</strong>en. Der portugiesische Kaiser Don João<br />

VI war 1808 vor den Truppen Napoleons in die<br />

Kolonie geflüchtet. Er brachte nicht nur <strong>ein</strong>e<br />

riesige Bibliothek mit sich, sondern errichtete in<br />

der bis dahin in allen Belangen von Portugal<br />

gegängelten <strong>und</strong> komplett abhängig gehaltene<br />

Kolonie die ersten Universitäten, <strong>ein</strong>e Presse <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>e Staatsbank, die Banco do Brasil.<br />

Der ganze Boom hatte s<strong>ein</strong>e Wurzeln in Europa.<br />

Die Industrielle Revolution funktionierte wie <strong>ein</strong>e<br />

Lokomotive, die den Fortschritt anheizte. Sie<br />

verlangte nach tausenderlei Neuendwicklungen,<br />

<strong>ein</strong>e davon Latex, Gummi. Es war Charles<br />

Goodyear gelungen, in <strong>ein</strong>em speziellen<br />

Vulkanisierungsverfahren den Gummireifen zu<br />

entwickeln, der nun die Gummiproduktion <strong>und</strong><br />

damit das ganze Amazonasbecken in den Blick der<br />

Welt rückte. Es ging Schlag auf Schlag. 1866 ging<br />

die Schifffahrt auf dem Amazonas in die Hände der<br />

Engländer <strong>und</strong> Amerikaner über. Die Nachfrage<br />

nach dem Rohprodukt Kautschuk, extrahiert mit<br />

primitivsten Methoden mitten aus dem<br />

Regenwald, explodierte. Wer auf Kautschuk setzte,<br />

konnte mit astronomischen Gewinnen rechnen.<br />

Das wirkte wie <strong>ein</strong> Magnet auf viele Immigranten,<br />

reiche <strong>und</strong> arme, Abenteurer, Ausländer <strong>und</strong><br />

Brasilianer. Nach 1877 emigrierten Millionen von<br />

„Nordestinos“, besonders aus Ceará im<br />

brasilianischen Nordosten in den Amazonas. Sie<br />

flohen vor den schrecklichen Dürren, unter denen<br />

ihr Staat immer wieder litt. Sie wurden vom<br />

riesigen Ungeheuer Tropenwald verschlungen,<br />

absorbiert - höchst willkommen als „Seringeirios“,<br />

Gummizapfer, <strong>ein</strong>e Art Unterh<strong>und</strong>e, auf der<br />

untersten Stufe der Produktionskette. In ihrer<br />

gep<strong>ein</strong>igten Heimat hatten sie außer ihrem Leben<br />

nicht viel zu verlieren.<br />

Zudem war Brasilien war gerade dabei, sich<br />

endgültig von der Sklaverei zu befreien. (Das<br />

Gesetz des „Lei do Vente livre“ datiert von 1871<br />

<strong>und</strong> das Ende der Sklaverei wurde endlich 1888<br />

mit dem Lei Áurea verkündet). So wurden diese<br />

Immigranten zu Kautschukarbeitern ohne jegliche<br />

Rechte. Extrativistische, vorindustrielle<br />

Sammlertätigkeit, unter Lebensgefahr ausgeübt,<br />

erwartete sie. Quellen bestätigen, dass das Leben<br />

<strong>ein</strong>es Gummiarbeiters oft gar noch schlimmer<br />

gewesen s<strong>ein</strong> soll als das <strong>ein</strong>es Sklaven,<br />

besonders, wenn man die Risiken dazu rechnet,<br />

denen er mitten im Dschungel ausgesetzt war.<br />

Dem Kautschukboom aber versetzte der clevere<br />

Engländer Henry Wickhamm, aber schon bald den<br />

Todesstoß. Er schmuggelte, illegal natürlich,<br />

Gummibaumsamen nach England, wo sie in Kew<br />

Garden, dem königlichen Botanischen Garten<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 672


vermehrt <strong>und</strong> verbessert wurden. Von da aus<br />

wurden sie nach Malaysia, der englischen Kolonie<br />

verschifft, wo die geraubten Gummibäume in<br />

riesigen Plantagen angebaut wurden. Damit<br />

waren Brasilien sozusagen über Nacht die<br />

Geschäftsgr<strong>und</strong>lagen entzogen. Der industriell<br />

angebaute Kautschuk war dem aus der Wildnis<br />

heraus gebuckelten weit überlegen.<br />

Extreme Kontraste, soziale Ungerechtigkeiten,<br />

Ausbeutung <strong>und</strong> Freibeutertum sind typisch für<br />

jene Epoche, in der sich Kautschukbarone <strong>und</strong><br />

Händler, sie verdienten Ströme von Geld,<br />

Schwärmen <strong>und</strong> Schwärmen von Miserablen <strong>und</strong><br />

Untermenschen gegenüber standen, von<strong>ein</strong>ander<br />

abhängig waren, <strong>ein</strong> Muster, das sich bis auf den<br />

heutigen Tag in viel kl<strong>ein</strong>erer Skala noch immer<br />

wiederholt. Aber die Geschichte gehört den<br />

Erfolgreichen. Dieselben verdienten <strong>ein</strong> ihrem<br />

Reichtum entsprechendes Umfeld. Sie stampften<br />

dieses Manaus aus dem Boden, das, über Nacht<br />

sozusagen, explodierte, sott <strong>und</strong> sich damit für<br />

kurze Zeit in <strong>ein</strong> tropisches, <strong>ein</strong> Eiland der<br />

Zivilisation, <strong>ein</strong>e Hauptstadt des Dschungels<br />

verwandelte.<br />

Das Theater, versteckt hinter <strong>ein</strong>em wilden<br />

Gewirr elektrischer Leitungen <strong>und</strong> unschöner<br />

Lichtmasten, zeugt bis heute davon. Majestätisch,<br />

<strong>ein</strong>er Insel gleich, sticht es aus dem Meer der<br />

gesichtslosen Gebäuden heraus. Manaus ist bis<br />

heute nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e Agglomeration, <strong>ein</strong>e<br />

Anhäufung von Gebäuden, <strong>ein</strong>e Stadt mit <strong>ein</strong>em<br />

sich selber überlassenen Zentrum, worin sie sich in<br />

nichts von anderen brasilianischen Städten<br />

unterscheidet. Das Theater aber besticht durch<br />

<strong>ein</strong>e exotische Schönheit, obwohl es eigentlich aus<br />

<strong>ein</strong>er überaus wilden Kollektion baulicher Stile <strong>und</strong><br />

Moden besteht. S<strong>ein</strong>e Architektur lässt k<strong>ein</strong>en<br />

Effekt aus <strong>und</strong> be<strong>ein</strong>druckt trotzdem. Das Dach<br />

mit s<strong>ein</strong>en vier Dachflächen, von <strong>ein</strong>em kurzen<br />

Turm mit <strong>ein</strong>er reich dekorierten Kuppel gekrönt,<br />

wirkt halb maurisch, halb Moschee. Die<br />

emaillierten Dachziegel in Grün, Blau, Gelb <strong>und</strong><br />

Ocker, <strong>ein</strong>e Hommage an die Farben der<br />

Brasilianischen Flagge, bestärken das Exotische.<br />

Praktisch das ganze Baumaterial, auch die Ziegel,<br />

letztere wurden aus dem Elsass, der Rest aus ganz<br />

Europa her geschifft: Die dekorativen Eisengitter<br />

stammen aus England, die Bronzen aus Belgien,<br />

die Kristallleuchter <strong>und</strong> Spiegel aus Murano.<br />

Rückt die rosafarbene Treppe in den Blick, legt sie<br />

den Baukörper frei, der an <strong>ein</strong> italienisches<br />

Renaissancepalazzi erinnert. Simpel, in <strong>ein</strong>em<br />

starken, königlichen Rosa bemalt, die<br />

Fensterstürze <strong>und</strong> Rahmen sind weiß akzentuiert.<br />

Der portugiesische Einfluss ist unverkennbar.<br />

Schließlich war das Gabinete Português de<br />

Engenharia e Arquitetura de Lisboa für die<br />

Konstruktion aus dem Jahre 1883 verantwortlich.<br />

Die Hauptfassade, dem großen Platz zugewandt,<br />

schwelgt im Prunk griechischer Säulen <strong>und</strong><br />

anderen hellenistischer Elemente. Die<br />

Innenausstattung steht dem in nichts nach. Das<br />

w<strong>und</strong>erschöne Holzparkett aus <strong>ein</strong>heimischem<br />

Tropenholz, es krönt den Innenausbau, bekam den<br />

edlen Glanz <strong>und</strong> die perfekte Form in Europa<br />

verpasst! Zurück verschifft konnte es dann in der<br />

Wildnis bestechen. Intarsien aus zweifarbigem<br />

Edelholz, dunkelstes, fast schwarzes Jacaranda<br />

<strong>und</strong> helles, klares Pau Marfim bilden zusammen<br />

mit allegorischen Deckenmalereien, sie<br />

glorifizieren die Schönen Künste <strong>Amazonien</strong>s,<br />

ellenhohe, elegante Spiegel <strong>und</strong> viel Stuck <strong>und</strong><br />

Gips <strong>ein</strong> verspieltes Ganzes voller Fru-fru, typisch<br />

für die Belle Époque. An den Wänden des<br />

großzügigen Zuschauerraumes prunken die<br />

Namen europäischer Poeten <strong>und</strong> Musiker. Einige<br />

von ihnen spielten, tanzten <strong>und</strong> musizierten hier.<br />

Auch Carlos Gomes, <strong>ein</strong>er der wenigen illusteren<br />

Brasilianer, dirigierte hier s<strong>ein</strong>e Opern.<br />

Wie es zu <strong>ein</strong>em Prachtbau dieser Größenordnung<br />

gehört, fehlt auch der riesige Ballsaal nicht. Heute<br />

tanzen auf s<strong>ein</strong>em kostbaren Parkett allerdings<br />

nur noch die Filzpantoffeln der Touristen, in der<br />

Mehrheit Ausländer. Kurioses Detail sind die<br />

buntfarbenen Spucknäpfe, die man zu dieser Zeit<br />

mit allergrößter Natürlichkeit benutzte. Beim<br />

Verlassen des Hauses über die majestätische<br />

Treppe, öffnet sich an deren Fuß <strong>ein</strong> riesiger<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 673


Platz, zeitlos <strong>und</strong> elegant. Erstarrte schwarzweiße<br />

Wellen, st<strong>ein</strong>erne Mosaike, der<br />

dekorativen Pflasterungen portugiesischer Städte<br />

nachempf<strong>und</strong>en. Inmitten des Platzes <strong>ein</strong><br />

Brunnen, dessen Figuren aus der Zeit allegorisch<br />

die Öffnung der Häfen feiern. Zwei Schiffe, die<br />

sich in der Mitte treffen, <strong>ein</strong>s mit dem Kopf <strong>ein</strong>er<br />

Sphinxs als Galionsfigur, das andere löwenköpfig.<br />

Vier Aufschriften, das Weltbild der Epoche<br />

spiegelnd: Europa, Amerika, Asien <strong>und</strong> Afrika.<br />

Andere, bessere Zeiten wieder spiegelt auch der<br />

Justizpalast gleich da drüben. Hoch über dem<br />

Niveau der Straße, Gelb <strong>und</strong> weiß, ernst,<br />

distanziert, hinter Gittern funktioniert heute<br />

Manaus hohe Gerichtsbarkeit. Weiter unten, dem<br />

Hafen zugewendet, der Palast vom Rio Negro.<br />

Vom Deutschen Waldemar Schulz, er gehörte zur<br />

Latexelite, in Auftrag gegeben, dient er heute mit<br />

s<strong>ein</strong>er luxuriösen Fassade <strong>und</strong> den ungezählten<br />

Mauernischen <strong>und</strong> Vorsprüngen als Sitz der<br />

Regierung. Waldermar Schulz soll, wie viele<br />

andere, sehr unter dem Zusammenbruch der<br />

Preise des Kautschuks gelitten haben.<br />

Auch das Theater hat schwere Zeiten hinter sich,<br />

ist <strong>ein</strong>e wirkliche Überlebenskünstlerin. Diente,<br />

zwischen 1944 <strong>und</strong> 1968 <strong>ein</strong>er amerikanischen<br />

Firma als Depot für Latex <strong>und</strong> Benzin! Die Wende<br />

kam wohl mit der 1967 installierten Zollfreizone,<br />

die Manaus mit Steuerbefreiungen zu <strong>ein</strong>em<br />

wichtigen Industriestandort machte. Heute strahlt<br />

das Theater, wiederhergestellt, in neuem Glanz,<br />

beherbergt verschiedene Festivals <strong>und</strong> Opern <strong>und</strong><br />

nennt <strong>ein</strong> erstklassisches Orchester s<strong>ein</strong> eigen.<br />

Gerne verrenken sich die leicht bekleideten<br />

Touristen heute etwas den Hals, wenn sie dafür in<br />

die geschichtsträchtige Atmosphäre der damaligen<br />

Urwaldhauptstadt <strong>ein</strong>tauchen können.<br />

Setze m<strong>ein</strong>en Spaziergang fort <strong>und</strong> stoße, am Ende<br />

des Platzes, auf <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zelnen, <strong>ein</strong>samen Wagen<br />

der Manaos Railway, ohne Schienen, verloren wie<br />

<strong>ein</strong> Fisch auf dem Trockenen. Steht da ohne<br />

Funktion, nostalgisch, pur <strong>und</strong> dekorativ, <strong>ein</strong><br />

letzter Zeuge ehemaliger Modernität. An der Stelle<br />

des Zielbahnhofes steht „Saudade“, traurige<br />

Sehnsucht, wie es der schweizer Schriftsteller<br />

Hugo Loetscher so treffend übersetzte.<br />

Saudades!<br />

auch<br />

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National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque<br />

Der Regen setzt nie aus, nicht mal sonntags. Kaum<br />

beginnt die Sonne an den Pfützen zu lecken,<br />

türmen sich dramatisch drohend die nächsten<br />

Wolkenwände auf, pechschwarz, himmelhoch<br />

<strong>und</strong> schwer, tonnenschwer. So beladen, dass sie<br />

sich schon bald, n<strong>ein</strong>, jetzt gleich! erleichtern<br />

werden. Aber was soll´s. Das kommerzielle<br />

Zentrum r<strong>und</strong> um den Hafen von Manaus ist wie<br />

ausgestorben, auch wenn der Bus heute nur die<br />

Hälfte des normalen Fahrpreises, nämlich <strong>ein</strong>en<br />

Real, kostet. Von den Tausenden von<br />

Straßenhändlern sind nur die kl<strong>ein</strong>en Baracken<br />

übrig, die roten Plachen gut festgezurrt <strong>und</strong> sicher<br />

verschnürt. Sie malen die von den Regenmassen<br />

sauber gewaschenen <strong>und</strong> glitzernden Bürgersteige<br />

fre<strong>und</strong>licher.<br />

Die zerfallenen Fassaden in ausgewaschenem Rot<br />

der drei, vier ungleichen Gebäude gleich vor mir,<br />

<strong>ein</strong> Teil der Hafenanlage, sehen, ob’s wohl dem<br />

diffusen, grauen Regenlicht zuzuschreiben ist,<br />

heute noch trostloser <strong>und</strong> <strong>ein</strong>samer aus. Die<br />

angefressenen Ränder <strong>und</strong> das Dreckwasser<br />

kaschieren erfolgreich die wirkliche Tiefe der<br />

riesigen Pfütze. Entkomme, pures Glück, der hoch<br />

aufspritzenden Wasserfontäne, in der Kurve vom<br />

unachtsamen Rad des nächsten Busses<br />

hochgeworfen. Fast wäre ich von stinkenden<br />

Abwässern getauft worden, um endlich den<br />

Wachmann in s<strong>ein</strong>er cleanen Uniform um<br />

Erlaubnis zu bitten, denn ich will fotografieren.<br />

Die Gebäude befinden sich am hinteren linken<br />

Ende <strong>ein</strong>er Art Hof, der zum Parkplatz<br />

umfunktioniert wurde. Erlaubnis erhalten, kann<br />

ich näher treten. Springe da über noch <strong>ein</strong>e<br />

Wasserlache voller Bauabfällen <strong>und</strong> Müll. Hier<br />

treibt <strong>ein</strong>e Zeitung im Wasser, <strong>ein</strong>e Dose Bier,<br />

daneben <strong>ein</strong> Plastikbecher. Der Zustand der<br />

Häuserzeile, das erste Gebäude erinnert an <strong>ein</strong>e<br />

fantasievolle Imitation <strong>ein</strong>es Schlösschens aus dem<br />

Mittelalter, erweist sich von Nahem als noch<br />

dramatischer. Vom ehemaligen Glanz ist wenig<br />

übrig geblieben. Die enormen, massiven Blöcke<br />

aus Sandst<strong>ein</strong> des Bürgersteiges, die selben, die als<br />

Gewicht in den Schiffsbäuchen übers Meer kamen,<br />

zeugen von besseren Zeiten. Auch die Vordächer<br />

aus Zinkblech bewahren, auch wenn sie heute nur<br />

die ungezählten, hier abgestellten Ziehkarren der<br />

Lastenträger beschützen, noch <strong>ein</strong>ige ihrer<br />

charmanten viktorianischen Details, spitzige<br />

Lanzen, Dachreiter, filigran, aber aus<br />

unverwüstlichem Eisen geschnitten. Daneben<br />

blättert die gekachelte Hauswand vor sich hin.<br />

Bedauernd bew<strong>und</strong>ere ich die tausenderlei<br />

Details, Mauervorsprünge, Nischen <strong>und</strong> die<br />

typischen kl<strong>ein</strong>en, nur angedeuteten Balkönchen,<br />

jedes mit <strong>ein</strong>em hüfthohen Gitter, eigentlich<br />

<strong>ein</strong>fach bodenlange Balkonfenster im besten<br />

portugiesischen Stil, <strong>ein</strong>s ans andere gereihte<br />

R<strong>und</strong>bogenfenster, die massiven Türen, deren<br />

Farbe leise vor sich hin krümelt. Da, hoch oben im<br />

dritten Stock, wächst gar unbekümmert <strong>ein</strong><br />

Strauch aus dem Fenster. An der Längsseite <strong>ein</strong>e<br />

Emailtafel: Rua Monteiro de Souza <strong>und</strong> darunter<br />

der Name <strong>ein</strong>er Firma, ENASA, Flusstransporte,<br />

Passagiere <strong>und</strong> Fracht. Hier funktionierten, nur<br />

h<strong>und</strong>ert Jahre ist´s her, rappelvolle Lagerhäuser<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong> florierender Kommerz. Über allem lag<br />

<strong>ein</strong>e penetrant <strong>und</strong> stechend riechende Wolke -<br />

Kautschuk.<br />

Der Wächter erzählt mir, dass es auch <strong>ein</strong>e<br />

Straßenbahnstation gab. Das wiederum erklärt<br />

mir endlich den Zerfall <strong>und</strong> die Dekadenz der<br />

strategisch so gut gelegenen Gebäude, es sind<br />

öffentliche Gebäude oder sie gehören Firmen,<br />

die längst in Konkurs gegangen sind. Leider<br />

sch<strong>ein</strong>t es mal wieder, wie so oft in Brasilien,<br />

<strong>ein</strong>facher zu s<strong>ein</strong>, etwas abzureißen <strong>und</strong> an<br />

derselben Stelle etwas Neues hinzuklotzen,<br />

grandioser, moderner, zeitgemäßer. Das protzige<br />

Hochhaus aus Glas <strong>und</strong> Stahl des Ministeriums<br />

der Fazenda gleich da hinten illustriert das sehr<br />

gut. Schlimmer nur <strong>ein</strong> paar Straßen weiter oben<br />

das Colégio Dom Bosco, <strong>ein</strong>e katholische<br />

Privatschule, dessen grandioser, aber so<br />

unpraktisch <strong>und</strong> unzeitgemäßer Altbau aus der<br />

Belle Époque dem Verfall preisgegeben sch<strong>ein</strong>t,<br />

was noch stärker ins Auge sticht, weil daneben<br />

vom selben Colégio <strong>ein</strong> fensterloser Monsterbau<br />

hochgezogen wurde, <strong>ein</strong> Kultur- <strong>und</strong><br />

Sportzentrum, der mit s<strong>ein</strong>em riesigen<br />

R<strong>und</strong>bogen an <strong>ein</strong>en überdimensionierten<br />

Tempel erinnert.<br />

Wenig rettete sich aus der amazonischen Belle<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 683


Époque hinüber, die so brutal mit dem Ende des<br />

Kautschukbooms zusammenbrach, <strong>und</strong> alle <strong>und</strong><br />

alles mit sich in den Zerfall riss. Hier <strong>ein</strong> paar<br />

filigrane Zinkvordächer, <strong>ein</strong> paar viktorianische<br />

Eisengitter, in den leeren Fensterlöchern<br />

Bauschutt, Unkraut, Dreck <strong>und</strong> Abfall. Suche noch<br />

nach <strong>ein</strong> paar interessanten Winkeln, als sich der<br />

Wächter wieder nähert: - „Sind Sie vom „National<br />

Geografic“? – Danke für die Blumen! Welch<br />

fre<strong>und</strong>liche Überschätzung <strong>ein</strong>es bescheidenen<br />

Interesses an zerfallenden Halbruinen! Erzählt<br />

mir, die Vern<strong>ein</strong>ung verscheucht ihn nicht, von<br />

<strong>ein</strong>em Fre<strong>und</strong>, der Lehrer ist <strong>und</strong> sich, was für<br />

<strong>ein</strong>e Rarität, auch für diese verloren gegangene<br />

Vergangenheit interessiert. Er soll sogar <strong>ein</strong> Buch<br />

mit Bildern aus der Zeit haben! Da könne man die<br />

Straßenbahnen bew<strong>und</strong>ern, sehen, wie alles hier<br />

funktioniere <strong>und</strong> pulsiere. Für <strong>ein</strong>en kurzen<br />

Augenblick verlasse ich das Durch<strong>ein</strong>ander, die<br />

Verwahrlosung, unter der fast die ganze<br />

Hafenanlage leidet. Viele der offiziellen<br />

Linienschiffe bedienen ihre K<strong>und</strong>en skandalös<br />

<strong>ein</strong>fach an improvisierten Ständen unter freiem<br />

Himmel, am Kopf schmaler Treppen, die zu<br />

zweifelhaften Stegen führen, über die alles<br />

verladen wird, Passagiere <strong>und</strong> Fracht! Kann den<br />

stechenden, durch die Feuchtigkeit noch<br />

penetranteren Geruch riechen, den die<br />

allgegenwärtigen Katschukballen ausströmten,<br />

die hier verschifft werden. Sehe nun <strong>ein</strong>e gewisse<br />

Logik, <strong>ein</strong> Kommen <strong>und</strong> Gehen von Waren <strong>und</strong><br />

Personen, alles von Ausländern, in der Hauptsache<br />

von Engländern <strong>und</strong> Amerikanern organisiert, die<br />

den Hafen nicht nur konstruierten, sondern ihn<br />

auch gleich betrieben. Zwar begann die Öffnung<br />

der Häfen im historischen Jahr 1852, als der Kaiser<br />

Don Pedro II dem Visconde von Mauá das Recht,<br />

<strong>ein</strong> Monopol, zugestand, das Amazonasgebiet mit<br />

Schiffen zu befahren mit dem Ziel, die Grenzen zu<br />

sichern. Aber schon 1874 war es die Amazon<br />

Steam Navegation Compagny, die mit nordamerikanischem<br />

Kapital die Schifffahrtsrechte<br />

monopolisierte.<br />

Der Parkwächter flößt mir Hoffnung <strong>ein</strong>. Ich<br />

schließe aus dem zufälligen Gespräch, dass doch<br />

nicht alles verloren ist, besonders jetzt, da Manaus<br />

als <strong>ein</strong>e der Städte für die Fußballweltmeisterschaft<br />

2014 ausgewählt wurde. Später, schon auf<br />

der „Praça da Polícia“, oder offiziell „Praça<br />

Heliodoro Balbi“ genannt, strahlt <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Park<br />

mit <strong>ein</strong>em filigranen Pavillon <strong>und</strong> romantischen<br />

Brücken in neuem Licht <strong>und</strong> es gibt gar <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es<br />

Museum gleich dahinter. „Manaus Belle Epoque“<br />

ist der Name des Projektes. Schließlich wird das<br />

berühmte Theater, so verloren inmitten <strong>ein</strong>er<br />

gesichtslos-hässlichen Stadt, <strong>ein</strong> paar Pendants auf<br />

dem selben Niveau erhalten. Klar, nur die<br />

Touristen mit ihrem nie versiegenden Durst nach<br />

Geschichte, können das ändern.<br />

Der zentrale Gemüse-, Früchte-, Fleisch- <strong>und</strong><br />

Fischmarkt, auch <strong>ein</strong> paar Souvenirecken gab es,<br />

<strong>ein</strong>e Gebäudegruppe aus verschiedenen filigranen<br />

Markthallen aus Eisen, aus England importiert,<br />

sehr hübsch, <strong>ein</strong> paar Straßen weiter vorne, ist<br />

endlich auch, nach langer Wartezeit, voller kräftig<br />

zupackender Arbeiter. Höchste Zeit, denn die<br />

Händler wurden schon länger vertrieben. Verteilen<br />

sich, obdachlos geworden, in den umliegenden<br />

Straßen, überall, unter freiem Himmel. Beim<br />

Umbau soll übrigens im Dachstock <strong>ein</strong>er der<br />

Markthallen <strong>ein</strong>e endlose, gut genährte<br />

Riesenschlange gef<strong>und</strong>en worden s<strong>ein</strong>. K<strong>ein</strong><br />

W<strong>und</strong>er, an Ratten mangelt es hier kaum. In <strong>ein</strong>er<br />

ansteigenden Gasse gibt´s gar aus von<br />

Gemüsekisten übrig gebliebenem Holz <strong>und</strong> Karton<br />

improvisierte Bretterverschläge mit Betten <strong>und</strong><br />

da! das Treppengeländer auf der anderen Seite ist<br />

zur Wäschel<strong>ein</strong>e geworden, kürzlich gewaschene<br />

Wäsche trocknet hier zwischen <strong>ein</strong>em Regenguss<br />

<strong>und</strong> dem nächsten.<br />

In der Zwischenzeit tun die nächsten Sintfluten<br />

weiter ihr Werk. Waschen <strong>und</strong> rosten die eisernen<br />

Gitterstäbe, deren pittoreskes Grünblau auch ganz<br />

<strong>ein</strong>fach Grünspan s<strong>ein</strong> könnte. Aber wer weiß –<br />

wählte man nur den Winkel richtig, wartete <strong>ein</strong><br />

gnädiges, weichzeichnendes Licht ab, könnte <strong>ein</strong>er<br />

der <strong>Foto</strong>grafen des Nacional Geografic, wahre<br />

Genies ihres Faches, vielleicht aus dem Markt <strong>ein</strong>e<br />

Art romantische Engländerin machen, delikat <strong>und</strong><br />

da in den Tropen <strong>ein</strong>fach vergessen. Oder halt,<br />

eher Dornröschen, das, wie unromantisch, von der<br />

Fußballweltmeisterschaft nun wohl endlich wach<br />

geküsst werden wird.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 684


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 685


An der Bushaltestelle<br />

Wohl <strong>ein</strong>e Art Geheimcode? - Claro 10, Oi 15, Vivo<br />

12 16 06, Tim 15 10, Amazonia 10 15 20, Telemar<br />

20 40 – aha, das improvisierte handgeschriebene<br />

Plakat verkauft ganz <strong>ein</strong>fach Telefon- <strong>und</strong><br />

Handykarten. Noch kodifizierter schallt es an m<strong>ein</strong><br />

Ohr: “Picolé da massa, picolé da massa!” -<br />

Maulbeere, Passionsfrucht, Kokos, Cupuaçu, Açaí!<br />

Religiös betet der schon in die Jahre geratene<br />

Verkäufer den Singsang in regelmäßigen<br />

Intervallen herunter. Eis am Stiel! In so viele<br />

Geschmacksrichtungen! Sch<strong>ein</strong>t sich gut zu<br />

verkaufen - leider fehlt mir die Courage, von der<br />

Köstlichkeit auch zu kosten. Eine Mutter klaubt<br />

tief in ihrer altmodischen Börse nach <strong>ein</strong>em Real<br />

für jeden. Schon schlecken die spitzen Zungen<br />

zweier aufgeweckter Jungs mit deutlich<br />

indianischen Gesichtszügen das oben abger<strong>und</strong>ete<br />

Stängeleis. Der Mann hat es, unverpackt,<br />

<strong>ein</strong>s wie das andere fest durchgefroren, am<br />

kurzen Holzstängel aus dem improvisierten<br />

Bauchladen, <strong>ein</strong> Kasten aus Styropor, gezaubert.<br />

Schon hängt er ihn sich wieder um <strong>und</strong> ruft: –<br />

„Picolé da massa, picolé da massa!“.<br />

Schon übertönt ihn <strong>ein</strong>e andere Stimme, die<br />

Stimmlage um Nuancen penetranter. Sie besteht<br />

darauf, dass das Gift, das sie verkaufe, sowohl<br />

Katzen wie Ratten <strong>und</strong> gleich auch alles andere<br />

Getier töte. Der Mann weiter vorne wirbt für<br />

Erfrischungen. Ließ sich, so kommt endlich s<strong>ein</strong><br />

gesamtes Limonaden- <strong>und</strong> Wasserangebot<br />

wirklich zur Geltung, <strong>ein</strong> paar Ringe an den<br />

praktischen Handwagen löten. In denen klappert<br />

nun <strong>ein</strong> Muster s<strong>ein</strong>es Angebots. Je <strong>ein</strong>e leere<br />

Dose Cola, Guaraná <strong>und</strong> Fanta – Orange oder<br />

Traube? Dazu gibt´s auch den obligaten Becher<br />

Wasser <strong>und</strong> das selbe auch in kl<strong>ein</strong>en Flaschen, die<br />

wohl s<strong>ein</strong>en Hauptumsatz ausmachen, natürlich<br />

nur ohne Kohlensäure.<br />

Die meisten Männer, die hier Mögliches <strong>und</strong><br />

Unmögliches anbieten, arbeiten auf eigene<br />

Rechnung, informell, unregistriert. Die meisten<br />

haben die 50ig schon überschritten. Ich stehe am<br />

untersten Teil der steil zum Hafen abfallenden<br />

Straße im Zentrum von Manaus, zu <strong>ein</strong>em riesigen<br />

Busbahnhof umfunktioniert. Über die zwei von<br />

<strong>ein</strong>em zementierten Bord getrennten Pisten, <strong>ein</strong>e<br />

Art verkehrstechnisches Nadelöhr, stürzen sich<br />

wohl fast alle Buslinien der Stadt hinunter. Ich<br />

entnehme es den abgenützten, zerkratzten<br />

Metalltafeln, die in endlosen Reihen Busnummern<br />

auflisten. Dazu kommen die sich ständig<br />

erneuernden, wuselnden Menschenmassen, die<br />

sozusagen im Kollektiv auf ihren Bus warten.<br />

Letztere stoppen quietschend fast im Sek<strong>und</strong>entakt,<br />

schwungvoll <strong>und</strong> abrupt, nach <strong>ein</strong>er<br />

genussvollen Schussfahrt. Bremsen hart <strong>und</strong> brüsk,<br />

geheimnisvollerweise immer am richtigen Ort, an<br />

der ganzen Höhen verteilten fünf oder sechs<br />

Haltestellen. Türen schlagen auf, Türen schlagen<br />

zu, <strong>und</strong> schon schießen sie wieder davon,<br />

aufbrausend <strong>und</strong> kraftvoll Gas gebend, alles in<br />

frenetischem Rhythmus. Schneiden die<br />

hinderlich gerade stillstehenden Busse, brausen<br />

an ihnen vorbei, schon mit voller Geschwindigkeit.<br />

Bin mal wieder die Einzige, die sich von<br />

solchem rüpelhaften Fahrstil be<strong>ein</strong>drucken lässt.<br />

Hinter, vor <strong>und</strong> neben mir wimseln Passagiere<br />

nach allen Seiten. Überqueren ungeachtet der<br />

Gefahren todesmutig die zwei Pisten. Werfen<br />

sich winkend, es ist ihr Bus, fast vor s<strong>ein</strong>e Räder.<br />

Ist er ihnen unglücklicherweise gerade vor der<br />

Nase abgefahren, schlagen sie lautstark ans Blech<br />

der Türen. Ist der Fahrer gut gelaunt, haut er den<br />

Fuß auf die Bremse, öffnet die Tür noch mal,<br />

auch wenn der Kühler schon halb ausgeschert ist.<br />

Alles Gewohnheitssache! Endlose Wartezeiten<br />

werden, wie die unerträgliche Hitze stoisch <strong>und</strong><br />

gottgegeben hingenommen. K<strong>ein</strong>er stresst sich,<br />

viele unterhalten sich angeregt. Wer sich´s<br />

leisten kann, fährt sowieso Auto, natürlich mit<br />

der überlebensnotwendigen Klimaanlage! Die<br />

Unterbemittelten sind unter sich, was vielleicht<br />

auch erklärt, warum hier k<strong>ein</strong>er um <strong>ein</strong>en<br />

Groschen bittet, k<strong>ein</strong>es der Kinder um Almosen<br />

bettelt.<br />

Zu den visuellen Eindrücken gesellen sich die<br />

unterschiedlichsten Gerüche. Der appetitliche<br />

Bratenduft <strong>ein</strong>es „Churrasco de gato“,<br />

(„Katzenbarbecue“, volkstümlich für billige<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 686


Fleischspießchen, deren Herkunft zweifelhaft ist)<br />

kitzelt von der gegenüberliegenden Straßenseite<br />

herüber, regt m<strong>ein</strong>en Speichelfluss an. Denke<br />

sehnsüchtig an die appetitliche Kruste, das<br />

großzügig mit geschmorte Fett.<br />

Schon lässt sich da hinten am tief liegenden<br />

Horizont gerade die Sonne abrupt hinter die Stadt<br />

fallen. Badet für Minuten den gleißend verglasten<br />

Obelisk des Innenministeriums in zarte gelb <strong>und</strong><br />

rosa Töne. Ein Mann mit sehr dunkel getönter<br />

Haut baut sich vor mir auf. S<strong>ein</strong> schwarzes,<br />

aalglattes Haar, mit viel Brillantine gebändigt,<br />

verrät die indigene Abstammung. S<strong>ein</strong> Parfüm,<br />

altmodisch <strong>und</strong> schwer, großzügig aufgetragen,<br />

umhüllt mich. Vetiver, <strong>ein</strong> Duft, den hier viele<br />

Männer benutzen.<br />

Eines der allgegenwärtigen Handys schrillt los.<br />

Versuche wegzuhören. Vergeblich. Habe die<br />

zweifelhafte Ehre, die Verwicklungen <strong>und</strong><br />

Kümmernisse der halben Verwandtschaft<br />

mitverfolgen zu dürfen. Noch immer k<strong>ein</strong> Bus mit<br />

m<strong>ein</strong>er Nummer in Sicht. Die brütende Hitze<br />

bringt mich auf die, derselben Hitze wegen, doch<br />

wohl eher kl<strong>ein</strong>formatigen Oberteile der<br />

umstehenden Frauen. Sch<strong>ein</strong>en dicht über die<br />

mollig-r<strong>und</strong>lichen Oberkörper geklebt. Besonders<br />

dann, wenn sie wie die Mehrzahl um Nummern zu<br />

kl<strong>ein</strong> gekauft wurden. Die Körper platzen aus allen<br />

Nähten <strong>und</strong> doch - so wenig Stoff <strong>und</strong> solch <strong>ein</strong>e<br />

Vielfalt an Trägerhemdchen, Blüschen, Shirts <strong>und</strong><br />

Hängerchen! Auch sch<strong>ein</strong>t es k<strong>ein</strong>e zu stören,<br />

dass sie alle aus hochsynthetischem Material<br />

gefertigt sind, für die 35 Grad Lufttemperatur <strong>und</strong><br />

über 80 % Luftfeuchtigkeit genauso wenig<br />

geeignet wie die obligaten Jeans, in die sie alle<br />

ihre strammen Schenkel <strong>und</strong> knackigen Popos<br />

gequetscht haben.<br />

Der eitle junge Mann vor mir schlägt alle. S<strong>ein</strong><br />

rotes, im schönsten Hinterwäldlerschick aggressiv<br />

bedrucktes T-Shirt hat <strong>ein</strong>e geschickte Hand,<br />

Paillette um glänzende Paillette, mit dem<br />

orthografisch sehr frei nachempf<strong>und</strong>enen Namen<br />

“Tribuus d’Guerra” verschönt. Die Inspiration<br />

stammt wohl von den weit ausholenden Flügeln<br />

des in Schwarz <strong>und</strong> Grau aufgedruckten Kriegers. –<br />

“Picolé da massa, picolé da massa..... “ Und da<br />

braust ja auch schon m<strong>ein</strong> Bus daher....<br />

immer wieder.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 687


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Im Museum des Kautschuks<br />

Die Museumsführerin ist die Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong><br />

Geduld in Person. Empfängt die Touristen, die das<br />

kl<strong>ein</strong>e Schiff von der Marina do David hergebracht<br />

hat <strong>und</strong> integriert sie sogleich in den kl<strong>ein</strong>en<br />

R<strong>und</strong>gang durchs Freilichtmuseum. Hier im<br />

„Museu do Seringal“, am linken Ufer des Rio<br />

Negro gelegen, dreht sich alles um den<br />

Kautschuk. Äußerst didaktisch <strong>und</strong> anschaulich<br />

erzählt sie, wie sich <strong>ein</strong> Kautschukgewinner, unter<br />

ihnen viele Nordestinos, kurz nach Mitternacht,<br />

<strong>ein</strong>e Lampe auf dem Kopf, in den stockdunklen<br />

Wald aufmachte, wo er die Bäume anritzte <strong>und</strong><br />

die kl<strong>ein</strong>en Behälter zum Auffangen des Saftes<br />

anbrachte. Nachts war die Hitze erträglicher <strong>und</strong><br />

der Saft floss generöser. Den selben Pfad <strong>ein</strong><br />

zweites Mal ablief, diesmal am frühen Morgen,<br />

um den in den kl<strong>ein</strong>en Metalltrichtern aufgefangenen<br />

weißen Latex <strong>ein</strong>zusammeln. Zurück in<br />

s<strong>ein</strong>er Hütte, verklumpte er denselben über<br />

offenem Feuer zu kompakten Ballen, „Pelotas“<br />

genannt.<br />

K<strong>ein</strong> Leben, eher <strong>ein</strong>e Art Vorhölle sei es<br />

gewesen. Und schon gar k<strong>ein</strong>e Möglichkeit reich<br />

zu werden. Eine fremde, f<strong>ein</strong>dliche Welt mit<br />

Indios, exotischen Tieren <strong>und</strong> Pflanzen, dem<br />

strengen Regime der Barone <strong>und</strong> Zwischenhändler,<br />

den ausbeuterischen Kaufleuten<br />

ausgeliefert. Viele Kautschukgewinner starben<br />

sehr jung. Opfer von Schlangenbissen, tropischen<br />

Krankheiten <strong>und</strong> auch von Rauchvergiftungen, die<br />

sie sich beim Kautschukkochen zuzogen. Die<br />

Katuschukbarone dagegen wurden über Nacht<br />

unermesslich reich. Reisten regelmäßig nach<br />

Europa, von wo sie sich allen nur erdenklichen<br />

Komfort, von Möbeln über W<strong>ein</strong>, Geschirr <strong>und</strong><br />

Kleidern für ihre Damen <strong>und</strong> Geliebten<br />

mitbrachten.<br />

Der kl<strong>ein</strong>e Krämerladen mit der Waage, wo die<br />

Kautschukballen gewogen <strong>und</strong> sogleich gegen<br />

Lebensmittel <strong>und</strong> anderes Lebensnotwendige<br />

umgetauscht wurden, zeigt, wie abhängig die<br />

„Seringeiros“ gehalten wurden. Denn der<br />

allmächtige Besitzer des Herrenhauses mit<br />

Krämerladen legte nicht nur die Preise für den<br />

Kautschuk fest, sondern auch für die Waren. Dabei<br />

rechnete er natürlich immer zu s<strong>ein</strong>en Gunsten.<br />

Das Einzige, was hier zur Authentizität fehlt, ist der<br />

durchdringend beißende Geruch, den der frische<br />

Latex ausströmt, von so vielen Reisenden aus der<br />

Zeit des Kautschuks als das Charakteristische<br />

überhaupt beschrieben. Das w<strong>und</strong>erhübsche<br />

Museum, <strong>ein</strong>s als Filmkulisse gebaut, bekommt so<br />

nun heute <strong>ein</strong>e zweite Nutzung mit didaktischem<br />

Hintergr<strong>und</strong>.<br />

Obs.: Das Museum schließt früh, nach 16 Uhr wird<br />

der Betrieb <strong>ein</strong>gestellt. Eine Vorsichtsmaßnahme<br />

gegen jene Moskitos, die Leishmaniose <strong>und</strong><br />

Malaria verbreiten.<br />

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<strong>Amazonien</strong><br />

isst<br />

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<strong>Amazonien</strong> isst<br />

Ode an die amazonischen Töpfe 702/703<br />

Cupuaçu 705<br />

Die Eisdiele 707<br />

Guaraná, der Energiedrink 709<br />

Maniok – die Vielfältige 717/718<br />

Das Haus der Farinha 724<br />

Heute ist Farinha-Tag 725<br />

Roter Açaí – weißer Açaí 734/735<br />

Der frischeste Fische der Welt! 741-743<br />

Remoso <strong>und</strong> andere Tabus 745<br />

Vom Salz 749/750<br />

Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte 752<br />

Der Brei 755<br />

Ein regionales Frühstücksbankett 757<br />

Köstliche Straßenkost 761<br />

X-alles inklusive 766<br />

Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets 772<br />

Der verspeiste Panther 774/775<br />

Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten 781<br />

Padres Büchse 786/787<br />

An den, der mich liest oder Der Jesuit 788<br />

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In Brasilien werden Orangen oft nicht gegessen, sondern ausgelutscht. Ein saftiges Vergnügen!<br />

Vor dem Auslutschen werden die Orangen geschält. Kunstfertig, schneidet das Messer –<br />

vom Körper weg – <strong>ein</strong>e hauchdünne Schicht der Orangenhaut herunter.<br />

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Ode an die amazonischen Töpfe<br />

<strong>Amazonien</strong> nimmt mich in kürzester Zeit für sich<br />

<strong>ein</strong>. Es erobert mich ganz <strong>ein</strong>fach über den<br />

Magen! Je mehr Früchte, Gemüse <strong>und</strong> Tuberkeln<br />

ich kennen lerne, desto faszinierter bin ich. Stehe<br />

da wie <strong>ein</strong> Kind, mit offenem M<strong>und</strong>. Bräuchte<br />

dringend jemand, dem ich all diese Neuigkeiten<br />

erzählen könnte. Atemlos <strong>und</strong> jeder Satz von<br />

<strong>ein</strong>em Ausrufezeichen begleitet! Die Vielfalt an<br />

mir unbekannten Esswaren <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />

ist schlicht überwältigend, <strong>ein</strong> Schlaraffenland!<br />

Alle kommen sie aus der Region. Außerhalb<br />

<strong>Amazonien</strong>s, zum Beispiel im Süden des Landes,<br />

sind sie so gut wie unbekannt.<br />

-„Stell dir vor, da gibt es unterarmlange, tief<br />

gefurchte Bohnen! Die pendeln von riesigen<br />

Bäumen! Wenn man die Bohnen um sich selber<br />

dreht, damit sie aufbrechen, kann man,<br />

aufgereiht wie auf <strong>ein</strong>er Perlenschnur, die Kerne<br />

sehen. Jeder Kern ist in weißen Flaum gebettet<br />

<strong>und</strong> den Flaum kann man essen! Er schmeckt süß<br />

<strong>und</strong> etwas wattig!“ Auf dem Markt sehe, rieche,<br />

koste ich anderes, vor allem Früchte. Ich liebe sie<br />

alle heiß <strong>und</strong> entdecke sie jeden Tag neu. Haben<br />

Sie gewusst, wie viele ganz unterschiedliche<br />

Bananen es gibt? Die kl<strong>ein</strong>ste <strong>ein</strong> Drittel so kl<strong>ein</strong><br />

wie die lang gezogenste? Das Riesenbüschel<br />

kurzer, dicker Langbananen, fast unterarmlang<br />

<strong>und</strong> sichelförmig, werben für sich selbst. Schon<br />

der Name zergeht mir auf der Zuge: „Banana<br />

comprida”, die lang gestreckte, m<strong>ein</strong>e absolute<br />

Favoritin. Sie ist unanständig lang <strong>und</strong> läuft in<br />

<strong>ein</strong>er schnabelartigen Verlängerung aus. Ist ihre<br />

Schale fast schwarz, ist sie genau richtig für die<br />

Bratpfanne oder den Grill, denn roh ist sie<br />

ungenießbar. Gebraten oder gebacken schmeckt<br />

auch die dicklich gedrungene „Figo” oder „Banana<br />

da Terra”, die Landpomeranze, besser als im<br />

Naturzustand. Die „Banana Prata”, die<br />

Silberbanane, gilt als die Königin der Bananen. Sie<br />

ist schlanker, gleich halb so groß wie die<br />

langgestreckte <strong>und</strong> schmeckt bananig süß. Die<br />

kl<strong>ein</strong>ste, kurz wie wulstige Finger, ist die „Ouro”,<br />

die Goldbanane, auch eher süßlich. Dann gibt es<br />

noch die „São Tomé”, die <strong>ein</strong>e dunkelrötliche, fast<br />

lila Schale hat, die „Maçã”, die fast wie die „Prata”<br />

schmeckt, <strong>und</strong> schließlich die „Nanica” oder<br />

Wasserbanane, die uninteressanteste, die es auch<br />

in Europa in jedem Supermarkt zu kaufen gibt.<br />

Verkauft werden sie gleich dutzendweise <strong>und</strong><br />

k<strong>ein</strong>er nimmt es <strong>ein</strong>em übel, wenn man die<br />

Früchte vor dem Kauf diskret mit zwei Fingern<br />

drückt. N<strong>ein</strong>, die sind noch zu unreif....<br />

Was den Bananen an Vielfalt recht ist, kann den<br />

Zitrusfrüchten nur billig s<strong>ein</strong>. Die klassischen<br />

Orangen, die Brasilianer kaufen sie gleich 10 kgweise,<br />

sind die Saftorangen. Fünf, sechs Stück<br />

ergeben <strong>ein</strong> schönes Glas zuckersüßen Saftes, den<br />

es auch in der <strong>ein</strong>fachsten Bar immer frisch gibt.<br />

Bitte nur nicht vergessen, dass ihn die Brasilianer<br />

obligatorischerweise mit Eis <strong>und</strong> Zucker trinken.<br />

Die gleichen Orangen werden auch zur Feijoada,<br />

dem Bohnennationalgericht serviert: Gewaschen,<br />

wird ihnen zuerst der Boden <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Deckel<br />

abgeschnitten <strong>und</strong> dann mit dem Messer<br />

großzügig die restliche Schale, vom Körper weg!<br />

Dann werden sie ausgelutscht. Die Grenzen von<br />

Orangen zu den verschiedenen Limettentypen<br />

<strong>und</strong> Zitronen sind fließend. Da gibt es zum<br />

Beispiel die kl<strong>ein</strong>e “limão bravo”, eigentlich <strong>ein</strong>e<br />

Limette, die knallorangefarben wird, <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

ausgeprägte, explodierende Säure hat. Fast in<br />

Vergessenheit geraten ist die köstlich-bittere<br />

„Laranja da terra“. Man bekommt sie höchstens<br />

auf ländlichen Märkten oder findet sie in<br />

verwilderten Hinterhöfen. Sie gilt als<br />

blutr<strong>ein</strong>igend <strong>und</strong> medizinal. Ihre Bitterkeit passt<br />

w<strong>und</strong>erbar zu <strong>ein</strong>er Caipirinha. Die gelbe Zitrone,<br />

die Limão galego hat <strong>ein</strong>e unregelmäßig<br />

aufgeworfene Schale, die an Pockennarben<br />

erinnert. Sie wird hier <strong>ein</strong>zig <strong>und</strong> all<strong>ein</strong> dazu<br />

benutzt, Fisch oder Huhn zu „waschen”. Das<br />

heißt unangenehme Gerüche vor dem Kochen zu<br />

neutralisieren.<br />

Weiter vorne freue ich mich über die stark<br />

orange, rot oder gelbfarbene Traube<br />

„Pupunhas“, pingpongballgroße, dickschalige<br />

Kokosnüsschen, <strong>ein</strong>e der vielen essbaren<br />

Palmfrüchte. Pupunhas isst man gekocht. Sie<br />

schmecken fast <strong>ein</strong> wenig wie <strong>ein</strong>e ölige<br />

Kartoffel. Der Verkäufer gräbt s<strong>ein</strong>en Nagel ins<br />

Fruchtfleisch. Je öliger der hinterlassene<br />

Abdruck, desto besser. Auch wenn sie schon von<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 702


<strong>ein</strong> paar Vogelschnabelhieben gezeichnet sind,<br />

sieht er das als gutes Zeichen: Die cleveren<br />

Viecher suchen sich immer die Besten aus!“<br />

„Tucumã”, etwas größer, auch <strong>ein</strong>e Palmfrucht, ist<br />

in Manaus überall anzutreffen. Die lederne Schale<br />

der ockerfarbenen Kokosnuss, etwa so groß wie<br />

<strong>ein</strong>e Aprikose, wird in Spiralen runter geschnitten<br />

<strong>und</strong> gleich aus der Hand oder in den<br />

unterschiedlichsten Kombinationen, z.B. in<br />

Sandwiches verspeist. Schmeckt fremdartig,<br />

holzig <strong>und</strong> ölig aber lecker. Der „Tucumã“ des<br />

Staates Pará dagegen ist leuchtend orange. Sehr<br />

faserig, sehr fettig schmeckt er süßlich <strong>und</strong> wird<br />

zu Saft oder Eis verarbeitet. Die <strong>ein</strong>zige eher<br />

gewöhnungsbedürftige Frucht aus dem Norden ist<br />

„Murici“. Ein unschuldig gelbes Früchtchen, sehr<br />

fetthaltig, das je nach Typ leicht nach<br />

verdorbenem Käse schmeckt! Aber mit der Zeit<br />

gewinne ich alle lieb. Auch die köstlich-bitteren<br />

Piquiás, die normalerweise im Reis mitgekocht<br />

werden <strong>und</strong> diesem <strong>ein</strong>e gelbliche Farbe geben.<br />

Die meterlangen Okraschoten oder die<br />

lilafarbenen, die ich nur hie <strong>und</strong> da ergattere. Der<br />

<strong>ein</strong>heimische Spinat, der Affenohr heißt <strong>und</strong><br />

knackig schmeckt <strong>und</strong> m<strong>ein</strong>e geliebten dunkellila<br />

Carás, die man hier nur zum Frühstück oder<br />

Nachmittagskaffee genießt.<br />

Welche der Früchte <strong>und</strong> Gemüse wirklich aus<br />

Südamerika kommen, ist umstritten. Dass die<br />

Portugiesen <strong>ein</strong>e rege „Bio-Piraterie” betrieben,<br />

das heißt, Nutzpflanzen aus Europa <strong>und</strong> Asien<br />

nach Brasilien brachten <strong>und</strong> umgekehrt, ist<br />

bekannt. Die besten Beispiele sind die<br />

Schlangenbohnen, die Mangos, der Jambo, dessen<br />

Frucht mehr wie <strong>ein</strong>e Blume schmeckt. Auch die<br />

Jaca ist <strong>ein</strong> Import aus Asien. Die langgezogenen,<br />

armlangen <strong>und</strong> oberschenkeldicken Jacafrüchte<br />

wachsen nicht an Ästen, n<strong>ein</strong> sie sprießen direkt<br />

aus der Rinde des Stammes. Ihr Fruchtfleisch<br />

strömt <strong>ein</strong>en eigenartig exotischen Duft aus. An<br />

den Schnittstellen sondern sie <strong>ein</strong>en eklig<br />

klebrigen Kautschuk ab, der lange Fäden zieht. Der<br />

unfehlbare Trick, um das Klebzeug runterzukriegen?<br />

Speiseöl, da geht der Leim <strong>ein</strong>fach runter.<br />

Auch die Mangos kommen aus Asien, sind aber in<br />

ihrer Vielfalt kaum zu übertreffen. Jede Region hat<br />

ihre Spezialitäten. Es gibt kl<strong>ein</strong>ere, normalerweise<br />

mit harter Schale <strong>und</strong> vielen Fasern <strong>und</strong> riesige mit<br />

sehr viel parfümiertem Fruchtfleisch, Manga rosa<br />

<strong>und</strong> Coração de boi, Rinderherzenmango. Es gibt<br />

Sorten, die außen grün bleiben, auch wenn sie<br />

schon reif sind. Ihr Fruchtfleisch ist goldgelb – <strong>ein</strong><br />

schöner Kontrast. Andere färben sich gelb, orange<br />

oder rot. Haben die ursprünglicheren Sorten viele,<br />

sehr viele Fasern, die sich zwischen die Zähne<br />

setzen, wie m<strong>ein</strong>e Großmutter es wohl<br />

ausgedrückt hätte, haben Neuzüchtungen fast<br />

k<strong>ein</strong>e. Ihre Namen variieren je nach Region:<br />

„Espada”, Schwertmango, „Coquinho”,<br />

Kokosmango usw... Ein Fan soll, wie kürzlich zu<br />

lesen war, in s<strong>ein</strong>em Obstgarten nicht weniger als<br />

zweih<strong>und</strong>ert verschiedene Mangoarten<br />

versammelt haben!<br />

Kl<strong>ein</strong>e Vitaminbomben sind die “Açerolas”, kl<strong>ein</strong>e<br />

kirschartige Beeren, rot <strong>und</strong> säuerlich. Sie eignen<br />

sich für Saft oder zum aus der Hand essen.<br />

Herrlich sauer schmeckt auch die hier im Süden<br />

weniger bekannte „Taperebá”. Ein orangenes<br />

Früchtchen, oval, etwa so groß wie <strong>ein</strong>e<br />

Stachelbeere, <strong>ein</strong>es riesigen Baumes, dessen<br />

dünne Schicht Fruchtfleisch von Hand oder<br />

moderner im Mixer runter geschnitten wird, bis<br />

man <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>es, säuerliches Püree hat, das mit<br />

Wasser verdünnt <strong>und</strong> mit viel Zucker versüßt<br />

getrunken wird, oder für Nachspeisen<br />

Verwendung findet. Andere Früchte sind noch<br />

ungewöhnlicher, zum Beispiel grüngelb, r<strong>und</strong>,<br />

mit stumpfen Hörnchen, wie <strong>ein</strong>e stachlige<br />

Kugel, wie der „Biribá“ <strong>und</strong> „Graviola”, aus der<br />

Familie der Atas. Sie sehen aus wie von <strong>ein</strong>em<br />

anderen Stern.<br />

Andere haben <strong>ein</strong>e st<strong>ein</strong>harte Schale, um leckere<br />

Kerne oder Nüsse zu beschützen. Oder müssen,<br />

wie die Königin der Früchte, der „Bacurí”, dessen<br />

blendend weißes, parfümiertes Fruchtfleisch gar<br />

in mühevoller Handarbeit vom Kern runter<br />

geschabt werden. Ein paar Millimeter nur, für <strong>ein</strong><br />

paar h<strong>und</strong>ert Gramm der Frucht müssen<br />

unzählige Früchte geöffnet <strong>und</strong> geschabt<br />

werden. Aber es lohnt sich.<br />

Willkommen im Schlaraffenland!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 703


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Cupuaçu<br />

Da, drüben, was verkaufen sie denn da? Zuerst<br />

fällt mir der eigentümliche Geruch auf. Schwer,<br />

fruchtig-säuerlich, deliziös-penetrant <strong>und</strong><br />

exotisch beißt er mich in die Nase. Dann bleibe<br />

ich, unbehaglich <strong>und</strong> fasziniert zugleich, vor der<br />

Frau stehen. Sie sitzt auf <strong>ein</strong>em wackligen Podest,<br />

im Schneidersitz, unter <strong>ein</strong>em improvisierten<br />

Sonnendach. Zwischen die B<strong>ein</strong>e hat sie sich <strong>ein</strong><br />

blaues Plastikbecken geklemmt. In der <strong>ein</strong>en<br />

Hand hält sie <strong>ein</strong>e metallene Schere, mit der<br />

anderen hält sie das weiße Fruchtfleisch fest.<br />

Plopp, schon wieder fällt <strong>ein</strong> ca. 3 cm langer, r<strong>und</strong><br />

zulaufender brauner Kern ins Becken. Routiniert<br />

schneidet die Schere weiter. Schneidet das<br />

cremeweiße Fleisch vom nächsten Kern herunter.<br />

Jetzt fällt der Groschen – „Cupuaçu!“ Die<br />

beliebteste Frucht <strong>Amazonien</strong>s!<br />

Magisch erschnuppert ihn m<strong>ein</strong>e Nase, lange<br />

bevor ich ihn sehe. So exotisch wie der Name,<br />

schwer beschreibbar, fruchtig säuerlich, deliziöspenetranter<br />

Geschmack-Geruch, tief <strong>ein</strong>gekerbt<br />

ins Duftgedächtnis, <strong>ein</strong>e der typischsten<br />

Erinnerungen an den Amazonas. Schwül <strong>und</strong><br />

parfümschwer bannt er <strong>ein</strong>em auch dann, wenn<br />

das blendende Fruchtfleisch noch von der<br />

samtbraunen, hölzernen Schale geschützt ist.<br />

Unverändert übersteht das Parfüm alle<br />

Verarbeitungsprozesse. Jeder Schluck oder Bissen,<br />

den ich schleckend-schlucke, beschenkt mich mit<br />

dem selben deliziös-penetranten, fruchtigen<br />

Parfüm.<br />

Der Cupuaçu ist der Bruder des Kakaos. Auch s<strong>ein</strong>e<br />

Kerne könnten zu Schokolade verarbeitet werden.<br />

Allerdings ist es bis heute nur sehr kl<strong>ein</strong>en<br />

Unternehmen gelungen, die “Cupulate” genannte<br />

Schokolade so zartschmelzend zu machen wie die<br />

aus Kakao. Das ganze ist nichts Neues. Früher gab<br />

es in Belém <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Fabrik, die<br />

Cupuaçu-Schokolade herstellte. Längst hat sie vor<br />

der übermächtigen internationalen Konkurrenz<br />

kapituliert. Heute werden die Samen des<br />

Cupuaçus mehrheitlich in Kakaobutter<br />

umgewandelt, der in der Kosmetikindustrie<br />

Verwendung findet.<br />

Der Cupuaçu schläft, wie viele andere indigene<br />

Früchte hier s<strong>ein</strong>en tiefen Dornröschenschlaf<br />

weiter, denn nicht mal in Südbrasilien kann ich<br />

s<strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erbar säuerliches Fruchtfleisch kaufen....<br />

Die wissen nicht, was ihnen entgeht!<br />

Xxxxx<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 705


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 706


Die Eisdiele<br />

Wofür soll ich mich nur entscheiden? Die Auswahl<br />

ist schlicht überwältigend. Staunend stehe ich vor<br />

dem riesigen, etwas zusammengeflickt<br />

aussehenden Schild. Eigentlich möchte ich nur <strong>ein</strong><br />

Eis. Ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong> kühles, cremiges Eis! Aber<br />

die Liste der Geschmackssorten ist so lang wie<br />

exotisch. Weniger als die Hälfte der Aromen sind<br />

mir auch nur vom Hörensagen bekannt. Hinter <strong>ein</strong><br />

paar der angepriesenen Köstlichkeiten sind<br />

Punkte geklebt, andere sind durchgestrichen. In<br />

ganz traditionellen Eisdielen ist die Speisekarte<br />

sowieso handgeschrieben. Denn das Angebot ist<br />

so groß wie saison- <strong>und</strong> angebotsabhängig.<br />

Unerschöpflich wechselt es jeden Tag. Es hat, so<br />

lange es hat. Manchmal lohnt es sich, zurückzufragen.<br />

Es kann ja vorkommen, dass man<br />

vergessen hat, die Liste zu aktualisieren. Auch<br />

kl<strong>ein</strong>e Probeportionen werden auf plastikenen<br />

Babylöffeln gerne angeboten.<br />

Denn - soviel weiß ich schon: So exotisch, wie sie<br />

heißen, so fremdländisch schmecken sie auch –<br />

parfümiert, säuerlich oder mit <strong>ein</strong>em Stich<br />

ungewohnter Exotik, gar faulig oder käsig.<br />

Genüsslich lasse ich mir die verschiedenen<br />

indigenen Namen auf der Zunge zergehen:<br />

Cupuaçu, Açaí, Sapotilha <strong>und</strong> Bacuri, Taparebá,<br />

Murici, Uxi, Abacaxi. Übersehe gefliessentlich so<br />

gewöhnliches wie Paranusseis, gar Erdbeere <strong>und</strong><br />

Schokolade, auch weiße. Apropos, es gibt gar<br />

<strong>ein</strong>en „Brigadeiro Suíço“ <strong>ein</strong>en „Schweizer<br />

Brigadier (<strong>ein</strong> hoher militärischer Grad)“, der<br />

sicher aus Schokolade <strong>und</strong> Kondensmilch (!)<br />

besteht. S<strong>ein</strong> Aroma ist wohl identisch<br />

schokoladig- ultra-süß wie die kl<strong>ein</strong>en Kugeln, die<br />

bei k<strong>ein</strong>em Kinderfest fehlen.<br />

M<strong>ein</strong>e absoluten Favoriten sind Açaí branco,<br />

eigentlich khakifarben, <strong>ein</strong>e seltene Art Açaí, fast<br />

immer durchgestrichen...., <strong>und</strong> Bacuri. Wer es<br />

gerne konventioneller mag, der kann auch Kokos-,<br />

Avocado-, Ananas-, Mais-, Maracujá- <strong>und</strong><br />

Paranusseis genießen, denn alles, was Obst, Frucht<br />

oder Palmfrucht ist, wird hier zu Eis. Natürlich gibt<br />

es daneben auch Sahneeis, Eis aus purer<br />

Kondensmilch, „Creme de Leite“, „Flocos“, aus<br />

Tapioca <strong>und</strong> gemischtes Eis wie Paraense, halb<br />

Tapioca halb Açaí oder „Mestiço“ <strong>und</strong> Carimbó,<br />

Paranuss mit Cupuaçu.<br />

Immer noch unschlüssig? Wie wäre es mit <strong>ein</strong>er<br />

Probeportion? Gerne reicht der Verkäufer <strong>ein</strong>e<br />

kl<strong>ein</strong>e Versuchung auf <strong>ein</strong>em bunten Winzlöffel.<br />

Der Spruch, malerisch in Form <strong>ein</strong>e Eises an die<br />

Schiefertafel gemalt, ist mir zwar etwas zu<br />

moralisch, aber er passt gut hierher: „A vida é<br />

como um sorvete. Aproveita antes que derreta.“ –<br />

Das Leben ist wie <strong>ein</strong> Eis. Mach Gebrauch davon,<br />

bevor es zergeht.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 707


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Guaraná, der Energiedrink<br />

- „Wie es denn nun in Europa gewesen sei?“ –<br />

„Oh, ganz schön! Doch! Aber kannst du dir<br />

vorstellen – da gibt es k<strong>ein</strong> Guaraná! Nirgendwo<br />

gibt es Guaraná!“ – Guaraná, sozusagen die<br />

alkoholfreie Version der Caipirinha, ist das<br />

brasilianische Nationalgetränk,. Es gibt das<br />

limonadeähnliche Erfrischungsgetränk bis in die<br />

hinterste, abgelegene Ecke Brasiliens.<br />

Von der Farbe starken Schwarztees, so populär<br />

<strong>und</strong> klebrig süß wie Coca-Cola, nicht von ungefähr<br />

wird es vom selben Produzenten <strong>und</strong> vielen<br />

anderen Konkurrenten, unter den unterschiedlichsten<br />

Namen hergestellt <strong>und</strong> vertrieben. Hier<br />

im Norden überlebt noch <strong>ein</strong>e der wenigen<br />

lokalen Guaranámarken: Baré. Und es kann<br />

durchaus vorkommen, dass das Restaurant<br />

irgendwo im Nirgendwo nur zwei alkoholfreie<br />

Getränke anzubieten hat: Wasser <strong>und</strong> Baré.<br />

Guaraná, nicht nur in Form des Erfrischungsgetränkes,<br />

sondern in Form von Pulver oder Sirup,<br />

trifft man hier im Norden überall. Guaraná<br />

enthält Koff<strong>ein</strong> <strong>und</strong> gilt deshalb als natürlicher<br />

Energiespender, als leistungsfördernd. Ihm wird<br />

nicht nur zugeschrieben, jegliche Müdigkeit zu<br />

vertreiben, sondern auch die Stimmung <strong>und</strong> noch<br />

ganz andere Dinge zu heben. In populären Bars<br />

werben lange Listen mit <strong>ein</strong>deutig-fantasievollen<br />

Namen für die mit Guaraná gemixten<br />

Energiedrinks. Sie nennen sich vollm<strong>und</strong>ig<br />

„Chlorophyl“, „Afrodisíaco“, „Turbinado“, „100 %<br />

radikal“ oder „Naturviagra“ <strong>und</strong> versprechen, den<br />

stärksten Mann, <strong>und</strong> nicht nur den, aufzurichten.<br />

Schließlich enthalten sie zum Beispiel neben dem<br />

obligaten Guaraná in Pulverform auch gemahlene<br />

Paranüsse <strong>und</strong>/oder geröstete Erdnüsse, werden<br />

zu wahren Kalorienbomben, angereichert mit<br />

Milchpulver <strong>und</strong> die im Volksm<strong>und</strong> <strong>ein</strong>schlägig<br />

beleumdete „Catuaba“, <strong>ein</strong>e Medizinalpflanze <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong> oder zwei Wachteleier! Alles zusammen wird<br />

gut in den allgegenwärtigen Mixern frisch<br />

gemischt <strong>und</strong> für den besseren Geschmack gerne<br />

mit lokalen Säften, Eis <strong>und</strong> dem obligaten Zucker<br />

ergänzt. Da merkt wirklich k<strong>ein</strong>er mehr, dass pures<br />

Guaraná-Pulver wie gemahlenes Holz schmeckt.<br />

Guaraná ist <strong>ein</strong> strauchartiges, dekoratives<br />

Lianengewächs, dessen reife Samenkapseln nach<br />

dem Aufspringen <strong>ein</strong> dunkles Auge entblößen. Das<br />

beste Guaraná soll aus Maués, ca. 250 km von<br />

Manaus, kommen. Wie so vieles kannten schon<br />

die Indigenen die Guaranásamen <strong>und</strong> ihre potente<br />

Wirkung. W<strong>und</strong>erschön ist die Lende, <strong>ein</strong>e von<br />

vielen, die sich die Indios zur Entstehung des<br />

Guaranás erzählen: Ein Indiopaar bat Tupã, den<br />

König der Götter, um <strong>ein</strong>en Sohn. Erhört, wuchs<br />

das Kind zu <strong>ein</strong>em schönen, generösen <strong>und</strong> guten<br />

jungen Mann heran. Das Paar wurde, vielleicht<br />

gerade deswegen, von Juruparí, dem Gott der<br />

Dunkelheit, um s<strong>ein</strong> Glück beneidet. Eines schönen<br />

Tages, der Junge war gerade dabei, reife Früchte<br />

zu pflücken, übermannte der Hass den dunklen<br />

Gott. Er verwandelte sich in <strong>ein</strong>e Giftschlange<br />

<strong>und</strong> vergiftete den Jungen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />

Biss. Das Unglück löste <strong>ein</strong> heftiges Unwetter<br />

aus, <strong>ein</strong>e Botschaft Tupãs. Er befahl, die Augen<br />

des Kindes in feste Erde zu pflanzen, damit<br />

daraus <strong>ein</strong>e bis dahin unbekannte Pflanze<br />

wachse, die nützliche Früchte tragen werde. Die<br />

<strong>ein</strong>gegrabenen Augen solle man während vierer<br />

Monde mit den Tränen der Hinterbliebenen<br />

netzen, bis die Pflanze, welche Jungen Kraft gäbe<br />

<strong>und</strong> die Alten stärke, zu sprießen begänne. Die<br />

roten Samen der Pflanze aber legten beim<br />

Aufspringen <strong>ein</strong>en weißen Augapfel mit <strong>ein</strong>em<br />

schwarzen Auge frei, Erinnerung an den<br />

unglücklichen jungen Mann, der nun so lange<br />

weiterlebt, wie es Guaraná gibt.<br />

Wenn es nach den Brasilianern geht, wird es<br />

wohl nie außer Mode kommen, <strong>und</strong> unsere<br />

Reisende wird vielleicht gar auf <strong>ein</strong>er nächsten<br />

Europareise nicht mehr auf <strong>ein</strong> so vorzügliches<br />

Getränk verzichten müssen.<br />

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Maniok – die Vielfältige<br />

Wenn ich „Farinha“ höre, das Produkt aus<br />

Maniok, fällt mir immer wieder das lustig-listige<br />

Lied von Xanghai <strong>ein</strong>: „Se a farinha fosse<br />

americana ....,“ Wenn Farinha aus Amerika<br />

käme... . Ja, wenn die ach so lokale Farinha aus<br />

Amerika käme! Ja, dann bräuchte sie weder<br />

Werbung noch <strong>ein</strong>e eigene Musik! Alle würden ihr<br />

zujubeln, sie würde vor allem in Shoppings<br />

verkauft <strong>und</strong> viele würden lange Schlangen in<br />

Kauf nehmen, nur um sie zu genießen! Sie wäre<br />

so beliebt <strong>und</strong> begehrt wie Hamburger, Pizza oder<br />

Coca-Cola! Bekäme <strong>ein</strong>heitliche Qualitätsstandards,<br />

<strong>ein</strong>e Herkunftsbezeichnung <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Gütesiegel! Wäre <strong>ein</strong> Star, so ganz anders, als das<br />

Armeleute-Essen, als das sie heute gilt.<br />

Für viele Leute aus dem Amazons ist Farinha –<br />

noch! - viel wichtiger als Brot, <strong>ein</strong> wirkliches<br />

Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel. Es gibt tausenderlei<br />

Farinhas, hellere, gelbere, gröbere, f<strong>ein</strong>ere, aber<br />

nur hier im Norden gibt es die leckeren,<br />

knackigeren oder knusprigen „Farinhas d’água“<br />

(Wassermehl, weil die Maniokwurzel im Wasser<br />

fermentiert). Auf allen Märkten werden sie offen<br />

in recycelten, seitlich herunter gerollten<br />

Mehlsäcken angeboten <strong>und</strong> jeder hat so s<strong>ein</strong>e<br />

Vorliebe. Wer kosten will, bevor er kauft, wirft<br />

sich mit drei Fingern etwas Farinha in den M<strong>und</strong>.<br />

Farinha passt <strong>ein</strong>fach zu allem. Reis <strong>und</strong> Bohnen,<br />

ohne Farinha? – Undenkbar! In sehr <strong>ein</strong>fachen<br />

Haushalten wird Farinha morgens in den Kaffee<br />

gerührt, zum Mittagessen zusammen mit Açaí<br />

aufgetischt <strong>und</strong> manche mögen die ultrasüßen<br />

Nachspeisen, gar Wassermelone nur zusammen<br />

mit Farinha. Oder wie man hier zu sagen pflegt -<br />

über Geschmack streitet man sich nicht, man kann<br />

ihn höchstens bedauern. Kenne allerdings k<strong>ein</strong>en,<br />

der <strong>ein</strong>er leckeren „Farofa com ovo“, <strong>ein</strong>er in<br />

Butter angerösteten, knusprigen Farinha mit<br />

zerpflücktem Ei widerstehen kann. Auch die<br />

„Mojica“, das klassische Restengericht, Fischreste,<br />

Fischabsud <strong>und</strong> viel Koriander, <strong>ein</strong>gedickt mit<br />

Farinha, kommt immer gut an. Wird die selbe<br />

Suppe mit Fleisch zubereitet, hat sie den<br />

w<strong>und</strong>erbaren Namen „Caldo de Caridade“ - Suppe<br />

der Nächstenliebe.<br />

Es gibt zwei Typen von Maniok, die Manihot<br />

esculenta <strong>und</strong> die Manihot utilissima. Aus beiden<br />

wird viel mehr als nur Farinha hergestellt. Beide<br />

stammen, wie der Mais <strong>und</strong> die Kartoffeln, aus<br />

Südamerika. Sie wurden seit Urzeiten von den<br />

indigenen Stämmen angebaut, veredelt verbessert<br />

<strong>und</strong> in immer neuen Varianten gezüchtet. Und die<br />

Sache noch komplexer zu machen, die Manihot<br />

esculenta, auch böse Maniok genannt, ist<br />

hochgiftig. Sie enthält tödliche Blausäure. Es war<br />

die indigene Bevölkerung, der es gelang, das Gift<br />

durch die unterschiedlichsten Verarbeitungsmethoden<br />

unschädlich zu machen.<br />

Eine der indigenen Lenden erzählt, woher die<br />

Maniok stammt. Die Maniokwurzel wuchs auf<br />

dem Grab <strong>ein</strong>es von <strong>ein</strong>em weißen Mann mit<br />

<strong>ein</strong>er India gezeugten Kindes, das, Frucht <strong>ein</strong>es<br />

Fehltrittes, der umgebracht <strong>und</strong> da begraben<br />

wurde. Ob es nun der Sünde oder der ihm<br />

nachgew<strong>ein</strong>ten bitteren Tränen zu verdanken ist,<br />

dass die Wurzel, die entstand, giftig wurde,<br />

darüber driften die Lenden allerdings<br />

aus<strong>ein</strong>ander. Wie auch immer. Die<br />

Maniokpflanze ist äußerst genügsam, was<br />

Bodenbeschaffenheit <strong>und</strong> Feuchtigkeit anbetrifft.<br />

Sie gedeiht ohne großen Aufwand <strong>und</strong> Pflege<br />

auch auf armen Böden. Die Maniokwurzel<br />

allerdings ist, <strong>ein</strong>mal geerntet, sehr leicht<br />

verderblich. Es gibt weiße <strong>und</strong> gelbe, gar<br />

butterweiche Varianten, jede mit eigenem<br />

Verwendungszweck. Die Urbevölkerung wandelt<br />

sie in die verschiedensten Produkte um. Es gibt<br />

Tucupi, pulverf<strong>ein</strong>e „Goma“ für die<br />

Tapiocafladen, knusprige Tapiocaflocken, die<br />

unterschiedlichsten Arten altmodischer „Beiju<br />

sicas“, trockenes amazonisches Knäckebrot <strong>und</strong><br />

natürlich die überaus nährstoffreiche Farinha,<br />

das Mehl. All diese Produkte halten sich<br />

monatelang frisch.<br />

Auch die Blätter der Maniokpflanze, auch die<br />

enthalten Blausäure, werden verwendet. Auf<br />

dem Ver-o-peso kann man die siebenfingrigen<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 717


Blätter des Maniokstrauches zu riesigen<br />

dunkelgrünen Bergen aufgehäuft sehen. Die<br />

werden, da gleich vor Ort, durch den Wolf<br />

gedreht <strong>und</strong> als „Maniva crua“ portionsweise<br />

verkauft. Wer es weniger folkloristisch mag, kauft<br />

sie schon vorgekocht im Supermarkt. Mitten<br />

zwischen den Gestellen brodeln in riesigen<br />

Hexenkessel braun-schwarze Breie vor sich hin,<br />

deren Aussehen erschreckend an flüssige<br />

Kuhfladen erinnert, wäre da nicht der köstliche<br />

blättrige Geruch der „Maniba“, mitten<br />

im Kochprozess. „Maniba“, das weiß hier jedes<br />

Kind, muss sieben Tage, <strong>ein</strong>e ganze lange Woche<br />

lang (!) vor sich hin kochen, damit ihre tödlichgiftige<br />

Blausäure chemisch umgewandelt wird<br />

<strong>und</strong> verdampft. An den letzten Tage des<br />

Kochprozesses werden dem grünen Brei dann die<br />

selben Fleisch- <strong>und</strong> Wurstsorten der Feijoada, wer<br />

mag, findet auch Verwendung für Kutteln,<br />

Sauohren <strong>und</strong> –schwänzen, beigegeben.<br />

Zusammen mit Reis, scharfer Pfeffersauce <strong>und</strong><br />

natürlich Farinha ist <strong>ein</strong>es der lokalen<br />

Nationalgerichte, die „Maniçoba“ fertig.<br />

Wird in Südbrasilien nur die süße Maniok<br />

verwendet, so ist hier im Norden vor allem die<br />

giftige Art beliebt. Sie wird nie unprozessiert<br />

gegessen, denn die Blausäure muss zerstört<br />

werden. Dazu werden die Knollen tagelang<br />

gewässert, am besten in <strong>ein</strong>em fließenden<br />

Gewässer. Dann werden sie geschält <strong>und</strong><br />

gerieben. Die geriebene Masse wird in <strong>ein</strong> langes,<br />

flexibles, schon von den Indigenen entwickeltes<br />

„Rohr“, das „Tipití“ gefüllt. Der langgezogene<br />

Behälter ist so raffiniert ingeniös geflochten, dass<br />

er, am <strong>ein</strong>en Ende festgemacht <strong>und</strong> am anderen<br />

verdreht, sich lang <strong>und</strong> länger auszieht <strong>und</strong> dabei<br />

den gelblichen Saft, der leckere, säuerliche<br />

„Tucupí“ auspresst. Dieser Saft wird stehen<br />

gelassen, wobei sich die „Goma“, <strong>ein</strong> hauchf<strong>ein</strong>es<br />

Pulver, auf dem Gr<strong>und</strong> absetzt. Der Tucupi wird<br />

dann sorgfältig abgegossen, aufgekocht <strong>und</strong> in<br />

recycelten Petflaschen, nie passt die Farbe des<br />

Deckels zum kl<strong>ein</strong>en Rest des Plastikverschlusses,<br />

der auf der Flasche zurückbleibt, oder im<br />

Offenverkauf verkauft. Guter Tucupí ist von<br />

dicklich grün-gelber Farbe <strong>und</strong> sollte möglichst<br />

nicht in den hier leider überall gebräuchlichen<br />

Alupfannen gekocht werden, denn dann wird er<br />

grau. Man kann auch kl<strong>ein</strong>ere Flaschen mit<br />

Pfefferfrüchtchen kaufen, die sich in Tucupí<br />

perfekt konservieren.<br />

Der blendend weiße Bodensatz, die pulverf<strong>ein</strong>e<br />

„Goma“ wird entweder feucht für die<br />

pfannkuchenähnlichen Tapiokafladen verwendet<br />

oder getrocknet. Für Tapiokafladen wird das<br />

angefeuchtete Mehl <strong>ein</strong>fach in die heiße Pfanne<br />

gesiebt, gesalzen, <strong>und</strong> ballt sich w<strong>und</strong>ersam in<br />

<strong>ein</strong>er Minute durch die Einwirkung der Hitze zu<br />

<strong>ein</strong>em delikaten, mehr oder weniger dicken<br />

Pfannkuchen zusammen. Etwas Butter oder<br />

Kokosmilch dazu oder raffiniert gefüllt, das<br />

glutenfree-Frühstück ist fertig. Ein anderer Prozess<br />

rollt das f<strong>ein</strong>e Mehl so lange, bis es sich in<br />

styroporähnlichen Kugeln, Tapiokaflocken, weiß<br />

<strong>und</strong> knusprig, die an schlankes Popkorn erinnern<br />

zusammenballt. Auch Sago gehört in diese Familie.<br />

Tapiocaflocken gehören unbedingt in den Açaí <strong>und</strong><br />

sind auch für Brei <strong>und</strong> Süßspeisen unabdingbar.<br />

Was im Tipiti als ausgepresster Rest zurückbleibt,<br />

wird zu Farinha. Kommt zum Trocknen <strong>und</strong><br />

Toasten auf tischhohe Bleche hüfthoher Öfen, wo<br />

es unter ständigem Wenden <strong>und</strong> Aufwerfen so<br />

lange erhitzt wird, bis es knusprig <strong>und</strong> knackig ist<br />

<strong>und</strong> sich wochenlang hält, jene köstliche Farinha,<br />

knusprige Farinha d´água, oder auch zu riesigen<br />

Pfannkuchen, Beijou genannt, getrocknet. Aus<br />

diesen Beijous wiederum wird zu Festtagen <strong>ein</strong><br />

Getränk vergärt, hochkomplex in der Herstellung,<br />

das die unterschiedlichsten Zusammensetzungen<br />

<strong>und</strong> Namen hat: „Tarubá“ oder „Maniquera”,<br />

“Pajuaru” oder “Caxiri”. Die ganz groben Reste, die<br />

übrig bleiben, werden auch geröstet <strong>und</strong> dann im<br />

Mörser zu hauchf<strong>ein</strong>em Pulver, „Cruera“ genannt,<br />

zerstoßen.<br />

Übrigens – <strong>ein</strong> letzter Tipp: Haben Sie sich aber in<br />

der Schärfe des hier allgegenwärtigen Pfeffers getäuscht?<br />

Es gibt k<strong>ein</strong> besseres Gegenmittel, als<br />

<strong>ein</strong>e Handvoll Farinha. Schon ist das Brennen<br />

gebannt.<br />

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Das Haus der Farinha<br />

Im Hinterland haben viele Leute <strong>ein</strong> Haus der<br />

Farinha, „uma Casa de farinha“, in dem sie für den<br />

Eigenbedarf <strong>und</strong>/oder zum Verkauf Farinha<br />

herstellen. Normalerweise ist es etwas vom<br />

Haupthaus zurückversetzt, eigentlich mehr <strong>ein</strong><br />

Pavillon, ohne Trennwände, nur mit Palmblättern<br />

überdacht. Der Ofen ist <strong>ein</strong>fach, r<strong>und</strong> oder<br />

rechteckig gemauert, <strong>und</strong> wird von hinten mit<br />

Holz befeuert.<br />

Heute kann ich zum ersten Mal den ganzen<br />

Prozess mitverfolgen. Das Anwesen ist <strong>ein</strong>fach,<br />

die Frauen des Hauses lassen sich nicht blicken,<br />

sind in der offenen Küche am Geschirr spülen.<br />

Werfen uns hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>en misstrauischen Blick<br />

zu. Auch die drei H<strong>und</strong>e, <strong>ein</strong>ige in erbarmungswürdigem<br />

Zustand, wie so viele hier, bleiben auf<br />

Distanz. Aber der Hausherr ist ganz in s<strong>ein</strong>em<br />

Element. Er produziert fast wöchentlich Farinha.<br />

Auf der nackten Erde des Hofes picken frei<br />

laufende Hühner <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e kurzb<strong>ein</strong>ige Ente<br />

schnappt sich geschickt Fruchtfleisch aus <strong>ein</strong>er<br />

herumliegenden Mango. Weiter hinten hängen<br />

leere Säcke auf <strong>ein</strong>er L<strong>ein</strong>e zum Trocknen.<br />

Ist die Maniokwurzel reif, für jedes Endprodukt<br />

gibt es nicht nur die perfekte Wurzel, sondern<br />

auch den richtigen Zeitpunkt, kann es losgehen.<br />

Für Farinha werden die ungeschälten Knollen<br />

St<strong>und</strong>en oder Tage lang <strong>ein</strong>geweicht. Die Schale<br />

lässt sich danach, es hat <strong>ein</strong> Gärungsprozess<br />

<strong>ein</strong>gesetzt, ohne Probleme abstreifen. Verwendet<br />

man süße, ungiftige Maniok, so fällt das Wässern<br />

weg <strong>und</strong> die Knollen werden wie hier, im Kreis <strong>und</strong><br />

im männlichen Kollektiv geschält <strong>und</strong> dann<br />

gerieben. Dann wird der ganze Segen durch die<br />

mechanisierte Reibe getrieben. Die Hände halten<br />

die Knollen ganz nah an die scharfen Messer. Es<br />

gibt k<strong>ein</strong>en Schutz für die Finger oder er wurde, zu<br />

unpraktisch, abmontiert. Das entstandene Mus<br />

wird in recycelte Mehlsäcke gefüllt <strong>und</strong> in der<br />

ebenfalls mechanisierten Holzpresse so lange<br />

ausgepresst, bis es fast trocken ist. Der Saft wird<br />

nicht verwendet. Er versickert, von <strong>ein</strong>em Rohr<br />

weggeleitet, in der nackten Erde.<br />

Die ausgepresste Masse wird in <strong>ein</strong>en riesigen<br />

hölzernen Zuber geleert. Immer wieder geht <strong>ein</strong>er<br />

der Hilfskräfte hinters Haus <strong>und</strong> feuert das hoch<br />

lodernde Feuer im Ofen nach, schiebt noch <strong>ein</strong>en<br />

Ast ins züngelnde Feuer. Denn nun kommt der<br />

letzte Schritt. Mit dem leeren Panzer <strong>ein</strong>er armen<br />

zum Festbraten gewordenen Schildkröte schöpft<br />

<strong>ein</strong>er der beiden Gehilfen die Masse auf <strong>ein</strong><br />

viereckiges Sieb. So werden gröbere, nicht<br />

zerkl<strong>ein</strong>erte Stücke aussortiert. Lage um Lage siebt<br />

das viereckige Gitter Maniokmehl aufs heiße Blech<br />

des hüfthohen Holzherdes. Zwei oder drei<br />

Hilfskräfte wenden, stoßen <strong>und</strong> schieben das Mehl<br />

ständig hin <strong>und</strong> her. Werfen es dazwischen in<br />

hohem Bogen mit den riesigen Schabern auf, <strong>ein</strong><br />

richtiger Tanz, so dass es von allen Seiten gut<br />

geröstet wird. Das ständige Durchmischen <strong>und</strong><br />

Aufwerfen verhindert, dass sich zu dicke<br />

Klumpen bilden, lässt die Farinha gleichmäßig<br />

toasten <strong>und</strong> trocknen. Auch das letzte<br />

Gift verflüchtigt sich, von der Bruthitze<br />

verdampft. Gut gelüftet <strong>und</strong> ausgekühlt, ist die<br />

Farinha nun fertig für den Konsum. Sie wird in<br />

riesige Säcke abgefüllt. Die selben, die ich später<br />

in langen Reihen auf dem Markt wieder finde.<br />

Ach, <strong>und</strong> die unappetitlich über den Zaun<br />

gehängten Fettstreifen? Das ist Talg. Damit wird<br />

der Ofen in regelmäßigen Abständen neu<br />

<strong>ein</strong>gefettet.<br />

Nun fehlt nur noch <strong>ein</strong>e Farinhadegustation.<br />

Wohl das Exotischste, Trockenste, das man sich<br />

denken kann. Kann ihnen aber aus eigener<br />

Erfahrung versichern, dass man auf den<br />

Geschmack kommt. Je frischer <strong>und</strong> knackiger,<br />

desto besser!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 724


Heute ist Farinha-Tag<br />

Im Hinterland weiß jeder, welcher Wochentag der<br />

Farinha-Tag ist. Hier in Obidos ist es der<br />

Donnerstag. Der Hausherr, hier geht der Mann<br />

des Hauses zu Markte, bestellt mich früh, am<br />

besten vor sieben, zum Marktbesuch, auch wenn<br />

die Markthalle sozusagen um die Ecke, drei<br />

Straßen abwärts Richtung Hafen liegt. Am Abend<br />

vorher, wir sitzen versammelt auf den betonen<br />

Treppenstufen vor dem Eckhaus, biegen immer<br />

wieder hochbeladene Lastwagen um die steil<br />

abfallende Kurve. Ganz oben auf den zu Bergen<br />

aufgetürmten Säcken liegen <strong>und</strong> sitzen auch<br />

immer <strong>ein</strong> paar Personen. Sie bringen ihre<br />

wöchentliche Farinhaproduktion in die große<br />

Stadt. Ein Teil davon wird direkt weiterverkauft,<br />

der riesige Rest geht nach Manaus, den Amazonas<br />

hoch. Was Eingeweihten klar ist, muss ich erst<br />

lernen. Je frischer, desto besser ist die Farinha.<br />

Und sozusagen vom Blech weg schmeckt sie<br />

nochmal so gut.<br />

Der frühe Morgen lässt die Tageshitze<br />

zwar ahnen. Die leise Brise macht die<br />

Atmosphäre aber noch erstaunlich angenehm.<br />

Unter <strong>ein</strong>em behelfsmäßigen Dach der Markt,<br />

ziemlich improvisiert. Ist, trotz der frühen St<strong>und</strong>e,<br />

schon in vollem Gange. Wie stumme Soldaten<br />

stehen die weißen, schritthohen Säcke in Reih<br />

<strong>und</strong> Glied. Die sorgsam herunter gerollten Ränder<br />

geben <strong>ein</strong>e Idee von Überfluss <strong>und</strong> Fülle. Oben<br />

auf dem fast überschwappenden Berg thront <strong>ein</strong><br />

Maßbecher, der “Liter”, stellt den Inhalt des<br />

Sackes zur Schau. Blütenweiße, staubf<strong>ein</strong>e Goma,<br />

kugelr<strong>und</strong> knackige Tapioca <strong>und</strong> überall, grob- <strong>und</strong><br />

f<strong>ein</strong>körnigere Farinhas, appetitlich eidottergelb<br />

oder cremefarben <strong>und</strong> bleicher warten auf<br />

K<strong>und</strong>en. Es gibt tausenderlei Typen, gröbere <strong>und</strong><br />

f<strong>ein</strong>ere, aber nur hier im Norden gibt es die<br />

leckeren, knackigeren oder knusprigen „Farinhas<br />

d’água“ (Wassermehl, weil die Maniokwurzel in<br />

fließendem Wasser fermentiert). Wer kosten will,<br />

bevor er kauft, steckt s<strong>ein</strong>e Hand in den gelben<br />

Hügel, nimmt sich mit drei Fingern etwas Farinha<br />

heraus <strong>und</strong> wirft es sich, was durchaus<br />

wortwörtlich zu verstehen ist, in den M<strong>und</strong>. Kaut<br />

<strong>und</strong> kostet <strong>und</strong> wenn es schmeckt, kauft er <strong>ein</strong>en<br />

Liter oder mehr davon, denn abgemessen wird in<br />

leeren Soyaöldosen. Willkommen sind sie alle,<br />

jeder hat so s<strong>ein</strong>e Vorlieben, aber immer davon im<br />

Haus, denn sie kommt fast zu jeder Mahlzeit auf<br />

den Tisch.<br />

Da es sich um <strong>ein</strong> echtes Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />

handelt, so wichtig wie Brot oder Kartoffeln in<br />

Europa, kaufen <strong>und</strong> verspeisen manche Familien<br />

mehrere Liter, <strong>ein</strong>en ganzen Sack Farinha pro<br />

Woche. Farinha kann monatelang gelagert<br />

werden, ohne s<strong>ein</strong>en Geschmack zu verändern.<br />

Wird so zum unverzichtbaren Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />

<strong>und</strong> der perfekte Reiseproviant.<br />

Probiere auch all die von anderen Märkten längst<br />

verschw<strong>und</strong>enen kl<strong>ein</strong>geschnittene Streifen aus<br />

Farinhafladen. Die dunklen Punkte lasse ich mich<br />

belehren, sind geriebene Paranusssprenkel. Halt<br />

<strong>und</strong> diese r<strong>und</strong>en Fladen da? Auch aus Farinha?<br />

Ja, das sind die trockenen Beijous, <strong>ein</strong>e Art<br />

luftgetrocknete, st<strong>ein</strong>harte Tapiocas, w<strong>und</strong>erbar<br />

säuerlich, die man monatelang aufbewahren<br />

kann. Beijou mole, weiche Beijous türmen sich,<br />

von <strong>ein</strong>em Plastik geschützt, daneben auf. Auch<br />

sie sind mit Paranüssen gesprenkelt. Auch “Pé de<br />

Moleque”, der Jungenfuß wird verkauft. Im<br />

Bananenblatt gebacken, wird er aus der Masse<br />

der vergorenen Maniok hergestellt. Das macht<br />

ihn w<strong>und</strong>erbar säuerlich. Flach, etwa fingerdick,<br />

die Oberfläche etwas glasig oder gummig, ist er<br />

deutlich weniger süß als die traditionellen<br />

Maniokkuchen. Letztere werden mit Kokosmilch<br />

hergestellt.<br />

Ich kaufe von allem. Der Hausherr greift nur <strong>ein</strong>,<br />

um zu garantieren, dass der Liter, das Schöpfgefäß,<br />

besonders bei den Beijous, “<strong>ein</strong>en<br />

großzügigen Kopf kriegt”, das heißt, so hoch <strong>und</strong><br />

voll geschöpft wird, dass k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Eckchen<br />

mehr r<strong>ein</strong> passt. Wupps dann <strong>ein</strong>fach in noch<br />

<strong>ein</strong>e weiße Plastiktüte gekippt. Zum Schluss noch<br />

<strong>ein</strong> paar hochzerbrechlicher Kekse, die es in allen<br />

Formen gibt, sie erinnern an kl<strong>ein</strong>e Kissen, dazu<br />

gesteckt. Am leckersten schmeckt die<br />

angenehme, delikate Säure der Beijous, die,<br />

obwohl stocktrocken <strong>und</strong> ungesalzen, eigenartig<br />

ihren Eigengeschmack wahren.<br />

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Açaípflücker, hoch oben im Baum<br />

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Roter Açaí – weißer Açaí<br />

Die trockenen, matt-blau-schwarz wie Lakritze<br />

schimmernden Bällchen heben sich scharf von<br />

den saftgrünen Bananenblättern ab, mit denen<br />

die luftigen Körbe ausgeschlagen sind. Es ist früh,<br />

noch sehr früher Morgen. Noch wird es dauern,<br />

bis der Tag graut. Aber der Açaí-Markt, hier auf<br />

der anderen Seite des Hafens mitten im Zentrum<br />

von Belém ist schon länger in vollem Gange. Es<br />

herrscht <strong>ein</strong> emsiges Treiben. Am Kai legt gerade<br />

noch <strong>ein</strong> gedrungenes Boot an, gießt<br />

Menschenmassen auf die Promenade. Männer<br />

tragen, buckeln, hiefen Korb um Korb, randvoll,<br />

an Land. Reihen sie säuberlich <strong>ein</strong>er neben den<br />

anderen auf. Die w<strong>und</strong>erschönen Körbe sind<br />

altmodisch geflochten, so kann die Luft<br />

ungehindert zirkulieren, der Inhalt, Açaí, auch<br />

weißer Açaí ist darunter <strong>und</strong> Bacaba, bleibt frisch.<br />

Manche haben kunstvolle, turbanartige<br />

Aufbauten, mit Pflanzenstängeln genauso<br />

kunstvoll abgesichert.<br />

Gleich bei der Ankunft wird mir klar, wie es hier zu<br />

<strong>und</strong> her geht. Zimperliches ist für andere. Der<br />

Taxifahrer hat mal wieder k<strong>ein</strong> Wechselgeld.<br />

Nichts <strong>ein</strong>facher als das. Haue den nächststehenden<br />

Mann an. Der zieht ohne Zögern <strong>ein</strong><br />

fünf Zentimeter dickes Bündel Sch<strong>ein</strong>e aus der<br />

Hosentasche. Zählt <strong>ein</strong> paar kl<strong>ein</strong>ere Noten ab.<br />

Hier wird noch bar <strong>und</strong> sicher ohne Quittung<br />

bezahlt. Wie man es mit den Steuern hält, bleibt<br />

Betriebsgeheimnis. Açaí ist in Belém <strong>ein</strong> wichtiger<br />

Wirtschaftsfaktor. Der Markt funktioniert so gut,<br />

dass es hier, im Gegensatz zu anderen Teilen des<br />

Amazonas, das ganze Jahr über frischen Açaí gibt.<br />

Auch <strong>ein</strong>e richtige Börse, die täglich den<br />

Handelspreis festlegt, gibt es. Der Tagespreis des<br />

Açaís wird auch jeden Tag in allen Zeitungen <strong>und</strong><br />

im lokalen Radio veröffentlicht. Hier am Hafen<br />

kaufen Großhändler <strong>und</strong> Supermärkte genauso <strong>ein</strong><br />

wie all die kl<strong>ein</strong>en Hinterhofbüdchen, die jeden<br />

Tag aufs neue frischesten Açaí produzieren. Das<br />

geheimnisvolle System der Produzenten, die<br />

ihrerseits von <strong>ein</strong>em Netz der Händler <strong>und</strong><br />

Zwischenhändler, „Atravessadores“, abhängig<br />

sind, ist für Außenstehende <strong>und</strong>urchschaubar.<br />

Alles noch so, wie ehemals, als Açaí noch<br />

bezahlbar war <strong>und</strong> noch nicht zum Modegetränk<br />

avanciert. Es war, zusammen mit Farinha, das<br />

tagtägliche Brot des Caboclos, die die Technik der<br />

Zubereitung mit Sicherheit von den Indios lernten.<br />

Beliebt ist Açaí auch bis heute noch oder wieder zu<br />

<strong>ein</strong>em guten Stück Fleisch oder Fisch, die können<br />

altmodischer Weise auch <strong>ein</strong>gesalzen s<strong>ein</strong>.<br />

Moderne <strong>und</strong> stättische Haushalte essen Açaí eher<br />

als Nachspeise, dann auch gesüßt.<br />

Açaí ist nichts anderes, als die hauchf<strong>ein</strong>e,<br />

dunkelschwarze Schale <strong>ein</strong>es kl<strong>ein</strong>en<br />

Kokosnüsschens von der Größe <strong>ein</strong>er Kichererbse.<br />

Es wächst in lockeren Dolden am „Açaízeiro“, <strong>ein</strong>er<br />

dünnstämmigen Palmenart. Diese Schale wird<br />

abgerieben <strong>und</strong> in Wasser aufgelöst, bis <strong>ein</strong> dicker<br />

Brei entsteht. Wer das erste Mal von der<br />

dunkelroten, dickflüssigen Masse isst, lokal <strong>und</strong><br />

pur, staunt. Erdig, hölzern, so dick, dass der<br />

Löffel fast darin stecken bleibt. Vom Leckersten,<br />

was es gibt!<br />

Auf die ganze Stadt verteilt signalisieren<br />

<strong>ein</strong>fachere, abgerissenere oder kitschig grelle<br />

Fahnen <strong>und</strong> Tafeln, dass man hier Açaí verkauft.<br />

Nur.... Traditionelerweise stellen kl<strong>ein</strong>e,<br />

halbindustrialisierte Handwerksbetriebe Açaí her.<br />

Oft nicht mehr als kl<strong>ein</strong>e Verschläge <strong>und</strong><br />

Hinterhöfe, <strong>ein</strong> fensterloser Raum mit Tür. Sie<br />

verarbeiten hier die morgens in aller<br />

Herrgottsfrühe frischestens angelieferten<br />

Kokosnüsschen. Açaí ist sehr verderblich.<br />

Morgens abgerieben ändert sich nachmittags<br />

schon der Geschmack, abends ist er sauer <strong>und</strong><br />

damit unverkäuflich. Frischen Açaí gibt es<br />

deshalb nur so lange es hat, normalerweise bis<br />

14h00 Uhr oder so. Bleibt was übrig, kann man<br />

es mit Glück tiefgefroren nach Hause<br />

mitnehmen.<br />

Will man Açaí genießen, lohnen sich <strong>ein</strong> paar<br />

Vorsichtsmaßnahmen. Leisten Sie den<br />

misstrauischen Instruktionen Einheimischer<br />

Folge. Nicht alle Verkaufsstellen sind ausreichend<br />

hygienisch, benutzen gefiltertes Wasser usw…<br />

Heute steht gar in der Zeitung, dass die lokale<br />

Ges<strong>und</strong>heitsaufsichtsbehörde gestern<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 734


verschiedene Açaí-Verkaufsstellen in der Stadt<br />

wegen Hygienemängel geschlossen habe.<br />

Dank der großen Nachfrage <strong>und</strong> dem hohen Preis<br />

gibt es aber immer mehr blitzsaubere, modern<br />

ausgestattete Verkaufsstellen.<br />

Auch der Ausspruch – „M<strong>ein</strong> Großvater war der<br />

letzte, der Fisch zum Açaí gegessen hat!“ – ist<br />

nicht mehr aktuell. Neue Generationen von<br />

F<strong>ein</strong>schmeckern entdecken ihre eigene Kulinaria<br />

neu. Heute wird auch in <strong>ein</strong> paar wenigen<br />

schicken Restaurants <strong>ein</strong> Halbliterkrug Açaí zum<br />

gebratenen Fisch serviert. Probieren Sie auch die<br />

haselnussfarbene Bacaba! Ziemlich anders im<br />

Geschmack, noch kalorienreicher <strong>und</strong> fetter,<br />

Achtung, dosieren, aber <strong>ein</strong> naher Verwandter<br />

<strong>und</strong> lecker. Am besten schmeckt wohl der weiße<br />

Açaí. Er kommt, zu m<strong>ein</strong>er totalen Verblüffung,<br />

schlammfarben trüb an – <strong>und</strong> schmeckt!<br />

W<strong>und</strong>erbar! Sehr viel knusprige Tapiocaflocken<br />

darunter gemischt <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>en Spruch Lügen<br />

gestraft: Nur <strong>ein</strong> wirklicher Caboclo isst Açaí ohne<br />

Zucker!<br />

für die Sicherheit der Pflücker getan. Niedrigere<br />

Varianten der Açaípalmen zu züchten oder die<br />

Pflanze überhaupt zu domestizieren, dauert <strong>ein</strong><br />

Weilchen. Die Erntearbeiter stehen halt ganz<br />

unten auf der sozialen Leiter <strong>und</strong> haben k<strong>ein</strong>e<br />

Lobby.<br />

Ein Nachtrag. Açaí ist gerade groß in Mode. Dass<br />

das Açaí-Pflücken aber <strong>ein</strong>e ziemlich gefährliche<br />

Sache ist, sch<strong>ein</strong>t k<strong>ein</strong>en zu kümmern. Immer<br />

wieder kommt es vor, dass <strong>ein</strong>er der Erntearbeiter<br />

vom Baum fällt, <strong>ein</strong>er der hoch<br />

aufgeschossenen Stämmchen <strong>ein</strong>fach abbricht.<br />

Darüber spricht man nicht. Wenig wurde bisher<br />

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Der frischeste Fische der Welt!<br />

Fischmärkte sind gewöhnungsbedürftig. Sie<br />

finden früh, sehr früh statt. Je früher man kommt,<br />

desto besser, frischer <strong>und</strong> vielfältiger ist die<br />

Auswahl. Am besten geht man noch vor oder<br />

gleich nach dem Frühstück. Ein Fischmarkt, der<br />

was auf sich hält, schließt pünktlich um 12h00,<br />

noch vor dem Mittagessen. Später gibt’s Fisch nur<br />

noch im Supermarkt.<br />

Kommt man früh, merkt man, dass so <strong>ein</strong><br />

Fischmarkt, wie alle Märkte, <strong>ein</strong>en eigenen<br />

Kosmos bildet. Es beginnt bei den Parkplatzzuweiser,<br />

alle inoffiziell <strong>und</strong> selbst ernannt. Aber<br />

sie tun mir immer irgendwie <strong>ein</strong>en Parkplatz auf,<br />

manchmal auch in der dritten Reihe. Sie nennen<br />

mich anbiedernd “Tia!” Tante, helfen mir mit der<br />

schweren Kühlbox voller Fische <strong>und</strong> ich<br />

revanchiere mich, indem ich ihnen auch mal die<br />

Autoschlüssel anvertraue, zum Umparken, siehe<br />

oben, dritte Reihe.<br />

M<strong>ein</strong> Fischmarkt bietet viel. Natürlich den<br />

frischesten Fisch der Welt. Fre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong><br />

kompetente Fischverkäufer, die nur allzu gerne zu<br />

<strong>ein</strong>em Schwatz aufgelegt sind. Genauso wie die,<br />

sozusagen die Hilfskräfte, deren Beruf es ist, die<br />

Fische, die ich soeben gekauft habe, ausnehmen<br />

<strong>und</strong> je nach K<strong>und</strong>enwunsch pfannenfertig her zu<br />

richten. Die schenken mir auch mal leckeren<br />

Fischlaich. Der würde sonst weggeworfen <strong>und</strong><br />

erklären mir die Anatomie der Fische <strong>und</strong><br />

anderes. Sie wissen wie alle hier, welche Fische<br />

wie <strong>ein</strong>geschnitten werden müssen. So kann man<br />

sie, trotz der vielen f<strong>ein</strong>en Geräten problemlos<br />

verspeisen. Machen daraus <strong>ein</strong>e Meisterleistung.<br />

Reihen drei, vier Fische vor sich auf <strong>und</strong> schneiden<br />

sie dann so routiniert <strong>und</strong> blitzschnell <strong>ein</strong>, <strong>ein</strong><br />

Schnitt haarscharf neben dem anderen, das<br />

Messer von der Fingerkuppe geleitet, so virtuos<br />

<strong>und</strong> routiniert, dass sie dabei nicht mal mehr auf<br />

die Finger schauen müssen. Das Einschneiden<br />

heißt “ticar”, <strong>ein</strong> Verb, das nur für diese Arbeit<br />

verwendet wird.<br />

Zusammen mit den nicht so <strong>ein</strong>fachen Namen der<br />

Fische lerne ich auch <strong>ein</strong> ganz neues,<br />

hochspezifisches Vokabular. Eigne mir nicht nur all<br />

die komplizierten Namen der Fische, sondern auch<br />

das Wissen an, wie man Fisch <strong>ein</strong>kauft. Sehe beim<br />

Salzen zu, beim Einpökeln <strong>und</strong> Trocknen der<br />

Fische. Unhygienisch, schauerlich <strong>und</strong> faszinierend.<br />

Das ganze gewürzt mit kl<strong>ein</strong>en Geschichten,<br />

Anekdoten, wie dieser der “Traira”. Die Frau, die<br />

sie gerade ausnimmt, weist auf ihre spitzen Zähne<br />

<strong>und</strong> erzählt mir, dass sie doch mal von <strong>ein</strong>er, sie<br />

war so frisch, dass sie noch lebte, gebissen wurde.<br />

Es ist k<strong>ein</strong> edler Fisch, wie die vielen anderen, die<br />

sie auf der anderen Straßen-seite verkaufen. Aber<br />

hier weiß jeder, was es bedeutet, wenn man von<br />

jemandem sagt, er sei “Traira”, hinterhältig eben.<br />

Bew<strong>und</strong>ere den Stolz <strong>und</strong> das Wissen der<br />

Fischverkäufer. Sie alle sind m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung, dass<br />

es hier im amazonischen Hinterland wohl den<br />

frischesten Fisch der Welt, wenigstens der Welt,<br />

die wir beide kennen, gibt. Im Angebot sind nur<br />

Süßwasserfische, <strong>ein</strong>mal gefangen, landen sie<br />

st<strong>und</strong>en später im Topf. Und so will ich heute nur<br />

noch den allerfrischesten Fisch. Gelernt ist gelernt.<br />

K<strong>ein</strong> Problem, ich versichere Ihnen, schwöre, wie<br />

es hier Brauch ist, mit zusammengeschlagenen<br />

Knöcheln (jurar de pés juntos), dass der Fisch, den<br />

man hier kauft, garantiert k<strong>ein</strong>en “Pitiu” (lokales<br />

Wort für Fischgeruch) hat. Dennoch, die Verkäufer<br />

haben sich daran gewöhnt, dass ich die Kiemen<br />

der Fische sehen will, <strong>und</strong> dass ich alle Fische, auch<br />

die lokalen, kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> die mit den vielen Gräten<br />

esse. Und dass ich bis heute nicht so genau weiß,<br />

wie man die Frische <strong>ein</strong>es Fischbauchs beurteilt,<br />

denn den halten sie mir immer wieder zum<br />

Überprüfen derselben hin. Am Bauch kann man<br />

übrigens auch sehen, wie fett so <strong>ein</strong> Fisch ist.<br />

Fette Fische mögen sie hier traditionellerweise am<br />

liebsten. Und starken Eigengeschmack oder<br />

Persönlichkeit sollen sie auch haben, so wie der<br />

„Tambaqui“. Heute mehrheitlich aus Fischzuchten<br />

geliefert, was den Bestand wohl rettet, kommt<br />

s<strong>ein</strong> fettes Fleisch, perfekt zum Grillen, von all den<br />

Kokosfrüchten, Kastanien <strong>und</strong> anderen<br />

Baumfrüchten, die dem Pflanzenfresser sozusagen<br />

ins Fischmaul fallen. Delikate Fische, wie ich sie<br />

aus Europa gewohnt bin, gelten hier als<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 741


uninteressant, als Schon- oder Krankenkost.<br />

Letztere werden gerne für Fischsuppen<br />

verwendet oder traditionellerweise ausgebacken.<br />

Es muss ja nicht gerade in Butter s<strong>ein</strong>, wie es mir<br />

<strong>ein</strong>er der Händler mal vorgeschlagen hat. Sicher<br />

göttlich! Wie wär´s mit <strong>ein</strong>er „Caldeirada“, der<br />

traditionellen Fischsuppe? Mit großzügigen, fast<br />

grätenlosen Fischtranchen, klassisch sind<br />

„Filhote“, „Pescada amarela“ oder „Tucunaré“,<br />

drei der fünf oder sechs am meisten geschätzten<br />

Fische? Zusammen mit <strong>ein</strong>er Handvoll<br />

Süßwasserkrabben in <strong>ein</strong>er leckeren Brühe in der<br />

neben Paprika, Tomaten, Kartoffeln <strong>und</strong> anderen<br />

Gemüsen hart gekochte Eier nicht fehlen dürfen,<br />

gar gezogen. Auch in Tucupi pochiert schmecken<br />

sie nochmal so gut.<br />

Aber das ist nur <strong>ein</strong>e Kostbrobe - es gibt mehr als<br />

1.200 Arten essbare Fische im Amazonas! Wie<br />

wäre es mit „Pirarucú“, dem Amazonischen<br />

Bacalhão (Stockfisch)? Jedem F<strong>ein</strong>schmecker, der<br />

schon die Ehre hatte, dürften schon all<strong>ein</strong> beim<br />

Lesen die Speicheldrüsen angeregt worden s<strong>ein</strong>.<br />

Der „Pirarucu“, <strong>ein</strong> urtümlicher Riesenfisch, heute<br />

unter Schutz gestellt, <strong>und</strong> auch schon aus<br />

Fischzuchten erhältlich, ist <strong>ein</strong> kulinarisches<br />

Heiligtum. Er kann, k<strong>ein</strong> Fischerlat<strong>ein</strong>, mehr als<br />

drei Meter lang werden, <strong>und</strong> erreicht <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb<br />

Meter Umfang. Oft wird er, in lange „Mantas“,<br />

Riesenfilets geschnitten, nach dem Vorbild des<br />

berühmten portugiesischen Stockfisches st<strong>ein</strong>hart<br />

<strong>ein</strong>gesalzen <strong>und</strong> in Rollen verkauft.<br />

Fisch<strong>ein</strong>kaufen auf dem Markt lehrt mich auch,<br />

dass nicht alle Fische immer verfügbar sind, <strong>und</strong><br />

dass Fischen <strong>ein</strong>e Tätigkeit ist, die man als<br />

Extrativismus bezeichnet. So gilt es immer zu<br />

Improvisieren. Der ach so leckere „Mapará“ taucht<br />

nur auf, wenn s<strong>ein</strong>e Fischschwärme gerade<br />

vorbeiziehen. Und mit den steigenden Wassern<br />

werden die Fische rarer. Dieses Jahr sind die<br />

Wasser besonders schnell gestiegen. Noch fehlen<br />

drei Wochen bis zur Karwoche, aber schon ist das<br />

Angebot dürftig. Der Fischverkäufer hat dazu<br />

folgende Anektote: „M<strong>ein</strong>e Liebe, Sie können es<br />

mir glauben oder nicht, aber in der Karwoche<br />

verschwinden die Fische. Die K<strong>und</strong>en denken ja,<br />

dass wir sie verstecken, aber das stimmt nicht.<br />

Erinnere mich noch sehr gut, <strong>ein</strong>mal, als ich noch<br />

Kind war, hieß mich m<strong>ein</strong> Vater fischen gehen.<br />

Einen lecken Fisch auf den Ostertisch sollte es<br />

schon s<strong>ein</strong>. Aber Sie können es mir glauben, nicht<br />

mal <strong>ein</strong>e Piranha hat angebissen! Wir mussten<br />

doch wirklich <strong>ein</strong> Huhn kaufen, damit wir was auf<br />

dem Tisch hatten!“<br />

Sind die Wasser tief, werden tonnenweise Fische<br />

angeliefert. Die größten <strong>und</strong> leckersten, m<strong>ein</strong><br />

Rekord ist <strong>ein</strong> Filhote, der 16 kg auf die Waage<br />

brachte, werden in luftigen Körben her gebuckelt,<br />

von geheimnisvollen Händlern auf hohen,<br />

tronartigen Stühlen, die ihnen wohl den<br />

Überblick garantieren, in geheimnisvollen<br />

Schulheften notiert <strong>und</strong> verschwinden dann<br />

gleich in den Kühlwagen, die sie ins restliche<br />

Brasilien bringen. Zusammen mit den vielen<br />

anderen Fischen, die in Küstennähe auch aus<br />

dem Meer oder aus jenen Wassern, die weder<br />

salzig noch süß sind, gefischt werden.<br />

Endlich wage ich mich auch an den vorsintflutlichen<br />

Acari-Bodó, <strong>ein</strong>er der vielen Fische<br />

zweiter, oder dritter Klasse. Er hat statt Gräten<br />

<strong>ein</strong>en Knochenpanzer, was ihm <strong>ein</strong> sehr<br />

gewöhnungsbedürftiges Aussehen verleiht.<br />

Zudem hat er <strong>ein</strong>e Lunge, was ihm erlaubt, auch<br />

auf dem Trockenen st<strong>und</strong>enlang zu überleben.<br />

Schauerlich, wenn die Plastiktüte noch vor sich<br />

hin zuckt, wenn man ihn gekauft hat. Aber er<br />

schmeckt! Gebraten oder gegrillt findet man ihn<br />

in k<strong>ein</strong>em Restaurant. Nur gleich hier am Hafen<br />

grillen sie ihn gleich im Dutzend.<br />

Lerne, dass der Preis <strong>ein</strong>es Fisches proportional<br />

zu s<strong>ein</strong>em Aussehen ab oder zunimmt <strong>und</strong><br />

davon, wie viele Gräten er hat, <strong>und</strong> dass s<strong>ein</strong><br />

Geschmack erst an zweiter Stelle kommt.<br />

Überaus gewöhnunsgbedürftig sind auch die<br />

Krebse, „Caranguejos“. In küstennahen Städten<br />

werden sie lebend angeboten, auch mal aus<br />

<strong>ein</strong>em Einkaufswagen heraus. Sie wurden in<br />

mühevoller Handarbeit aus den schwarzlehmigen<br />

Mangrovensümpfen gefischt <strong>und</strong> schmecken<br />

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w<strong>und</strong>erbar. Besonders die „Casquinha de<br />

caranguejo“, das „Krebspanzerchen“ ist <strong>ein</strong>e<br />

w<strong>und</strong>erbare Vorspeise, besonders weil schon<br />

jemand anders die mühevolle Arbeit des<br />

Panzerausnehmens übernommen hat. Die „Pata“<br />

oder „Unha de carangejo“, <strong>ein</strong>e fettausgebackene<br />

Kalorienbombe, fehlt in k<strong>ein</strong>em nördlichen<br />

Schnellimbiss oder den improvisierten Ständen,<br />

gar bei den „Tabuleiros“, auf deren<br />

Bauchladentabletts traurig mit <strong>ein</strong>gebackenen<br />

Zangen den hungrigen Käufern schon<br />

frühmorgens zuwinken.<br />

Xxxxx<br />

Zum Schluss kaufe ich mir noch etwas von den<br />

winzigen „Avium“, den kl<strong>ein</strong>sten, nur etwa 8mm<br />

langen Shrimps. Die sind gerade frisch erhältlich<br />

<strong>und</strong> werden schon bald wieder verschwinden, von<br />

geheimnisvollen Strömungen davon getragen. Es<br />

gibt sie dann noch <strong>ein</strong>e Weile <strong>ein</strong>gesalzen, wie so<br />

viele Fische <strong>und</strong> Krustentiere hier, dann aber<br />

verschwinden sie bis zum nächsten Februar, oder<br />

dann, wenn die Strömungen gerade günstig sind.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 743


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 744


Remoso <strong>und</strong> andere Tabus<br />

M<strong>ein</strong>e Schwiegermutter, Gott sei ihrer Seele<br />

gnädig, wurde uralt. Aber sie schien ständig an<br />

etwas zu leiden. Und sie war voller Tabus,<br />

ständigem Nicht-Dürfen, besonders wenn es ums<br />

Essen ging. Schokolade zum Beispiel, gab ihr<br />

dummerweise Durchfall. Berühmt war ihr “Peixe<br />

de doente”, der Fisch für Kranke, <strong>ein</strong> Fisch,<br />

natürlich nur <strong>ein</strong>er mit Schuppen, sehr schonend<br />

<strong>ein</strong>zig mit <strong>ein</strong> paar aromatischen Kräutern gegart.<br />

(Es wird hier im Norden zwischen Fischen mit<br />

Schuppen <strong>und</strong> solchen mit dicker Lederhaut<br />

unterschieden.) Fische mit Lederhaut, “Peixes de<br />

couro” gelten als “remoso”, <strong>ein</strong>e Art Tabu.<br />

Speisen, die “remoso” sind, dazu gehören auch<br />

Krustentiere, verschlimmern etwelche, schon<br />

vorhandenen Leiden, Allergien oder Anfälligkeiten<br />

im Körper <strong>und</strong> sollten von allen, die sich nicht<br />

perfekt ges<strong>und</strong> fühlen, gemieden werden. Stellt<br />

man sich gegen das Gebot, kann das schlimme,<br />

gar tödliche Folgen haben. Denn wahr, erf<strong>und</strong>en<br />

oder überliefert – Essentabus sind <strong>ein</strong> Wissen, das<br />

sich unserer Zivilisationsignoranz entzieht. Eine<br />

Weisheit, die ich respektiere.<br />

Irgendwann holen auch mich die Tabus, <strong>ein</strong>e<br />

komplizierte Reihe von Geboten <strong>und</strong> Verboten,<br />

r<strong>und</strong> ums Essen, <strong>ein</strong>. Beim Mittagessen entspinnt<br />

sich über m<strong>ein</strong>en Kopf hinweg folgendes<br />

Gespräch. Alle sind sich <strong>ein</strong>ig: “Heute muss sie auf<br />

den Mangosaft verzichten!” Zum Nachtisch gibts<br />

nämlich Açaí. Zucke die Schultern <strong>und</strong> schicke<br />

mich höflich ins Unwiderrufliche. Mango <strong>und</strong><br />

„Açaí“, das weiß hier jedes Kind, vertragen<br />

sich nicht! Bilden <strong>ein</strong>e absolut tödliche<br />

Kombination, wenigstens für die Einheimischen<br />

oder für die, die daran glauben. Schon steht die<br />

schwarze Halbkalebasse vor mir. „Açaí“. Die<br />

dickflüssige Creme dunkelroter Farbe schmeckt<br />

leicht rauchig, fruchtig, fremd.<br />

Wahrsch<strong>ein</strong>dlich kennen alle Völker<br />

Ernährungstabus. Hier im Amazonas treffen wir<br />

auf die Spuren so ganz unterschiedlicher Kulturen<br />

wie die der Indigenen, der Portugiesen, <strong>ein</strong> Teil<br />

davon geflohne Juden, zum Christentum<br />

konvertiert, der Libanesen <strong>und</strong> der Leute aus dem<br />

Brasilianischen Nordosten, die sich in <strong>ein</strong>em<br />

unerwarteten Schmelztiegel mischen. Wahr oder<br />

nicht, bewiesen oder nur geglaubt, aus<br />

Beobachtungen abgeleitet oder aus religiösen<br />

Gründen etabliert, in alle ihren Tabus liegt wohl<br />

<strong>ein</strong> Korn Wahrheit.<br />

Ironischerweise gesellen sich zu den überlieferten<br />

Tabus neuere, von modernen Medien fabrizierte.<br />

Sie verkörpern wohl Fortschritt <strong>und</strong> Moderne.<br />

Butter ist in ganz Brasilien verpönt, als unges<strong>und</strong><br />

verschrien. Wurde durch die ach so viel gesündere<br />

<strong>und</strong> natürlich auch viel billigere Margarine oder<br />

noch Schlimmeres ersetzt. Bei der Milch habe ich<br />

die Wahl zwischen flüssiger Milch <strong>und</strong> Milch in<br />

Pulverform. In vielen Haushalten kommt nur die<br />

ach so praktische Pulvermilch auf den Tisch. Und<br />

auch ohne die stark gezuckerte Kondensmilch<br />

überlebt hier k<strong>ein</strong>er. Nur dem Zucker wird hier<br />

noch unverblümter, in geradezu unanständigen<br />

Mengen zugesprochen.<br />

Wie man <strong>ein</strong> Tabu auch ganz listig zu s<strong>ein</strong>en<br />

Gunsten auslegen kann, erklärte mir kürzlich <strong>ein</strong>e<br />

Wissenschaftlerin. Sie besucht aus beruflichen<br />

Gründen immer wieder indigene Stämme. Isst<br />

da, die Höflichkeit gebietet das, was in <strong>und</strong> aus<br />

den Töpfen kommt. Das kann auch mal <strong>ein</strong> Affe<br />

s<strong>ein</strong>. Indigene Stämme glauben fest daran, dass<br />

wir alle von irgend<strong>ein</strong>em Tier abstammen. Das<br />

Tier, von dem man abstammt, ist allerdings tabu.<br />

Man darf es nicht essen. Man ist ja k<strong>ein</strong> Kanibale.<br />

Unsere Wissenschaftlerine erklärt nun immer<br />

ganz zu Anfang, dass sie vom Affen abstamme.<br />

Bekommt deshalb glücklicherweise alles<br />

mögliche, nur k<strong>ein</strong>e Affen vorgesetzt. K<strong>ein</strong>er<br />

würde ihr zumuten, dass sie <strong>ein</strong>en ihrer<br />

Vorfahren oder Verwandten verspiese! Bedauern<br />

höchstens, dass sie das für sie tabuisierte<br />

Festmahl, leider, leider, wie schade, nicht teilen<br />

kann!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 745


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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 748


Vom Salz<br />

Das scharf geschliffene Messer schneidet<br />

regelmäßige Furchen in den Fisch, es ist <strong>ein</strong> lang<br />

gezogener, flacher Aruan. Ein traditionelles<br />

Muster aus längs <strong>und</strong> Quer<strong>ein</strong>schnitten, die<br />

Erfahrung diktiert den Abstand <strong>und</strong> die Tiefe<br />

derselben. Die Kerben bereiten den Fisch aufs<br />

Einsalzen vor. Einpökeln, die uralte Konservierungsmethode<br />

wird hier auf dem amazonischen<br />

Fischmarkt tagtäglich praktiziert. Die Furchen<br />

erlauben dem Salz ganz tief ins Fleisch des Fisches<br />

<strong>ein</strong>zudringen <strong>und</strong> da s<strong>ein</strong>e dörrende Wirkung zu<br />

entfalten. Nun greift s<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>e Hand tief in die<br />

Tüte mit dem Salz. Reibt es großzügig über das<br />

Fleisch, knetet es richtig tief r<strong>ein</strong>, bringt es in jede<br />

Spalte. Der Rest wir der Osmose überlassen. Die<br />

entzieht dem Fisch alles Wasser <strong>und</strong> unterbindet<br />

auch gleichzeitig die Zerstörungsaktion jeglicher<br />

Mikroorganismen. Der ganze Prozess wird von<br />

Sonne <strong>und</strong> Wind unterstützt <strong>und</strong> verstärkt.<br />

Geschockt, sprachlos bin ich nur das erste Mal.<br />

Dann nämlich, wenn der ältere Mann in der<br />

weißen Kittelschürze, <strong>ein</strong>e Matrosenmütze auf<br />

dem Haar noch <strong>ein</strong>en der vielen gesalzenen<br />

Fische wendet. Die sind, bunt gemischt, hier auf<br />

dem schmalen Bürgersteig <strong>ein</strong>er Zufahrtsstraße<br />

zum Hafen zum Trocknen ausgebreitet. Verteilen<br />

sich auf <strong>ein</strong> paar Wellpappen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />

hochkannt aufgestellte Styroporkisten,<br />

normalerweise zum Transport von Fisch<br />

verwendet. Das Klima ist gerade günstig. Die<br />

Sonne brennt unbarmherzig.<br />

So war es immer schon <strong>und</strong> wir noch <strong>ein</strong>e gute<br />

Weile weitergehen. Bis dann auch hier die<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbehörde der Tradition irgendwann<br />

irgendwelche Schranken setzt. K<strong>ein</strong>e Angst. Gegen<br />

das Salz hat k<strong>ein</strong>e Bakterie, k<strong>ein</strong>e Fliege, höchstens<br />

der Fressinstinkt der Aasgeier <strong>ein</strong>e Chance. Riesige<br />

Fische wie der Pirarucu werden regelrecht<br />

aufgefaltet. Nur so ist gewährleistet, dass das Salz<br />

s<strong>ein</strong>e Magie zaubern kann <strong>und</strong> der Fisch auch bei<br />

tropischen Temperaturen gut durchtrocknet -<br />

knochenhart, monatelang haltbar.<br />

Das Salz würzt nicht nur, trocknet <strong>und</strong> pökelt,<br />

sondern vollbringt andere kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>er,<br />

überlebenswichtig in den Zeiten Vor-Kühlschrank<br />

oder wenn man, wie wir, am Ende der Welt lebt,<br />

wo uralte Traditionen noch immer überdauern.<br />

Lerne von m<strong>ein</strong>er Hausangestellten, dass <strong>ein</strong><br />

frischer Fisch, den ich heute kaufe, aber erst<br />

morgen zubereiten will, mit <strong>ein</strong>er f<strong>ein</strong>en<br />

Salzschicht bedeckt, auch im Kühlschrank<br />

w<strong>und</strong>erbar frisch bleibt <strong>und</strong> bis zum nächsten Tag<br />

nicht den geringsten fischigen Geruch entwickelt.<br />

Das Salz konserviert <strong>und</strong> verstärkt gar s<strong>ein</strong><br />

Eigenaroma. Das wissen auch die Fischverkäufer.<br />

Fische, die nicht mehr ganz taufrisch sind,<br />

schwimmen in <strong>ein</strong>e Salzlauge. Die konserviert ihn<br />

auch ohne Eis oder Kühlschrank noch für <strong>ein</strong> paar<br />

Tage.<br />

Interessanter nur das Fischmehl, „Piracui“. Eine<br />

pre-cabralianische Methode, von der indigenen<br />

Bevölkerung entwickelt, die es ihnen erlaubte,<br />

den Fisch auch ganz ohne Salz über mehrere<br />

Monate zu konservieren. „Piracui“ wird hier, es<br />

ist voller kl<strong>ein</strong>er Knochenteile <strong>und</strong> Gräten <strong>und</strong><br />

hat den typischen Geruch <strong>ein</strong>gesalzenen Fisches,<br />

auf dem ganzen Markt verkauft. Es gehört<br />

unbedingt zu m<strong>ein</strong>er Notration, mit der ich<br />

immer <strong>ein</strong>e leckere Suppe oder Fischbällchen<br />

zaubern kann. Gewonnen aus verschiedenen<br />

billigen Fischen, hinter vorgehaltener Hand sagen<br />

sie auch aus Krokodilen, wird das Rohmaterial,<br />

der Fisch zuerst gut durchgegrillt, ja fast<br />

getrocknet. Dann wird es im Mörser zerstoßen<br />

<strong>und</strong> an der Sonne weiter getrocknet, wie seit<br />

Urzeiten schon.<br />

Will man davon kaufen, empfiehlt sich <strong>ein</strong>e<br />

kl<strong>ein</strong>e Kostprobe, da gleich vor Ort….. .<br />

Schauerlicher wohl nur jene Begegnung der<br />

älteren Dame mit deutlich indigenen Zügen, die<br />

ihren Zeigefinger an dem riesigen, schon<br />

<strong>ein</strong>gesalzenen Fischgerippe rieb, ihn sich in den<br />

M<strong>und</strong> steckte <strong>und</strong> dann gutgeheißen zwei Kilo<br />

davon kaufte. Was genauso wie die riesigen<br />

Köpfe großer Speisefische, auch die gelten als<br />

Delikatesse, gar nicht etwa billig verkauft wurde!<br />

Auch Shrimps, auf dem Markt werden sie, in<br />

riesigen, rosafarbenen Haufen nach Größe<br />

sortiert, von mehreren Verkäufern angeboten,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 749


<strong>und</strong> Fleisch werden <strong>ein</strong>gepökelt. Neben der<br />

langen Haltbarkeit bereichert das Salz Fleisch,<br />

Fisch <strong>und</strong> Meeresfrüchte um interessante<br />

Geschmacksnuancen. Fleisch wird sogar<br />

unerwartet zart. Klar, dass das Salz vor dem<br />

Weiterverarbeiten entfernt werden muss. So<br />

schwimmt der Fisch oder das Fleisch <strong>ein</strong>e Nacht<br />

lang im Wasser, das mehrmals gewechselt<br />

werden muss. Wer es ganz edel mag, <strong>ein</strong>e<br />

portugiesische Erfindung, verwendet auch mal<br />

Milch zum Entsalzen. Fertig ist dann der köstliche<br />

Sonntagsfisch, geschätzter <strong>und</strong> teurer als frisches<br />

Fischfilet….. .<br />

Xxxxx<br />

Übrigens, apropos Einsalzen…. Kürzlich musst ich<br />

zur Post. Es war um die Mittagszeit, da sind die<br />

Schlangen w<strong>und</strong>erbarerweise kürzer, als der<br />

Postbote, der mich bediente, s<strong>ein</strong>e „Marmitex“,<br />

s<strong>ein</strong> in Alufolie <strong>ein</strong>geschweißtes Mittagessen an<br />

den Schalter geliefert bekam. Ich weiß wirklich<br />

nicht mehr, wie es dazu kam, aber zum Schluss<br />

erklärte mir der Koch, er war es, der das Essen<br />

auch austrug, wie er s<strong>ein</strong> eigenes Fleisch <strong>ein</strong>salze.<br />

Nur das garantiere die ausgezeichnete Qualität.<br />

Von dieser, wie er sie soeben über den Schalter<br />

geschoben habe. Hörte sich gar nicht so<br />

kompliziert an. Muss es wirklich auch mal<br />

versuchen. Oder vielleicht zuerst mit <strong>ein</strong>em Fisch?<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 750


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 751


Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte!<br />

Aus Ges<strong>und</strong>heitsgründen empfiehlt es sich ja, je<br />

näher man dem Äquator kommt, desto weniger<br />

rohe Speisen zu sich zu nehmen. Man vermeidet<br />

so unerwartete unangenehme Folgen. M<strong>ein</strong><br />

Schwiegervater aber, Gott hab ihn selig, <strong>und</strong> viele<br />

s<strong>ein</strong>er Zeitgenossen gingen <strong>und</strong> gehen noch<br />

weiter. S<strong>ein</strong> Kommentar war: “Bin doch k<strong>ein</strong>e<br />

Schildkröte, die nur Blätter frisst!” Sprach sich<br />

kategorisch gegen alles aus, was grün oder roh<br />

war. Auch Gemüse kam ihm nur untergejubelt<br />

über die Zunge. In den tagtäglichen Bohnen<br />

versteckt vielleicht, in der Fischsuppe oder als<br />

Vinaigrette getarnt. Klitzekl<strong>ein</strong>, wirklich winzig<br />

gehackt <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang geschmacklos gekocht,<br />

reichte <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Winzsalat für die ganze<br />

zahlreiche Familie.<br />

Wie dramatisch das ganze ist, wird mir erst im<br />

sehr schicken Restaurant klar, als mich Gäste aus<br />

Europa fragten, ob es dann zu all dem Fisch gar<br />

k<strong>ein</strong> Gemüse gäbe..... . Der Kellner zaubert dann<br />

<strong>ein</strong>en vegetarischen Teller her, mit Karotten,<br />

sicher aus São Paulo importiert, Erbschen,<br />

garantiert tiefgefroren, <strong>und</strong> was weiß ich noch<br />

internationalem ... . Ernährungsberaterinnen<br />

haben es hier schwer. Essgewohnheiten ändert<br />

man nur langsam. Ansich ges<strong>und</strong>e Gewohnheiten<br />

wie der Nachmittagskaffee, der von Palmfrüchten<br />

wie “Pupunhas” oder leckeren Knollen wie die lila<br />

“Carás” begleitet werden, “Açaí” das man zum<br />

Fisch isst <strong>und</strong> Maniokwurzeln zum Frühstück,<br />

werden durch industrialisiertes Essen ersetzt. Dass<br />

alle Tuberkel als Gemüse <strong>und</strong> nicht als Kohlehydrate<br />

gelten <strong>und</strong> deshalb neben Reis <strong>und</strong><br />

Farinha am liebsten in Form von Pommes auf den<br />

Teller kommen, hinterfragt k<strong>ein</strong>er. Dass man<br />

daraus leckere Salate macht, so wie m<strong>ein</strong>e, finden<br />

alle höchst exotisch, besonders wenn ich die<br />

Zutaten nicht so lange zerkoche, bis man sie<br />

unisono mit dem Suppenlöffel essen kann.... .<br />

Schlendere ich allerdings über den Markt, stechen<br />

mir immer wieder w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> liebevoll<br />

zusammengestellte Gemüsebouquets ins Auge.<br />

Echte Esskunstwerke, appetitlich, farbig, lecker.<br />

Altmodisch in Zeitungspapier <strong>ein</strong>gerollt gibt es hier<br />

lokalen Spinat genauso wie <strong>ein</strong> Stück Rote Bete,<br />

den obligaten Kohl <strong>und</strong> den Kürbis. Frage ich nach,<br />

sagt man mir, dass sie am besten mit <strong>ein</strong>em guten<br />

Stück <strong>ein</strong>gesalzenem Fisch schmecken würden,<br />

oder auch im Eintopf, da kommen gar noch<br />

Kochbananen dazu, finden sie traditionellerweise<br />

Verwendung, hier im Norden auch in den<br />

tagtäglichen Bohnen.<br />

All das sind Zeichen <strong>ein</strong>er Gesellschaft im<br />

Umschwung. Mit <strong>ein</strong>em Fuß in den Traditionen,<br />

mit dem anderen in <strong>ein</strong>er ungewissen Moderne, in<br />

der das industrialisierte Essen mit all s<strong>ein</strong>en<br />

leckeren Verlockungen <strong>und</strong> den unschlagbaren<br />

Preisen winkt. Nicht mal Arbeit gibt es. Muss<br />

weder geschält, noch kl<strong>ein</strong> geschnitten werden.<br />

Eigentlich schade.<br />

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Der Brei<br />

Die Kinder, <strong>ein</strong> Junge, <strong>ein</strong> Mädchen, die Haut<br />

olivenfarben getönt, die kurzdunklen Haare<br />

glattglänzend wie Seide, springen vorne weg.<br />

Lachen, fröhlich, jeglicher Stopp ist ihnen <strong>ein</strong><br />

neues Spiel wert. Die Mutter, den Körper<br />

bremsend zurückgelegt, sichert mit beiden<br />

Händen die zum Bauchladen umgebaute<br />

Schubkarre. Soeben hat sie <strong>ein</strong>e der unzähligen<br />

Verkäuferinnen vor deren Lädchen bedient, deren<br />

hochstehender Bauch das gelbe Blüschen in<br />

starkem Gelb weit <strong>und</strong> hoch wölbt. Es ist gleich<br />

unter der Brust geschnürt. Lachend kommentiert<br />

sie, die Zwei-Realnote schon in der Hand, dass der<br />

kl<strong>ein</strong>e Extraimbiss ihnen, ihr <strong>und</strong> dem Kind in<br />

ihrem Bauch, helfen werde, das Stehen bis zur<br />

Mittagspause durchzuhalten.<br />

Ich verfolge gebannt den magischen Schöpflöffel<br />

aus blauem Plastik, sehe, wie er geschickt <strong>ein</strong>e<br />

weiße, dicklich dampfende Flüssigkeit in den<br />

dünnen Plastikbecher tropft <strong>und</strong> schon ist´s um<br />

mich geschehen. Unwiderstehlich! „Mingau“!!! –<br />

Hunger??? oder ganz <strong>ein</strong>fach Fressgelüste? Sie<br />

hat heute „Mingau de Tapioca“ im Topf. Dicklich<br />

in der Konsistenz, wird er aus Wasser,<br />

Kokosmilch, <strong>ein</strong>er Prise Salz <strong>und</strong> natürlich<br />

Tapiocaflocken, crispe, lockerluftige Crunchs aus<br />

Maniok, zusammengerührt. Die cremige Süße<br />

verleiht im die, Nestlé sei Dank, obligate<br />

Kondensmilch, von der Köchin/Verkäuferin unter<br />

dem fesch rot-grün karierten Hut mit der kurzen<br />

Krempe <strong>und</strong> dem unwiderstehlichen Lächeln<br />

großzügigst im Plastikbecher verteilt. Eine Lage in<br />

den halb vollen Becher, die zweite als ultrasüße<br />

Kuvertüre - Halt! Stop, nicht so süß, bitte! -<br />

obenauf. Schmeckt <strong>ein</strong>fach göttlich, heiß <strong>und</strong><br />

köstlich!<br />

Sie dirigiert Kinder <strong>und</strong> Schubkarre straßabwärts,<br />

das auf Maß zurechtgeschnittene Holzbrett<br />

sch<strong>ein</strong>t die drei riesigen, grauen, tecnogestylten<br />

Thermoskrüge, die Verschlüsse sorgfältig mit<br />

<strong>ein</strong>em Handtuch geschützt, gut aufrecht <strong>und</strong> an<br />

Ort <strong>und</strong> Stelle zu bewahren.<br />

Schaufle mir Plastiklöffelchen hinter Plastiklöffelchen<br />

der Breisuppe in den M<strong>und</strong>. Die fast<br />

transparenten Kügelchen sind al-dente,<br />

widerstehen dem Biss im genau richtigen Maß.<br />

Altmodisches Komfortessen. Warum nur haben<br />

die Spitzenköche dieses W<strong>und</strong>ergericht noch nicht<br />

in ihr Repertoire aufgenommen?<br />

Lustigerweise ist der Verkauf von Brei hier im<br />

Hinterland Männersache. Da ich sozusagen<br />

Stammk<strong>und</strong>in bin, hat mir der geschäftstüchtige<br />

Mann sogar s<strong>ein</strong> Kochrezept, diesmal des<br />

Maisbreis verraten. Klagte, dass m<strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>fach<br />

nie so gut sei. Alles beginnt am Vortag. Die ganzen,<br />

weißen Maiskörner müssen <strong>ein</strong>e Nacht lang<br />

<strong>ein</strong>geweicht werden. Werden dann am Vorabend<br />

gekocht, zuerst mit Wasser, dann mit der ewig<br />

präsenten Kondensmilch <strong>und</strong> Kokosmilch. Er<br />

betont, dass er nur die beste Marke, Nestlé<br />

verwende. Das merke man am Endresultat. Dann<br />

köchelt der Brei zusammen mit den restlichen<br />

Zutaten st<strong>und</strong>enlang vor sich hin, um dann am<br />

nächsten Morgen wieder aufgewärmt, verkauft zu<br />

werden. Köstlich!<br />

Ach, übrigens, im hintersten Hinterland gab es gar<br />

<strong>ein</strong>en Disc-Mingau. Per Handy kann der<br />

gewünschte Brei, Mais, Tapioca, Reis mit Kürbis<br />

oder am allerleckersten, grüne Kochbananen<br />

bestellt werden <strong>und</strong> wird sogleich per Motorrad<br />

geliefert. Wenn nur die vielen Plastikbecher nicht<br />

wären…. .<br />

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Ein regionales Frühstücksbankett<br />

Die Politesse löffelt genüsslich den „Mungunzá“,<br />

<strong>ein</strong> köstlicher Brei aus weißem Mais, St<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

St<strong>und</strong>en gekocht, bis er dicklich wird, cremig, mit<br />

oder ohne Zimt, gleich neben <strong>ein</strong>em anderen aus<br />

grünen Bananen! noch cremiger <strong>und</strong> mit kl<strong>ein</strong>en<br />

Fruchtstückchen, die <strong>ein</strong>em im M<strong>und</strong> zergehen!<br />

Beide im Plastikbecher serviert. Ihr Kollege, die<br />

Uniform sitzt etwas eng, isst <strong>ein</strong>e dicke „Tapioca“,<br />

f<strong>ein</strong>e, weiße hauchf<strong>ein</strong>e Pfannkuchen, ganz leicht,<br />

von der aufmerksamen Budenbesitzerin, <strong>ein</strong>er<br />

von vielen an<strong>ein</strong>ander gereihten, genau nach<br />

Wunsch gebacken <strong>und</strong> gefüllt. Frugal nur mit<br />

Butter? Oder vielleicht die regionale Variante?<br />

„Queijo qualha“, <strong>ein</strong> Fastkäse, in Scheiben oder in<br />

großzügige Späne gerieben, passt er ausgezeichnet<br />

zu den f<strong>ein</strong>en orangefarbenen Spiralen<br />

der Schale des „Tucumã“. Mit <strong>ein</strong>em Spiegelei<br />

oder Kokosflocken pulverisiert, vor Kurzem von<br />

Hand gerieben? Wie wär´s mit <strong>ein</strong>er Tapioca mit<br />

Bananen- oder Goiavenmus serviert, ausgiebigst<br />

mit Kondensmilch bekleckert, mit flüssiger<br />

Schokolade oder Karamell gefüllt? Man muss nur<br />

den Wunschzettel ausfüllen, den Kugelschreiber<br />

bringt die Kellnerin gleich mit <strong>und</strong> dann etwas<br />

warten.<br />

Das lokale Frühstück, <strong>ein</strong>e ganze Frühstückskultur,<br />

ist m<strong>ein</strong> Geheimtipp. Magere Putenbrust <strong>und</strong><br />

quadratisch bleicher Schinken, Brötchen, die fast<br />

wie Papier schmecken <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Käse, der so jung<br />

wie bleich ist in Geschmack <strong>und</strong> Aussehen, kann<br />

ich in jedem Hotel essen. Verwässerter, mit Eis<br />

<strong>und</strong> Zucker verdünnter Orangensaft? Danke, da<br />

gehe ich lieber um die Ecke auf den lokalen Markt.<br />

Angepriesen als „Café regional“, gibt es das reiche<br />

Frühstück heute sogar in schicken Bäckereien.<br />

Aber auf dem Markt ist es authentischer <strong>und</strong> am<br />

Nebentisch verpflegt sich gerade Herr jedermann<br />

oder eben die Polizei. Zudem gibt’s da alles, was<br />

m<strong>ein</strong> Herz begehrt. Cashewsaft, vanilliefarbenes<br />

Gelb, leicht <strong>und</strong> immer <strong>ein</strong> bisschen rau auf den<br />

Zähnen, es ist gerade Saison. „Cupuaçu“, exotische<br />

Gaumenfreuden, die mich bei jedem Schluck<br />

säuerlich parfümiert entzücken, nur vom delikaten<br />

„Bacuri“ übertroffen werden. Ohne Eis bitte. Das<br />

verwässert. Nehme lieber die Zimmertemperatur<br />

in Kauf. Kekse, weich <strong>und</strong> nur leicht süß, die<br />

Tapiokaflocken springen kugelr<strong>und</strong> <strong>und</strong> lecker aus<br />

der Kruste. Eine kl<strong>ein</strong>e Portion „Cuscuz“, aus<br />

Maisflocken, eidottergelb, mit Kokosmilch,<br />

perfekt, leicht - m<strong>ein</strong> Lieblingsfrühstück! Ach, es<br />

gibt auch die ewig lange Bananen! K<strong>ein</strong>e kann ihr<br />

das Wasser reichen, mit oder ohne Schale<br />

gebraten oder frittiert. Hier landen sie, zusammen<br />

mit dem erdig schmeckenden Tucumã <strong>und</strong> Käse in<br />

der doppelten Tapioca. Alles garantiert gekocht,<br />

sehr lange, bei sehr hohen Temperaturen<br />

gebraten, damit sind auch hygienische Bedenken<br />

vom Tisch. Nur Kaffeesüchtige müssen sich an die<br />

brasilianische Variante gewöhnen: Zuckersüß <strong>und</strong><br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich aus dem Thermoskrug. Auch Tee<br />

ist kompliziert. Der wird hier nur getrunken,<br />

wenn man krank ist. So gibt es nur bleiche<br />

Kamille <strong>und</strong> gallebitteren „Boldo“. Gekochte,<br />

fettglänzende „Pupunhas“ gefällig? Auch die<br />

haben gerade Saison <strong>und</strong> werden, das halbe<br />

Dutzend genau abgezählt, schon fertig gekocht<br />

auch die im Plastikbecher angeboten. Auch lila<br />

„Carás“, <strong>ein</strong>e Art Tuberkel <strong>und</strong> in Bananenblättern<br />

gebratener Kuchen aus Maniok <strong>und</strong><br />

„Pamonhas“, Maisschnitten, appetitlich in<br />

Maisblätter <strong>ein</strong>gefaltet, locken sorgsam in<br />

Plastikfolie <strong>ein</strong>gepackt, von der Theke. Andere<br />

Länder, andere Frühstückssitten.<br />

Ganz radikalen empfehle ich die Essstände des<br />

Ver-o-pesos. Da gibt es noch Breie, die an<br />

anderen Orten längst vergessen, ausgestorben<br />

sind. Wie wäre es denn mit Brei aus Kürbis <strong>und</strong><br />

Reis oder gar mit Açaí oder Buriti <strong>und</strong> Reis? Die<br />

kommen interessanterweise ohne Zucker aus.<br />

Nur <strong>ein</strong>e tüchtige Prise Salz gehört dazu. Kl<strong>ein</strong>e,<br />

f<strong>ein</strong>e Kalorien <strong>und</strong> Fettbomben – nur starke<br />

Mägen können da mithalten! - Regionale<br />

Frühstückbuffets füllen Augen <strong>und</strong> Magen, das<br />

Limit ist r<strong>ein</strong> körperlicher Art zeigen das Land<br />

aber von <strong>ein</strong>er ungewohnten Seite.<br />

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Köstliche Straßenkost<br />

Heute nennt man sie auch in Brasilien Foodtrucks.<br />

Hier im Norden gab es sie schon viel<br />

länger, wohl seit immer. Und Trucks sind sie auch<br />

nicht, dafür sind sie zu wenig gestylt. Dafür aber<br />

schießen sie jede Nacht heraus, gleich nach dem<br />

Eindunkeln, dann wenn die Sonne sich etwas<br />

ausgekühlt hat, werden wie von <strong>ein</strong>em<br />

Zauberstab <strong>ein</strong>fach aus dem Asphalt geschlagen.<br />

Da wo tagsüber <strong>ein</strong> öffentliches Amt funktioniert,<br />

installiert sich abends „Seu Rosário“,<br />

stadtbekannt, heiß geliebt <strong>und</strong> dreckbillig. Ein<br />

Wägelchen aus Blech, wie tausend andere. Rechts<br />

<strong>und</strong> links zwei endlose Reihen blauer<br />

Plastikstühle, die von <strong>ein</strong>er Horde fliegender<br />

Kellner bedient werden. Es gibt „Hot-Dog“, halt,<br />

n<strong>ein</strong> „Cachorro quente paraense“. Aus Hackfleisch<br />

zubereitet, zweite Qualität, die schmeckt, dank<br />

höherem Fettanteil sehr viel leckerer, mit Kreuzkümmel,<br />

winzig kl<strong>ein</strong> geschnittenen Tomaten <strong>und</strong><br />

viel frischem Koriander. Die Alternative ist der<br />

Schw<strong>ein</strong>eschinken, am Stück, so lange gebraten,<br />

bis er buchstäblich in leckere, fleischige<br />

Faserstreifen zerfällt. Auch er kommt ins<br />

Brötchen, auch er bekommt <strong>ein</strong>en Schuss kl<strong>ein</strong><br />

geschnittener Tomaten <strong>und</strong> viel gehackten<br />

Koriander. Bestelle, wie m<strong>ein</strong> Nachbar, <strong>ein</strong>en<br />

Nachschlag. Schmeckt <strong>ein</strong>fach zu gut. Er kam im<br />

Auto. Hat wie viele, die halbe Stadt durchquert,<br />

nur um hier zu lunchen.<br />

Auch der Standort der „Tacacazeira“ ist<br />

stadtbekannt <strong>und</strong> mit Fingerspitzengefühl<br />

ausgewählt. Ihre kl<strong>ein</strong>e Bude steht ebenfalls auf<br />

öffentlichem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> vom freien Himmel<br />

trennt sie nur <strong>ein</strong>e Plastikplache. Direkt vor <strong>ein</strong>em<br />

der wenigen Straßenkinos, die hier noch ums<br />

Überleben kämpfen. Und die vier oder fünf<br />

wackligen Stühlchen ohne Rückenlehne sind<br />

immer besetzt. Zu Stoßzeiten entstehen<br />

Warteschlangen. Tagaus, tag<strong>ein</strong> sitzen die K<strong>und</strong>en<br />

vor ihren schwarz lackieren Kalebassen <strong>und</strong><br />

nehmen, wie es der Brauch will, ihr „Tacacá“. Das<br />

kocht sich <strong>ein</strong>fach gar k<strong>ein</strong>er zu Hause! Alle essen<br />

es im Stehen, unterwegs. Auch ich bin absoluter<br />

Fan! Die Suppe ist, des milchig-transparenten<br />

Schleims wegen, zugegebenermaßen etwas<br />

exotisch. Schon schöpft mir die so gar nicht<br />

<strong>ein</strong>geborene Blondine aus der ersten Pfanne<br />

säuerlich-würzigen, gelbgrünen „Tucupí“, lässt aus<br />

der nächsten Alupfanne <strong>ein</strong>en großzügigen Löffel<br />

„Goma“, Schleim, hin<strong>ein</strong>gleiten. Noch mehr Tucupi<br />

obenauf. Dann, noch <strong>ein</strong>e Pfanne abgedeckt, <strong>ein</strong>e<br />

Gabel leckeren „Jambús“, <strong>ein</strong> lokales Gemüse <strong>und</strong><br />

als Krönung <strong>ein</strong> paar im Salz getrocknete Shrimps.<br />

Zur Krönung <strong>ein</strong> paar Tropfen wohlriechenden<br />

Pfeffers draufgetröpfelt. Schlürfe, Löffel wären <strong>ein</strong><br />

Sakrileg, das dampfend parfümierte Gebräu direkt<br />

aus der Kalebasse. Heilige Stille. Ich hebe ab. Im<br />

Hintergr<strong>und</strong>, das emsige Auf-<strong>und</strong> Zuklappern der<br />

Topfdeckel, <strong>ein</strong> nervöses Hupen, Motorengeräusch.<br />

Fische die Shrimps, vielleicht auch<br />

etwas Gemüse, mit dem mitgelieferten<br />

Zahnstocher heraus. Salzig, sauer, aromatisch,<br />

pfeffrig <strong>und</strong> vom neutralen Schleim w<strong>und</strong>erbar<br />

zu <strong>ein</strong>em Ganzen gefügt, kenne ich kaum <strong>ein</strong>e<br />

exotischere, besser schmeckende Suppe, als die<br />

hier am Straßenrand.<br />

Als Nachspeise vielleicht <strong>ein</strong>e „Tapioca“, <strong>ein</strong>e Art<br />

knuspriger Pfannkuchen? Weiß, an <strong>ein</strong>er anderen<br />

Straßenecke in <strong>ein</strong>er Minute abwechslungsweise<br />

in zwei kl<strong>ein</strong>en Teflonbratpfannen auf <strong>ein</strong>em<br />

Gaskocher gebacken? Es ist <strong>ein</strong> Ehepaar, das<br />

bedient <strong>und</strong> ihre sind f<strong>ein</strong>er, reichlicher, s<strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong> wenig dicker <strong>und</strong> nicht so üppig gefüllt. Auf<br />

die mit Käse <strong>und</strong> Kokos, nicht im Angebot,<br />

verzichte ich ungern. Beide machen sie promt, er<br />

verrechnet aber, ganz schlau, gleich mal 50<br />

Centavos mehr. Besser wohl nur die<br />

Manauarische Variante. Neben Käse kommt auch<br />

Tucumã <strong>und</strong> Banane r<strong>ein</strong>. Unvergleichlich <strong>und</strong> in<br />

zwei Minuten frisch zubereitet.<br />

Eine Frau nähert sich. Unschlüssig bleibt sie<br />

stehen. Fragt, ob es wohl welche mit Kokos gebe.<br />

Erfahrene Marktfrau fragt die Tapioqueira, auch<br />

Analphabeten sind gute K<strong>und</strong>en, aufs Angebot<br />

zeigend, sogleich: - „Möchten Sie, dass ich es<br />

Ihnen vorlese?“ –<br />

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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 765


X-alles inklusive<br />

Ein junger, hoch aufgeschossener <strong>und</strong> mit dem<br />

gesegneten Appetit <strong>ein</strong>es Büffels versehener<br />

Deutscher, musste jetzt sogleich, sozusagen<br />

sofort, etwas essen. Ein <strong>ein</strong>faches Sandwich gleich<br />

um die Ecke, Schickeres hätte ihm wohl zu lange<br />

gedauert, würde wohl dieses unaufschiebbare<br />

Loch im Magen füllen, mindestens solange, bis ihn<br />

der Hunger das nächste Mal anfiele.<br />

Er war mit dem robusten Magen <strong>ein</strong>es Aasgeiers<br />

ausgestattet <strong>und</strong> bestellte, experimentierfreudig<br />

<strong>und</strong> lokalbewandert, <strong>ein</strong>en X-Caboclo. „X-tudo“,<br />

das X steht für Cheese, gibt es in ganz Brasilien. In<br />

<strong>ein</strong>en X-tudo wird <strong>ein</strong>fach alles, was die<br />

Speisekammer hergibt, gepackt. Die amazonische<br />

Variante, nur in Manaus erhältlich, umfasst neben<br />

den klassischen Xs natürlich Käse, gerne<br />

zerlaufen, das üblichen Fleisch oder Schinken,<br />

Salat, Tomaten, Oliven, winzige <strong>und</strong><br />

potenzfördernde Perlhuhneiern <strong>und</strong> was weiß ich<br />

noch was, <strong>ein</strong>fach alles, was in <strong>ein</strong> Brötchen passt,<br />

auch die f<strong>ein</strong>e Rinde des Tucumãs. Wird<br />

sozusagen zum „X-local“. Ein orangegelbes<br />

Kokosnüsschen von der Größe <strong>ein</strong>er Kirschtomate,<br />

dessen f<strong>ein</strong>e, fettreiche Schale man<br />

runterschneidet <strong>und</strong> isst, pur oder mit Reis, im<br />

Sandwich, überraschenderweise auch als Eis. Der<br />

ganz leicht süßliche Geschmack von Tucumã<br />

erinnert <strong>ein</strong> wenig an öliges Holz oder Rinde, ich<br />

mag die ungewöhnliche Note, er verleiht dem<br />

Sandwich ganz sicher <strong>ein</strong>en exotisch-lokalen<br />

Akzent. Der „X-local“ kam umgehend, des<br />

auf<strong>ein</strong>ander getürmten Inhalts wegen aber<br />

abenteuerlich hoch. Man brauchte drei oder vier<br />

der Winzserviettchen, um ihn <strong>ein</strong>igermaßen sicher<br />

festzuhalten, aber sogar so war das kräftig<br />

R<strong>ein</strong>beißen alles andere als <strong>ein</strong>fach.<br />

Im Nachhin<strong>ein</strong> ließ es sich nicht mehr so richtig<br />

rekonstruieren, wie es dann zur Katastrophe kam.<br />

Handelte es sich um <strong>ein</strong>en dem Heißhunger<br />

zuzuschreibenden plötzlichen Schwächeanfall oder<br />

war der Deutsche von Natur aus <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong><br />

bisschen tapsig <strong>und</strong> ungeschickt? Vielleicht hatte<br />

ihn auch das hungrige Warten ungeduldig werden<br />

lassen – wie auch immer. Als er nämlich so richtig<br />

kräftig in den „X-tudo“ beißen wollte, löste sich<br />

derselbe, wie infam, ganz <strong>ein</strong>fach in s<strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>zelnen Bestandteile auf! Die Eier flogen auf die<br />

<strong>ein</strong>e Seite, rechts bildete der Käse <strong>ein</strong> bleiches,<br />

wildes Häufchen, Tucumã ringelte sich von der<br />

Theke <strong>und</strong> <strong>ein</strong> entscheidender Teil platschte ganz<br />

<strong>ein</strong>fach auf den Boden. Ungeschickt - aber kann ja<br />

jedem Mal passieren! Nur dass k<strong>ein</strong>er der<br />

Anwesenden mit dem Hunger <strong>und</strong> den<br />

unbekümmerten Hygienevorstellungen des<br />

Deutschen gerechnet hatte! Der zögerte nicht den<br />

winzigsten Augenblick, las <strong>ein</strong>fach alle wild<br />

verstreuten Teile zusammen, auch die vom Boden,<br />

türmte sie wieder ins Brötchen, <strong>und</strong> biss unbekümmert<br />

aufs Neue zu!<br />

Den Brasilianern, die schon ansetzten, den<br />

nächsten Straßenköter zu rufen, um den<br />

gröbsten Schaden wegzuputzen, <strong>und</strong> dann den<br />

Putzmann, gleich gefolgt vom Kellner, um <strong>ein</strong>e<br />

neue Bestellung aufzugeben, gefror das Wort in<br />

der Kehle. Höflich kaschierter Ekel wich allgem<strong>ein</strong>er<br />

Verw<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> gar Bew<strong>und</strong>erung,<br />

denn dem Deutschen wurde im Nachhin<strong>ein</strong><br />

weder übel noch erkrankte er an Durchfall oder<br />

litt er, soweit man das verfolgen konnte, an<br />

irgendwelchen anderen Spätfolgen.<br />

Um jenen lokalen Hinterwäldler zu zitieren, der<br />

zu dem ganzen Vorkommnis wohl nur gesagt<br />

hätte: Also, wenn das mit uns passiert wäre,<br />

wären wir sicher daran gestorben! Bis heute<br />

fragen sich alle, ob deutsche Mägen wohl<br />

resistenter gegen Bakterien, Viren, Amöben oder<br />

noch schrecklicheres Getier seien! Vielleicht liegt<br />

die Erklärung aber ganz <strong>ein</strong>fach im rigorosen<br />

brasilianischen Sauberkeitsfimmel, der es<br />

erlaubt, auch in <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>fachen Lokal<br />

wortwörtlich vom Boden zu essen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 766


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Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets<br />

Gepäck des Fluges von Belém, Laufband III. Hätte<br />

es auch ohne Leuchtanzeige leicht herausgef<strong>und</strong>en.<br />

Denn was sich auf dem Laufband dreht,<br />

sind neben <strong>ein</strong>zelnen Koffern vor allem<br />

Styroporkisten, identisch, nur die Größen <strong>und</strong> die<br />

Meter des verwendeten Klebebandes variieren.<br />

K<strong>ein</strong> Paraense reist ohne. Schon stürzen sich alle<br />

darauf, denn es ist alles andere als <strong>ein</strong>fach, die<br />

<strong>ein</strong>zige, die eigene, die so sorgfältig gefülle<br />

Styroporkiste zu erkennen, herauszufischen,<br />

herab zu stemmen.<br />

Identisch, oder zumindest ähnlich ist sich auch<br />

deren Inhalt. Denn wer aus Belém kommt, will<br />

auch in Südbrasilien auf die lockalen Leckerbissen<br />

von A wie Açaí, C wie Cupuaçu, über F wie Farinha<br />

<strong>und</strong> Fisch, frisch oder <strong>ein</strong>gesalzen, obligate<br />

Notration, <strong>und</strong> T wie Tapioca, als Pulver oder als<br />

Crunchs, nicht verzichten. Auch Jambu, Tucupi<br />

<strong>und</strong> vielleicht Pupunhas gehören dazu.<br />

Verständlich. Die Küche <strong>Amazonien</strong>s, besonders<br />

die von Pará, ist wohl die wildeste, ursprünglichste<br />

Brasiliens, direkt <strong>und</strong> ohne große<br />

Anpassungen von den Töpfen der indigenen<br />

Ur<strong>ein</strong>wohner in in die modernen Winzküchen von<br />

heute gesprungen. Neben der afrikanisch<br />

inspirierten von Bahia, der Küche aus dem<br />

Nordosten, die wirklich für alles <strong>ein</strong>e Verwendung<br />

findet, <strong>und</strong> der deftig-altmodischen aus Minas<br />

Gerais, wohl die exotischste <strong>und</strong> vielleicht auch<br />

für manche, was ihr Aussehen betrifft,<br />

gewöhnungsbedürftigste Küche Brasiliens. Nicht<br />

nur ihre Zutaten sind absolut lokal, original <strong>und</strong><br />

ausgefallen. Geht es um perfekte Kombinationen<br />

von süß-sauer-parfümiert-scharf, ist sie<br />

ohnegleichen. Göttlich, zugleich rustikal <strong>und</strong> edelf<strong>ein</strong>,<br />

was man schon an den typischen Gefäße<br />

sehen kann, die „Panela de barro“ (Schwarzer oder<br />

brauner Tontopf, der die Hitze sehr lange<br />

bewahrt) <strong>und</strong> die „Cuia“ (Schale aus der Frucht des<br />

Kürbisfruchtbaums), bis heute nicht vom<br />

allgegenwärtigen Plastik vertrieben.<br />

Neben der etablierten Standardküche mit ihren<br />

Stargerichten wie Ente in Tucupi, Reis mit Jambu,<br />

Pirarucu mit Farinha <strong>und</strong> Bananen, bewahrt sie<br />

sich <strong>ein</strong>e wirklich wilde Seite. In jeder Familie gibt<br />

es den <strong>ein</strong>en Onkel oder Schwager, der <strong>ein</strong>fach<br />

alles, was kreucht <strong>und</strong> fleucht isst. Hinter<br />

vorgehaltener Hand natürlich als <strong>ein</strong>e Art Barbar<br />

verschrienen. Wie wäre es zum Beispiel mit den<br />

knusprig gebratenen Hinterteilen fliegender<br />

„Cupins“, Termiten? Die werden nur <strong>ein</strong>mal im<br />

Jahr „geerntet“, dann wenn ihnen zu<br />

Abertausenden Flügel wachsen <strong>und</strong> sie<br />

ausschwärmen. Auch größeres endet im Kochtopf.<br />

Das Fleisch der Riesenechsen mit ihrem gefährlich<br />

peitschenden Schwanz soll an Huhn erinnern,<br />

genauso das von den kl<strong>ein</strong>eren Kaimanen <strong>und</strong> den<br />

größeren Krokodilen, etwas faserig, viele halten es<br />

für lecker. Alle kl<strong>ein</strong>eren Wildtiere, auch das<br />

Gürteltier, die „Paca“, das wilde Schw<strong>ein</strong> landen<br />

im Kochtopf. Jagen ist der lokalen ländlichen<br />

Bevölkerung zur Selbstversorgung erlaubt.<br />

Als absolut kulinarischer Höhepunkt gelten die<br />

verschiedenen Schildkröten <strong>und</strong> deren Eier.<br />

Beide stehen eigentlich unter schärfstem<br />

Naturschutz. Was für <strong>ein</strong>e Kindheitserinnerung,<br />

in der der Schildkrötenkopf, nur kurz vor der<br />

Zubereitung abgeschnitten, als brutalschauerliches<br />

Spielzeug herumgereicht wurde,<br />

weil er auch ganz entkörpert noch nach St<strong>und</strong>en<br />

kräftig zubeißen kann! Die Eier übrigens sollen<br />

leicht sandig schmecken…. . Zwar gibt es immer<br />

wieder Farmer, die Schildkröten züchten,<br />

wenigen soll es aber gelungen s<strong>ein</strong>, die<br />

gezüchteten, schlachtreifen Tiere zum Verkauf<br />

frei zu bekommen. Der Kreuzzug durch den<br />

lokalen Dschungel der Bürokratie ließe sich<br />

manchmal nicht mal mit <strong>ein</strong>er schönen<br />

Bestechungssumme gewinnen.<br />

Die anderen Schildkröten, wie die vom <strong>Foto</strong>,<br />

kommen aus der freien Wildbahn. Gestehe, dass<br />

sie mir überhaupt nicht schmeckten. Schlimmer<br />

wohl nur gegrillter Affe. Gegen den herrscht auch<br />

hier <strong>ein</strong> gewisses Vorurteil. Zu sehr erinnere er<br />

an <strong>ein</strong> am Spieß geröstetes Kl<strong>ein</strong>kind!<br />

Den „Turu“, <strong>ein</strong> bleicher, ziemlich langer Wurm,<br />

der in ins Wasser gefallenen Baumstrünken lebt,<br />

würde ich wohl doch versuchen. S<strong>ein</strong> Fleisch soll<br />

nach Austern schmecken…..<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 772


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 773


Der verspeiste Panther<br />

Mensch, war die zäh! Hat überhaupt nicht<br />

geschmeckt!“ - Sie war nicht weniger als <strong>ein</strong>e<br />

w<strong>und</strong>erschöne, gefürchtete „Onça“, <strong>ein</strong>e wilde,<br />

furchterregende Raubkatze, <strong>ein</strong> brasilianischer<br />

Panther. Wer am bestens gedeckten Tisch im<br />

leichtesten Gesprächston von diesem Blutopfer<br />

berichtet, ist k<strong>ein</strong> primitiver oder <strong>ein</strong>facher Mann.<br />

N<strong>ein</strong>, er ist <strong>ein</strong> reicher Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong><br />

Viehhalter. Er ist, um <strong>ein</strong>en lokalen Begriff zu<br />

benutzen, <strong>ein</strong> „instruierter“ Männer, aber nicht<br />

weniger Macho, als die anderen Machos, die die<br />

reale Realität des endlos weiten Amazonasdschungels<br />

leben.<br />

Die ach so clevere Raubkatze dachte, dass der<br />

Farmer s<strong>ein</strong> Vieh ganz all<strong>ein</strong> für sie hielte. Dass es<br />

ihm sicher nichts ausmachte, wenn sie <strong>ein</strong> oder<br />

zwei Tiere riss, wie es ihre Instinkte forderten.<br />

Instinkt gegen Instinkt - „Mensch, hatte ich <strong>ein</strong>e<br />

Wut auf sie! Befahl, sie zu fangen, zu töten <strong>und</strong><br />

aus ihr Ragout zu kochen!“ So starb das edle Tier<br />

als primitives, amazonisches Blutopfer. Das<br />

Verspeisen als <strong>ein</strong>en Akt der totalen Dominanz. Es<br />

reicht nicht, s<strong>ein</strong>en F<strong>ein</strong>d zu fangen <strong>und</strong> zu töten.<br />

N<strong>ein</strong>, auch gleich <strong>ein</strong>verleibt musste er werden.<br />

Nur so konnte die Wut gesühnt werden. Als ob es<br />

nur so gelänge, wirklich mit diesem F<strong>ein</strong>d fertig zu<br />

werden, endgültig <strong>und</strong> definitiv, ihn sozusagen<br />

von der Oberfläche der Erde zu tilgen.<br />

Unterschwellig schwingt bei dieser blutigen Art<br />

des Sieges sicher auch mit, dass der Sieger sich,<br />

zusammen mit dem Fleisch des Panthers, auch<br />

dessen Kräfte <strong>ein</strong>verleibte. Sie gingen mit dem Akt<br />

sozusagen auf ihn über. Einzelne Indigene Stämme<br />

verfahren bis heute so.<br />

Und trotzdem bleibt es beim kläglichen Versuch,<br />

<strong>ein</strong>e mögliche Erklärung zu finden, für das<br />

biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn! - Arme<br />

Raubkatze! Versteigt sich der elegante Räuber, im<br />

Prinzip hochgeachtet, sehr gefürchtet <strong>und</strong> so sehr<br />

respektiert, dass es an Mythos grenzt, doch dazu,<br />

das Vieh des übermächtigen Fazendeiros zu<br />

reißen! Welcher sich, gleichzeitig überlegen <strong>und</strong><br />

herausgefordert fühlt, vielleicht nähme s<strong>ein</strong>e<br />

Männlichkeit Schaden oder gar, wer weiß,<br />

schwände s<strong>ein</strong>e Macht, wenn er sie nicht töten<br />

ließe.<br />

Aber nicht nur vom verspiesenen Panthern weiß<br />

ich zu berichten. Das selbe schreckliche Schicksal<br />

erreichte auch andere, noch unschuldigere Tiere,<br />

<strong>ein</strong>en Aasgeier, <strong>ein</strong>en „Urubú“, <strong>und</strong> auch <strong>ein</strong>e ganz<br />

gewöhnliche Hauskatze. Wer traute schon solch<br />

sch<strong>ein</strong>bar harmlosen, friedlichen Tieren, die so<br />

sorglos mit den Menschen zusammenleben zu,<br />

solche ungeheure Wellen von Hass <strong>und</strong> Wut<br />

auszulösen? Den Aasgeier mit s<strong>ein</strong>em majestätischen<br />

Flug vielleicht ausgenommen? Wellen, die<br />

nur mit <strong>ein</strong>em anderen bluttriefenden, brutalen<br />

Akt, dem Aufessen, vergelten werden können?<br />

Aber beginnen wir beim Anfang. Der Chef <strong>ein</strong>er<br />

Gruppe von Waldrodearbeitern, mitten in <strong>ein</strong>em<br />

unwirtlich unbekannten Sertão, dem Hinterland,<br />

irgendwo im endlosen Nirgendwo, weit ab, noch<br />

mit wenigen gerodeten Flecken, da, wo man die<br />

reale Realität des Landesinnern des Amazonas<br />

lebt, gibt es Fazendas, die, wie man lässig hören<br />

kann, nicht sehr abgeschieden liegen, nur <strong>ein</strong><br />

paar Tagreisen weit (!) mit dem Boot. Da, wo<br />

alles gigantisch ist, wild, böse <strong>und</strong> endlos fern,<br />

fern ab von allem. Da, wo es vor allem Wasser<br />

<strong>und</strong> noch mehr Wasser gibt, <strong>und</strong> die Boote oder<br />

Linienschiffe, immer hoch über die erlaubte<br />

Kapazität hinaus vollgeladen, das übliche<br />

Transportmittel sind. Es gibt auch das Flugzeug.<br />

Es landet zweimal pro Woche auf schlecht<br />

geräumten <strong>und</strong> signalisierten Landepisten, auch<br />

mal voller „Urubus“. Jemand hat mal wieder die<br />

Piste als Abfallhalde missbraucht.<br />

Da sind Männer noch Männer, Machos, so richtig<br />

böse, männlich <strong>und</strong> wild. So männlich, wie es<br />

nicht mal der am weitesten gefasste Wortsinn<br />

auszudrücken vermag. Ein urbrasilianischer<br />

Wilder Westen, ohne Zweifel <strong>ein</strong> anderer Planet,<br />

voller unerwarteter <strong>und</strong> unberechenbarer<br />

Gefahren, mit eigenen Regeln <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er sehr<br />

eigenwilligen Logik. Die Größe der Fazenda, des<br />

Gr<strong>und</strong>besitzes, illustriert, dass man zu Pferd (!)<br />

gut <strong>ein</strong>en ganzen Tag, (!) brauchte, um vom<br />

<strong>ein</strong>en Ende der Fazenda bis zum Haupt<strong>ein</strong>gang<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 774


zu gelangen <strong>und</strong> das auch nur, weil der<br />

Fazendeiro eben diesen Pfad mitten durch den<br />

Regenwald “öffnen” ließ, “varrido”, sauber gefegt,<br />

wie es der Chef der Rodungsgruppe so treffend<br />

ausdrückt.<br />

Man stelle sich all<strong>ein</strong> schon die brachiale Logistik<br />

vor, <strong>ein</strong>en Trupp aus zehn Männern auf ihrer<br />

wilden Arbeit mit Essen zu versorgen! Laut<br />

Bericht waren all<strong>ein</strong> zwei der zehn für die Jagd<br />

verantwortlich. Jagten alles, was ihnen vor die<br />

Flinte kam, normalerweise „Jabutí“, Landschildkröten,<br />

hochgeschützt. Trotzdem war das<br />

Dschungelmenu ziemlich <strong>ein</strong>tönig. Zum Frühstück,<br />

jeden Tag auf Neue, <strong>ein</strong>e Art <strong>ein</strong>gedickter<br />

Maisbrei, in deftige Stücke geschnitten, dazu<br />

Kaffee. Zum Mittag- <strong>und</strong> Abendessen der selbe<br />

Maisbrei, dann zusammen mit der Jagdbeute<br />

gekocht. Damit der Kaffee nicht schwarz<br />

getrunken werden musste, wurde er mit dem<br />

milchigen Saft <strong>ein</strong>es Strauches, der „Amapá“<br />

heißt, er ist auch als Heilpflanze bekannt,<br />

vermischt. Während des Tages legte man beim<br />

Fällen die entsprechenden Büsche zur Seite, ritzte<br />

sie am Abend an, worauf sie bis zum Morgen<br />

Eimer um Eimer ihres milchigen Saftes w<strong>ein</strong>ten.<br />

Mit dem Löffel schaumig geschlagen, wurde er am<br />

nächsten Morgen zusammen mit dem Kaffee<br />

getrunken.<br />

Und irgendwo da ereilt auch den Aasgeier s<strong>ein</strong><br />

Schicksal, das er unglücklicherweise gerade<br />

deshalb besiegelte, weil er genau das machte,<br />

wofür er bestimmt ist. Er landete in der Pfanne,<br />

weil er <strong>ein</strong> Aas fressen wollte. Unglücklicherweise<br />

fiel s<strong>ein</strong>e Wahl, welch schrecklicher Zufall, auf <strong>ein</strong>e<br />

Jagdbeute, <strong>ein</strong> Reiher oder <strong>ein</strong> anderer Vogel,<br />

schon gerupft <strong>und</strong> damit noch appetitanregender,<br />

aufgehängt, um abzuhängen. Als der Jäger der<br />

unerwarteten Konkurrenz ansichtig wurde, stieg in<br />

ihm <strong>ein</strong>e solche Wut hoch, er sah Rot, griff zur<br />

Flinte <strong>und</strong> machte umgehend den Urubu zu s<strong>ein</strong>er<br />

nächsten Jagdbeute. Auch dieses Essen, respektive<br />

der Racheakt, soll nicht sonderlich gut geschmeckt<br />

haben. Wie weit auch Vorurteile mitspielen, kann<br />

nicht mehr rekonstruiert werden.<br />

Am unglücklichsten aber war die Katze, <strong>ein</strong>e<br />

streunende, simple Hauskatze. Gefitzt <strong>und</strong> clever<br />

stahl sie <strong>ein</strong> paar leckere Hühnereier, mit deren<br />

Verkauf der Bauer japanischer Abstammung schon<br />

gerechnet hatte. Auch er hegte nicht den leisesten<br />

Zweifel. Ließ das Tier abschießen <strong>und</strong> zubereiten.<br />

Der Mann, der das Opfer vollstreckte, erzählte,<br />

dass er, zu Tische gebeten, damit nicht recht froh<br />

wurde. Der erste Bissen des Bratens schien ihm im<br />

M<strong>und</strong> anzuschwellen, wurde groß, größer, ja so<br />

gigantisch, dass er sich genötigt sah, vom<br />

Vorhaben abzusehen.<br />

Wer darin <strong>ein</strong>e Art Fluch oder Rache sehen<br />

möchte, befindet sich in guter Gesellschaft. Nicht<br />

nur die Indios, auch alle anderen Einheimischen,<br />

Caboclos oder nicht, glauben, dass jetwelches Tier<br />

oder Pflanze aus dem endlosen Dschungel <strong>ein</strong>e<br />

Seele hat, wie nicht nur die reichen Mythen <strong>und</strong><br />

Lenden bezeugen. Eine der schönsten rankt sich<br />

um die Riesenschlange. Tagsüber unsichtbar stoße<br />

man nur auf ihre gigantische, fast <strong>ein</strong>en Meter<br />

breite <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Handspanne tiefe Spur, die sich<br />

von <strong>ein</strong>em Flussufer zum nächsten lang zöge.<br />

Nachts, unheimlich <strong>und</strong> geheimnisvoll, könne man<br />

ihre Augen sehen, zwei Lichter mit intensivem,<br />

wenn auch unregelmäßigem Glanz, die schwebend<br />

über den Fluss glitten. Man erzählt sich, dass sie,<br />

von <strong>ein</strong>er „Sucuri“ (Riesenschlange) gezeugt <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>er India geboren, sich ohne den leisesten Laut,<br />

aber mit großer Geschwindigkeit über die Oberfläche<br />

des Flusses fortbewege.<br />

Eine andere Version erzählt, dass die Riesenschlange<br />

in der Erde lebe. Wenn sie sich dann mal<br />

wieder bewege, löse sie damit leichte Erdstöße<br />

aus. Wie auch immer. Für mich wird sie zu <strong>ein</strong>er<br />

Art Racheengel-Reptil. Rächt all die, aus purer Wut<br />

getöteten <strong>und</strong> verspeisten, Tiere. Rächt sich durch<br />

ihre unheimliche Unsichtbarkeit. Ist sie unsichtbar,<br />

kann sie auch nicht getötet oder gar verspiesen<br />

werden! Womit die Angst, die sie verbreitet, auch<br />

unaustilgbar bleibt. Als letzte Frage bleibt<br />

allerdings das Rätsel, warum ausgerechnet ihr<br />

nachgesagt wird, dass sie unschuldige Fischer<br />

verschlinge, besonders solche, die es<br />

unvorsichtigerweise wagen, nachts zu fischen!<br />

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Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten<br />

Ich sammle sie alle, die liebevoll angeschlagenen<br />

Maßbecher, die eigentlich leere Soyaöldosen sind,<br />

die „Litros“, Litermess<strong>ein</strong>heiten, mit oder ohne<br />

Henkel oder Bügel, die mir so vieles abmessen,<br />

Kastanien genauso wie Pefferkörner, Farinha,<br />

Bohnen, Beijou sica natürlich <strong>und</strong> flockige<br />

Tapioca, alles wird auf dem Markt per Liter<br />

verkauft. Zu m<strong>ein</strong>er Überraschung allerdings<br />

werden Okraschoten <strong>und</strong> „Maxixe“, <strong>ein</strong> kugliges<br />

Gemüse aus der Familie der Gurken abgezählt,<br />

fünf für <strong>ein</strong>en Real oder so <strong>und</strong> gleich zu<br />

w<strong>und</strong>erbar dekorativen Büscheln zusammen<br />

geflochten. Dass man allerdings Flüssigkeiten wie<br />

Tucupi <strong>und</strong> Açaí, gar Eiswürfel in die<br />

allgegenwärtigen Plastiktüten abfüllt, daran<br />

werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die K<strong>und</strong>en<br />

wollen es nun mal so. Wie sollen sie es sonst nach<br />

Hause bringen?<br />

wie verschw<strong>und</strong>en. Sie wurden von Zeitungspapier,<br />

Plastiknetzchen oder halt den allgegenwärtigen<br />

Plastiktüten abgelöst. In denen werden die besten<br />

Früchte sogleich zu Matsch.<br />

Am liebsten habe ich allerdings die schon vorgedachten,<br />

vorsortierten Gemüsebouquets, <strong>ein</strong> paar Blätter Kohl,<br />

<strong>ein</strong> Stück Kürbis, Rote Beete <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />

Schlangenbohnen als Paket gefällig? Oder die für die<br />

Fischsuppe nötigen Tomaten, Pfefferschötchen,<br />

Zwiebeln <strong>und</strong> vielleicht gar noch <strong>ein</strong>e Zitrone mit dabei<br />

um den Fisch zu waschen, zusammen angeboten?<br />

Appetitanregender nur die Gewürzsträußchen, in Belém<br />

gleich mit den drei oder vier nötigen scharfen<br />

Pfefferfrüchtchen. Ohne die, <strong>ein</strong>fach mit der Gabel<br />

zerdrückt, schmeckt hier k<strong>ein</strong> Essen.<br />

Eine Petflasche ohne Hals, <strong>ein</strong> Plastikbecher oder<br />

<strong>ein</strong> altes Glas dienen als Maß<strong>ein</strong>heit für die<br />

unterschiedlichsten Gewürze, Colorau, Açafrão,<br />

Kreuzkümmel <strong>und</strong> Koriander, ohne die hier<br />

niemand kocht. Zusammen sind sie für<br />

Geschmack <strong>und</strong> appetitliche Farbe der Speisen<br />

verantwortlich. Kalebassen, „Cuias“ genannt,<br />

schöpfen getrocknete Krabben in noch <strong>ein</strong>e<br />

Plastiktüte. Angeliefert werden sie aber noch in<br />

den w<strong>und</strong>erschönen, handgeflochtenen Körben,<br />

die sich aber leider sehr schnell abnützen. Auch<br />

die Bananenblätter zum Einwickeln sind so gut<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 781


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Padres Büchse<br />

“Halt! Finger weg! N<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>! ” – Sie ist<br />

kategorisch! Probiert werden darf erst am<br />

Geburtstagsfest. Die Versuchungen, <strong>ein</strong>e köstlicher<br />

als die andere, nicht weniger als sorgfältig<br />

abgezählte 1.000 Stück winzigen Konfekts werden<br />

hier, in <strong>ein</strong>er ganz normalen Küche, unter<br />

Einbezug der halben Länge des Wohnzimmertisches,<br />

<strong>und</strong> damit direkt unter m<strong>ein</strong>er begierigen<br />

Nase, produziert.<br />

Noch <strong>ein</strong> Blech kommt an. Der Inhalt der winzige<br />

Förmchen ist delikat, zartbräunlich <strong>und</strong> krümelig.<br />

Die f<strong>ein</strong>e Oberfläche von winzigen Luftblasen<br />

aufgebrochen, mit <strong>ein</strong>em f<strong>ein</strong>en dunkleren Rand.<br />

Der signalisiert, dass die “Nha Bentas” schon ganz<br />

durchgebacken sind. Sogleich werden die<br />

Förmchen, <strong>ein</strong>s hinter dem anderen, umgestürzt.<br />

Puh! Die sind aber heiß! Spitze Fingern stürzen<br />

<strong>und</strong> klopfen die kl<strong>ein</strong>en, süßen Dinger heraus,<br />

direkt in <strong>ein</strong>e Schale mit mittelf<strong>ein</strong>em Zucker.<br />

Werden darin, noch immer fast dampfend heiß,<br />

von geschickten, sch<strong>ein</strong>bar hitzeunempfindlichen<br />

Händen um <strong>und</strong> um gewälzt. Die Süße bildet <strong>ein</strong><br />

delikates Zuckerkrüstchen, das nur dann hält,<br />

wenn man die Küchl<strong>ein</strong> gleich nach dem Backen<br />

dem süßen Prozedere unterwirft. Nun wird jedes<br />

<strong>ein</strong>zelne Biskuithügelchen in <strong>ein</strong> rosafarbenes<br />

Papierförmchen, es ist <strong>ein</strong> Mädchengeburtstag,<br />

gesetzt. Zum Schluss bekommt es noch <strong>ein</strong>e<br />

Rosine auf den Hintern geklebt. Schon werden<br />

alle, total ausgekühlt, in die unzähligen, bereit<br />

-stehenden Papierschachteln geschichtet.<br />

Noch <strong>ein</strong> Trennpapier darüber <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Lage<br />

Biskuits obenauf.<br />

Die Hälfte der Frauen des Clans <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Hilfskraft<br />

sind aufgeboten, alle bis spät in die Nacht in die<br />

Produktion involviert. Denn die Liste der Sorten ist<br />

lange. Schon wieder wird, Brille aufgesetzt, <strong>ein</strong><br />

neues Rezept nachgeschlagen, Zutaten<br />

abgewogen, durchgerührt, Schüsseln ausgekratzt.<br />

Der Ordner ist gut organisiert, alle Rezepte auf<br />

<strong>ein</strong>er Schreibmaschine getippt, f<strong>ein</strong> säuberlich in<br />

Plastiktüten gesteckt. So kann man auch mal mit<br />

<strong>ein</strong>em etwas klebrigen Finger die Seiten wenden,<br />

ohne dass gleich <strong>ein</strong>e Katastrophe geschieht. Den<br />

vom vielen Bücken schon etwas steifen Rücken<br />

aufs Neue durchgedrückt, das leichte Top<br />

zurechtgerückt, <strong>und</strong> schon geht´s wieder los. Nun<br />

sind die Maracujá-Rauten an der Reihe. Das f<strong>ein</strong>e<br />

Biskuit bekommt <strong>ein</strong>en dunkelorangen Guss,<br />

dessen zuckrige Süße die Säure des Maracujásaftes<br />

gut ausbalanciert. In kl<strong>ein</strong>e Rauten<br />

geschnitten, bekommt auch davon jedes s<strong>ein</strong><br />

papierenes Förmchen <strong>und</strong> mittendrauf <strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>zelne silberne Zuckerperle.<br />

Die ganze Herstellung wird, nur die Hände sind<br />

überaus emsig beschäftigt, mit viel Klatsch, Tratsch<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong>igen launigen Kommentaren <strong>und</strong><br />

Erinnerungen angereichert. Hin <strong>und</strong> wieder<br />

unterstreicht <strong>ein</strong> Löffel voller Füllung <strong>ein</strong>en<br />

besonders wichtigen Satz. Bleibt, kurze Sek<strong>und</strong>en<br />

nur, untätig in der Luft stehen.<br />

Für die mit Guavenpaste gefüllten “Rocamboles”,<br />

winzige Biskuitrouladen, werden unzählige Lagen<br />

Biskuitboden gebacken, gefüllt <strong>und</strong> noch heiß in<br />

f<strong>ein</strong>e Röllchen gerollt. Aufgeschnitten enthüllen<br />

sie ihre zweifarbene Schneckenform. Noch <strong>ein</strong>e<br />

neue Packung f<strong>ein</strong> rosafarbener Papierförmchen<br />

aufgerissen: Kl<strong>ein</strong>e rote Herzen auf rosa Gr<strong>und</strong>.<br />

Die Förmchen, <strong>ein</strong>s nach dem anderen<br />

aus<strong>ein</strong>ander gezupft, aufgereiht <strong>und</strong> nach <strong>und</strong><br />

nach, wie am Fließband, nun mit “Beijinhos” <strong>und</strong><br />

“Brigadeiros” gefüllt, beide mit üppigen<br />

Kondensmilchbächen hergestellt. Weder<br />

“Brigadeiros” noch “Beijinhos” dürfen bei <strong>ein</strong>em<br />

Kindergeburtstag fehlen. Erstere werden in<br />

dunklen Schokostreußeln gewendet. Die<br />

eigentlich weißen “Beijinhos” sind rosa<br />

durchgefärbt. Ihre Form ist ganz untraditionell<br />

birnenförmig. Sie werden zum Schluss nur in<br />

Zucker <strong>und</strong> nicht in den obligaten Kokosflocken<br />

gewendet. An Stelle des Fruchtstempels<br />

bekommt jede <strong>ein</strong>zelne <strong>ein</strong>e Gewürznelke<br />

gesteckt.<br />

Sie sind, zusammen mit den schokoladigultrasüßen<br />

“Brigadeiros” <strong>und</strong> den “Cajuzinhos”,<br />

sogenannte Süßigkeiten aus dem Topf, denn sie<br />

werden nicht gebacken, sondern die wenigen<br />

Zutaten werden zusammen so lange <strong>ein</strong>gekocht,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 786


is sie von Hand geformt werden können. Das<br />

“Cajuzinho”-Rezept ist <strong>ein</strong>fach. Gemahlene<br />

Erdnüsse <strong>und</strong> Kondensmilch, <strong>ein</strong>gedickt <strong>und</strong> dann<br />

von Hand, noch <strong>ein</strong>s <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>s, zu kl<strong>ein</strong>en,<br />

identischen Bällchen gerollt <strong>und</strong> in Zucker<br />

gewälzt. Fehlen nun nur noch Cupuaçu-Schiffchen,<br />

die dem ganzen jenen definitiv amazonischen<br />

Touch geben.<br />

Das Rührgerät läuft immer noch auf Hochtouren.<br />

Töpfe, Schüsseln, Schälchen die unterschiedlichsten<br />

Spachtel, Bleche, Formen <strong>und</strong> Förmchen sind<br />

alle in Gebrauch. Kaum ausgelöst, werden sie<br />

schon wieder <strong>ein</strong>gefettet, in den Ofen geschoben.<br />

Die Süßigkeiten in Zucker gewendet, dekoriert<br />

<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e perfekt ausgerichtete Lage<br />

Papierförmchen füllt die nächste, schon<br />

bereitstehende Schachtel. Die Hitze des Ofens<br />

konkurriert mit amazonischen Hitzen. Hin <strong>und</strong><br />

wieder fällt <strong>ein</strong> wohlverdienter Schweißtropfen zu<br />

Boden.<br />

Ultra, mega zuckersüß, fast klebrig, aber doch<br />

delikat, jedes <strong>ein</strong>zelne <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Zuckerkunstwerk.<br />

Konditorkunst, altmodisch, aus besten<br />

Zutaten <strong>und</strong> mit noch mehr Liebe <strong>und</strong> Hingabe<br />

hausgemacht. Eine Liebe <strong>und</strong> Hingabe, wie sie<br />

wohl bald k<strong>ein</strong>er mehr aufbieten wird. Heutzutage<br />

bestellt man fertige Cupcakes, oder zu ganz<br />

speziellen Anlässen hochstilisierte, perfekte<br />

Winzigkeiten, die in chiffonen, gazegestärkten<br />

Wiegen ruhen, fast zu schön, um berührt,<br />

geschweige denn gegessen zu werden.<br />

Persönlich halte ich es da lieber mit des Padres<br />

Büchse – <strong>und</strong> Sie?<br />

Aber endlich wird die Massenproduktion<br />

unterbrochen. Ein Kaffee ist fällig. Auch er äußerst<br />

wohl verdient. Und da kommt endlich auch die<br />

“Schachtel oder Büchse des Padres” zum Zug. Sie<br />

enthält <strong>ein</strong>e sozusagen technische Reserve aller<br />

Süßigkeiten. Es sind all die, die nicht ganz 100 %<br />

perfekt herauskamen. Und von denen darf nun<br />

auch ich, nicht nur der Padre, vor der angezeigten<br />

Zeit naschen!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 787


An den, der mich liest oder Der Jesuit<br />

Es war m<strong>ein</strong> Schwiegervater, in dessen<br />

Aufzeichnungen ich das erste Mal über den<br />

Amazonas las. Und über <strong>ein</strong>en „Jesuiten“, den<br />

nämlich hatte er für s<strong>ein</strong>e Angebetete <strong>und</strong><br />

spätere Frau gekauft. Eine süße Art, um sie zu<br />

werben.<br />

Später, sehr viel später, Gott habe ihn selig, aß ich<br />

selber <strong>ein</strong>en. Einen währschaften „Jesuiten“, <strong>ein</strong>e<br />

Schnitte aus Blätterteig mit Zuckerguss. Bis heute<br />

fällt es mir schwer, mich zwischen „Himmelsschwarten“<br />

oder „Engelsbäckchen“, „Bischofsschnitten“,<br />

„Nonnenbäuchen“ oder „Mönchsküssen“<br />

zu entscheiden, wenn sie überhaupt,<br />

außerhalb Portugals, noch im Angebot sind.<br />

Gem<strong>ein</strong>sam haben sie alle, dass nicht nur die ach<br />

so liebevoll katholischen Namen, sondern auch<br />

die Süßigkeiten portugiesischer nicht s<strong>ein</strong><br />

könnten.<br />

Belém hatte historischerweise <strong>ein</strong>e sehr enge<br />

Beziehung zu Portugal, war es über Meer,<br />

widrigen Strömungen zufolge, <strong>ein</strong>fach nach<br />

Portugal zu gelangen als nach Rio de Janeiro, dem<br />

damaligen Brasilien <strong>und</strong> vize versa. Und so<br />

genieße ich, die ewig Nostalgische, m<strong>ein</strong> Konfekt,<br />

welches mich jedes mal auch an m<strong>ein</strong>en<br />

Schwiegervater erinnert.<br />

jungen Jahre, beschreibt er in den liebevollsten<br />

Details, wie er zum Militär <strong>ein</strong>gezogen werden<br />

sollte. Und wie s<strong>ein</strong>e Mutter auf s<strong>ein</strong>e Bitte hin mit<br />

dem verantwortlichen Militärkommandanten<br />

sprach. Welcher ihn dann mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />

Federstrich <strong>und</strong> <strong>ein</strong>igem Hin <strong>und</strong> Her<br />

dienstuntauglich erklärte. Eine Praxis, die übrigens<br />

bis heute funktioniert!<br />

Beschreibt, wie er sich in m<strong>ein</strong>e Schwiegermutter<br />

verliebte, obwohl sie behindert war. Die Kinderlähmung<br />

hatte ihr das <strong>ein</strong>e B<strong>ein</strong> verkürzt, was aber<br />

ihrer Attraktion k<strong>ein</strong>erlei Abbruch tat. Im<br />

Gegenteil. Sie wurden <strong>ein</strong> unzertrennliches Paar<br />

<strong>und</strong> m<strong>ein</strong>e Schwiegermutter, <strong>ein</strong>e dominante<br />

Persönlichkeit, wachte bis ins höchste Alter<br />

eifersüchtig darüber, wer ihrem Mann nahe<br />

kommen durfte.<br />

Ja, wozu so <strong>ein</strong> Jesuit doch alles gut ist….<br />

In s<strong>ein</strong>en Aufzeichnungen, „A quem me lê“ – „An<br />

den, der mich liest“, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Bericht über s<strong>ein</strong>e<br />

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Caboclos<br />

Kultur<br />

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Caboclos Kultur<br />

Gerüche, Düfte, Parfüms 793/794<br />

Vom magischen Bad voller Düfte oder “Cheiro cheiroso” 797/798<br />

Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern 801<br />

Uschi, die Duftende 803<br />

Chico, der Schlangenflüsterer 805-808<br />

Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen Verwandlung 809<br />

Vom Schönheitskult 815/816<br />

Der rosafarbene Delfin 819/820<br />

Grauer Delfin gegen den rosafarbenen - Sairé Alter do Chão 844/845<br />

Carimbó, Musik mit Humor / Guitarrada 849/850<br />

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Gerüche, Düfte, Parfüms<br />

Es ist wohl der hohen Luftfeuchtigkeit<br />

zuzuschreiben, die 90 % erreicht, dass sich bei der<br />

geringsten Friktion Wellen <strong>und</strong> Wellen von<br />

Duftwolken freisetzen. Ob sie auch daran schuld<br />

ist, dass sich hier alle Gerüche <strong>und</strong> Parfüms<br />

verstärken, überzeichnen, konzentrieren, bis zu<br />

dem Punkt, wo sie penetrant werden, schwer<br />

oder gar abstoßend, mich gar verfolgen? Oder<br />

liegt es gar an den lokalen Gewohnheiten? Nur<br />

hier in Brasiliens Norden begleiten mich so viele<br />

besondere Gerüche <strong>und</strong> Düfte. Duftende Partikel,<br />

die alles hergeben, was sich die Tropen so<br />

ausgedacht, zusammengebraut <strong>und</strong> vergoren<br />

haben, <strong>und</strong> das ist viel. Ist es der Vorliebe der<br />

Caboclos wegen, auch alle Männer, sich zu<br />

parfümieren <strong>und</strong> bitte gerne großzügig? Werde<br />

weiter riechen, schniefen, schnuppern oder mir<br />

die Nase zuhalten, ohne es je wirklich heraus zu<br />

finden.<br />

Da! Der Duft <strong>ein</strong>es Cupuaçus, noch in der Schale,<br />

irgendwo auf der Straße zum Verkauf aufgetürmt,<br />

schlägt er mich von weitem in s<strong>ein</strong>en Bann!<br />

Bildet, Fleisch <strong>und</strong> Geruch, <strong>ein</strong> sehr spezielles,<br />

untrennbares Gespann. Wie nur den intensiven,<br />

säuerlich-fruchtigen Geruch <strong>ein</strong>er Araçá<br />

beschreiben? Eine Frucht aus der Familie der<br />

Guaven, nicht die domestizierten weißen oder<br />

hellroten, die fast wie Katzenpipi riechen. Die<br />

wilden, kl<strong>ein</strong>kuglige oder ovalen, die man nur in<br />

den altmodischen Hinterhofgärten findet?<br />

Fantastisch die orangengroße, eidottergelbe <strong>und</strong><br />

pfirsichhäutige Schwester mit dem vollm<strong>und</strong>igen<br />

Namen „Araçá da Califórnia“, so w<strong>und</strong>erbar sauer<br />

parfümiert, schärfer <strong>und</strong> noch akzentuierter, dass<br />

es mir all<strong>ein</strong> schon beim Daran-Denken das<br />

Zahnfleisch wonnig zusammenzieht oder das<br />

Hemd aus der Hose, wie m<strong>ein</strong>e Großmutter wohl<br />

gesagt hätte.<br />

Auch andere Früchte hier riechen raumfüllend,<br />

kitzeln den Gaumen, betäuben die Zunge,<br />

Geschmack-Geruch, ver<strong>ein</strong>nahmen alle m<strong>ein</strong>e<br />

Sinne. Hände, Augen <strong>und</strong> Nase essen mit. Purstes<br />

Vergnügen, an sechs, sieben voll ausgereiften<br />

Mangos zu riechen, jede mit dem ihr ganz eigenen<br />

Geruch, mal halb harzig, halb herb, mal blumig<br />

oder zitronig. Düfte, die sich noch verstärken, die<br />

Palette der fremdartigen Geschmack-Gerüche<br />

bereichern, wenn man <strong>ein</strong> Stück des<br />

Fruchtfleisches runter schneidet; Fleisch <strong>und</strong><br />

Geruch, Nase <strong>und</strong> M<strong>und</strong> <strong>ein</strong> untrennbares<br />

Gespann.<br />

Der grün-holzige Duft, den der Tropenwald<br />

nach dem Regen ausdünstet, schimmlig, faulig <strong>und</strong><br />

doch frisch. So anders die vor sich hin rottende<br />

Fäulnis der Städte, deren Geruch-Gestank schwer<br />

aus den Abwasserkanälen hochsteigt, in denen<br />

überreife Mangos zusammen mit süßlich<br />

stinkendem Abfall verfaulen. Schwaden stinkender<br />

Fäulnis, von ständigen Regen genährt, gegärt <strong>und</strong><br />

zelebriert, die mir in unappetitlich<br />

unregelmäßigen Wellen in die Nüstern steigen.<br />

Der Blumen-, Kräuter-, Heilmittel- <strong>und</strong><br />

Gewürzmarkt wird zum r<strong>ein</strong>en Delirium, wenn<br />

mir der eifrige Verkäufer die verschiedensten<br />

frischgrünen Ästchen von s<strong>ein</strong>en Kräuterstauden<br />

herunterbricht, sie zwischen den Fingern zerreibt<br />

<strong>und</strong> mir unter die schnuppernde Nase hält. Sie<br />

sind für die unterschiedlichsten Dinge gut. Man<br />

braut aus ihnen Tees <strong>und</strong> Badeaufsude. Es muss<br />

wohl tausenderlei Typen „Manjericão“, die selbe<br />

Familie wie Basilikum <strong>und</strong> „Alfavaca“ geben.<br />

Jedes fleischig üppige Blatt hat s<strong>ein</strong>en eigenen,<br />

ganz speziellen Duft, pfeffrig, grün oder gar<br />

menschlich, nicht von ungefähr heißt es „Catinga<br />

da Mulata“, Mulattenausdünstung/-schweiß.<br />

Ich erinnere mich an den halb antiquierten, halb<br />

exotischen Geruch der Kleider, die hier mit<br />

Sachés oder „Amarrados“ (Wurzelbüscheln in<br />

verschiedenen Formen, auch als Puppen) aus<br />

Vetiverwurzel aufbewahrt wurden. Es sind<br />

emotionelle, dramatisch-starke Düfte. Sie reißen<br />

die Herrschaft an sich, balgen sich um die<br />

Vorherrschaft. Jeder hat s<strong>ein</strong>e eigene<br />

Persönlichkeit, jeder erzählt tausenderlei<br />

Geschichten, amazonische Geschichten.<br />

Sie haben alles, was altmodische Parfüms<br />

auszeichnet, <strong>und</strong> können <strong>ein</strong>em deshalb auch<br />

ganz schön auf den Nerv gehen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 793


Wie extrem emotionell Düfte sind, allerneueste<br />

Forschungen bestätigen das nur, <strong>und</strong> dass sie gar<br />

Heimweh mildern können, beweist die Geschichte<br />

<strong>ein</strong>er während der Militärdiktatur exilierten<br />

Brasilianerin.<br />

Immer wenn sie es vor lauter Heimweh fast nicht<br />

mehr aushielt, nahm sie <strong>ein</strong> Bad. Schälte die<br />

sorgfältig aufbewahrte Rosenholzseife aus der<br />

Verpackung <strong>und</strong> hüllte sich <strong>und</strong> ihr Heimweh,<br />

zusammen mit sehr viel, sehr heißem <strong>und</strong><br />

prickelndem Wasser in jene Duftwolke aus<br />

Rosenholz, wohl mehr <strong>ein</strong> parfümiertes Meer. Ein<br />

langes, endlos langes Bad. Es dauerte so lange, bis<br />

sie sich allen Staub des Heimwehs ab- <strong>und</strong> weg<br />

gewaschen <strong>und</strong> sie selber sich wieder gefangen<br />

hatte. Gestärkt <strong>und</strong> mit neuem Elan gelang es ihr<br />

wieder dem Leben <strong>und</strong> dem Exil in die Augen zu<br />

sehen. Auch so kann man s<strong>ein</strong>e duftenden<br />

Erinnerungen zelebrieren.<br />

Ich m<strong>ein</strong>erseits bringe sie alle mit mir mit, in m<strong>ein</strong><br />

Duftgedächtnis <strong>ein</strong>gegraben, <strong>ein</strong> flüchtiger Akkord<br />

unvergesslicher Erinnerungen an den Norden, an<br />

den Amazonas.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 794


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Vom magischen Bad voller Düfte oder “Cheiro cheiroso”<br />

Es war <strong>ein</strong>mal, damals, in den guten alten Zeiten.<br />

Da hatte das Jahr noch zwei Höhepunkte, beide<br />

umhüllt von Wohlgerüchen, den Wohlgerüchen<br />

<strong>ein</strong>es „Banhos de Cheiro“, <strong>ein</strong>es Duftbades. So <strong>ein</strong><br />

Bad voller Düfte brachte Glück <strong>und</strong> Segen <strong>und</strong><br />

verschloss gleichzeitig den Körper. Ein Ritual: Im<br />

Juli, um den Tag des heiligen São João (24.6.<br />

Johannes der Täufer) <strong>und</strong> zum Jahreswechsel,<br />

nahmen alle ihr duftendes, gesegnetes Bad. Es<br />

gibt Quellen, die sagen, dass das Ritual des<br />

Johannesbades ursprünglich aus Portugal<br />

stamme. Da die indigene Bevölkerung aber <strong>ein</strong>e<br />

intime Beziehung zur R<strong>ein</strong>igung <strong>und</strong> <strong>ein</strong> tiefes<br />

Faible für gute Gerüche hat <strong>und</strong> von deren<br />

magischer Kraft überzeugt ist, wird sich alles in<br />

<strong>ein</strong>em multikulturellen Schmelztiegel vermischt<br />

haben.<br />

Pünktlich zu den Festen tauchten <strong>und</strong> tauchen<br />

auch heute noch in den Straßen an jeder Ecke<br />

ambulante Verkäufer auf. Sie bieten aus Kesseln,<br />

Körben oder von türblattgroßen, zweirädrigen<br />

Ziehkarren all das an, was gut riecht, den bösen<br />

Blick abhält <strong>und</strong> gute Geister anzieht: Rosmarin,<br />

Lavendel, Patchuli, Priprioca, Casca Preciosa,<br />

Cumaru (Tonkabohne), Myrre <strong>und</strong> Catinga de<br />

Mulata. Früher kündeten sie sich mit ihrem Ruf<br />

“Cheiro cheiroso! Cheiro cheiroso!” (Duftender<br />

Duft!) von weitem an.<br />

Genauso wie bei den Traditionen des Duftbades<br />

weiß auch bei den Düften k<strong>ein</strong>er mehr so genau,<br />

welche lokal sind <strong>und</strong> welche übers Meer hierher<br />

fanden, auf ihrem langen Weg köstlich verschimmelten<br />

wie das Patschuli mit s<strong>ein</strong>en köstlich<br />

fauligen Noten, antik, verstaubt <strong>und</strong> immer<br />

dominant. Es wurde zwischen die kostbaren Stoffe<br />

gelegt, mit dem Ziel die Motten fernzuhalten.<br />

Am Tag des duftenden Bades erinnerte sich jede<br />

Familie an ihre alten, überlieferten Hausrezepte.<br />

Die verlangen, neben den obligaten glückbringenden<br />

Wohlgerüchen, auch immer <strong>ein</strong>e<br />

Portion Magie. Es gilt drei Wurzeln mit drei mal<br />

drei Ästchen zu sieden oder das Duftgebräu muss<br />

sieben Mal mit <strong>ein</strong>em nigelnagelneuen Kochlöffeln<br />

umgerührt werden. Einmal zubereitet,<br />

unterwerfen sich alle Familienmitglieder, ganze<br />

Dynastien, von der Urgroßmutter bis zum Baby,<br />

dem Ritual des „Banho de cheiro“, jeder für sich<br />

oder gar <strong>ein</strong>em kollektiven. Dazu verwandelten die<br />

Familien, die es sich leisten konnten, ihren<br />

Swimming-Pool in <strong>ein</strong>e Art Glücks- oder gar<br />

Jungbrunnen mit amazonischen Dimensionen.<br />

Füllten ihn mit dem schlammiggrünen,<br />

parfümierten Wasser. Daraus stiegen dann alle<br />

ger<strong>ein</strong>igt, gestärkt <strong>und</strong> mit geschlossenen Körpern<br />

hervor.<br />

Auch das Haus wurde <strong>ein</strong>em Bad oder <strong>ein</strong>er<br />

Räucherung unterworfen, die die selben Zwecke<br />

verfolgt. Das ganze Haus wird so lange <strong>und</strong> so<br />

ausgiebig gefegt, gebürstet, gewaschen, bis es<br />

endlich p<strong>ein</strong>lich sauber war. Dann gilt es alle<br />

Fenster <strong>und</strong> Türen weit zu öffnen, um dann<br />

mithilfe <strong>ein</strong>es Straußes, geb<strong>und</strong>en aus aromatischen<br />

Zweigen, jenen parfümierten Aufsud in<br />

alle Ecken <strong>und</strong> Kanten zu verspritzen. Oder es<br />

werden in improvisierten Gefäßen auf glühenden<br />

Kohlen magische Mixturen aus trockenen Kräutern<br />

<strong>und</strong> Harzen verbrannt, deren Rauch so s<strong>ein</strong>e<br />

r<strong>ein</strong>igende Funktion entfalten kann. Beim<br />

Versprühen des Wassers oder dem r<strong>ein</strong>igenden<br />

Räuchern muss darauf geachtet werden, dass nicht<br />

nur alle Türen <strong>und</strong> Fenster offen sind, sondern es<br />

muss auch vom Hausinnern zu den Türen in<br />

verspritzt oder geräuchert werden. Das erlaubt<br />

den aufgeschreckten, bösen Geistern zu fliehen.<br />

Die guten Geister, magisch angezogen, können<br />

ungehindert <strong>ein</strong>treten <strong>und</strong> werden willkommen<br />

geheißen. Unentschieden wankelmütigen Geistern<br />

helfen die Gerüche, sich besser zu orientieren.<br />

Das Ritual des Banho de Cheiro hat bis heute<br />

überlebt. Es soll neuerdings nicht nur in der<br />

Kräuterecke des Ver-o-Peso <strong>ein</strong> großer Hit s<strong>ein</strong>.<br />

Manche Verkäufer setzten gar auf <strong>ein</strong> Kit mit<br />

zweierlei Bädern. Das erste wäscht alle negativen<br />

Energien davon, das zweite parfümiert, regeneriert<br />

<strong>und</strong> lädt mit positiven Energien auf. Es zieht das<br />

Glück an, öffnet die Wege <strong>und</strong> wer weiß was sonst<br />

noch alles. Ach ja, nicht vergessen: Damit das<br />

Duftbad erfolgreich ist, sollte k<strong>ein</strong>e Seife<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 797


verwendet <strong>und</strong> der Körper nach dem Bad<br />

k<strong>ein</strong>esfalls abgetrocknet werden.<br />

Wer selber <strong>ein</strong> Duftbad brauen will, hier das<br />

Rezept: Ein sauberes Gefäß wird mit<br />

parfümierten Kräutern, Wurzeln <strong>und</strong> Hölzern<br />

gefüllt. Die Hölzer <strong>und</strong> Wurzeln müssen vorher<br />

zerstoßen oder gerieben werden. Dann wird das<br />

ganz mit Wasser bedeckt <strong>und</strong> ausgekocht. Bald<br />

schon erhebt sich der exotische Duft<br />

jungfräulichen Waldes. Der grünlichbraune<br />

Aufguss wird dann mithilfe <strong>ein</strong>er Kalebasse über<br />

den ganzen Körper gegossen.<br />

Wer möchte, kann mit den Göttern auch <strong>ein</strong>en<br />

ganz speziellen Wunsch ausmachen.<br />

Komplizierter zu erfüllende Begehren können<br />

durch die Verwendung kl<strong>ein</strong>er Zauberseifen oder<br />

magischen Parfüms unterstützt werden. Ihre<br />

Verpackungen garantieren nicht nur <strong>ein</strong>en neuen<br />

Boyfriend oder Liebhaber, zwingen jenen, der<br />

fremd geht zurück, vor <strong>ein</strong>em auf die Knie, binden<br />

ihn auf’s Neue ganz fest, ziehen zahlkräftige<br />

K<strong>und</strong>schaft oder garantieren ganz generell<br />

Wohlstand.<br />

Alle das beteuert, beschworen <strong>und</strong> besiegelt<br />

durch das jahrh<strong>und</strong>ertealten Wissen der lokalen<br />

Kräuterk<strong>und</strong>igen, die <strong>ein</strong>em gerne in allen<br />

Lebenslagen beraten <strong>und</strong> immer in der Lage sind,<br />

<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>en Ausweg aufzeigen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 798


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Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern<br />

Kenne sie nur aus nostalgischen Erzählungen.<br />

Aber im abgelegenen Hinterland gibt es sie bis<br />

heute. Der „Regatão“ oder „Mascate“, <strong>ein</strong><br />

schwimmender Krämerladen/Hausierer/<br />

Postbote/Nachrichten- <strong>und</strong> Bestellungen-<br />

Überbringer, der natürlich per Boot überall, oder<br />

wenigstens fast überall hinkommt.<br />

S<strong>ein</strong>e Waren sind <strong>ein</strong> wichtiger Teil des Geschäfts.<br />

Aber fast noch wichtiger ist s<strong>ein</strong>e Kunst. Die Kunst<br />

den <strong>ein</strong>tönigen amazonischen Alltag mit <strong>ein</strong> paar<br />

Farbklecksen zu unterbrechen, aufzuhellen, gar zu<br />

verzaubern. Die Kunst, <strong>ein</strong>en Hauch der großen,<br />

weiten Traumwelt da draußen in die hinterste<br />

Hinterstube im Norden zu bringen. Streichel<strong>ein</strong>heiten<br />

für die Seele, Komfort für den Körper.<br />

Glitzer, Glamour in Form von billigen Stoffen <strong>und</strong><br />

Kleidchen <strong>und</strong> etwas zu grellem Schmuck, billige,<br />

etwas ordinäre Parfüms, Lippenstifte, wohlriechende<br />

Seifen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar leckere<br />

Süßigkeiten.<br />

Wer in der Stadt wohnte, zu dem kam der<br />

„Caixeiro viajante“, <strong>ein</strong> Hausierer in Düften,<br />

spezialisiert auf Parfümrohprodukte. Es war<br />

Brauch, sich neben <strong>ein</strong> paar Tinkturen für die<br />

Hausapotheke auch das eigene Parfüm selber<br />

herzustellen. Stelle mir vor, wie das clever<br />

charmante Männchen mit s<strong>ein</strong>em Bauchladen vor<br />

der Haustür in die Hände klatscht. In die gute<br />

Stube gebeten, den Bauchladen mitten auf den<br />

Tisch wuchtet. Langsam, k<strong>ein</strong> magischer Moment<br />

darf vergeudet werden, es gilt <strong>ein</strong>e Zeremonie zu<br />

vollführen, öffnet sich die Kladde in Zeitlupe.<br />

Augenblicke genug, damit sich die geheimnisvolle<br />

Duftwolke im Raum ausbreiten kann. Ein<br />

unwiderstehlich geheimnisvoller Geruch, bitterfaulig-würzig.<br />

Noch <strong>ein</strong>e Seite des Kastens<br />

runtergeklappt bis endlich der fleckig-grüne Samt<br />

sichtbar wird, mit dem die Kladde ausgelegt ist.<br />

Effektvoll sinnlicher Hinter- <strong>und</strong> Untergr<strong>und</strong> für<br />

unzählige Fläschchen, Döschen <strong>und</strong> Röhrchen, die<br />

alles enthalten, was man zur hauseigenen Parfümproduktion<br />

braucht.<br />

Viele der unterschiedlichsten, wohlriechenden<br />

Ingredienzen, Tinkturen, Öle, Harze, Samen<br />

stammen aus dem Amazonas. Reiht dann<br />

Fläschchen neben Fläschchen, so dass die<br />

Flüssigkeiten in allen Farben gut zur Geltung<br />

kommen, die <strong>ein</strong>en dicklich, die anderen ölig oder<br />

wässrig, den Inhalt des <strong>ein</strong>en oder anderen<br />

aufschüttelt, <strong>ein</strong>em hier an <strong>ein</strong>em Fläschchen<br />

riechen lässt, <strong>ein</strong> anderes schüttelt, um s<strong>ein</strong>en<br />

Geruch noch betäubender zu machen, da <strong>ein</strong><br />

Tröpfchen voller Geheimnisse zerreibt. Die Nasen<br />

mit zwischen zwei Fingern verriebenem Pulvern<br />

oder Ölen in Versuchung führt <strong>und</strong> nie mit leeren<br />

Händen davon geht.<br />

Der Hausherr höchstpersönlich erneuert s<strong>ein</strong>e<br />

Reserven. Ingredienzen, aus denen er s<strong>ein</strong>e<br />

persönlichen Duftwasser, die „Águas de Cheiro“<br />

zusammenbraut, wie es die Tradition will. Gibt <strong>ein</strong><br />

paar bittermandlige „Cumarusamen“ ins Glas,<br />

Späne der Rinde des „Macacaporangabaumes“,<br />

leicht, zitrig, <strong>und</strong> betörend-sinnliches Patschuli,<br />

faulig <strong>und</strong> exotisch. Lässt alles in Alkohol gut<br />

durchziehen, in der Sonne oder in strengster<br />

Dunkelheit, um nach der richtig bemessenen Zeit<br />

sich dann jeden Tag nach jedem der<br />

verschiedenen tagtäglichen Bäder üppig damit zu<br />

parfümieren.<br />

Bis heute kann man die nach alten Rezepten<br />

nachproduzierten, grünlich transparenten Düfte,<br />

in denen echte Wurzeln <strong>und</strong> Samen schwimmen,<br />

finden. Duftwasser, die ihre Parfüms wie früher<br />

aus dem amazonischen Regenwald extrahieren,<br />

<strong>und</strong> helfen <strong>ein</strong>e ganze lokale Kultur zu bewahren.<br />

Auch wenn sie nicht mehr vom Hausierer, sondern<br />

aus dem Shopping stammen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 801


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 802


Uschi, die Duftende<br />

-“Ach, Sie sind Ausländerin! Deutscher<br />

Muttersprache?!“ –sogleich erinnert sich<br />

mindestens <strong>ein</strong>er in der R<strong>und</strong>e an <strong>ein</strong>e andere<br />

Deutsche, <strong>ein</strong>en anderen Landsmann, aus dem<br />

Bekanntenkreis. Wenn sie überhaupt das Wort an<br />

mich richten: Vielleicht spricht sie ja gar k<strong>ein</strong><br />

Portugiesisch!<br />

Deutsch-s<strong>ein</strong>, Deutsch-sprechen wird so<br />

automatisch zum gem<strong>ein</strong>samen Nenner zwischen<br />

mir <strong>und</strong> jenen Personen, die ich soeben kennen<br />

lerne. Wohl urmenschlich, wenn man Entzücken<br />

erwartet, wenn man in <strong>ein</strong>em stockfremden Land<br />

auf so etwas Vertrautes wie auf <strong>ein</strong>en anderen Ex-<br />

Patrioten, wenn auch nur vom Hörensagen, stößt.<br />

Leider splittert dann beim persönlich Kennenlernen<br />

oft etwas vom Lack ab. Spätestens dann<br />

nämlich, wenn man zwar Land- oder<br />

Sprachgenossen findet, aber zum x-ten Mal<br />

feststellt, dass man außer dem fremden Land<br />

oder der Sprache <strong>und</strong> dem selbst gewählten Exil<br />

nicht viel gem<strong>ein</strong>sam hat. Würde diesen<br />

Mitbürger zu Hause wohl höchstens höflich<br />

grüßen, ihn mir sich aber nie zum Fre<strong>und</strong><br />

aussuchen. Im Exil erwarten aber alle<br />

umstehenden immer <strong>ein</strong>e sofortige<br />

Verbrüderung.<br />

Mit Uschi, der Duftenden, Name geändert, verhält<br />

es sich ebenso. Die unterschiedlichsten Leute<br />

erzählen mir sogleich von ihr. Sie muss bekannt<br />

s<strong>ein</strong>, wie <strong>ein</strong> bunter H<strong>und</strong>, oder das Dorf ist so<br />

kl<strong>ein</strong>, dass hier jeder jeden kennt. Wie dumm nur,<br />

dass ich, als sie uns besuchen kommt, oder besser<br />

vorbeikommt, um ihr Selber<strong>ein</strong>gemachtes zu<br />

verkaufen, ausgerechnet nicht da bin.<br />

Wir, die aus dem deutschsprachigen Raum<br />

kommen, lerne ich hier, können alle sehr gut<br />

kochen <strong>und</strong> noch besser Einmachen. Das wurde<br />

uns, <strong>ein</strong>e Art Nationalheiligtum, sozusagen in die<br />

Wiege gelegt. Gebe zu, dass m<strong>ein</strong>en Einweckkünsten<br />

k<strong>ein</strong> Früchtesegen entkommt. Habe mir<br />

gar schon <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Fankreis damit erkocht,<br />

manche Fre<strong>und</strong>e sind ganz wild auf m<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>en<br />

Aufmerksamkeiten, besonders da ich ganz<br />

europäisch nicht so tief in den Zuckertopf greife<br />

wie die Einheimischen.<br />

Doch der Vergleich hinkt. Die Mehrheit der<br />

brasilianischen Mittelklassefrauen lässt nun mal<br />

kochen. Es ist die Hausangestellte, die die von<br />

perfekt organisierten Hausfrauen wöchentlich<br />

geplanten <strong>und</strong> <strong>ein</strong>gekauften Menüs zubereiten.<br />

Die tagsüber abwesende Familie wärmt sie dann,<br />

Mikrowelle sei Dank, abends <strong>ein</strong>fach auf. Sie<br />

hygienisiert <strong>und</strong> wäscht auch Salat <strong>und</strong> Früchte,<br />

schnitzelt das sterile Obst in m<strong>und</strong>gerechte<br />

Happen, wenn überhaupt welches auf den Tisch<br />

kommt. Da viele Familien jeden Tag Reis <strong>und</strong><br />

Bohnen, Bohnen <strong>und</strong> Reis essen, variiert eigentlich<br />

nur das Fleisch, heute Hühnchen, morgen Rind,<br />

immer hauchf<strong>ein</strong> <strong>und</strong> schuhsohlentrocken<br />

durchgebraten.<br />

Aber zurück zu Uschi, Uschi, der Duftenden.<br />

Endlich hilft mir jemand, <strong>ein</strong>es tropisch-heißen<br />

Tages, auf die Sprünge: Uschi ist Deutsche <strong>und</strong><br />

damit, entschuldigen Sie das perfekte Vorurteil,<br />

daran gewohnt, höchstens alle zwei oder drei<br />

Tage zu duschen. Trägt ihre Kleider, auch bei<br />

amazonischen Höchsttemperaturen, mehrmals<br />

hinter<strong>ein</strong>ander. Schwört gar, noch schlimmer,<br />

auf billige Synthetiks. Wird so für die sensiblen<br />

brasilianischen Nasen, zu Uschi, der Duftenden.<br />

Letzteres natürlich ironisch gem<strong>ein</strong>t.<br />

Aus Erfahrung kann ich dazu nur sagen: Es fehlt<br />

ihr ganz <strong>ein</strong>fach noch der richtige brasilianische<br />

Fre<strong>und</strong>. Einige von Uschis Landsleuten, ganz<br />

krass war es bei <strong>ein</strong>em jungen Mann, haben sich<br />

sozusagen über Nacht in wohlriechende<br />

Mitbürger verwandelt. Der junge Mann verliebte<br />

sich, wupps, noch <strong>ein</strong> Vorurteil, in <strong>ein</strong>e<br />

w<strong>und</strong>erschöne, immer äußerst wohlriechende,<br />

frisch geduschte, zierliche Mulattin. Heiratete sie<br />

dann auch <strong>und</strong> folgte ihr in den Nordosten. S<strong>ein</strong>e<br />

Duftwolke verbesserte sich sozusagen<br />

schlagartig. Und wenn sie nicht gestorben sind,<br />

so leben sie bis heute glücklich <strong>und</strong> überaus<br />

wohlriechend, jeden Tag frisch geduscht, bis an<br />

ihr Lebensende weiter.<br />

Was aus der duftenden Uschi geworden ist?<br />

Entzieht sich leider m<strong>ein</strong>er Kenntnis. Des doch<br />

sehr prekären <strong>und</strong> alternativen Lebens wohl<br />

überdrüssig, arbeitet sie heute vielleicht<br />

irgendwo in der guten alten Heimat auf der Bank<br />

oder im Supermarkt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 803


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 804


Chico, der Schlangenflüsterer<br />

Mit den Schlangen, die ihm s<strong>ein</strong>en Namen geben,<br />

<strong>und</strong> anderen hochgiftigen Tieren hat Francisco,<br />

Chico das cobras, nur indirekt Kontakt. Doch Chico<br />

kennt sich aus. Mit Schlangenbissen genauso wie<br />

mit den Stichen der Stachelrochen, Spinnen oder<br />

Skorpionen. Chico heilt sie alle. Er hat <strong>ein</strong>en<br />

Zaubertrank, <strong>ein</strong>e Garrafada, das Gegenmittel.<br />

Orangefarben, etwas trübe füllt sie, die<br />

geheimnisvolle Flüssigkeit die Styroporkiste. Sei<br />

sehr lange haltbar, unfehlbar, <strong>ein</strong> Familienrezept,<br />

streng gehütet, vom Vater auf Chico, Francisco,<br />

den Schlangenflüsterer übergegangen.<br />

Die Liste der giftigen Tiere im Amazonas ist lange,<br />

komplex <strong>und</strong> verheerend. Darin sind sich alle<br />

<strong>ein</strong>ig, die Caboclos <strong>und</strong> auch die Schulmediziner.<br />

Letzteren hat Chico viel voraus, will man s<strong>ein</strong>en<br />

Erzählungen Glauben schenken. Er zeigt offizielle<br />

Statements vor, Bittschriften <strong>und</strong> Petitionen<br />

voller Stempel <strong>und</strong> prunkvollen Unterschriften.<br />

Der offiziellen Anerkennung steht allerdings eben<br />

jenes Familienrezept im Weg. Es wirke, aber<br />

offenlegen will er die Zusammensetzung, die<br />

Kräuter, die es enthält um nichts in der Welt. In<br />

s<strong>ein</strong>en Erzählungen schwingt Trotz mit <strong>und</strong> man<br />

hört Frustration heraus. Zu viele Hürden trennen<br />

den „ungebildeten“ Kräuterdoktor <strong>und</strong><br />

Medizinmann vom instruierten Mediziner.<br />

Die Begegnung mit Chico, dem Schlangenflüsterer<br />

wirft ethische, ethnische, medizinische <strong>und</strong><br />

ethnologische Fragen auf. Fakt ist: Bei Bissen oder<br />

Stichen in freier Wildbahn hoch im Amazonas ist<br />

die Schulmedizin bis heute eher schlecht gerüstet.<br />

Jede Schlangenart z.B. hat ihr ganz individuelles<br />

Serum, das nur wirkt, wenn das Tier richtig<br />

identifiziert wird. Und es dem Patienten gelingt,<br />

bis ins nächste Krankenhaus zu gelangen. Sticht<br />

<strong>ein</strong> Stachelrochen zu, ist das zwar nicht tödlich,<br />

aber extrem schmerzhaft. Die Schulmedizin kann<br />

dann nur abwarten, den Schmerz unterdrücken<br />

<strong>und</strong> die Schwellung medikamentös zum Abschwellen<br />

bringen.<br />

Und genau da kommt Chico ins Spiel. Er lebt in<br />

Obidos, <strong>ein</strong>em jener Vorposten der amazonischen<br />

Welt. Bis hier ist die Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge noch<br />

nicht mit ihrem ganzen Spektrum vorgedrungen.<br />

Und mancher war schon froh, dass es ihn gibt.<br />

Chicos Geschichte erinnert in vielem an „Específico<br />

pessoa“, <strong>ein</strong> Kräuteraufguss der genauso wie der<br />

von Chico, neben Schlangenbissen <strong>und</strong><br />

Skorpionstichen noch viel mehr heilen soll. In den<br />

brasilianischen Hinterlanden fehlt „Específico<br />

pessoa“ in k<strong>ein</strong>er Hausapotheke. Einfache Leute<br />

aus dem Amazonas <strong>und</strong> aus Brasiliens Nordosten<br />

schwören darauf.<br />

Daraus hat sich <strong>ein</strong> Zweifronten Krieg entwickelt,<br />

der Ethnobotanik wohlbekannt: Chemiker <strong>und</strong><br />

Ärzte beweisen, dass der Trank k<strong>ein</strong>erlei Wirkung<br />

habe. Einfache Leute erzählen von den unvorstell-<br />

barsten <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ersamsten Heilungsverläufen.<br />

Wie auch immer. Ein weiterer Fakt ist, dass die<br />

Biodiversität der südamerikanischen<br />

Regenwälder <strong>ein</strong> unbekannter, ungehobener<br />

Schatz ist . Der tropische Wald ist reich an<br />

aromatischen <strong>und</strong> medizinischen Pflanzen, deren<br />

Gebrauch von Generation zu Generation<br />

überliefert wurde. 1993 hat Brasilien in Rio,<br />

zusammen mit 192 anderen Ländern, <strong>ein</strong>e<br />

Biodiversitäts-Konvention unterzeichnet, <strong>ein</strong><br />

weltweiter Akkord der nachhaltigen Nutzung.<br />

Eine Regelung der Nutzung ist umso wichtiger,<br />

als bis heute nur 11 % der in Brasilien<br />

existierenden Flora <strong>und</strong> Fauna, des technisch als<br />

genetisches Erbe klassifiziert, katalogisiert sind.<br />

Das wirft unendlich viele unbeantwortete Fragen<br />

auf. Chico, Nachfahre von Idigenen, sagt er heile<br />

Schlangenbisse <strong>und</strong> die W<strong>und</strong>en anderer giftiger<br />

Tiere mithilfe <strong>ein</strong>es nur ihm bekannten Gebräus.<br />

Er ist nicht bereit, s<strong>ein</strong> Wissen offen zu legen. Er<br />

reagiert, wie viele Heiler <strong>und</strong> Kräuterk<strong>und</strong>igen<br />

mit Misstrauen. Bei der Heilung <strong>ein</strong>es<br />

Schlangenbisses handelt es sich um <strong>ein</strong>e Art<br />

Tabuthema, <strong>ein</strong>e Grenzerfahrung, hochemotionell,<br />

gem<strong>ein</strong>nisumworben <strong>und</strong> auch nicht frei<br />

von Sensationslust.<br />

Das ganze lässt sich auf <strong>ein</strong> paar Gr<strong>und</strong>fragen<br />

reduzieren. Wem gehört <strong>ein</strong>e Pflanze <strong>und</strong> das<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 805


Wissen über ihre Heilkraft? Welchen Wert hat<br />

<strong>ein</strong>e Pflanze aus dem Regenwald überhaupt? Wer<br />

darf damit arbeiten, respektive daraus<br />

potenziellen Nutzen ziehen? Wie weit vertraut<br />

man der Ethnobiologie, wenn es um neue Wege<br />

der Forschung geht? Und last, but not least –<br />

wem gehört das „Wissen“ über Kräutermedizin?<br />

Das brasilianische Gesetz, im Moment in<br />

wissenschaftlichen Kreisen heiß diskutiert, hat<br />

<strong>ein</strong>e klare Antwort. Nur wer <strong>ein</strong>e Bewilligung der<br />

Regierung hat, darf unter Androhung riesiger<br />

Bußen mit den Pflanzen forschen. Was in Realität<br />

die meisten Forschungsprojekte sozusagen<br />

„tiefgefriert“. Auch wenn Firmen, wie<br />

brasilianische Kosmetikfirma Natura <strong>ein</strong>en Teil<br />

des Problems mit <strong>ein</strong>em Über<strong>ein</strong>kommen den<br />

Kräuterverkäufern des berühmten Ver-o-peso in<br />

Belém abschließt <strong>und</strong> ihnen für ihr „Wissen“<br />

<strong>ein</strong>en nicht bekannt gegebenen Betrag bezahlt, ist<br />

das Problem so gut wie ungelöst.<br />

Chicos grüne Paste enthält alle Dokumente.<br />

Fünfzehn Jahre dauert s<strong>ein</strong> Kampf schon. Eine<br />

Reihe von Bürgermeistern hat ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>em<br />

Trank mit Stempel <strong>und</strong> schön geschwungenen<br />

Sätzen s<strong>ein</strong>e Heilkraft attestiert. Jemand hat gar<br />

<strong>ein</strong> Projekt geschrieben, R$ 15.000 für <strong>ein</strong> Haus,<br />

<strong>ein</strong> Behandlungszimmerchen. Bis ihm dann die<br />

Marina <strong>ein</strong> Boot geschenkt hat. Die, die er intim<br />

<strong>und</strong> zärtlich Marina nennt, ist Marina Silva, die<br />

Umweltaktivistin <strong>und</strong> –ministerin, Ex-Präsidentschaftskandidatin.<br />

Die hat er da in Brasilia<br />

getroffen. Das Boot? Das hat er gerade verkauft<br />

<strong>und</strong> lässt sich nun <strong>ein</strong> noch schöneres, größeres<br />

bauen. Den Bau verfolgt er mit Argusaugen. Hat<br />

alles stehen <strong>und</strong> liegen lassen, um dem<br />

Bootsbauer zuzusehen.<br />

Hier lernen wir Chico kennen. Kunstvoll verklemmt<br />

der Bootsbauer noch <strong>ein</strong> lang gezogenes Brett in<br />

den malerisch hochgezogenen Rippen. Kühn<br />

geschw<strong>und</strong>en sticht der Bug in den blauen<br />

Himmel. Dunkel, fast schwarz hebt sich das<br />

Gerippe gegen das grüne Gras ab, kaum h<strong>und</strong>ert<br />

Meter vom Wasser entfernt. Chico nimmt uns, die<br />

instruierten, neugierigen Ausländer, sogleich mit<br />

in s<strong>ein</strong> Haus. Gleich da oben sei es. Ein kurzer<br />

Fußmarsch nur. Er wohne am schönsten Ort der<br />

Welt. Hoch über dem Wasser. Manchmal komme<br />

da gar <strong>ein</strong>e Schildkröte oder <strong>ein</strong> Kaiman zu Besuch.<br />

Sorgfältig zirkeln wir über die Bretterbrücke. Die<br />

zwei fre<strong>und</strong>lichen H<strong>und</strong>e müssen auf der anderen<br />

Seite bleiben. Es ist <strong>ein</strong>es jener Stelzenhäuser, die<br />

sich hier im Norden Brasiliens über Hochwasser<br />

<strong>und</strong> Sümpfe erheben. Nachzufragen, wohin das<br />

Abwasser <strong>und</strong> die Fäkalien der Toilette fließen,<br />

unterlässt man besser. Ja, das ganze Haus hier hat<br />

er eigenhändig erbaut. Baut es noch immer weiter<br />

aus. Dann, wenn die große Familie durch noch<br />

<strong>ein</strong>en Schwiegersohn oder <strong>ein</strong>e Schwiegertochter<br />

oder <strong>ein</strong>en Enkel erweitert wird. Stolz zeigt er<br />

uns den Fahnenmast <strong>und</strong> die Galionsfigur für das<br />

neue Boot. Denn Schr<strong>ein</strong>er, <strong>ein</strong> wahrhaft<br />

talentierter, ist er nämlich auch.<br />

N<strong>ein</strong>, das Schlangenflüstern werde wohl k<strong>ein</strong>er<br />

von s<strong>ein</strong>en Söhnen weiterführen. Er selber habe<br />

alles, was er wisse, von s<strong>ein</strong>em Vater, <strong>ein</strong>em<br />

waschechten Indigenen aus Mato Grosso erlernt.<br />

Immer wieder kommt er zum Ausgangspunkt<br />

zurück. S<strong>ein</strong> Trank helfe gegen alle Arten von<br />

Bissen, Stichen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>en, die von giftigen<br />

Tieren verursacht würden. Den Biss <strong>ein</strong>er<br />

Schlange könne er all<strong>ein</strong> schon an den<br />

Symptomen vom nicht weniger erschreckenden<br />

Stich <strong>ein</strong>er Spinne oder <strong>ein</strong>es Skorpions<br />

unterscheiden. Was den studierten Doktoren oft<br />

eher schwer falle. Schon oft habe er <strong>ein</strong>em von<br />

ihnen widersprochen. Eine gänzlich falsche<br />

Diagnose richtig gestellt.<br />

Leider kämen die meisten Betroffenen erst dann<br />

zu ihm, wenn sie die Medizin, die Doktoren<br />

schon aufgegeben habe. Und er heile sie alle. Mit<br />

<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Trank. Die Ärzte könnten es sich<br />

nicht erklären. Sie schössen nur viel <strong>Foto</strong>s.<br />

Vorher <strong>und</strong> nachher <strong>und</strong> begännen dann, ihn<br />

wirklich zu respektieren. S<strong>ein</strong>e Söhne erschrecke,<br />

ekle es, wenn die Menschen hier ankämen.<br />

Schreiend, außer sich vor Schmerzen,<br />

Gliedmaßen in Verwesung, das halten nur sehr<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 806


starke Nerven durch.<br />

Schon in der bis heute bew<strong>und</strong>erten „Flora<br />

brasiliensis“ vom deutschen Naturforscher,<br />

Botaniker <strong>und</strong> Ethnograf Carl Friedrich Philipp von<br />

Martius, erschienen in den Jahren 1840 bis 1906,<br />

findet sich <strong>ein</strong> Hinweis auf <strong>ein</strong>e Pflanze, die<br />

Schlangenbisse heile. Populär „Cayapiá“ genannt,<br />

ist sie als „Dorstena brasiliensis“ identifiziert. Von<br />

Martius beschreibt sie als Gegengift gegen alle<br />

Arten von Giften, am wirkungsvollsten gegen<br />

Schlangenbisse. Ethnobotanisches Wissen,<br />

Hochkomplex, schwer zu überprüfen.<br />

Chico ist nicht mehr jung, wenn auch vom<br />

sehnigen Stamm derer, die gut <strong>und</strong> gerne h<strong>und</strong>ert<br />

werden können. N<strong>ein</strong>, im Moment könne <strong>und</strong><br />

wolle s<strong>ein</strong>e Gabe, s<strong>ein</strong> Wissen nicht weitergeben.<br />

Gott habe ihm bis jetzt noch k<strong>ein</strong>en geschickt, der<br />

dazu bestimmt sei. Initiieren könne er nur<br />

jemanden, der <strong>ein</strong>en Ruf verspüre. Heiler s<strong>ein</strong><br />

wolle. Dem Schmerz direkt ins Auge sehen könne.<br />

Die Einzige, die k<strong>ein</strong>e Angst verspüre, sei s<strong>ein</strong>e<br />

Enkelin. Wir sitzen im Kreis auf Holzstühlen, <strong>ein</strong><br />

Nachbar schaut zu <strong>ein</strong>em Plausch her<strong>ein</strong>, am<br />

großen Mittagstisch verzehren sie gerade <strong>ein</strong><br />

zweites Frühstück, als sie sich in respektvollem<br />

Abstand dazu setzt. Ob es denn möglich sei, dass<br />

<strong>ein</strong>e Frau <strong>ein</strong>geführt werde? Die Antwort kommt<br />

ausweichend. Durch die Blume bejahend. Denn<br />

<strong>ein</strong>es ist klar - <strong>ein</strong>em jener Doktoren will er s<strong>ein</strong>e<br />

Geheimnisse dann doch nicht anvertrauen. Was er<br />

sucht, bleibt verschwommen. Anerkennung<br />

natürlich, aber welcher Art? Respekt, der sich<br />

vielleicht auch materiell ausdrückt?<br />

Die Initiationsriten seien drastisch. Nach der<br />

langen Lehrzeit nämlich, nachdem der Zögling<br />

alles, was er wissen muss, aufgenommen <strong>und</strong><br />

gelernt habe, komme der entscheidende Moment.<br />

Er wisse nun, wie man die Kräuter erkenne, wo<br />

man sie finde <strong>und</strong> welche anderen Zutaten, unter<br />

anderem Zucker, man dem Gebräu zusetze. Der<br />

bringe den Trank zum Fermentieren. Dann sei es<br />

an der Zeit, dass der Zögling s<strong>ein</strong>en ersten,<br />

geheimnisvollen Trank selber, für sich selber<br />

ansetze! Ein Trank, mit dem er sich selber heilen<br />

wird! Die brutale Logik dahinter ist schwer zu<br />

widerlegen: Nur wer den Schmerz kenne, die<br />

Qualen am eigenen Leib erfahren habe, könnte<br />

dieselben später bei anderen erfolgreich heilen.<br />

Sei der Eingeweihte dann soweit, lasse er sich<br />

beißen oder stechen. Von <strong>ein</strong>er Giftschlange,<br />

<strong>ein</strong>em Skorpion oder <strong>ein</strong>er der gefürchteten<br />

Spinnen. Bei Schlangenbissen tritt der Effekt<br />

sozusagen fast gleichzeitig mit dem Biss auf. Wie<br />

<strong>ein</strong> Blitz fahre der Schmerz <strong>ein</strong>. Die Stelle <strong>und</strong> das<br />

betroffene Glied beginnen anzuschwellen. Die<br />

Haut verfärbt sich bläulich, spannt, ist extrem<br />

schmerzanfällig. Wird nichts unternommen, treten<br />

schnell Nebenwirkungen auf. Der Betroffene fühlt<br />

sich elend <strong>und</strong> überaus schwach, ist aber zugleich<br />

hochgradig erregt. Er beginnt unter Todesängsten,<br />

Schwindel <strong>und</strong> unsäglichen Schmerzen zu leiden.<br />

R<strong>und</strong> um die W<strong>und</strong>e entstehen Blutgerinnsel, der<br />

ganze Körper ist extrem schmerzempfindlich <strong>und</strong><br />

an Schlaf ist nicht zu denken. Manche beginnen<br />

alles doppelt zu sehen. Das Zahnfleisch <strong>und</strong> andere<br />

Körperstellen beginnen zu bluten. Das Gift senkt<br />

den Blutdruck <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e starke Blutgerinnung setzt<br />

<strong>ein</strong>. Weitere unangenehme Details kann man sich<br />

heutzutage problemlos im Internet zusammen<br />

recherchieren.<br />

In dieser Situation also soll Chicos Trank wahre<br />

W<strong>und</strong>er bewirken. Spinnenbisse sind noch<br />

heimtückischer. Entgegen der landläufigen<br />

M<strong>ein</strong>ung sind es nicht die riesigen, bepelzten<br />

Spinnen, die gefährlich sind. Die werfen höchstens<br />

<strong>ein</strong> paar Nesselhaare nach ihrem F<strong>ein</strong>d. Die tun<br />

zwar lokal verdammt weh, aber der Schmerz klingt<br />

nach <strong>ein</strong>er Weile von selbst ab. Die kl<strong>ein</strong>en,<br />

unsch<strong>ein</strong>bar brauen Spinnen sind gefährlicher.<br />

Zusammen mit dem oft unbemerkten Biss spritzen<br />

sie <strong>ein</strong> Betäubungsmittel <strong>ein</strong>. So entfaltet das Gift<br />

s<strong>ein</strong>e Wirkung erst nach <strong>und</strong> nach. Aber auch hier<br />

kommt Chicos Trank unfehlbar zum Zug. Gerne<br />

zeigt er uns s<strong>ein</strong> Lager in <strong>ein</strong>er großen<br />

Styroporkiste. Sorgfältig durch Zwischenwändchen<br />

getrennt stehen hier recycelte Cachaça- <strong>und</strong><br />

andere Glasflaschen in Reih <strong>und</strong> Glied. Alle sind sie<br />

sorgfältig verkorkt. Als er zwei herausnimmt <strong>und</strong><br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 807


gegen das Licht hält, zeichnet sich <strong>ein</strong> trüber<br />

Bodensatz in der orangefarbenen Flüssigkeit ab.<br />

Chicos Kinder haben studiert. Eine Tochter ist<br />

Englischlehrerin. Zum Schluss bittet er mich,<br />

vorzulesen. Das ledergeb<strong>und</strong>ene Buch sch<strong>ein</strong>t<br />

ihm viel zu bedeuten. Er behandelt es wie <strong>ein</strong>e Art<br />

Bibel. Es sind in Abschnitte aufgeteilte Zitate. Sie<br />

handelt von den Propheten. Von Propheten, an<br />

die nur wenige glauben. Propheten, deren Wissen<br />

nicht mal mit Geld aufgewogen werden kann.<br />

Still, fast unsichtbar <strong>und</strong> doch sehr präsent sitzt<br />

s<strong>ein</strong>e Enkelin in respektvollem Abstand auf der<br />

Brüstung. Ihre Füße sind bloß. In Reichweite<br />

stehen <strong>ein</strong> paar herausfordernd hohe Sandalen<br />

mit Plateausohlen. Ob es ihr wohl beschieden ist,<br />

die zwei Welten, die so viel Schmerz, Macht,<br />

Irrationales <strong>und</strong> Überlieferungen b<strong>ein</strong>halten,<br />

zusammenzubringen?<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 808


Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen Verwandlung<br />

Sie ist für kurze Zeit bei uns zu Gast. Eine Frau in<br />

mittleren Jahren. Irgendwann beim Frühstück<br />

zieht sie mich ins Vertrauen. Klagt mir ihr Leid. Sie<br />

fühle sich, die könne es selber nicht in Worte<br />

fassen, <strong>ein</strong>fach irgendwie unwohl. K<strong>ein</strong>e wisse es<br />

besser als sie, dass es dafür nicht den mindesten<br />

Gr<strong>und</strong> gäbe. Sie habe doch alles, <strong>ein</strong>e tolle<br />

Karriere, <strong>ein</strong>en überaus erfolgreichen Mann <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbare Familie. Aber doch, irgendetwas<br />

bedrücke sie. Sitze ihr auf der Seele. Ob es hier in<br />

Brasiliens Norden vielleicht jemand gäbe, der ihr<br />

helfen könne?<br />

Muss nicht lange überlegen. Hatte nicht der<br />

Taxifahrer mir mal erzählt, dass s<strong>ein</strong> Onkel das<br />

“dom”, (“o dom da cura”) habe? Die Macht, <strong>ein</strong><br />

Geschenk, die Kraft, andere zu heilen. Er selbst<br />

habe sie auch. Wolle sie aber nicht ausüben.<br />

Ein Anruf genügt. Gleichzeitig nachgefragt, wie<br />

man sich verhalte, ob <strong>und</strong> wie, wann <strong>und</strong> wie viel<br />

man denn bezahle. Schicke sie, gut aufgehoben,<br />

im Taxi des Neffen los.<br />

Schon mit anderem Alltagskram beschäftigt, kann<br />

ich m<strong>ein</strong>e Überraschung kaum zügeln, als sie<br />

wieder zurückkommt. Eine Art w<strong>und</strong>ersamer<br />

Verwandlungsprozess hat stattgef<strong>und</strong>en. Es<br />

kommt <strong>ein</strong>e andere Frau zurück! Sie sch<strong>ein</strong>t<br />

mindestens drei Zentimeter größer! Sie ist gelöst,<br />

befreit, umgekrempelt. Es ist, wie wenn jemand<br />

<strong>ein</strong>en Hebel umgelegt hätte, <strong>ein</strong>en Zauberspruch<br />

gesprochen oder so ähnlich. Hätte wohl doch<br />

mitfahren sollen, um das W<strong>und</strong>er aus nächster<br />

Nähe mitverfolgen zu können. Die drei 2-Liter PET-<br />

Flaschen voller “Garrafadas”, extra für sie<br />

zurechtgemixt, trinkt sie religiös wie<br />

vorgeschrieben. Nimmt den Rest gar mit nach<br />

Amerika, getarnt als Guaraná. Die beiden Getränke<br />

haben ja ungefähr die selbe Farbe.<br />

Und ist sie nicht gestorben, so hält die<br />

unerklärliche, unfassbare Wirkung des Zaubers wie<br />

es sch<strong>ein</strong>t bis heute an! Ganz nach dem Motto,<br />

wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen<br />

hätte, hätte ich es nie geglaubt!<br />

Hier im Amazonas sind Rezedeiros, Benzedeiras<br />

<strong>und</strong> Puxadores noch nicht arbeitslos. Sie segnen,<br />

beten für die Kranken oder rücken die<br />

ausgerenkten Knochen jener zurecht, die um die<br />

Wirksamkeit ihrer Arbeit <strong>und</strong> ihres “Dons” wissen.<br />

Ihre Heilkraft wird aus Ebenen gespeist, zu denen<br />

die moderne Zeit <strong>und</strong> unsere Kultur k<strong>ein</strong>en Zugang<br />

mehr hat. Viele hier, auch manch aufgeklärter<br />

Doktor, halten es mit beiden. Ist <strong>ein</strong> Knöchel<br />

verdreht, gehen sie zur Puxadora, deren<br />

fachk<strong>und</strong>ige Hände, Öle <strong>und</strong> Massagen sogleich<br />

Linderung versprechen. Fällt <strong>ein</strong> Kind aus der<br />

Hängematte oder schreit es überdurchschnittlich<br />

viel oder ist es sonst auffällig, lohnt es sich, es<br />

<strong>ein</strong>mal mit <strong>ein</strong>er Rezedeira oder Benzadeira <strong>und</strong><br />

ihren Gebeten <strong>und</strong> Segenssprüchen zu versuchen.<br />

Die heilt oder vernäht auch die unsichtbaren<br />

W<strong>und</strong>en, die so <strong>ein</strong> Sturz wohl auch mit verursacht<br />

hat.<br />

Auffallend ist, dass alle, die heilen, betonen, dass<br />

diese Macht <strong>ein</strong> Geschenk sei. Dass die Kraft,<br />

andere zu heilen, angeboren <strong>und</strong> gottgegeben sei.<br />

Manche entdecken oder entwickeln sie selber,<br />

anderen wird es von Vorfahren vererbt oder<br />

überliefert. Traditionellerweise wird das Heilen mit<br />

<strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Geschenk vergolten, <strong>ein</strong> Heiler<br />

nimmt dafür k<strong>ein</strong> Geld an.<br />

Und wie es sch<strong>ein</strong>t, gibt es bis heute genug<br />

K<strong>und</strong>en, auch Leute aus der modernen Zivilisation,<br />

die ihre Dienste in Anspruch nehmen, gar aus der<br />

Kur drei Zentimeter größer <strong>und</strong> geheilt<br />

hervorgehen! Den Benzedeiros <strong>ein</strong> langes Leben!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 809


Göttin der Schönheit<br />

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Vom Schönheitskult<br />

Sie sind mit haarf<strong>ein</strong>em Pinsel extra-bunt bemalt.<br />

Liebevoll <strong>ein</strong>er hinter den anderen auf <strong>ein</strong>en rosa<br />

Musterkarton montiert, erinnern sie an die<br />

ausgerissenen Flügel exotischer Schmetterlinge<br />

sind aber nur künstliche Nägel, Fingernägel<br />

natürlich. Bew<strong>und</strong>ere den Karton hinter dem Glas<br />

der Eingangstür. Er wirbt hier für neue<br />

K<strong>und</strong>innen.<br />

Bleibe auch vor dem nicht gerade unauffälligen<br />

Plakat stehen, das all die Dienstleistungen<br />

anbietet, denen man sich hier unterziehen kann.<br />

Neben dem üblichen Waschen – Schneiden –<br />

Legen – Tönen – Färben, Strähnchen inklusive, ist<br />

auch das überaus populäre Strecken, <strong>ein</strong>e<br />

sozusagen umgekehrte Dauerwelle, die krauses<br />

Haar auf chemischem Weg wupps in glatteste<br />

Schnittlauchlocken verwandelt, zu haben. Wie<br />

wär‘s mit Maniküre <strong>und</strong> Pediküre? Gar <strong>ein</strong>em<br />

Mondbad? Das bleicht alle ungewollten <strong>und</strong> nicht<br />

depilierten Haare. Depiliert allerdings wird fast<br />

alles. Das halbe <strong>und</strong> das ganze B<strong>ein</strong>, Damenbart,<br />

Achseln <strong>und</strong> natürlich die Intimzone, mit<br />

Schokolade, Wachs oder für immer.<br />

M<strong>ein</strong> Salon ist lila. Lila auch der Stamm der Palme<br />

vor dem Geschäft, allerdings nur bis auf<br />

Brusthöhe. Lila sind die Eisenverstrebungen der<br />

vollverglasten Fensterfront. Die K<strong>und</strong>schaft kann<br />

ungeniert hinter der Fensterfront betrachtet<br />

werden: Maniküre, Pediküre, strähnig nasses<br />

Haar, Haarwickler, Überwürfe, Trockenhauben,<br />

Nägel im Wasserbad.<br />

Muss es besonders schnell gehen, legen gleich drei<br />

oder vier Fachleute ihre geschickten Händchen an<br />

<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigen K<strong>und</strong>en. Nur die obligaten<br />

verschiedenen Haarentfernungsprozeduren, doch<br />

etwas intimer, sind an diskretere Orte verbannt.<br />

Lila die griechischen Säulen mit den falschen,<br />

gipsernen Kapitellen, die den Eingang flankieren.<br />

Lila auch das Firmenzeichen des Salons. Soviel Lila<br />

ist wohl nur <strong>ein</strong>em Schönheitssalon erlaubt.<br />

Lilafarben auch die Eingangstür <strong>und</strong> die<br />

synthetischen Uniformschürzen der ungezählten<br />

jungen Mädchen. Sie verdienen sich hier<br />

nagellakierend ihr Brot. Zwei, drei handverlesene<br />

Mitarbeiter dürfen in weißem Hemd oder Bluse<br />

<strong>und</strong> schwarzer, formeller Hose bedienen.<br />

Der Besuch <strong>ein</strong>es, s<strong>ein</strong>es Schönheitssalons ist hier<br />

in Brasilien <strong>ein</strong> allwöchentliches Muss. Geht bei<br />

den Berufstätigen die Mittagszeit, natürlich<br />

freitags drauf, so opfern ganz Schönheitsbewusste<br />

oft auch gleich den halben Samstagmorgen.<br />

Verbringen ihn auf dem auf Monate hinaus<br />

reservierten Stuhl: Nägel, wöchentlich erneuern,<br />

monatlich Haareschneiden, bei besonderen<br />

Gelegenheiten nur frisieren, in regelmäßigen<br />

Abständen auch das rituelle Nachfärben des ach so<br />

verräterischen grauen Haaransatzes. Ein <strong>ein</strong>ziges,<br />

graues Haar ist imstande, <strong>ein</strong>e Frau/<strong>ein</strong>en Mann um<br />

Jahre, Jahrzehnte, altern zu lassen! Je älter <strong>und</strong><br />

traditioneller die K<strong>und</strong>schaft, desto höher die<br />

Ansprüche, komplizierter die Vorlieben.<br />

- Also m<strong>ein</strong>e Nägel vertraue ich nur der kl<strong>ein</strong>en ....<br />

an! Für die Füße hingegen, ja da kommt nur die .....<br />

in Frage! Sie wissen schon! Nur sie weiß genau, wie<br />

ich es haben will! -<br />

M<strong>ein</strong>em lila Salon fehlt allerdings die in <strong>ein</strong>facheren<br />

Stadtteilen omnipräsente Liste. Unendlich lang,<br />

preist all die Dienste an, denen man sich im Salon<br />

unterwerfen darf <strong>und</strong> kann. Schließe daraus, dass<br />

diese hässliche Hauptgeschäftsstraße hier wohl als<br />

ziemlich schick gilt.<br />

Worüber allerdings k<strong>ein</strong>er spricht, was k<strong>ein</strong>e zu<br />

stören sch<strong>ein</strong>t – die meisten der Prozeduren tun<br />

tierisch weh! Sich die Nagelhaut r<strong>und</strong> um den Nagel<br />

herunter schneiden zu lassen – hier das Normalste<br />

der Welt! Die Bikinizone oder noch intimeres mit<br />

Wachs depilieren? Klaglos hingenommen, dass sich<br />

die so misshandelte Haut auch mit den beruhigsten<br />

Cremes nur nach Tagen beruhigt. Wahre Schönheit<br />

muss erlitten werden, erkämpft, denn nur kommt<br />

man in den Genuss der Gegenleistung. Erst nachher<br />

kann man jenes Gefühl so richtig auskosten, sich so<br />

unbeschreiblich sauber, leider für kurze Zeit nur, so<br />

glatt <strong>und</strong> gut riechend wie <strong>ein</strong> frisch gewaschener<br />

Kinderpopo zu fühlen. Der ganze Körper gepflegt<br />

vom Scheitel bis zum glänzend künstlichen Nagel.<br />

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Apropos Nägel - Männer bevorzugen bis heute für<br />

ihre bitte eckig gefeilten diskret transparenten<br />

Lack, hier Gr<strong>und</strong>ierung genannt. Eine sehr<br />

spezielle Welt, in der <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>gerissener Nagel<br />

Gesprächsstoff für drei Tage hergibt. Mit der<br />

raueren Hausarbeit wird sowieso die<br />

Hausangestellte beauftragt. Um die unausweichliche<br />

Haarentfernung, gilt es doch auch im<br />

Winter im kl<strong>ein</strong>sten Bikini immer perfekt<br />

auszusehen – <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges, vorwitziges Schamhaar<br />

würde den ganzen, so sorgfältig aufgebauten<br />

Sexappeal sofort <strong>und</strong> unwiderruflich zerstören.<br />

Halte die meisten Prozeduren für r<strong>ein</strong>es Placebo.<br />

Wo sonst wird <strong>ein</strong>em solch un<strong>ein</strong>geschränkte<br />

Aufmerksamkeit zuteil, gewürzt mit dem<br />

neuesten Klatsch? All die Zuwendung, die<br />

entspannende Massage, das warm-weiche<br />

Wasser, die allzeit bereiten Hände <strong>und</strong> die<br />

w<strong>und</strong>erbar duftenden Shampoos <strong>und</strong> Cremes!<br />

Und vergessen Sie ja nicht die Stange Geld, die<br />

dieser Aufwand kostet. Wie gut, all da ganz all<strong>ein</strong><br />

für sich selbst auszugeben! Besser wohl nur, wenn<br />

die Maniküre für alle diese Prozeduren zur<br />

verabredeten Zeit nach Hause kommt. Nur leider,<br />

leider kann ich dann k<strong>ein</strong>es der lila gewandeten,<br />

dienstbereiten Mädchen nach <strong>ein</strong>em Kaffee<br />

schicken <strong>und</strong> mir auch nicht die w<strong>und</strong>erbar<br />

dicken, w<strong>und</strong>erbar kitschigen Klatschmagazine<br />

r<strong>ein</strong>ziehen. Dann, wenn ich auf die Feenhand<br />

m<strong>ein</strong>es Friseurs warte, der natürlich immer<br />

St<strong>und</strong>en zu spät ist. So was gibt es leider nur da,<br />

im lilafarbenen Schönheitssalon gleich um die<br />

Ecke!<br />

Ja, auch m<strong>ein</strong>e Nachbarin hat die Qual der Wahl<br />

hinter sich. Mit unendlicher Geduld strichelt <strong>ein</strong>er<br />

der noch geduldigeren Schönheitssklavinnen mit<br />

haarf<strong>ein</strong>em Pinsel <strong>ein</strong>es jener winzigen Wegwerfkunstwerke<br />

aus Nagellack auf jeden ihrer<br />

krallenartigen Nägel. Wird wohl noch etwas<br />

dauern…..<br />

immer<br />

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Der rosafarbene Delfin<br />

Einladend werden sie den hungrigen Kinderaugen<br />

präsentiert: Rosafarbene Delfine, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />

springender Fischschwarm, der nicht nur die<br />

Kinder in zuckersüße Versuchung führt. Sorgfältig<br />

<strong>ein</strong>er hinter den anderen auf glänzende Alufolie<br />

aufgespießt, von <strong>ein</strong>er Plastikhaube beschützt.<br />

Auf der <strong>ein</strong>en Seite flankieren in perfekter Reihe<br />

ultrarote Erdbeeren <strong>und</strong> links locken saftig gelbe<br />

Cashewfrüchtchen. Dazwischen täuschend echt<br />

bis auf die Kerne nachempf<strong>und</strong>ene Wassermelonen-Minischnitze.<br />

Alles aus künstlich<br />

gefärbter, unendlich süßer Zucker-Pulvermilch-<br />

Masse von geschickten Händen nachmodelliert.<br />

Schon trägt <strong>ein</strong> Junge stolz s<strong>ein</strong>en Minidelfin<br />

davon. Hat ihm, schwupps, auch gleich den Kopf<br />

abgebissen.<br />

Rosafarbene Delfine, pinkfarben wie Schw<strong>ein</strong>e,<br />

„Botos cor de rosa“ gibt es im Amazonasgebiet<br />

wirklich. Auch wenn die grauen, der Tuxuci,<br />

bekannter sind. Die Fischverkäufer in Santarém<br />

halten sich <strong>ein</strong> paar, sozusagen als Maskottchen.<br />

K<strong>ein</strong>er isst Delphinfleisch. Solange es der<br />

Wasserstand zulässt, tauchen sie elegant <strong>und</strong><br />

wendig zum Entzücken der Touristen den Fischen<br />

nach, die man ihnen an <strong>ein</strong>em Seil zum Fraß<br />

vorwirft. Sie stehen nicht nur im guten Ruf,<br />

Schiffbrüchigen zu helfen, schwimmend das<br />

rettende Ufer zu erreichen. Sie lieben es auch,<br />

vorbeiziehende Boote <strong>ein</strong> Stück zu begleiten.<br />

Entzücken Schiffer <strong>und</strong> Passagiere mit ihren<br />

fröhlichen Sprüngen <strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>en die Menschen<br />

ganz generell nicht zu fürchten.<br />

Was man allerdings von den Menschen nicht<br />

behaupten kann. Sie begegenen den Delphinen<br />

mit viel Respekt. Sie halten Delphine für mytische<br />

Tiere. Nicht wenige der Fischverkäufer, <strong>und</strong> nicht<br />

nur sie, sind sich sicher, dass „o Boto encanta“, die<br />

Delphine verzaubern. Mehr als <strong>ein</strong>mal haben sie<br />

mich darauf aufmerksam gemacht. Sie gelten als<br />

sagenumworbene Wesen, verehrt <strong>und</strong> gefürchtet,<br />

viel mehr als <strong>ein</strong> Säugetier in Form <strong>ein</strong>es Fisches.<br />

Die Indios nennen den Delfin nicht von ungefähr<br />

kraftvoll „Pirajaguara“ - fischgewordener Panther.<br />

Dass irgendetwas daran s<strong>ein</strong> muss, kann ich mit<br />

<strong>ein</strong>en Augen bezeugen. Der Sonnenuntergang im<br />

Hafen ist stimmungsvoll. Die Wasser ruhig. Da<br />

draußen schwimmt gerade jemand Crauwl.<br />

Crauwl? Hier schwimmt k<strong>ein</strong>er Crauwl! Wir alle<br />

haben ihn gesehen. Es war k<strong>ein</strong> Mensch. Es war<br />

<strong>ein</strong> Delphin. Willkommen im Kreis derer, die an<br />

Delphine in Menschengestalt glauben!<br />

Die amazonischen Delphine sind mit magischen<br />

Kräften ausgestattet. Schöne junge Delphinmännchen<br />

verwandeln sich nachts, magischerweise<br />

immer dann, wenn sie <strong>ein</strong>e schöne Jungfrau<br />

vor sich sehen, die, aus was für Gründen auch<br />

immer, gerade ohne väterlichen oder männlichen<br />

Schutz oder maskuline Begleitung ist, in stattliche<br />

Männer. Von Kopf bis Fuß ganz in Weiß<br />

gekleidet, hochsympathisch, tragen sie,<br />

sozusagen als Erkennungszeichen, <strong>ein</strong>en<br />

schwarzen Hut, der <strong>ein</strong>zig dazu diene, das Loch<br />

hoch oben auf dem Kopf zu verdecken, durch das<br />

<strong>ein</strong> jeder Delfin nun mal atmet.<br />

Die w<strong>und</strong>ersam Verwandelten mischten sich<br />

ungeladen <strong>und</strong> unbemerkt unter die Leute, unter<br />

die Gäste <strong>ein</strong>es Festes. Versprühten, <strong>ein</strong>e Art<br />

tropischen Don Juans, <strong>ein</strong>en unwiderstehlichen<br />

Zauber. Betörten, hypnotisierten, brächten die<br />

Herzen der allerschönsten Mädchen sogleich in<br />

ihren Besitz. Die arglos- jungfräulichunschuldigen<br />

Geschöpfe merkten allerdings erst<br />

Wochen später, dass sie guter Hoffnung seien.<br />

Die Frage, wie <strong>und</strong> von wem sie geschwängert<br />

worden waren, bleibt unbeantwortet. Als<br />

<strong>ein</strong>zigen Ausweg führten sie, hilflos <strong>und</strong><br />

überrumpelt, jenen Delfin als Kindsvater an.<br />

Der Fragliche aber sei längst vom Schauplatz Fest<br />

verschw<strong>und</strong>en. Zeichne sich am Horizont das<br />

Morgenrot ab, tauche er so unauffällig wie er<br />

aufgetaucht sei wieder ab, lautlos <strong>und</strong> endgültig.<br />

Den wenigen, denen es bestimmt war, ihn dabei<br />

zu beobachten, schwören, dass er auf kürzestem<br />

Weg zum Ufer laufe <strong>und</strong> <strong>ein</strong>fach in den Fluten<br />

verschwinde. K<strong>ein</strong>em ist es gelungen, ihn wieder<br />

auftauchen zu sehen.<br />

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Gegenmittel? Unbeschützt reisenden Frauen wird<br />

empfohlen, auf unvermeidlichen, tagelangen<br />

Bootsreisen, auch auf kürzeren Überfahrten, auf<br />

rote Kleider zu verzichten. Rot sei nun mal Don<br />

Juan Delphins Lieblingsfarbe. Rot ziehe ihn<br />

sozusagen magisch an. Empfohlen wird auch<br />

Knoblauch. Dessen magische Kräfte würden den<br />

ungebetenen Gast abschrecken.<br />

Wer allerdings denkt, der Delfin stelle nur<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen nach, hat nicht mit den<br />

w<strong>und</strong>erschönen Delfinmädchen gerechnet! Sie<br />

singen, nicht anders als die Sirenen, so<br />

bezaubernd <strong>und</strong> überaus betörend, so<br />

überwältigend schön, dass sich immer wieder<br />

unschuldige Fischer bezirzt <strong>und</strong> betört zu ihnen<br />

ins Wasser stürzen, wo sie von den Delfininnen<br />

sogleich bis auf den Gr<strong>und</strong> der Flüsse gezogen<br />

werden! Von wo sie niemals wieder zurück<br />

finden.<br />

alle<br />

Kreuz<br />

820


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Grauer Delfin gegen den rosafarbenen – Sairé, Alter do Chão<br />

Früh um fünf Uhr morgens gehen die ersten<br />

Kracher los. Noch <strong>ein</strong> Böller <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>er. Hier<br />

im Norden muss jedes Fest mit ohrenbetäubenden<br />

Knallern angekündigt werden. Je lauter,<br />

desto besser. Und dieses, der Sairé ist der<br />

Höhepunkt, das Mammutereignis des Jahres. Er<br />

findet immer im September statt <strong>und</strong> gilt als die<br />

größte religiös-folkloristische Manifestation der<br />

Region. Der kl<strong>ein</strong>e Badeort Alter do Chão, nahe<br />

Santarém, vibriert.<br />

Schon Wochen vorher kann man die<br />

Vorbereitungen sehen. Die kl<strong>ein</strong>en palmstrohgedeckten<br />

Baracken bekleiden sich, bekommen<br />

<strong>ein</strong> neues Dach, Wände, genauso wie das große<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftshaus. Der „Puxirum“, die<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftsarbeit ohne Bezahlung mit der man<br />

sich gegenseitig hilft oder eben wie hier etwas für<br />

das Gem<strong>ein</strong>wohl errichtet, mobilisiert das Dorf.<br />

Viele Freiwillige schlagen das nötige Holz <strong>und</strong> die<br />

Palmwedel in den Wäldern der Umgebung.<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer legen, <strong>ein</strong>e hinter der<br />

anderen, die langen Fransen der Palmwedel um,<br />

so dass sie im rechten Winkel zur Mittelrippe<br />

stehen. Dann werden sie in Zehnerbüscheln an<br />

der Sonne getrocknet bis sie die Farbe wechseln,<br />

gelblich werden. Im Gerüst des Gem<strong>ein</strong>schaftshauses<br />

stehen die Männer schon in luftiger Höhe,<br />

empfangen die hoch gereichten Wedel <strong>und</strong><br />

binden sie in dichten Lagen über<strong>ein</strong>ander fest.<br />

Andere Handwerker bauen oder recyclen die<br />

riesigen Figuren. Die werden die Schaulustigen<br />

empfangen <strong>und</strong> erzählen vom diesjährigen Motto<br />

des Festes. Dieses Jahr muss gespart werden. Es<br />

sind Steuergelder der Stadt, die das Fest, die<br />

Shows <strong>und</strong> alle Künstler, Handwerker <strong>und</strong> die<br />

anderen Teilnehmer bezahlen.<br />

Als nächstes findet die Prozession der kl<strong>ein</strong>en<br />

Ruderboote statt, derselben, die sonst die<br />

Touristen bis zur Insel fahren. Es gilt, die zwei<br />

„Mastros“, <strong>ein</strong>e Art Maibäume auf der<br />

gegenüberliegenden Seite des Sees holen. Einer<br />

für die Männer, der andere für die Frauen, schon<br />

gefällt, irgendwo im Wald. Die zwei Gruppen, <strong>ein</strong>e<br />

der Frauen, <strong>ein</strong>e der Männer, sie sind die<br />

„Mordomos“, die Buttler des Festes, machen sich<br />

auf. Wer s<strong>ein</strong>en „Mastro“ zuerst zu den kl<strong>ein</strong>en<br />

Schiffen bringt, hat gewonnen. Das ganze wird von<br />

sehr viel Gelächter, Witzen <strong>und</strong> „Tarubá“, dem aus<br />

Maniok fermentierten Getränk <strong>und</strong> noch mehr<br />

Erinnerungsfotos begleitet.<br />

Die zwei „Mastros“ werden dann am Strand<br />

gelagert <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Woche später in feierlicher<br />

Prozession geholt <strong>und</strong> auf dem Festplatz<br />

geschmückt. Zur Prozession ist das halbe Dorf auf<br />

den B<strong>ein</strong>en, auch der dreib<strong>ein</strong>ige, falbe H<strong>und</strong> fehlt<br />

nie. Er ist mal vorne, mal hinten dabei. Für jeden<br />

Mast ist <strong>ein</strong> männlicher <strong>und</strong> <strong>ein</strong> weiblicher<br />

Richter,“Juiz” <strong>und</strong> “Juíza” verantwortlich. Die<br />

Masten werden üppig geschmückt, die dazu<br />

verwendeten Früchte symbolisieren den<br />

Reichtum <strong>und</strong> die Fülle des Ortes. Dann werden<br />

sie unter viel Hin <strong>und</strong> Her aufgerichtet.<br />

In der darauf folgenden Woche geht es dann<br />

richtig los. Abends versammelt sich die<br />

Gem<strong>ein</strong>de für den religiösen Teil des Festes, ganz<br />

der heiligen Dreifaltigkeit gewidtmet, im<br />

Gem<strong>ein</strong>dehaus. Begleitet von der lokalen<br />

Musikgruppe „Espanta Cão“, deren Name,<br />

„Vertreib den H<strong>und</strong>“ schon <strong>ein</strong>e gute Idee vom<br />

lokalen Witz gibt, singen die Anwesenden<br />

feierliche Ladainhas, katholische Litaneien, <strong>ein</strong>ige<br />

in Lat<strong>ein</strong>. Auch der Priester der lokalen<br />

katholischen Kirche nimmt teil. Hält <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />

Andacht. Dann schreitet die Prozession,<br />

angeführt vom „Capitão“, ganz in Weiß. Ihm folgt<br />

die „Saipora“, <strong>ein</strong> Ehrenamt, der das Symbol des<br />

Festes anvertraut wird. Der „Arco“, <strong>ein</strong><br />

zugespitzter Halbkreis, symbolisiert die Arche<br />

Noah. Die drei Kreuze stehen für die „Moças das<br />

fitas”, die bändertragenden Mädchen. Sie kleiden<br />

jungfräuliches Weiß <strong>und</strong> halten die Bänder, die<br />

vom Kreuz ausgehen. Die Ladainhas <strong>und</strong> die<br />

Prozession wiederholen sich mehrere Tage<br />

hinter<strong>ein</strong>ander, immer abends.<br />

Bis dann vom Samstag auf den Sonntag der<br />

folkloristische <strong>und</strong> sehr profane Teil des Festes<br />

s<strong>ein</strong>em Höhepunkt zustrebt. Die beiden Botos,<br />

die Delphine, der rosa <strong>und</strong> der graue, der Tucuxi,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 844


treten auf dem riesigen Festplatz in Aktion,<br />

spielen ihren Kampf um Verführung, Leben <strong>und</strong><br />

Tod. Treten in <strong>ein</strong>em aufwendig choreografierten,<br />

karnevalesken Theaterspiel gegen <strong>ein</strong>ander an,<br />

rivalisieren um den Titel.<br />

Der Ablauf des Festes schreibt bestimmte Figuren,<br />

unter ihnen die unterschiedlichsten Königinen<br />

<strong>und</strong> dem “Curandeiro”, den Medizinmann vor, die<br />

in <strong>ein</strong> buntes Schauspiel mit vielen riesigen<br />

Wagen <strong>und</strong> Showeffekten <strong>ein</strong>geb<strong>und</strong>en werden.<br />

Als absoluter Höhepunkt gilt die Verführung der<br />

Cabocla durch den w<strong>und</strong>erschönen, unwiderstehtlichen<br />

Delphin. Nachdem der Vater der vom<br />

Don Juan Delphin „geschändeten“ Tochter<br />

denselben hat töten lassen, wird er von bösen<br />

Geistern heimgesucht <strong>und</strong> bereut die Tat. Er<br />

bittet den „Pajé“, den Stammeshäuptling, ihn<br />

wieder ins Leben zurückzurufen <strong>und</strong> so leben alle<br />

glücklich bis an ihr Lebensende. Glücklicher wohl<br />

nur die vielen tausenden von Zuschauern, die alle<br />

schon beim Eintrittskarten-Kaufen Partei ergriffen<br />

haben. Sie stehen sich in zwei Halbr<strong>und</strong>en<br />

gegenüber, links sind die Fans des Rosa Delphins,<br />

rechts feuern sie den Tuxuci an. Mit viel<br />

Leidenschaft <strong>und</strong> Feuer, bringen die Holzplanken<br />

der Tribünen mit ihrem Stampfen zum Vibrieren,<br />

wiegen die Fische aus Pappkarton <strong>und</strong> vieles<br />

mehr. Später, sehr viel später, am frühen Morgen<br />

schon, gibt‘s noch <strong>ein</strong>e Show, Carimbó vielleicht,<br />

der nochmals alle von den Bänken reißt.<br />

Irgendwann am nächsten Tag wird dann in <strong>ein</strong>em<br />

komplizierten System bewertet. Irgendwann steht<br />

der Gewinner fest, demokratisch ausbalanciert,<br />

man will ja k<strong>ein</strong>e der beiden Parteien der anderen<br />

vorziehen. Alles so, wie man es hier gewohnt ist.<br />

Das Ende der Festlichkeiten beginnt, wenn in <strong>ein</strong>er<br />

letzten, viel beklatschten <strong>und</strong> bejubelten Aktion<br />

die beiden Masten gefällt werden. Die<br />

bänderbestückten Stöcke, die Fahnen mit der<br />

heiligen Taube <strong>und</strong> alle anderen Elemente werden<br />

sorgfältig weggeschlossen. Ein neuer Zyklus<br />

beginnt.<br />

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Carimbó, Musik mit Humor<br />

Gestehe es ungern <strong>ein</strong>, aber wirklich auf den<br />

Geschmack gebracht haben mich zwei Sampler,<br />

Raubkopien, die ich zu m<strong>ein</strong>er Schande sei‘s<br />

gesagt, beim Straßenhändler kaufte. Die<br />

schreienden Farben der fotokopierten Hüllen<br />

versprechen großspurig die besten Carimbós aller<br />

Zeiten. Gleich hier auf dem Bürgersteig, zwischen<br />

zwei Regen, spielt er mir <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Kostprobe<br />

vor, nur so zum R<strong>ein</strong>hören. Folge der Empfehlung<br />

<strong>und</strong> entdecke den wirklichen Carimbó! Eine kl<strong>ein</strong>e<br />

Kostbarkeit, ursprünglich, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, originales<br />

<strong>und</strong> wirklich volkstümliches musikalisches<br />

Schmuckstück.<br />

Je mehr ich höre, desto breiter wird m<strong>ein</strong><br />

Schmunzeln. Carimbó hat Humor <strong>und</strong> was für<br />

<strong>ein</strong>er! Schöpft aus dem prallen Leben. Jeder kriegt<br />

s<strong>ein</strong>en Carimbó ab: Es gibt <strong>ein</strong>en für den „Gago“,<br />

den Stammler, <strong>und</strong> natürlich fehlt auch der nicht,<br />

der nicht zu s<strong>ein</strong>en Hörnern stehen will. Alles wird<br />

zu Musik, liefert kuriosen Anstoß zu <strong>ein</strong>em höchst<br />

mitreißenden Lied, im charakteristisch schnellen<br />

Rhythmus, der Alt <strong>und</strong> Jung buchstäblich nach<br />

zwei Minuten von den wackligen Klappstühlen<br />

reißt. Es gibt <strong>ein</strong> Lied über den „Piolho“, die Laus.<br />

Das nächste ist über Inesens Ziegenbock <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

anderes über <strong>ein</strong> gestandenes, sozusagen in die<br />

Jahre gekommenes Krokodil. Was für <strong>ein</strong>e skurrile<br />

Welt, in der auch der ins Gemüsebeet verirrte<br />

Aasgeier nicht fehlt! Unverbraucht original <strong>und</strong><br />

lüpfig gelänge es ihm wohl gar Tote zu animieren,<br />

<strong>und</strong> das nicht nur der hillarischen Texte wegen.<br />

Schon sehe ich die bloßen Füße der lokalen<br />

Schönheiten den Takt auf den nackten Boden<br />

klatschen. Ihre grellbunten Blumenröcke aus<br />

preiswerter Baumwollchita zeichnen wilde Kreise<br />

in die Luft, die schlanken Armpaare fliegen: Ihre<br />

männlichen Tanzpartner drehen <strong>und</strong> wenden sich,<br />

<strong>ein</strong>mal nach vorne, dann wieder zurück. Ein<br />

<strong>ein</strong>ziges Vibrieren <strong>und</strong> Schütteln, das nicht nur die<br />

bloßen Oberkörper der Vortänzer sogleich in<br />

Schweiß badet. Bald tun es ihnen auch die<br />

Touristen gleich.<br />

Die raue, ungekünstelte Stimme Verequetes, des<br />

Carimbó-Altmeisters, bis heute bew<strong>und</strong>ert <strong>und</strong><br />

referenziert, schallt aus dem Lautsprecher, lässt<br />

k<strong>ein</strong>en verschnaufen, weiter <strong>und</strong> weiter zieht er in<br />

atemlosem Rhythmus den Bogen <strong>ein</strong>es neuen<br />

Liedes. Bis heute gelingt es k<strong>ein</strong>em anderen, die<br />

Verse so kunstvoll zu zerkauen, genießerisch im<br />

Rhythmus mit den Zähnen zu zermahlen. S<strong>ein</strong>e<br />

überaus witzigen Texte besingen immer <strong>und</strong><br />

immer wieder dieselben Themen, erzählen voller<br />

Sehnsucht <strong>und</strong> verstecktem Heimweh von <strong>ein</strong>em<br />

unkompliziert <strong>ein</strong>fachen Leben auf dem Land, <strong>ein</strong><br />

unterentwickeltes Hinterland, inexistent, in der<br />

Erinnerung verklärt. Ein Leben, dessen <strong>ein</strong>tönig<br />

steter Fluss nur durch den Kalender religiöser <strong>und</strong><br />

profaner Feste unterbrochen wird.<br />

Die Instrumente des Carimbós sind <strong>ein</strong>fach,<br />

sch<strong>ein</strong>en direkt von der lokalen Blaskapelle<br />

ausgeliehen zu s<strong>ein</strong>. Sind fast alle leicht<br />

mitzutragen, damit sie die Musikanten weder<br />

beim Marschieren vor der Prozession noch beim<br />

Totenzug behindern: Flöte, Querflöte, Banjo,<br />

Tamburin <strong>und</strong> Rabecas, brasilianische<br />

Streichinstrumente, Geigen nachempf<strong>und</strong>en. Nur<br />

die Tambore, die den Rhythmus des Tanzes<br />

markieren, sind so großmächtig, dass sich die<br />

Spieler rittlings auf sie setzen, um sie zu<br />

schlagen. Sie stammen, aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />

Baumstrunk geschnitzt, wohl von Instrumenten<br />

ab, die die Sklaven aus Afrika mitbrachten. All<strong>ein</strong><br />

schon ihre Namen verraten etwas von ihrem<br />

Rhythmus: Reco-reco, Maracás <strong>und</strong> Afochê –<br />

typisch brasilianische Schlag- <strong>und</strong><br />

Rhythmusinstrumente, die auf die<br />

unterschiedlichen Wurzeln der Populär- <strong>und</strong><br />

Volksmusik hinweisen.<br />

Die Gesänge der Ur<strong>ein</strong>wohner fließen genauso in<br />

den Mix <strong>ein</strong> wie afrikanisches Erbe <strong>und</strong> die<br />

Musikkultur aus dem portugiesisch-iberischmaurischen<br />

Raum. Beim Carimbó erinnert der<br />

<strong>ein</strong>fache Rhythmus, zwei nach links, zwei nach<br />

rechts, deutlich an <strong>ein</strong>en „Vira-vira“ aus Portugal,<br />

allerdings in <strong>ein</strong> neues, amazonisch-tropisches<br />

Kleid gesteckt, was sich vor allem in der puren,<br />

naiven Lebensfreude <strong>und</strong> aus dem Herzen<br />

kommende Fröhlichkeit, <strong>ein</strong>em Urvergnügen am<br />

Musizieren, ausdrückt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 849


Später kaufe ich auch aktuellere Carimbós, der<br />

absolute Superstar ist Pinduca, der s<strong>ein</strong>e Lieder<br />

überaus witzig <strong>und</strong> schlingelhaft durchpeitscht.<br />

Sehe ihn, <strong>ein</strong> älterer Herr schon, er geht auf die<br />

80ig zu, trägt aber noch die selben satinen<br />

Hemden mit den Ballonärmeln wie in den<br />

1950ern <strong>und</strong> den berühmt breitrandigen Hut<br />

voller kl<strong>ein</strong>er „Cuias“.<br />

Der absolute Superstar aber ist Dona Onete,<br />

heute die große Lady des Carimbós. Eine<br />

pensionierte Gr<strong>und</strong>schullehrerin, auch sie schon<br />

weit fortgeschrittenen Alters, nimmt k<strong>ein</strong> Blatt<br />

vor den M<strong>und</strong>. In „Feitiço Cabolco“, Caboclos<br />

Zauber gibt sie jenem Mann, der sie betrügt,<br />

misshandelt oder schlimmeres, <strong>ein</strong>fach „Chá de<br />

Tamaquaré”, Tee aus “Tamaquaré”, <strong>ein</strong>er<br />

Eidechse, getrocknet <strong>und</strong> zu Pulver verarbeitet.<br />

Das mache ihn so zahm <strong>und</strong> doof, dass er ihr aus<br />

der Hand fresse. Ob eigene Erfahrung daraus<br />

spricht? Spät, erst nach <strong>ein</strong>er Scheidung <strong>und</strong><br />

schon in Rente begann sie endlich ihre eigene<br />

Musik zu komponieren <strong>und</strong> zu singen. K<strong>ein</strong>e<br />

schlägt sie, wenn es um witzige oder auch<br />

traurig-sehnsüchtige Texte zu überaus<br />

<strong>ein</strong>schlägiger Musik geht.<br />

W<strong>und</strong>erbar ihre Musik vom nichtsnutzigen<br />

„Urubu Malandro“, dem Tu-nicht-gut-Aasgeier,<br />

der <strong>ein</strong>en Ausflug nach Marajó machte <strong>und</strong> es<br />

dort <strong>ein</strong>fach nur stinklangweilig findet. Wirft sich,<br />

zurück in Belém, genüsslich ins schlimmste<br />

Gewimmel voller Pitiu (Fischgestank). Balgt sich<br />

mit allen anderen um übrig gebliebenes Gedärm,<br />

mit dem <strong>ein</strong>en Flügel die Balance haltend, mit dem<br />

anderen sich verteidigend. Nicht mal die „Garça<br />

Namoradeira“, das flitterhafte Reiherfräul<strong>ein</strong>,<br />

kann ihn abhalten.<br />

Traurig-weise wird die Musik Dona Onetes dann,<br />

wenn sie ihr Herz zu <strong>ein</strong>em „Brechó“, <strong>ein</strong>em<br />

Second-Hand-Laden erklärt. Echt <strong>und</strong> anrührend<br />

wie Weniges, echter Carimbó eben.<br />

Guitarrada<br />

Die Gitarren sprechen mit drei, vier Stimmen,<br />

lassen die Musik kunstvolle Bögen erklimmen,<br />

finden endlich am Ausgangspunkt wieder<br />

zusammen, um sogleich zu <strong>ein</strong>er noch<br />

komplexeren Schleife durchzustarten.<br />

Die lokale Musik, “Guitarrada” genannt, ist das<br />

anspruchsvolle Pendant zum Carimbó. Auch sie<br />

ist im Staat Pará geboren, inspiriert sich am<br />

amazonischen <strong>und</strong> karibenischen Rhythmen,<br />

<strong>ein</strong>e Fusion des brasilianischen Choro mit<br />

Merengue, Mambo, Bolero <strong>und</strong> natürlich der<br />

Lambada. Es war Mestre Vieira, der den<br />

instrumentalen Genre kreierte, nachdem er in<br />

den 1970er Jahren die elektrische Gitarre<br />

entdeckte.<br />

Heute ist der Altmeister Sebastião Tapajós <strong>ein</strong>er<br />

der bekanntesten Guitarrada-Spieler <strong>und</strong><br />

Komponist. Meisterlich steigen s<strong>ein</strong>e<br />

Melodienbögen auf <strong>und</strong> runter, alles im<br />

mitreißenden Rhythmus <strong>ein</strong>er Guitarrada.<br />

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Hinterland<br />

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Hinterland<br />

Urbe Amazonas 861/862<br />

Santarém oder Vom Ende der Welt 871-873<br />

Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong> 888/889<br />

Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum Henry Fords 896-898<br />

Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden 901<br />

Der Wasserturm 908/909<br />

Vom Festival der Früchte 915<br />

Se vira! – Hilf dir selbst! 919<br />

Herzblatt 921<br />

Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“ 925-927<br />

Obidos, die Kehle des Amazonas 938/939<br />

Para Inglês ver 942-944<br />

Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen 946/947<br />

Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland 951<br />

Marajó 958/959<br />

Bragança 964<br />

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<strong>Amazonien</strong> urban<br />

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Urbe Amazonas<br />

Still <strong>und</strong> leise, von der Welt <strong>und</strong> vom restlichen<br />

Brasilien fast unbemerkt, verwandelt sich<br />

<strong>Amazonien</strong>. Die Wildnis wird immer urbaner. Ein<br />

überaus rascher, unkontrollierter Verstädterungsprozess<br />

ist im Gang <strong>und</strong> sorgt für<br />

tiefgreifende Veränderungen. Heute lebt um die<br />

80 % der amazonischen Bevölkerung in urbanen<br />

Zentren. Und sie lebt schlecht. Vegetiert irgendwo<br />

am Rande der Geschichte. Eine große Reportage,<br />

<strong>ein</strong> aktuelles Porträt des Tropenwaldes, des<br />

Estado de São Paulo, <strong>ein</strong>er renommierten Zeitung<br />

titelt: Favela Amazônia. Die Reportage geht noch<br />

tiefer. Ein Drittel der lokalen Bevölkerung lebe in<br />

Gebieten, die die Menschenrechte missachten<br />

oder vom Drogenhandel kontrolliert würden.<br />

Zwar war es seit der Kolonisation so, dass den<br />

Städten <strong>ein</strong>e strategische Funktion zukam, wenn<br />

es galt, sich den Tropenwald anzueignen. Neu ist<br />

aber die Attraktion, die die Städte auch auf jene<br />

Unsichtbaren ausüben, Indigene <strong>und</strong> andere, die<br />

früher weitab im Wald ihr Leben fristeten. Deren<br />

Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder ziehen an die<br />

Peripherien auf der Suche nach <strong>ein</strong>em besseren<br />

Leben. Sie lassen alles zurück, entwurzeln sich,<br />

wie schon so viele vor ihnen. Bekommen wenig<br />

oder gar nichts als Gegenleistung für <strong>ein</strong>e ganze<br />

Kultur, die unterschiedlichsten Gewohnheiten, die<br />

sie hinter sich gelassen haben. Einmal in der<br />

Stadt, sind sie mit Armut <strong>und</strong> Gewalt konfrontiert,<br />

bezahlen <strong>ein</strong>en hohen Preis.<br />

Die Städte ihrerseits, entstanden aus purer<br />

Notwendigkeit, folgen weder gesetzlichen Normen<br />

noch städtebaulichen Vorschriften. Es sind Städte<br />

wie Santarém, wo jede dritte Querstraße mitten<br />

im Zentrum, beim Bürgermeisteramt gleich um die<br />

Ecke, auf <strong>ein</strong>e f<strong>ein</strong>e Decke Asphalt wartet <strong>und</strong><br />

viele Einwohner noch immer ohne Trinkwasser<br />

sind. Oder wie Belém, wo die offenen Abwasserkanäle<br />

voller Favelas, bunt gemischt mit Luxushochhäusern<br />

zum Himmel stinken. Ein altbekanntes<br />

Problem. Infrastruktur, die man nicht<br />

sieht, die irgendwo im Boden <strong>ein</strong>gegraben wird, ist<br />

generell bei Politikern unbeliebt. Die lassen sich so<br />

schlecht vorzeigen…. Nach wie vor gilt es in<br />

Brasiliens Norden als <strong>ein</strong> Kavaliersdelikt, von der<br />

Mehrheit der Hausbesitzer praktiziert, s<strong>ein</strong> Haus,<br />

s<strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>stück nicht ins Gr<strong>und</strong>buch <strong>ein</strong>zutragen<br />

<strong>und</strong> dadurch auch k<strong>ein</strong>e Gr<strong>und</strong>stücksteuer zu<br />

bezahlen.<br />

Die Liste ist endlos <strong>und</strong> die Ursachen für die<br />

Miserie so komplex wie vielfältig. Nur wer<br />

tagtäglich mit jenen „Vergessenen“ in Kontakt<br />

kommt, kann ahnen, was es bedeutet, theoretisch<br />

zwar <strong>ein</strong>e Schule besucht zu haben, in der Praxis<br />

aber so gut wie nichts gelernt zu haben. Kann aber<br />

auch den Professor verstehen. S<strong>ein</strong>e Autorität<br />

wird weder von den ihm übergeordneten Organen<br />

noch von den Studenten respektiert. Hinter den<br />

Kulissen ziehen obskure Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

Interessenverbände die Fäden oder wie man hier<br />

sagt die Sardinen auf ihre Glut hinüber. Man<br />

muss k<strong>ein</strong>e Statistik lesen, um zu sehen, was das<br />

für junge Leute bedeutet. Wie <strong>ein</strong>fach ist es, sich<br />

in Alkohol oder Drogen zu flüchten oder gar in<br />

<strong>ein</strong>e Kinderehe. Der Staat Pará hat <strong>ein</strong>e der<br />

höchsten Raten von Kindern die Kinder<br />

bekommen. Für viele Mädchen, Teenager noch,<br />

ist das Kinderkriegen <strong>ein</strong> Weg, aus <strong>ein</strong>em<br />

Zuhause zu flüchten, das sie als Hölle empfinden.<br />

Ein Weg, der sich natürlich sehr schnell als<br />

Sackgasse entpuppt. Damit aber die ewige<br />

Spirale intakt halten. Ein Kind, in solchen<br />

Verhältnissen aufgewachsen, ist fast dazu<br />

verdammt, da capo, später alles genauso zu<br />

wiederholen.<br />

Eine Gesellschaft, in der sich die Allersensibelsten<br />

in den Tod flüchten, weil sie gar k<strong>ein</strong>e Zukunft für<br />

sich sehen. Andere werden von wütenden<br />

Nachbarn nackt ausgezogen <strong>und</strong> dann brutal<br />

verprügelt. Währen wohl gar gelyncht worden,<br />

hätte nicht <strong>ein</strong>e andere Nachbarin <strong>ein</strong>gegriffen.<br />

Und all das nur wegen <strong>ein</strong>es Baumes, dessen<br />

Blätter den Nachbargarten „verunr<strong>ein</strong>igte“.<br />

Explosionen, die von Druck zeugen, der von der<br />

Armut kommt <strong>und</strong> vom Zu-Nahe-Zusammen<br />

leben, von der jahrh<strong>und</strong>ertealten Ungerechtigkeit<br />

genauso wie von der kulturellen<br />

Rücksichtslosigkeit <strong>und</strong> Nichtachtung, mit der<br />

hier die Menschen behandelt werden. Auch von<br />

jenen Intellektuellen, die es ja so gut m<strong>ein</strong>en.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 861


Jede beschäftigt mindestens <strong>ein</strong>e Hausangestellte<br />

<strong>und</strong> Kindermädchen, die sie nur dann nach Hause<br />

gehen lassen, wenn all die unangenehme Arbeit<br />

getan ist. Überst<strong>und</strong>en bezahlt k<strong>ein</strong>er. Ist sie<br />

gebührend registriert, gehört sie zu den<br />

glücklichen Ausnahmen. Ein ganzes Volk, das von<br />

jenen Parteien beklaut wird, die sich selber zum<br />

Retter der Nation erklärten, den <strong>ein</strong>zig r<strong>ein</strong>en <strong>und</strong><br />

puren. Dann aber sogar persönlichen Profit aus<br />

ihrer Macht ziehen.<br />

Das alles spiegelt sich in den amazonischen<br />

Dörfern, Städten <strong>und</strong> den Metropolen ab. Sie alle<br />

tragen der immer weiter um sich greifenden<br />

Gewalt, der Umweltverschmutzung in großen<br />

Dimensionen <strong>und</strong> der stetig wachsenden<br />

Bevölkerungszahlen in k<strong>ein</strong>er Weise Rechnung.<br />

Die fehlende oder defizitäre Infrastruktur, die<br />

nicht existierende Präsenz des Staates <strong>und</strong> der<br />

fehlende Zusammenhalt der Bevölkerung tragen<br />

da ihre dazu bei.<br />

Favela <strong>Amazonien</strong>.<br />

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Santarém oder Vom Ende der Welt<br />

Fast 300.000 Einwohner, <strong>ein</strong> wichtiger Hafen, <strong>ein</strong><br />

Flughafen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Gepäckband, <strong>ein</strong>e<br />

brandneue staatliche Universität, <strong>ein</strong> Theater, <strong>ein</strong><br />

Kino <strong>und</strong> zwei Shoppingcenters – die Stadt<br />

Santarém ist wohl typisch für das brasilianische<br />

Hinterland.<br />

Die Stadt Santarém könnte Ausgangspunkt<br />

traumhafter Schiffsreisen auf dem Tapajós s<strong>ein</strong>.<br />

Aber im Moment liegt sie wohl noch immer eher<br />

irgendwo an <strong>ein</strong>em Ende der zivilisierten Welt.<br />

Bildet <strong>ein</strong>e Art allerletzter Grenze zu noch<br />

hinteren Hinterländern. Ausreichend hässlich <strong>und</strong><br />

gesichtslos dazu ist sie auf alle Fälle. Wer<br />

allerdings zweimal hinschaut, findet auch hier<br />

Reste <strong>ein</strong>er glanzvolleren Vergangenheit. Es gibt,<br />

neben <strong>ein</strong> paar gut erhaltenen schmucken<br />

Häusern aus der Kolonialzeit, gar zwei kl<strong>ein</strong>e<br />

Museen. Sicherlich <strong>ein</strong>e Art heroischer Akt, hier<br />

im Amazonas <strong>ein</strong> lokales Museum ins Leben zu<br />

rufen, zu unterhalten <strong>und</strong> damit der Nachwelt <strong>ein</strong><br />

Stück Geschichte zu bewahren.<br />

Das im Titel erwähnte Ende der Welt sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e<br />

der lokalen Ironien zu s<strong>ein</strong>. Es gibt <strong>ein</strong> Buch von<br />

Joe Jackson, das dem cleveren Dieb, dem<br />

Engländer, Henry Wickham <strong>ein</strong> Denkmal setzt. Er<br />

war es, der 1876 von Santarém aus die<br />

Gummibaumsamen verbotenerweise außer Land<br />

schmuggelte <strong>und</strong> damit den Niedergang der<br />

Kautschukproduktion veranlasste. Auch s<strong>ein</strong> Titel,<br />

“The Thief at the End of the World” nimmt aufs<br />

Weltende Bezug.<br />

Als gute Kulturtouristin tue ich das Stadtmuseum<br />

João Fona eher zufällig auf. Ein beflissener junger<br />

Mann, dem Buch nach zu urteilen, das er in der<br />

Hand hält, studiert er „Letras”, Portugiesisch, führt<br />

mich durch die spärlichen Räume. Ich erfahre, dass<br />

ich beileibe nicht die <strong>ein</strong>zige schweizer Besucherin<br />

sei. N<strong>ein</strong>, hier in Santarém gebe es viele<br />

ausländische Touristen. Die wöchentlich hier<br />

andockenden Kreuzfahrtschiffe bezeugen das. Das<br />

Museum sei im Gebäude des antiken Rathauses<br />

untergebracht. Alles sei restauriert worden. Nur<br />

leider, leider fehle jetzt wieder das Geld – m<strong>ein</strong><br />

Blick streift über <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Wasserschaden. Im<br />

ersten Raum kann ich den Holzboden bew<strong>und</strong>ern,<br />

abwechselnd <strong>ein</strong>e Diele gelbes Edelholz, <strong>ein</strong>e Diele<br />

dunkles Tropenholz, in der Mitte <strong>ein</strong>e kunstvolle<br />

Intarsie. Dann die Wandbilder, die <strong>ein</strong> anderes<br />

Santarém, zu Zeit des Kautschuks zeigen, fast<br />

europäisch, zivilisiert. Auf dem <strong>ein</strong>en balanciert im<br />

Vordergr<strong>und</strong> <strong>ein</strong> Reiher <strong>ein</strong>b<strong>ein</strong>ig auf dem riesigen<br />

Blatt <strong>ein</strong>er „Vitória Régia”. Ihr Durchmesser<br />

beträgt wohl <strong>ein</strong>en halben Meter, <strong>ein</strong>e Seerose in<br />

amazonischen Dimensionen. Vorbei geht es an der<br />

obligaten Galerie der Bürgermeister, alle, auch<br />

zwei Frauen, mehr oder weniger kunstvoll<br />

künstlich in Öl festgehalten. Jeder schaut aus<br />

<strong>ein</strong>em anderen Winkel aus den dunklen Rahmen,<br />

<strong>ein</strong>e Anhäufung von Bärten, Schnäuzen,<br />

Schnurrbärten.<br />

1661 gründete hier der Jesuit João Felipe<br />

Bettendorf <strong>ein</strong>e Missionsstation, aus der sich<br />

dann die Stadt Santarém entwickelte. Die wurde<br />

schon bald zu <strong>ein</strong>er wichtigen Zwischenstation<br />

auf dem Weg von Manaus nach Belém. Gar <strong>ein</strong>en<br />

Baron, der Barão do Tapajós, des Barons vom<br />

Tapajós, des Flusses, gab es hier. F<strong>ein</strong>e Ironie<br />

oder brutaler Kolonialismus? Auf alle Fälle war es<br />

<strong>ein</strong> Portugiese, der sich mit dem indigenen<br />

Namen im Titel schmückte. Weiter geht es mit<br />

vielen Fragmenten indigener Töpferkunst,<br />

„Ceramica Tapajoara“. Sie hatte ihre Hochblüte<br />

vor der „Entdeckung” Brasiliens durch Cabral. Es<br />

gibt Anzeichen dafür, dass es hier, wie an vielen<br />

Stellen im Amazonas, hochstehende Kulturen mit<br />

komplexen Ritualen gegeben hat. Die Graburnen<br />

sind w<strong>und</strong>erschön geschwungen <strong>und</strong> die<br />

Keramikfragmente zeigen reiche Verzierungen,<br />

Tierköpfe, kl<strong>ein</strong>e töpferne Menschenfiguren. Ein<br />

kl<strong>ein</strong>er, leider zu wahrer politischer Diskurs des<br />

Führers lamentiert, dass die schönsten Stücke<br />

natürlich alle geraubt wurden. In den Völkerk<strong>und</strong>lichen<br />

Museen von Belém, São Paulo <strong>und</strong> im<br />

Ausland seien.<br />

Die Hand- <strong>und</strong> Fußeisen für die Sklaven, der<br />

„Pelorinho”, <strong>ein</strong>e Art Schandpfahl sind heute ins<br />

Depot verbannt. Ich lerne, dass es hier in<br />

Santarém viel Sklavenhandel gab. Bis heute gibt<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 871


es hier ganze „Quilombos“, Dorfgem<strong>ein</strong>schaften,<br />

in denen Nachkommen von geflüchteten Sklaven<br />

leben <strong>und</strong> irgendwo, weitab, mit primitiven<br />

Methoden <strong>und</strong> zu fast den selben Bedingungen<br />

wie vor h<strong>und</strong>ert Jahren, zurückgezogen,<br />

selbstversorgend <strong>ein</strong> Stück Land bearbeiten, um<br />

dessen Besitz sie vielleicht gerade kämpfen.<br />

Auch die gigantischen Sägen, kunstvoll<br />

geschmiedet, sie mussten von zwei gestandenen<br />

Männern bedient werden, sind heute aus den<br />

Ausstellungsräumen verschw<strong>und</strong>en. Sicher haben<br />

sie viel des begehrten Brasilholzes geschnitten.<br />

Auch die komplex gew<strong>und</strong>ene Zeichnung ist nicht<br />

mehr da. Magisch, es war <strong>ein</strong> Stammbaum!<br />

gezeichnet von <strong>ein</strong>em der Gründer des Museums.<br />

Einmal wurde ich ihm, vielleicht weil ich soviel<br />

fragte, – welche Ehre! –João Fona Laurimar Leal<br />

vorgestellt; <strong>ein</strong> dunkelhäutiger, alter Mann,<br />

Mulatte mit deutlich indigenen Zügen. Stolz<br />

erzählt er mir, dass er in Frankreich studiert habe.<br />

Er ist s<strong>ein</strong>er Herkunft nachgegangen <strong>und</strong> brachte<br />

s<strong>ein</strong>e Forschungen zu Papier. Auf der <strong>ein</strong>en Seite<br />

sind es marokkanische Juden, auf der anderen<br />

Sklaven aus Angola, die sich in <strong>ein</strong>em reich<br />

verzweigten Gebilde, historische Genauigkeit <strong>und</strong><br />

Fantasie verbündeten sich wohl im Prol der Sache,<br />

in Brasilien ankamen <strong>und</strong> Familie gründeten,<br />

Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder zeugten. Die<br />

Nachkommen sind im Astwerk des Stammbaumes<br />

mit Vornamen aufgeführt. Woher wohl die<br />

indigenen Züge kommen, bleibt unerklärt.<br />

M<strong>ein</strong> Unglauben wird später, ich sehe im improvisierten<br />

Kirchenmuseum das Kirchenbuch, Lügen<br />

gestraft. Die aufgeschlagene Seite datiert vom Jahr<br />

1775. Die Schrift ist eigenartigerweise w<strong>und</strong>erbar<br />

leserlich: Der Besitzer, <strong>ein</strong> portugiesischer Name,<br />

hat am fünf<strong>und</strong>zwanzigsten Juni siebzehnh<strong>und</strong>ertfünf<strong>und</strong>siebzig<br />

die folgenden Sklaven verheiratet:<br />

Es folgt <strong>ein</strong>e lange, ausführliche Liste mit Namen.<br />

Bei vielen Sklaven ist hinter dem Namen in<br />

Klammern das Herkunftsland in Afrika aufgeführt.<br />

Auch hier bleibt m<strong>ein</strong>e Frage nach der indigenen<br />

Bevölkerung im Raum stehen.<br />

Der Führer dieses Museums, des „Museu de Arte<br />

Sacra“, ist noch geselliger. Erzählt, dass das Kruzifix<br />

der gleich daneben liegenden Kirche vom<br />

deutschen Naturwissenschaftler Karl Friedrich<br />

Philip von Martius gestiftet wurde. Eine<br />

Danksagung an die Nossa Senhora de Conceição,<br />

die Jungfrau mit dem schwarzen, offenen<br />

Wallehaar. Von Martius entkam, gleich hier vor<br />

Santarém, <strong>ein</strong>em schweren Unwetter <strong>und</strong><br />

Schiffsunglück. Kam nur weil es Gottes Wille war<br />

oder weil ihn die Jungfrau erhörte mit dem Leben<br />

davon, was er mit dem Kreuz vergalt.<br />

Der Führer macht mich auf <strong>ein</strong>e andere Kuriosität<br />

aufmerksam: Im Kirchenbuch steht unter vielen<br />

anderen Namen weiblicher Sklaven <strong>ein</strong>e<br />

„Branquinha”, <strong>ein</strong> „Schneeweißchen”. Was für<br />

Ironien <strong>und</strong> Schicksale sich dahinter verbergen!<br />

Das Buch ist von „Traças”, kl<strong>ein</strong>en papierfressenden<br />

Tierchen, durchlöchert, die Seiten<br />

ausgefranst. Ob es denn davon <strong>ein</strong>e Kopie gebe,<br />

oder <strong>ein</strong>en Mikrofilm, frage ich unschuldig. -<br />

„N<strong>ein</strong>, wo denken Sie denn hin!” - Der Führer ist<br />

entsetzt. – „Wenn wir das Buch <strong>ein</strong>mal weggeben,<br />

kommt es nie mehr hierher zurück! So<br />

viele andere Ausgrabungsstücke <strong>und</strong> anderes<br />

haben sie mitgenommen, verschleppt <strong>und</strong> nie<br />

mehr zurückgegeben!“ - Geld gäbe es ja. - „Aber<br />

der Pater hat gesagt, dass ich es nur persönlich<br />

zum Restaurieren bringen darf! Stellen Sie sich<br />

vor, die wollten doch, dass ich es per Post<br />

schicke. Also wirklich, nur wenn ich es persönlich<br />

überbringen kann.“ - da ist es wieder, dieses<br />

unausrottbare Misstrauen, auf das man hier im<br />

Amazonas immer wieder stößt.<br />

Und dabei war Santarém vor h<strong>und</strong>ert Jahren<br />

schon mal sozusagen international vernetzt.<br />

1867 kamen Konföderierte aus Nordamerika<br />

hierher, um hier <strong>ein</strong>e Kolonie zu gründen, sich<br />

die W<strong>und</strong>en des schauerlichen, verlorenen<br />

Krieges zu lecken. Und hier noch etwas länger<br />

von ihren Sklaven zu profitieren.<br />

1928 landeten hier Männer <strong>und</strong> Maschinen,<br />

ausgeschickt vom Autobauer Henry Ford, um im<br />

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Auftrag der American Rubber Mission in<br />

Fordlândia <strong>und</strong> später in Belterra die Companhia<br />

Ford Industrial do Brasil aufzubauen. Sie sollte in<br />

großem Stil Kautschuk anbauen <strong>und</strong> war <strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>ziges, riesiges Fiasko.<br />

Heute kann man im Hafen den riesigen Arm des<br />

amerikanischen Multi Cargill sehen, der seit 2003<br />

Soja in die ganze Welt verschifft. Sonst aber<br />

schläft die Stadt <strong>ein</strong>en amazonischen<br />

Dornröschenschlaf. Wer es nicht glaubt, der<br />

schaue sich doch das Geschäft mit dem<br />

klingenden Namen “Fim do M<strong>und</strong>o”, Weltende<br />

an. Leider will der Inhaber den Gr<strong>und</strong> für den<br />

Namen nicht verraten.<br />

Ach, <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong> Nachtrag. Im Garten in <strong>ein</strong>em<br />

Haus in Alter do Chão, <strong>ein</strong>e halbe Autofahrst<strong>und</strong>e<br />

von Santarém, hat unser Mann für das Grobe<br />

beim Ausgraben <strong>ein</strong>es Loches für die Grünabfälle<br />

Keramikreste gef<strong>und</strong>en. Er warf sie achtlos zur<br />

Seite. Nur beiläufiges Nachfragen brachte uns<br />

zufällig auf ihre Spur. Sie sind heute Teil des<br />

F<strong>und</strong>us des kl<strong>ein</strong>en santarener Stadtmuseums.<br />

Und der arme Mann fürs Grobe. Er kann es sicher<br />

bis heute nicht verstehen, warum ich so<br />

schockiert war. Ihm an den ahnungslosen Kopf<br />

warf, dass er die Töpferkunstwerke s<strong>ein</strong>er<br />

Vorfahren achtlos weggeworfen habe!<br />

„Mmh... –<br />

Plastiklatschen<br />

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Dieses <strong>und</strong> die zwei nächsten Bilder<br />

Sozialer Wohnungsbau in Brasilien<br />

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Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong><br />

Man trifft sich, immer am letzten Samstag des<br />

Monats. Der Mütterver<strong>ein</strong> lädt <strong>ein</strong> zum<br />

Kaffeeklatsch, reihum in <strong>ein</strong>s der Häuser <strong>ein</strong>er der<br />

Beteiligten. Wie es sich für <strong>ein</strong>en Mütterver<strong>ein</strong><br />

schickt, nehmen alle sozialen Schichten daran teil,<br />

in Brasilien doch eher ungewöhnlich. Normalerweise<br />

beschränken sich die außerberuflichen<br />

Kontakte hier auf die eigene soziale Klasse. Aber<br />

im Mütterver<strong>ein</strong> treffen sich die Professorinnen,<br />

die Hausfrauen, ihre Hausangestellten, Besitzerinnen<br />

von Hotels genauso wie Freischaffende<br />

<strong>und</strong> solche, die von Gelegenheitsjob leben zum<br />

Kaffee. Diesmal ist der Kreis kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> intim.<br />

Vielleicht spricht man deshalb offen über so<br />

vieles, über Gott <strong>und</strong> die Welt.<br />

Zuerst wird zum x-ten Mal über den geplanten<br />

Ver<strong>ein</strong>shausneubau <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

ungeheuerlichen Kosten gesprochen. Der<br />

Mütterver<strong>ein</strong> ist zweigeteilt. Der Ver<strong>ein</strong> besitzt,<br />

<strong>ein</strong>e Schenkung, <strong>ein</strong> relativ großes Gr<strong>und</strong>stück an<br />

<strong>ein</strong>er privilegierten Lage im Dorf. Ein Teil der<br />

Frauen will, wie schon zweimal vorher praktiziert,<br />

<strong>ein</strong>en Teil des Gr<strong>und</strong>stückes verscherbeln. Mit<br />

dem Erlös soll der so ersehnte Neubau finanziert<br />

werden. Dummerweise soll ausgerechnet an<br />

jenes Baugeschäft verkauft werden, dessen<br />

Inhaber der Bruder jenes Mitglieds ist, das den<br />

Verkauf unbedingt durchziehen will. Die andere<br />

Hälfte es Ver<strong>ein</strong>s steht diesem doch eher<br />

<strong>ein</strong>seitigen Interessen gehorchenden Vorschlag<br />

skeptisch gegenüber. So sind die ver<strong>ein</strong>sinternen<br />

Beziehungen im Moment etwas gestresst.<br />

Ob es an dem weißen, brasilianischen W<strong>ein</strong>,<br />

Inhaltsstoffe: Traubensaft <strong>und</strong> Zucker, den außer<br />

mir alle lieben, liegt? Nach dem diskreten<br />

Waschen schmutziger Wäsche wird es<br />

zunehmend privater <strong>und</strong> immer happiger. Das<br />

harmlos dahin plätschernde Gespräch unter<br />

Fre<strong>und</strong>innen wird zum hautnahen Anschauungsunterricht.<br />

Reale Realitäten werden<br />

durchgesprochen, Statistiken bekommen Haut,<br />

Nägel, Haar, <strong>ein</strong> Gesicht. Füllen sich mit Herzblut<br />

<strong>und</strong> Leid. All die verworrenen Lebensgeschichten,<br />

die ich höchstens aus den Novelas, den Soaps<br />

kenne, spielen sich hier gleich vor m<strong>ein</strong>er Nase<br />

ab, anschaulich, glaubwürdig <strong>und</strong> roh.<br />

Die reale Realität erzählt von den endlosen<br />

Spiralen, in denen Generationen von <strong>ein</strong>fachen<br />

Leuten gefangen sind. Kreisen, in denen die<br />

heutigen Generationen wie unter Zwang all das<br />

wiederholen, was die vorhergehenden falsch<br />

gemacht haben. Wie soll es ihnen so je gelingen,<br />

aus Elend <strong>und</strong> Armut heraus zu kommen?<br />

- «Wie viele Enkel hast Du denn nun, zusammen<br />

mit dem Neugeborenen?» - «Dieses <strong>ein</strong>e von<br />

m<strong>ein</strong>er Tochter <strong>und</strong> drei von m<strong>ein</strong>em Sohn. Drei<br />

Enkel, jedes mit <strong>ein</strong>er anderen Frau…». - Einen<br />

der Enkel kenne ich. Er lebt mit ihr, der<br />

Großmutter. Nennt sie, mehr oder weniger<br />

respektvoll, Mutter. Sie versucht ihn aufzuziehen,<br />

neben der Schwiegermutter mit Alzheimer <strong>und</strong><br />

dem neu angefangenen Studium an <strong>ein</strong>er<br />

Privatuniversität. Um die Uni <strong>und</strong> sich selbst zu<br />

finanzieren, arbeitet sie auch noch in <strong>ein</strong>em<br />

Restaurant. Als sie nun kürzlich von der Geburt<br />

der Enkeltochter in <strong>ein</strong>em anderen Staat zurück<br />

kommt, findet sie ihr Haus leergeräumt. Der<br />

Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebt, hat<br />

sogar die Toilettendeckel mitgenommen, wie sie<br />

mir erst im Auto unter vier Augen gesteht.<br />

Das Gespräch geht weiter, als sich eher zufällig<br />

herausstellt, dass das kl<strong>ein</strong>e, clevere Mädchen,<br />

das gerade mit der Tochter des Hauses spielt, gar<br />

nicht die leibliche Tochter <strong>ein</strong>er zweiten<br />

Anwesenden ist. Sie zieht das Kind ihrer Nichte<br />

auf. Die Nichte war selber noch <strong>ein</strong> Kind, als sie<br />

schwanger wurde, <strong>und</strong> fühlte sich nicht bereit für<br />

<strong>ein</strong> Kind. So hat es die Anwesende, zusammen<br />

mit ihrem zweiten, dritten, oder was weiß ich wie<br />

vielten, Lebensgefährten sozusagen in Pflege. Der<br />

Lebensgefährte s<strong>ein</strong>erseits ist als Vater des<br />

Kindes registriert. Die leibliche Mutter des Kindes<br />

ihrerseits hat soeben <strong>ein</strong> weiteres Baby<br />

bekommen. Das zieht sie nun selber auf.<br />

Die selbe Frau, die das kl<strong>ein</strong>e Mädchen ihrer<br />

Nichte aufzieht, ihre eigenen drei Kinder sind<br />

schon erwachsen, erzählt freimütig, dass sie<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 888


selber mit 15 das erste Mal schwanger wurde.<br />

Heiraten allerdings habe sie nicht wollen. Sie<br />

schlug das großzügige Angebot des Kindsvaters<br />

<strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Familie, die Geld hatten, <strong>ein</strong> Haus<br />

vorbereiteten <strong>und</strong> alles über ihren Kopf hinweg<br />

beschlossen hatten, aus. Heiraten sei ihr wie <strong>ein</strong><br />

Gefängnis vorgekommen. So habe sie das Kind<br />

mithilfe ihrer Mutter all<strong>ein</strong>e aufgezogen. Das sei<br />

nicht <strong>ein</strong>fach gewesen. Sie habe nicht mehr<br />

ausgehen können, musste neben der Schule<br />

immer zum Kind schauen. Ihre Mutter habe ihr<br />

die Verantwortung nur sehr selten abgenommen.<br />

Eine andere in der Gesprächsr<strong>und</strong>e, auch sie<br />

schon Großmutter, hält es genau anders rum. Sie<br />

nimmt ihre Enkeltochter überall hin mit, kümmert<br />

sich rühren um sie, auch wenn sie weder mit der<br />

Enkelin noch mit ihren sehr limitierten<br />

Ökonomien, die sie hat, wirklich zurande kommt.<br />

Das Ganze ist vielleicht <strong>ein</strong>e Kompensation für<br />

den Sohn, der sich das Leben nahm. Jährt sich der<br />

Jahrestag des Selbstmordes, fällt sie jedes Mal in<br />

<strong>ein</strong> tiefes Loch.<br />

Dass es allerdings noch schlimmer geht, zeigt die<br />

Familie, deren Sohn sich immer tiefer in den<br />

Drogenhandel stürzte. Sich dann auch mit irgend<br />

welchen anderen Dealern überwarf. Wird, von<br />

mehreren Schüssen verw<strong>und</strong>et, zum Sterben<br />

nach Hause geschickt. Im Krankenhaus kann man<br />

nichts mehr für ihn tun.<br />

Wie faszinierend, dass Mutterschaft hier als<br />

etwas so Erstrebenswertes, Alleserfüllendes<br />

dargestellt wird. Alle jungen Mädchen träumen<br />

nur von <strong>ein</strong>em eigenen Baby <strong>und</strong> der sozialen<br />

Position, die es ihnen bringen wird. Ist das Kind<br />

<strong>ein</strong>mal da <strong>und</strong> die Situation dann doch etwas<br />

komplizierter als erwartet, so funktionierte das<br />

Baby doch wenigstens als Gr<strong>und</strong> zur Flucht aus<br />

<strong>ein</strong>em Elternhaus, in dem der gerade angesagte<br />

Stiefvater ungeliebte Regeln aufstellt oder<br />

Schlimmeres.<br />

Die Geschichten aus der weiteren Familie nehmen<br />

sich dagegen geradezu heiter aus. Da gibt es die<br />

Geliebte, die immer mal wieder die betrogene<br />

Ehefrau anruft, um nach dem Geliebten/Ehemann<br />

zu fragen. Der ist nach <strong>ein</strong>em Hirnschlag<br />

pflegebedürftig, was natürlich der Ehefrau<br />

zukommt. Hinter vorgehaltener Hand erzählen sie,<br />

dass die betrogene Ehefrau als Kind <strong>und</strong> junges<br />

Mädchen miterlebte, wie ihr Vater ihre Mutter<br />

schonungslos betrug.<br />

Oder, nur am Rande miterlebt, der Fall der<br />

all<strong>ein</strong>stehenden Frau, die in Kinder vernarrt war.<br />

Sie adoptierte das Baby ihrer Empregada. Und so<br />

wuchs das Kind mit drei Müttern auf. Einer<br />

leiblichen, denn sie arbeitete weiter im selben<br />

Haushalt, <strong>ein</strong>er Adoptivmutter <strong>und</strong> deren<br />

Schwester. Der Einfachheit halber nannte sie alle<br />

Mutter. Um dann die Sache noch Verzwickter zu<br />

machen, flüchtete sie sich in die Arme <strong>ein</strong>er<br />

Nachbarin in Rente, auf deren Kosten sie dann<br />

zum Schluss jahrelang lebte, zusammen mit ihren<br />

zwei eigenen Kindern. Ob es auch diesen<br />

beschieden ist, die Familiengeschichte endlos zu<br />

wiederholen?<br />

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Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum Henry Fords<br />

Die grün abgesetzten, weißen Holz<strong>ein</strong>familienhäuschen,<br />

<strong>ein</strong>s <strong>ein</strong>e Kopie des nächsten, säumen<br />

noch immer die schnurgerade Hauptstraße.<br />

Zeitzeugen <strong>ein</strong>es amerikanischen Kapitalistentraums<br />

oder wohl besser Deliriums, irgendwie<br />

hier in Belterra, nahe bei Santarém mitten im<br />

Dschungel gestrandet. Das Bürgermeisteramt<br />

wird immer noch von den unendlich hohen<br />

Palmen gesäumt. Nur die Fenster sind<br />

verbarikadiert, der Klimaanlage wegen.<br />

Belterras Hochblüte als amerikanische Musterstadt,<br />

<strong>ein</strong>e goldene Zeit, dauerte nur zwei kurze<br />

Jahre, von 1938 bis 1940. Während dieser zwei<br />

Jahre stand die heute verschlafene Stadt im<br />

Zentrum des Weltgeschehens. War nichts weniger<br />

als der Standort der größten unabhängigen<br />

Kautschukproduktion der Welt. Belterra war<br />

voller Ausländer, Amerikaner <strong>und</strong> Abenteurer aus<br />

der restlichen Welt. Es soll der Autobauer <strong>und</strong><br />

Millionär Heny Ford höchst persönlich gewesen<br />

s<strong>ein</strong>, der Belterra, Schöne/es Erde/Land s<strong>ein</strong>en<br />

klangvollen Namen verlieh <strong>und</strong> hier versuchte,<br />

s<strong>ein</strong>e reformistischen Ideen zu verwirklichen.<br />

Alles begann 1921. Die USA war der größte<br />

Autohersteller der Welt. Mehr als die Hälfte aller<br />

neuen Wagen, die auf den Markt kamen,<br />

stammten aus Henry Fords Produktion. Der in<br />

Asien angebaute Kautschuk war sehr wichtig für<br />

die amerikanische Reifenfabrikation.Gr<strong>und</strong> genug,<br />

noch <strong>ein</strong>en s<strong>ein</strong>er megalomanischen Träume in die<br />

Realität umsetzen. Es galt, das Monopol der<br />

Engländer zu brechen, die als <strong>ein</strong>zige in Asien<br />

Kautschuk ernten, der in Plantagen angebaut <strong>und</strong><br />

nicht wie im Amazonas noch immer direkt aus<br />

dem Regenwald gewonnen wurde, unter<br />

menschenunwürdigsten Umständen <strong>und</strong> mit<br />

primitivsten Methoden. Was da funktionierte,<br />

konnte auch hier im Amazonas Wirklichkeit<br />

werden.<br />

Bald verschärfte sich auch die politische Situation.<br />

Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges wurden die<br />

Gummiplantagen vom japanischen Heer besetzt.<br />

Japan aber war erklärter F<strong>ein</strong>d der USA <strong>und</strong> so sah<br />

sich Heny Ford bald schon in <strong>ein</strong>em Engpass. Mit<br />

s<strong>ein</strong>er American Rubber Mission wollte er sich<br />

daraus befreien. Sie sollte s<strong>ein</strong> Unternehmen<br />

unabhängig machen, <strong>und</strong> dem Marktführer der<br />

amerikanischen Automobilindustrie erlauben,<br />

s<strong>ein</strong>e immer stärker werdende Nachfrage nach<br />

Gummi für die Reifen <strong>und</strong> andere Autoteile der<br />

Fordmobile zu befriedigen. Ein Abkommen mit der<br />

Brasilianischen Regierung abgeschlossen, <strong>und</strong> bald<br />

schon bekam er alle nur nötige Unterstützung,<br />

auch in Form von Krediten, um am ausgewählten<br />

Ort Fordlândia zu errichten. Da wollte er neben<br />

<strong>ein</strong>er Gummiplantage auch <strong>ein</strong>e Forschungsstation<br />

<strong>ein</strong>richten. Fordlândia liegt 3-4 Schiffsst<strong>und</strong>en<br />

flussabwärts von Santarém. Das Unternehmen<br />

erwies sich schon bald als R<strong>ein</strong>fall, <strong>ein</strong> wahres<br />

Fiasco. Der zweite Boom der <strong>Amazonien</strong> ins<br />

Zentrum der globalen Wirtschaft rückte, blieb <strong>ein</strong><br />

kläglicher Versuch. Der Traum, auch hier Latex in<br />

großem Stil anzubauen dauerte nur von 1934 bis<br />

1945. Fordlândia wurde 1936 aufgegeben <strong>und</strong><br />

gegen Belterra getauscht. Heny Fords<br />

Monokulturen mit aus Asien importierten<br />

Gummibaumsetzlingen hielten vor Ort verschiedenen,<br />

nicht vorhersehbaren Krankheiten, unter<br />

anderem <strong>ein</strong>em Pilzbefall, nicht Stand. Die 1,5<br />

Millionen Gummibäume der Plantage starben ab.<br />

Aber so schnell gab sich der Amerikaner nicht<br />

geschlagen. Die klimatischen <strong>und</strong> logistischen<br />

Bedingungen in Belterra versprachen Besseres.<br />

Die Böden seien fruchtbarer, der Zugang per<br />

Schiff um <strong>ein</strong>iges <strong>ein</strong>facher <strong>und</strong> so entstand über<br />

Nacht <strong>ein</strong>e amerikanische Musterstadt mitten im<br />

Dschungel. Amerikanische Führungskräfte sollen<br />

hier aus ungebildeten Caboclos <strong>und</strong> Abenteurern<br />

aus der halben Welt <strong>ein</strong> Team zusammen<br />

schweißen, alles unter den klaren Vorstellungen<br />

Fords reformistischen Ideen von Hygiene <strong>und</strong><br />

Moderne. Er will der Welt <strong>ein</strong>e Art futuristischer<br />

Modellstadt vorstellen <strong>und</strong> stattet deshalb s<strong>ein</strong>e<br />

Schöpfung mit aller nötigen Infrastruktur aus.<br />

Angestellten <strong>und</strong> Arbeiter bekommen<br />

Krankenhäuser <strong>und</strong> Kirchen, ihre Kinder Schulen<br />

<strong>und</strong> zum Wohnen werden ihnen die vielen<br />

schmucken, fast identischen Holzhäuser im<br />

amerikanischen Stil zur Verfügung gestellt.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 896


Für jemand, der wie <strong>ein</strong> Teil der Arbeiter vor den<br />

Hungers- <strong>und</strong> Dürrezeiten aus dem Nordosten<br />

hierher flüchtete, <strong>ein</strong>e Art surreales Paradies,<br />

paternalistisch, durchorganisiert, das sich aber in<br />

relativ kurzer Zeit auch als <strong>ein</strong>e Art Gefängnis,<br />

<strong>ein</strong> goldener Käfig entpuppt. Alkoholkonsum zum<br />

Beispiel ist strickte untersagt. Zur Freizeitgestaltung<br />

verfügt die Stadt, in nur fünf Jahren<br />

hochgezogen, über Sportplätze, Geschäfte, Clubs,<br />

Billardclub <strong>und</strong> gar <strong>ein</strong> Kino, für die Gegend<br />

extrem ungewöhnlich. Aber dem methodischen<br />

Henry Ford entgeht nicht das kl<strong>ein</strong>ste Detail im<br />

kontrollierten Leben s<strong>ein</strong>er Angestellten/<br />

Untergebenen. Auch der Inhalt der Kochtöpfe ist<br />

strickte amerikanisiert. Das führt nach kurzer Zeit<br />

zur sogenannten “Revolte der Kochtöpfe oder der<br />

Farinha”. Die mitten im Dschungel festgehaltenen<br />

Arbeiter streiken für <strong>ein</strong>e ihren Gewohnheiten<br />

angepasstere Verpflegung. Sie wollen auch in<br />

Belterra jeden Tag Farinha <strong>und</strong> Fisch essen. Zum<br />

Teufel mit dem von Ford auferzwungene Spinat<br />

<strong>und</strong> anderem exotisch-importierten Essen! Wohl<br />

der Anfang vom Ende.<br />

Noch <strong>ein</strong>e in den Sand gesetzte Investition.<br />

Weitere, bis dahin unbekannte Krankheiten<br />

verwüsteten die riesigen Monokulturen. Nicht nur<br />

das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern<br />

auch die Entwicklung des synthetischen<br />

Kautschuks, gewonnen aus Erdölderivaten,<br />

setzten dem Traum <strong>ein</strong> jähes Ende. Henry Ford<br />

verkaufte die Stadt nach <strong>ein</strong>em Verlust von mehr<br />

als 100 Millionen USD in aktueller Währung für<br />

umgerechnet 250 Tausend Dollar an den<br />

brasilianischen Staat. Wer heute hierherkommt,<br />

kann die Geschichte nur ahnen, auch wenn sie<br />

uns viel über die glorreiche <strong>und</strong> auch nicht so<br />

glorreiche Vergangenheit des Amazonas zu<br />

erzählen hätte.<br />

Das Motto der Gr<strong>und</strong>schule Darcy Vargas, hoch<br />

unters Dach geschrieben: – Von Herzen dienen<br />

wir Belterra – ist wie Vargas <strong>und</strong> auch Belterra<br />

selbst, ziemlich aus der Mode gekommen. Mitten<br />

im Zentrum erinnert <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Pavillon daran,<br />

dass hier wohl ehemals Musikkapellen<br />

aufspielten. Nur <strong>ein</strong>e halbe Autost<strong>und</strong>e von<br />

Santarém, exakte 48 km, rechts <strong>und</strong> links von<br />

end- <strong>und</strong> end- <strong>und</strong> endlosen Sojafeldern<br />

gesäumt, liegt das Dorf Belterra. W<strong>und</strong>ersamerweise<br />

ist noch viel von der <strong>ein</strong>stigen Musterstadt<br />

übrig. Viel erinnert ans amerikanische Vorbild. Auf<br />

der schnurgeraden Hauptstraße, auf der k<strong>ein</strong>e<br />

Fords Ts (berühmtes Automobil Fords) mehr<br />

fahren, erinnert nichts an die unglückliche<br />

Verknüpfung misslicher Umstände, Unfähigkeiten<br />

in Administration <strong>und</strong> Organisation, die neben<br />

dem Kulturschock das ehrgeizige Projekt scheitern<br />

ließen.<br />

Die schmucken Holzhäuser in Weiß <strong>und</strong> Grün mit<br />

ihren kl<strong>ein</strong>en Veranda <strong>und</strong> der offenen Küche im<br />

amerikanischen Stil bewohnen heute die<br />

Nachfahren jener, die vor Hunger <strong>und</strong> Dürren aus<br />

dem gep<strong>ein</strong>igten Nordosten hierher flüchteten,<br />

Tür an Tür mit den aktuellen Zuwanderern, den<br />

Südbrasilianern. “ Tche Variedades”, noch <strong>ein</strong><br />

Gaúcho, <strong>ein</strong>en Südbrasilianer aus den endlosen<br />

Pampas hat hier <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Laden<br />

aufgemacht.<br />

Aber was für <strong>ein</strong> säuerlich verführerischer Duft<br />

drängt sich auf? Unvergleichliches Parfüm,<br />

unverkennbar Cupuaçu! Da drüben hängen <strong>ein</strong><br />

paar Bäume voller ovaler, wohl unterarmlanger<br />

Riesenfrüchte, samtbraun <strong>und</strong> duftend. In der<br />

Zwischenzeit spricht uns <strong>ein</strong> älterer Herr an, die<br />

Augen wach <strong>und</strong> blank, die schon ergrauten<br />

Haare straff zurückgekämmt. Der bloße<br />

Oberkörper zeigt <strong>ein</strong>en leichten Bauchansatz.<br />

Wie jeder Landbewohner ist ihm <strong>ein</strong> Schwatz mit<br />

den wild herumfotografierenden Touristen, <strong>ein</strong>e<br />

hier wohl eher rahre Spezies, mehr als<br />

willkommen. Lädt uns zuerst <strong>ein</strong> auf s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />

Veranda, die dem grün-weißen Häuschen<br />

vorgebaut ist. Sie bietet gerade mal zwei Bänkchen<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong>er diagonal ausgehängten<br />

Hängematte Platz. Erzählt uns von der jungen<br />

Generation, die es erfolgreich bis São Paulo<br />

geschafft hat, <strong>und</strong> dann von jenden anderen<br />

Touristen, Amerikanern, die kürzlich hier waren.<br />

Sie sch<strong>ein</strong>en hier, <strong>ein</strong> Millionenprojekt, <strong>ein</strong>e Art<br />

Freilichtmuseum errichten zu wollen, zur<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 897


Erinnerung an Henry Ford. Ob daraus etwas<br />

werden wird, wird wohl nur die Zeit weisen.<br />

Stolz führt er uns ins Innere des Holzhauses, wo<br />

sich der Duft intensiviert, die Luft gerdezu<br />

schwängert. Als er uns in die schmucke, nach allen<br />

Seiten offene Küche winkt, wo auch s<strong>ein</strong> Papagei<br />

haust, entführt er uns unfreiwillig in jene alten<br />

Zeiten.<br />

S<strong>ein</strong>e Frau sitzt, in der <strong>ein</strong>en Hand <strong>ein</strong>e Schere,<br />

direkt auf dem gefießten Boden, auf den sie <strong>ein</strong><br />

altes Wachstuch gebreitet hat. Zwischen ihren<br />

gespreizten B<strong>ein</strong>en ruht <strong>ein</strong> riesiges Aluminiumbecken,<br />

darin wohl etwa zehn aus der hölzernen<br />

Schale gebrochenen Cupuaçus, cremeweiß <strong>und</strong><br />

duftend. Geschickt schnippelt die Schere noch<br />

<strong>ein</strong>en Kern frei. Das Fleisch fällt auf das schon<br />

ansehnliche Häufchen vor ihr. Der freigeschnittene<br />

Kern fällt mit leisem Plop in <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>eres<br />

Blechbecken zu ihrer Linken. Eine Geduldsarbeit<br />

<strong>und</strong> nicht zu sagen die Arbeit <strong>ein</strong>er Sklavin, die<br />

wohl noch St<strong>und</strong>en dauern wird. In aller Ruhe <strong>und</strong><br />

vorindustriellem Rhythmus schnippeln ihre Hände<br />

weiter. Das Fruchtfleisch wird sie, wie immer<br />

schon, für <strong>ein</strong> paar Münzen, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />

Nebenverdienst, an ihre Stammk<strong>und</strong>en<br />

verkaufen. Denn mit oder ohne Ford geht das<br />

Leben im Amazonas s<strong>ein</strong>en eigenen Gang.<br />

Gehorcht wieder jenem Rhythmus, von <strong>ein</strong>igen<br />

lokalen Intellektuellen auch als <strong>ein</strong>e Art Rache des<br />

Caboclos bezeichnet. Ein Leben, wie sie es wohl<br />

schon vor Fords Visionen lebten.<br />

Die Sojafelder allerdings auf dem Rückweg, endlos,<br />

in regelmäßigen Abständen von <strong>ein</strong>sam<br />

mahnenden Paranussbäumen durchbrochen,<br />

erinnern mich daran, dass auch hier der Fortschritt<br />

längst angekommen ist. Noch koexistiert<br />

Altmodischstes mit Hochmodernstem, da wo vor<br />

Ford noch unberührter Regenwald war.<br />

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Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden<br />

Alles beginnt mit <strong>ein</strong>er Straßenverbreiterung. Die<br />

Millionen dazu hat, die Plakate verkünden es<br />

jedem, der es lesen will, der Abgeordnete<br />

Chapadinho, jeder kennt ihn, der Nachname<br />

genügt, er gehört zur lokalen Elite, irgendwo in<br />

Brasilia losgeeist. Und so bekommt nun der<br />

Badeort Alter do Chão <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbar<br />

asphaltierte Straße, <strong>ein</strong>e Autobahn fast. Auch <strong>ein</strong><br />

Fahrradweg sei geplant, wenigstens versprechen<br />

die Plakate das. Für all die Fußgänger <strong>und</strong><br />

Fahrradfahrer, die tagtäglich ihr Leben aufs Spiel<br />

setzen, wenn sie auf dem schmalen Streifen<br />

Asphalt gehen oder ohne Licht <strong>und</strong> Leuchtstreifen<br />

nachts nach Hause fahren. Pannenstreifen waren<br />

ja bei der alten Straße nicht <strong>ein</strong>geplant <strong>und</strong> die<br />

Straßenborde werden vom Dschungel gefährlich<br />

schnell zurückerobert.<br />

winden werden! («Tirar leite de pedras») Mit der<br />

Milch ist natürlich etwas so nahrhaftes wie Geld<br />

gem<strong>ein</strong>t. Denn die St<strong>ein</strong>e sind gratis, man muss sie<br />

nur zusammensuchen.<br />

Die Verkaufsplakate sind genauso kreativ wie die<br />

St<strong>ein</strong>hügel. Lese: «Vende-se», Zu verkaufen». Bald<br />

auch «Vendido» - «Verkauft», zusammen mit dem<br />

Namen des glücklichen neuen Besitzers. Manche<br />

St<strong>ein</strong>haufen überdauern <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Weile. Andere<br />

verschwinden sozusagen über Nacht. Man<br />

brauche solche St<strong>ein</strong>e für das F<strong>und</strong>ament <strong>ein</strong>es<br />

Hauses oder vielleicht auch für <strong>ein</strong>e Sickergrube,<br />

lasse ich mich belehren.<br />

Und da sage mir doch noch <strong>ein</strong>er, dass man aus<br />

St<strong>ein</strong>en k<strong>ein</strong>e Milch gewinnen kann!<br />

Zusammen mit den großen Maschinen wird auch<br />

Erde hin gekarrt. Tonnenweise <strong>und</strong> voller St<strong>ein</strong>e.<br />

Da die natürlich nicht alle verbaut werden, kann<br />

man emsig gebückte Männer sehen, die die<br />

St<strong>ein</strong>e aufheben, sortieren, sie am Straßenrand<br />

aufschichten. Je nach Temperament <strong>und</strong> Talent<br />

sind die Hügel eher ungeordnet oder extrem<br />

exakt gebaut.<br />

Und dann bekommen die St<strong>ein</strong>hügel plötzlich<br />

Verkaufsplakate aus Pappe! Hätte mir nie<br />

vorstellen können, dass man, wie sie es hier<br />

vorzeigen, wortwörtlich Milch aus den St<strong>ein</strong>en<br />

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Der Wasserturm<br />

Es dreht sich alles um den Wasserturm. Er bringt,<br />

<strong>und</strong> das im Jahre 2017, etwas Fortschritt, sprich<br />

fließend <strong>und</strong> kaltes Wasser in <strong>ein</strong>en, sagen wir<br />

etwas abgelegerenen Teil des Amazonas. Genau<br />

genommen gar nicht so weit weg, <strong>ein</strong>e Bootsst<strong>und</strong>e<br />

nur den Tapajós überquert. Wenn man<br />

Glück hat, ohne Sturm <strong>und</strong> viel Geschaukel.<br />

Plupps, schon ist man in <strong>ein</strong>er anderen Welt.<br />

Befindet sich sozusagen im Hinterhof des<br />

Hinterlandes.<br />

Ein Dorf, w<strong>und</strong>erbar säuberlich gepüschelt, k<strong>ein</strong><br />

Abfall, propere Häuschen. Ein Dorfteil oder wohl<br />

besser Teil des Weilers, heißt "Paciência" -<br />

"Geduld". Die Tafel, die den Namen verkündet, ist<br />

sozusagen mit viel Geduld in den Baum hin<strong>ein</strong>gewachsen.<br />

Und dann, da oben, strategisch auf<br />

dem zweiten der kl<strong>ein</strong>en Hügel hier, steht er, der<br />

brand-nigelnagelneue Wasserturm. Auf dem<br />

ersten Hügel thront die Kirche. Der Wasserturm<br />

auf hochb<strong>ein</strong>igen Stelzen, eigentlich <strong>ein</strong><br />

Infrastrukturprojekt, das dem Staat, dem Land<br />

oder der Gem<strong>ein</strong>de zukäme, errichtet von <strong>ein</strong>er<br />

lokalen Hilfsorganisation mit der Hilfe<br />

internationaler Gelder. Wie gut, denn die Armut<br />

<strong>und</strong> Misswirtschaft dominieren.<br />

Zur Einweihung sind alle da. Sicher haben sie den<br />

Tag zum Feiertag <strong>und</strong> schulfrei erklärt. Ich<br />

mittendrin, als absolut Unbeteiligte, "Papageio de<br />

Pirata", wie der Papagei des Piraten, der ihm auf<br />

der Schulter sitzt <strong>und</strong> von dieser privilegierten<br />

Position aus immer s<strong>ein</strong>en Senf dazu gibt. Ein<br />

Szenarium wie von Gabriel Garcia Marques. Am<br />

Tisch unter freiem Himmel sind die Autoritäten<br />

versammelt. Eine aus Rio von der Konrad<br />

Adenauer-Stiftung, die NGO, die das alles möglich<br />

gemacht hat. Daneben der Cacique, der Häuptling.<br />

Greift soeben, in Tennis, Bermudas, T-Shirt <strong>und</strong><br />

Federkopfschmuck, Pfeil <strong>und</strong> Bogen umgehängt,<br />

zum Mikrofon <strong>und</strong> hält die Eröffnungsrede. Die<br />

erste, gefolgt von vielen anderen Dankesreden.<br />

Dann ist es an der Gem<strong>ein</strong>de. Die indigenen<br />

Lehrerin bildet Kreise. Den innersten mit den<br />

kl<strong>ein</strong>en Kindern. Darum herum die älteren <strong>und</strong> im<br />

letzten Kreis dann Hand in Hand all die anderen<br />

Beteiligten. Eine respektable Frau der Gem<strong>ein</strong>de<br />

schreitet die Kreise ab. In der Hand <strong>ein</strong><br />

improvisiertes Räuchergefäß. Es riecht wie in der<br />

Messe, nur dass sich der Rauch bis in den blauen<br />

Himmel kräuselt. Und auch die Götter sind andere.<br />

Die Lehrerin beschwört Tupão, den Göttervater,<br />

der es gerne donnern lässt, <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar andere.<br />

Ein indigenes Ritual, <strong>ein</strong>es von jenen, die weder<br />

echt noch überliefert, aber wenigstens gut<br />

nacherf<strong>und</strong>en wurden. Auf Geheiß der Lehrerin<br />

beginnen sich die Kreise zu drehen <strong>und</strong> zu<br />

wenden. Auch die letzten Nicht-Integrierten<br />

reichen sich die Hände.<br />

Die Personen hier flößen mir Respekt <strong>ein</strong>, nicht<br />

nur die Lehrerin, k<strong>ein</strong>e "Titia", k<strong>ein</strong> Tantchen, wie<br />

in der Stadt. Man kann sehen, dass sie ihrer<br />

Arbeit mit Herzblut nachgeht. Dann kommt der<br />

unterhaltende Teil. Eine Parodie. Eine stark<br />

blondierte Indigena liest ihre selbst verfasste<br />

Satire. Liest sie vom Blatt. Zu mehr habe die Zeit<br />

nicht gereicht. An Gründen für die Satire fehlt es<br />

ihr nicht. Würde man nicht lachen, müsste man<br />

sich wohl umbringen.<br />

Die Satire erzählt vom «Doppelt genäht, hält<br />

besser». Der Stelzb<strong>ein</strong>ige hier ist nämlich schon<br />

der zweite Wasserturm, den sie nicht von der<br />

Regierung, aber aus privaten Spenden errichtet<br />

bekommen. Unvorstellbar, aber bis 2016 haben<br />

sie hier, direkt am Ufer des Flusses, ohne<br />

fließend <strong>und</strong> kaltes Wasser in den Häusern<br />

gewohnt. Tragischerweise brach der erste<br />

Wasserturm, was für <strong>ein</strong> Schicksal, aber nach nur<br />

zwei Wochen in sich zusammen. Die <strong>ein</strong>en geben<br />

<strong>ein</strong>em Blitzschlag Schuld. Tupãn wird doch wohl<br />

kaum s<strong>ein</strong>e Hand im Spiel gehabt haben! Aber es<br />

kam noch schlimmer. Senhor Joaquim, der<br />

<strong>ein</strong>zige Weiße <strong>und</strong> sichtbar Besserbemittelte<br />

hier, wohl <strong>ein</strong> Staatsangestellter in Pension, soll<br />

der Wasserturm fast mit ins Verderben gerissen<br />

haben! Glücklicherweise kam er mit <strong>ein</strong> paar<br />

Kratzern davon. Sitzt nun in Begleitung s<strong>ein</strong>er<br />

Gattin in der ersten Reihe.<br />

Nun aber sind alle glücklich. Das Fest geht noch<br />

weiter. Bald schon schneiden sie die<br />

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Abschrankung aus kunstvoll verflochtenen<br />

Mangoblättern durch, die des Informatikzentrum,<br />

auch blitzblank <strong>und</strong> strahlend neu. Nur<br />

Internet gibt’s noch k<strong>ein</strong>s. Das Ganze nennt sich<br />

«Inclusão digital», Digitales Mit<strong>ein</strong>schließen oder<br />

so.<br />

Die Allerkl<strong>ein</strong>sten erfrischen sich unter dem<br />

verschwenderisch vom Überlaufventil<br />

herunterspringenden Wasser des neuen<br />

Wasserreservoirs. Zum Abschluss werden alle mit<br />

köstlichen Wassermelonenschnitzen, noch<br />

köstlicherem Brei aus Kürbis <strong>und</strong> Reis, grünen<br />

Bananen oder weißem Mais, in riesigen Pfannen<br />

aufgetragen, bewirtet. Mittendrin immer die<br />

Dorfh<strong>und</strong>e, die zwar alle <strong>ein</strong>en Besitzer haben,<br />

aber komplett frei leben. Das nächste Mal werde<br />

ich allen <strong>ein</strong> Wurmmittel verschreiben.<br />

Und dann kommt schon das Schiff. Am Horizont<br />

steigt <strong>ein</strong>e schwarze Front auf. Unter ziemlich viel<br />

Geschaukel <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em tropischen Regenschauer<br />

geht zurück in m<strong>ein</strong>e Welt.<br />

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Vom Festival der Früchte<br />

Die leckeren Freilaufhähnchen waschen sie<br />

gerade im Igarapé. Unser Sonntagsessen ist damit<br />

gesichert. K<strong>ein</strong> Problem dass es noch etwas auf<br />

sich warten lassen wird. Freilufthuhn ist zäh. Man<br />

kocht es so lange, bis es sich ganz von all<strong>ein</strong>e vom<br />

Knochen löst <strong>und</strong> man es problemlos mit dem<br />

Löffel essen kann.<br />

Zum sonntäglichen Freilaufhühnerbraten sind wir<br />

auf Umwegen oder besser auf Naturstraßen<br />

gekommen. Das Spruchband allerdings, es<br />

verspricht <strong>ein</strong> Festival, das Festival der Früchte,<br />

hängt <strong>ein</strong>ladend schon Wochen vorher da. Hier<br />

hat jede kl<strong>ein</strong>e Gem<strong>ein</strong>de ihr eigenes Festival. Es<br />

gibt <strong>ein</strong> Fest für die Maniok genauso wie für Açaí,<br />

Charutinho, <strong>ein</strong> Fisch oder Maracujá. Traditionellerweise<br />

gibt es dann die Maniok, den Açaí,<br />

den Fisch oder die Maracujás in allen möglichen<br />

Zubereitungsarten <strong>und</strong> auch in Hülle <strong>und</strong> Fülle.<br />

Nun, hier also das Festival der Früchte. Da muss<br />

ich hin! Lasse mich - auch heute noch - vom so<br />

gängigen Titel bezirzen. In der Fantasie wird aus<br />

dem angekündigten Obst gar lokale Früchte, was<br />

weiß ich, was ich erwarte.<br />

Die Anreise mit dem Auto ist ziemlich kompliziert.<br />

Vorbei an der Spielwiese der Jeep- <strong>und</strong><br />

Motocrossfahrer, voller brummender Irren. Aber<br />

nach dem dritten Nachfragen <strong>und</strong> vielen, endlos<br />

vielen Kurven, Verzweigungen <strong>und</strong> kl<strong>ein</strong>en<br />

Irrwegen, wir sind sicher schon st<strong>und</strong>enlang<br />

unterwegs, doch wir sind auf der richtigen Straße!<br />

Irgendwann muss das Dorf ja kommen! Und schon<br />

ist es da. Der Festplatz ist gebührend geschmückt,<br />

es gibt auch <strong>ein</strong> paar Verkaufsstände <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

Barrake, das Freiluftrestaurant. Auch zwei oder<br />

drei Busse stehen irgendwo im Schatten.<br />

Nur Früchte, Obst oder etwas, was daran<br />

erinnerte, gibt es nicht. Dafür werden wir nach<br />

kurzer Zeit zur Attraktion. Schon steht die Verantwortliche<br />

der Gem<strong>ein</strong>de vor uns, schüttelt Hände,<br />

ruft noch <strong>ein</strong>en anderen Beauftragten. Alle heißen<br />

uns herzlichst Willkommen. So langsam stellt sich<br />

heraus, dass das Festival eigentlich mehr <strong>ein</strong>e<br />

Aktion unter Fre<strong>und</strong>en ist. Eingeladen zum Fest<br />

sind nämlich die Nachbargem<strong>ein</strong>den. Das sei so<br />

Brauch hier. Einmal lade diese Gem<strong>ein</strong>de die<br />

umliegenden <strong>ein</strong>, dann umgekehrt. Und dabei<br />

werde genau Buch geführt. Man dürfe sich<br />

nämlich nichts schuldig bleiben. Die Verantwortlichen<br />

des Festes notierten jeden Kasten Bier,<br />

den man austrinkt <strong>und</strong> haben dann damit das<br />

Recht, genauso viel beim Fest der Nachbarn zu<br />

bechern. Später gebe es dann <strong>ein</strong> Fußballtournier<br />

<strong>und</strong> abends werde zum Tanz aufgespielt.<br />

Das Einzige also, was dem Fest fehlt, sind die<br />

Früchte. Ja, man habe halt <strong>ein</strong> Motto gebraucht,<br />

vielleicht auch um öffentliche Gelder zu<br />

rechtfertigen. Aber es sei halt gerade<br />

Zwischensaison…. .<br />

Als wir uns gebührend verabschiedet haben,<br />

schaue ich auf die Uhr. Will wissen, wie lange wir<br />

brauchen werden. Der Weg, der uns st<strong>und</strong>enlang<br />

erschien, ist mal gute 10 Minuten lang!<br />

Die Anthropologin, die sich mit solch lokaler<br />

Festtradition auskennt, bestätigt, dass je weiter<br />

man ins Landesinnere komme, desto normaler<br />

seien solche Gepflogenheiten gut nachbarschaftlicher<br />

Begegnungen. Wie weit die Tradition<br />

allerdings indigene Wurzeln hat, diese Antwort<br />

bleibt mir der Dschungel schuldig.<br />

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Se vira! – Hilf dir selbst!<br />

Eine Putzfrau gesucht oder jemand, der das Gras<br />

schneidet? Ein Freilaufhuhn gefällig oder <strong>ein</strong><br />

gegrillter Fisch? Auch <strong>ein</strong> Haus oder <strong>ein</strong>e<br />

Betonmischmaschine kann man mieten.<br />

Ein kl<strong>ein</strong>es Panorama, womit man sich hier etwas<br />

Kl<strong>ein</strong>geld, <strong>ein</strong>en Zustupf verdienen kann. Viele<br />

andere Möglichkeiten, Ende Monat die<br />

Rechnungen zu bezahlen gibt es nicht. Denn nicht<br />

alle können auf der Gem<strong>ein</strong>de arbeiten, sind<br />

schon im Rentenalter oder bekommen <strong>ein</strong>e<br />

Unterstützung der Regierung wie die „Bolsa<br />

Família“. Der Staat oder die öffentliche<br />

Verwaltung sind in vielen Staaten des Amazonas<br />

<strong>ein</strong>er der wichtigsten Arbeitgeber, mit Gehältern,<br />

die besonders im Bereich der Justiz weit über<br />

dem Durchschnitt liegen. Im Staate Roraima sind<br />

mehr als die Hälfte aller registrierten Angestellten<br />

beim Staat angestellt, in Acre <strong>und</strong> Amapá etwas<br />

mehr als 40 %, in Tocantins <strong>und</strong> Rondônia knapp<br />

30 %. Parintins, die Stadt, die eigentlich für s<strong>ein</strong><br />

Festival der Bois bekannt ist, hat über 60 % s<strong>ein</strong>er<br />

offiziell registrierten Angestellten im öffentlichen<br />

Dienst, gefolgt von Cametá, Boa Vista <strong>und</strong> auch in<br />

Belém sind mehr als <strong>ein</strong> Drittel Staatsangestellte.<br />

Pikantes Detail – Staatsangestellte arbeiten hier<br />

nur von 7h00 bis 13h00. Wenn man Pech hat,<br />

öffnet <strong>und</strong> schließt auch das Museum oder der<br />

Stadtpark zu genau diesen Zeiten. Wem es nicht<br />

gelingt, aus diesen Pfründen zu schöpfen, ist<br />

doppelt bestraft.<br />

Im Norden Brasiliens liegt der Anteil der Arbeiter<br />

<strong>und</strong> Angestellten, die alle gesetzlich<br />

vorgeschriebenen Rechte <strong>und</strong> Pflichten haben <strong>und</strong><br />

bezahlen, also rechtsgültig registriert sind, weit<br />

unter dem schon tiefen brasilianischen<br />

Durchschnitt. Sie erreicht in der Hälfte der<br />

Gem<strong>ein</strong>den nicht mal 10 % des ökonomisch<br />

aktiven Bevölkerungsanteils <strong>und</strong> ist in k<strong>ein</strong>er der<br />

Gem<strong>ein</strong>den höher als 50 % hoch. Der große,<br />

vergessene Rest schlägt sich mehr <strong>und</strong> oft weniger<br />

als recht in der Informalität durch.<br />

Etwas verkaufen, <strong>ein</strong>e Dienstleistung anbieten,<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Garküche aufmachen, sich s<strong>ein</strong>e<br />

Fitnessakademie selber zimmern oder das<br />

fließende Wasser des Flusses nutzen – in <strong>ein</strong>er<br />

Gesellschaft, in der die Underdogs wohl erst seit<br />

dem Ende der Militärdiktatur zu begreifen<br />

beginnen, dass auch sie brasilianische Staatsbürger<br />

mit Rechten <strong>und</strong> Pflichten sind, migriert man oder<br />

lernt, sich zu organisieren, sich selbst zu helfen<br />

oder auf Portugiesisch: „se vira“! „Hilf dir selbst!“<br />

Und das geht, wie man sehen kann, mit sehr viel<br />

Kreativität <strong>und</strong> dem unverwechselbaren Humor<br />

noch viel besser!<br />

Unbekanntes Hinterland<br />

Die lokale Zeitung ist in drei Teile unterteilt. Die<br />

tragen die Titel: “Poder”, Macht, “Policia”, Polizei<br />

<strong>und</strong> “Magazine”, Gesellschaftsklatsch. Ein anderes<br />

Blatt ist schwarz-weiß, fast ganz ohne <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong><br />

die Mehrheit der Reportagen ist mindestens <strong>ein</strong>e<br />

Seite lang, nicht mal schlecht geschrieben <strong>und</strong> gut<br />

recherchiert. Ob hier die Leute noch Zeitung<br />

lesen?<br />

Treffen sich Familien <strong>und</strong> Bekannte, so werden<br />

nicht nur alle Älteren respektvoll <strong>und</strong> automatisch<br />

gesiezt, auch Vater <strong>und</strong> Mutter. Noch<br />

altmodischer bitten die jüngeren den Segen der<br />

älteren. Dabei führt man die Hand des zu<br />

Begrüßenden zum M<strong>und</strong> <strong>und</strong> küsst ihm den<br />

Ringfinger. - Unbekanntes Hinterland.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 919


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 920


Herzblatt<br />

Immer wieder entdecke ich noch <strong>ein</strong> neues, <strong>ein</strong><br />

anders gefärbtes Herzblatt. Kann mich an der<br />

Vielfalt der lanzenartigen Blätter mit ihren<br />

überraschenden Zeichnungen, den ausgefallenen<br />

Farbkombination nicht sattsehen. Blatt neben<br />

herzförmiges Blatt auf lange Stiele gesteckt, zeigt<br />

jeder Tuff neue, überraschende Farben, umfasst<br />

<strong>ein</strong>e ganze Gamme an Pinks, Rosas <strong>und</strong> rötliche<br />

Nuancen bis hin zum warmen Dunkelrot, die sich<br />

überaus effektvoll vom dunklen Blattuntergr<strong>und</strong><br />

abheben. Ton in Ton bestechen sie durch<br />

abschattierte Nuancen, die vom hellen Gras bis<br />

zum fast schwarzen Dunkelgrün gehen. Oft gesellt<br />

sich auch Weiß dazu. So entstehen die<br />

unterschiedlichsten Kombinationen. Trikolor<br />

Grün-Weiß-Rosa oder schillernd, gar Grün in<br />

Grün. Nur der Natur mit ihrem unfehlbaren<br />

Geschmack gelingt es, sie so üppig zu malen, ohne<br />

kitschig zu werden.<br />

Auch puncto die Ornamente ist die Natur<br />

unschlagbar <strong>und</strong> unerschöpflich. Dekorativ<br />

strahlen die Adern vom Blattinnern nach außen.<br />

Die Muster <strong>und</strong> Zeichnungen, immer auf grünem<br />

Untergr<strong>und</strong>, sind vielfältig: weiß-rosa getigert,<br />

gefleckt, gesprenkelt, mit Punkten überhaucht.<br />

Dunkelgrün zeichnen die Blattnerven, die wie<br />

<strong>ein</strong>geritzt sch<strong>ein</strong>en, wie wenn das Blatt von innen<br />

her nachwachsen würde. Kratzer oder gar frisch<br />

nachgewachsenes Fleisch, unterteilen die Nerven<br />

das Blatt in regelmäßige Flächen. Die Zeichnungen<br />

der Venen imitieren Marmor oder andere<br />

wertvolle St<strong>ein</strong>e. Bei den <strong>ein</strong>en wirft sich das Blatt<br />

zwischen den Blattnerven blasig auf. Manche der<br />

Tajás, so heißen sie hier, werden bei idealen<br />

Bedingungen, viel, sehr viel Wasser, bis zu zwei<br />

Handspannen lang. Setzen die Regen aus, werden<br />

sie unsichtbar. Sie ziehen sich in ihre kl<strong>ein</strong>en<br />

Knollen im Boden zurück, wo sie auf die nächsten<br />

Güsse warten. Hat man sie dann vergessen, die<br />

Trockenperioden können dauern, sie halten es<br />

sicher monatelang aus, treiben sie nach langen<br />

Regenperioden doppelt schön wieder aus. Viele<br />

der altmodischen, oft nur halbmetrigen<br />

amazonischen Vorgärten schmücken sich mit den<br />

bunten Tuffen der Tajás, <strong>ein</strong> vollwertiger,<br />

<strong>ein</strong>heimischer Ersatz für die hier so seltenen<br />

Blumen. Ihre reichen Abschattierungen <strong>und</strong><br />

Halbtöne strahlen, leuchten heraus, ziehen sofort<br />

die Aufmerksamkeit auf sich.<br />

Im Volksm<strong>und</strong> <strong>und</strong> in den Lenden der Indigenen<br />

symbolisiert die „Tajás“ das Herz. Tajás sollen<br />

Glück in der Liebe, bei Jagd <strong>und</strong> Fischfang bringen.<br />

Oder gar die Liebe, wie es <strong>ein</strong>e der vielen Lenden<br />

will. Die Mitglieder <strong>ein</strong>es Indiostammes, die weder<br />

die Liebe kannten, noch als sehr tapfer bekannt<br />

waren, erwählten <strong>ein</strong>es Tages aus ihren Reihen<br />

<strong>ein</strong>en Krieger, der das Problem lösen sollte. Es<br />

wurde beschlossen, die Mutter Wald „Mãe do<br />

Mato“ um Hilfe zu bitten. Sie riet, aus <strong>ein</strong>em<br />

Schwarm Vögel denjenigen abzuschießen, der am<br />

höchsten flog. Gesagt, getan. Der <strong>ein</strong>same Krieger<br />

legte den toten Vogel in <strong>ein</strong>en Ring aus Feuer <strong>und</strong><br />

ging, wie befohlen, schlafen. Als er erwachte, fand<br />

er sich von „Tajás“ in den unterschiedlichsten<br />

Farben <strong>und</strong> Formen umringt.<br />

Und es kam noch besser! Jede Tajá symbolisierte<br />

<strong>ein</strong>e positive Eigenschaft. Der Indio wählte die<br />

„Tajá“ der Tugend, der Arbeit, der Ges<strong>und</strong>heit, des<br />

Friedens, der Liebe <strong>und</strong> des Glücks. Grub sie<br />

behutsam aus <strong>und</strong> brachte sie s<strong>ein</strong>em Volk.<br />

Auf diese blumige Weise lernen die Indigenen<br />

nicht nur die Liebe kennen, sondern wurden nie<br />

mehr als feige bezeichnet.<br />

Dem leuchtrosafarbenen, lang gezogenen Herz<br />

<strong>ein</strong>er „Tajá“ widersteht also so schnell k<strong>ein</strong>er.<br />

Sollte ich die Herzblume amazonischer Gärten<br />

küren, wäre es zweifellos die hier, <strong>ein</strong>e der vielen,<br />

ungezählten „Tajás“, amazonischer geht´s nicht<br />

mehr.<br />

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Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“<br />

Wir lassen uns nicht abschrecken. Treten <strong>ein</strong>. Der<br />

Durst ist stärker. Der Gastraum erinnert eher an<br />

<strong>ein</strong>e Garage. In der hinteren Hälfte hängt riesig<br />

<strong>und</strong> etwas streng riechend <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>gesalzener<br />

Pirarucu zum Trockenen aus. Gegen die<br />

festgezurrten, abwaschbaren Plastiktischtüchern<br />

auf wacklige Plastiktischen geklebt, die durch die<br />

verkehrt herum aufgetischten, transparenten<br />

Glasteller durchsch<strong>ein</strong>en, sind wir aber schon<br />

immun. Folgen der Empfehlung der<br />

Hotelbesitzerin. Touristen verirren sich kaum<br />

hierher.<br />

Der Kellner, er bemüht sich sichtlich, lost uns in<br />

den zubetonierten Hinterhof. Die brusthohen<br />

Wände sind alle mit Werbung beschriftet. Aber<br />

der Schatten des Mangobaumes <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />

Tische laden <strong>ein</strong>. Lerne so, sozusagen am eigenen<br />

Magen, in der Praxis, sie dauert zwar nur <strong>ein</strong><br />

Wochenende lang, was es heißt, im hintersten<br />

Hinterland des Amazonas zu leben. –“N<strong>ein</strong>, mit<br />

Kohlensäure haben wir leider nicht, nur<br />

Mineralwasser ohne.“ – „Bier?“ – „Ja, aber nur in<br />

Dosen <strong>und</strong> nur <strong>ein</strong>e Marke.“ - „Ja, die<br />

Tomatensoße, die den w<strong>und</strong>erbaren Fisch,<br />

diesmal frischesten „Pirarucú“, begleite, sei<br />

Pomerola, industrialisierte Tomatensoße, aus der<br />

Tube, aber er könne mal sehen, ob man sie<br />

<strong>ein</strong>fach weglassen könne.“ –<br />

Dabei ist Alenquer doch immer noch <strong>ein</strong>e<br />

ansehnliche Stadt. Hat zwei, drei <strong>ein</strong>fache Hotels,<br />

<strong>ein</strong>e Bäckerei, zwei, drei Eisdielen, <strong>ein</strong> Restaurant<br />

<strong>und</strong> verschiedenen Bars. Unser Hotel hat zwar nur<br />

fließend kaltes Wasser, aber <strong>ein</strong>e laut dröhnende<br />

Klimaanlage, bitter nötig, <strong>und</strong> drei der Gratisfernsehkanäle<br />

aus dem fernen Rio de Janeiro. Es<br />

gehört, wie die meisten Geschäftsbetriebe hier,<br />

<strong>ein</strong>er Frau. Die Männer sind wohl alle aufgebrochen,<br />

den besseren Arbeitsplätzen nach.<br />

Touristenattraktionen? Es soll hier in der Nähe<br />

<strong>ein</strong>en Wasserfall geben. Aber wir bew<strong>und</strong>ern ihn<br />

nur auf <strong>ein</strong>er etwas verblichenen Wandmalerei.<br />

Schaffen es aber bis zu <strong>ein</strong>er Art Aussichtspunkt,<br />

<strong>ein</strong>e steile Treppe, oben <strong>ein</strong> schmuckloses<br />

Betonkreuz, zu dessen Füßen viele Kinder ganz<br />

ohne elterliche Aufsicht spielen. Nur die fünf<br />

himmelstrebenden Funktürme, Fernsehen,<br />

Internet <strong>und</strong> Handys wollen empfangen werden,<br />

überragen ihn noch. Einer ist sicher auch für das<br />

lokale Radio. Das hören hier alle. Auch der<br />

Musikgeschmack ist pasteurisiert, beschränkt sich<br />

auf die selbe schrill-laute, ziemlich ordinäre Musik,<br />

von Bands mit noch ordinäreren Namen gespielt.<br />

Das Radio überträgt sie bis in den letzten<br />

Hinterhof.<br />

Die Hinterhöfe allerdings sind <strong>ein</strong>e Attraktion für<br />

sich. Eine wilde Mischung aus verwildertem Nutz<strong>und</strong><br />

Obstgarten <strong>und</strong> Hühnerhof. Auf dem sandigen<br />

Boden mischen sich unter die heruntergefallenen<br />

Kokosnüsse Abfällen <strong>und</strong> trockene Palmwedel,<br />

vergammelnde Mangos. Die frei laufenden<br />

Haushühner bilden friedliche Familien inklusive<br />

Küken <strong>und</strong> stolzen Hähnen. Letztere krähen wohl<br />

alle zehn Minuten, auch zu nachtschlafener Zeit.<br />

Dazwischen wackeln auf kurzen B<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong> paar<br />

zukünftige Festtagsbraten, schwarze oder<br />

gesprenkelte Enten herum. Das Geflügel teilt sich<br />

ihr Futter schwesterlich mit <strong>ein</strong> paar<br />

flügelschwingenden, stumpfschwarzen<br />

Aasgeiern. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied? Letztere<br />

landen nicht in der Pfanne.<br />

Da ist es wieder. Jenes typische Neben<strong>ein</strong>ander<br />

von rückständigster Rückständigkeit <strong>und</strong><br />

fortschrittlichstem Fortschritt. Einer zufällig<br />

aufgeschnappten Konversation entnehme ich,<br />

dass man hier auch puncto Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<br />

auf dem Laufenden ist. Zwei Damen diskutieren<br />

ihren, natürlich immer zu hohen, Cholesterinspiegel.<br />

Als wir <strong>ein</strong> Taxi wollen, greift das<br />

Zimmermädchen, das soeben den Patio flutet, in<br />

die Tasche ihrer knappen Shorts <strong>und</strong> zückt ihr<br />

Handy, wählt, <strong>und</strong> das Taxi ist Minuten später zur<br />

Stelle.<br />

Die lauschige Seite des Hinterlandes manifestiert<br />

sich, als die Sonne hinter den Horizont fällt.<br />

Jedermann zieht den wackligen Klappstuhl oder<br />

gar den Sessel aufs Straßenpflaster <strong>und</strong> setzt sich<br />

in Latschen <strong>und</strong> leichtester Kleidung gemütlich<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 925


vor die unvergitterte <strong>und</strong> weit offen stehende<br />

Haustür. Zeit für <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Schwatz. Jeder, der<br />

gerade vorbeigeht, ist <strong>ein</strong>geladen. Man kennt<br />

sich. Uns, die Neugierigen, lernt man sogleich<br />

kennen. Und so endet unser Abendspaziergang<br />

vor irgend<strong>ein</strong>er Haustür beim gemütlichen <strong>und</strong><br />

oft überraschend interessanten Gespräch.<br />

Dabei hätte ich so gerne noch mehr Häuser<br />

ausspioniert! Die meisten haben, wie es früher<br />

üblich war, weder Fenstergitter noch<br />

Glasscheiben. Nachts werden die gähnenden<br />

Fensteröffnungen mit hölzernen Läden<br />

hermetisch verschlossen. Aber bis alle schlafen,<br />

steht alles, der Hitze wegen, noch lange<br />

sperrangelweit offen.<br />

Die Häuser sind direkt an die halbmeter<br />

schmalbrüstigen Bürgersteige gebaut. Die Fenster<br />

rahmen die unterschiedlichsten, immer eher<br />

spartanischen Varianten des Wohnens <strong>und</strong><br />

Einrichtens. Im Zentrum immer der Tag <strong>und</strong> Nacht<br />

laufende Fernseher. Eine Hängematte, <strong>ein</strong> Sofa<br />

<strong>und</strong> unzählige Familienfotos, drei Dutzend<br />

dekorativ hinter <strong>und</strong> neben<strong>ein</strong>ander aufgebaute<br />

Amateuraufnahmen, <strong>ein</strong> Rahmen kitschiger als<br />

der nächste, auf Regalen, Beistelltischen oder gar<br />

auf dem Kasten der Klimaanlage aufgebaut. Der<br />

ganze Clan ist abgebildet. Alle Lieben in allen<br />

Lebensphasen, vom Schulabschluss bis zur<br />

Hochzeit, gar als Erinnerungsfoto des<br />

Verblichenen, zum sieben Todestag, als<br />

Erinnerung an alle trauernden Hinterbliebenen<br />

verteilt. In <strong>ein</strong>igen Häusern sind auch die Wände<br />

mit <strong>Foto</strong>s geschmückt. Um sie zu betrachten, muss<br />

man den Kopf weit in den Nacken legen.<br />

Unser kl<strong>ein</strong>er R<strong>und</strong>gang, immer wieder<br />

unterbrochen, endet am Hafen. Der endlos<br />

zubetonierte, schattenlose Platz, tagsüber<br />

fest in den Händen der Aasgeier, die sich um die<br />

vielen Abfälle streiten, wird er abends zum lokalen<br />

Treffpunkt. Kinder haschen Seifenblasen, die <strong>ein</strong><br />

älterer Mann als Kostprobe aus s<strong>ein</strong>en überaus<br />

kreativ selbst gebastelten Speiern Probe bläst. Sie<br />

sind spottbillig. Unter den achtsamen Augen der<br />

Gesellschaft treffen die jungen Mädchen ihre<br />

ersten Verehrer. Die jüngere Schwester langweilt<br />

sich tödlich in der ihr zugedachten Rolle der<br />

Sittenwächterin. Sie hält die Kerze, wie man hier<br />

dazu sagt. Da drüben spendiert der Vater der<br />

Kl<strong>ein</strong>familie <strong>ein</strong> fruchtiges Eis. Quer über dem<br />

Platz walken die Matronen den letzten Klatsch<br />

durch.<br />

Die Gespräche bestätigen es. Alenquer ist das<br />

typische Beispiel <strong>ein</strong>er Stadt des „Gab´s-schonmal-hier“.<br />

Der Schlagfertigkeit <strong>und</strong> dem ironischen<br />

Witz <strong>ein</strong>es Ex-Einwohners entkommt hier nichts.<br />

Könnte man die Reihe der sich immer wieder<br />

erschöpfenden Wirtschaftszyklen besser beschreiben,<br />

die so typisch sind für den Amazonas? Auf<br />

den Mauern des bis heute be<strong>ein</strong>druckenden<br />

Schulgebäudes kann man lesen, wie wichtig man<br />

sich hier nahm <strong>und</strong> auch wie buchstabengläubig<br />

man ist. In jenen besseren Zeiten pinselte man:<br />

„Schule Fulgênio Simões, majestätischer Tempel<br />

des Wissens“ <strong>und</strong> gleich um die Ecke: „Du bist<br />

der Stolz unserer Generationen“.<br />

Die Generationen allerdings sind schon alle<br />

weggezogen. Hier in Alenquer gab es, es ist gar<br />

nicht so lange her, den blühenden Handel mit<br />

Paranüssen, dann mit Jutte oder später den der<br />

schwarzen Pfefferkörnern. Außerdem <strong>ein</strong>en sehr<br />

erfolgreichen Fußballklub, alles kaum mehr als<br />

<strong>ein</strong>e oder zwei Generationen her. Dann, in den<br />

80er Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, gab´s gar<br />

Goldgräber <strong>und</strong> jetzt sollen Edelst<strong>ein</strong>vorkommen<br />

entdeckt worden s<strong>ein</strong>. Bis deren Ausbeutung<br />

freigegeben wird, gammelt die Stadt unter<br />

schlimmster politischer Misswirtschaft in der<br />

tropischen Hitze vor sich hin. Die <strong>ein</strong>zige, die alle<br />

„Gabs-hier-schon-mal“ überlebt <strong>und</strong> wohl noch<br />

<strong>ein</strong>e Weile überleben wird.<br />

Die katholische Kirche allerdings hat ihre <strong>ein</strong>st<br />

unbestrittene Vormachtstellung längst gegen die<br />

wie Pilze aus dem feuchten Boden schießenden<br />

evangelischen Kirchen verloren. Sie sind die<br />

<strong>ein</strong>zigen, die hier noch neue Kirchen,<br />

Entschuldigung, Tempel hochziehen. Sie ziehen<br />

jene Gläubigen aus den hölzernen Häuschen an,<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 926


viele davon der jährlich wiederkommenden<br />

Hochwasser wegen, auf Pfählen erbaut, natürlich<br />

ohne die geringsten sanitären Einrichtungen <strong>und</strong><br />

mit illegal angezapfter Elektrizität. Jene unsichtbaren<br />

Massen, die zu viel zum Sterben, nämlich<br />

<strong>ein</strong>e „Bolsa-Família“ (minime, monatliche<br />

Geldzuweisungen der Regierung) haben, <strong>und</strong><br />

doch viel zu wenig zum Leben. Diejenigen, die,<br />

<strong>ein</strong>mal zum Evangelium bekehrt, Jesus in jeden<br />

zweiten Satz <strong>ein</strong>bauen <strong>und</strong> diejenigen wählen, die<br />

ihnen ihre monatlichen Almosen garantieren.<br />

Aber wie immer in Brasilien - es ist nie alles<br />

verloren. Schon ist <strong>ein</strong>er da, der es, nicht nur wie<br />

die Kirchen, besser macht. Oder wie es <strong>ein</strong><br />

brasilianisches Sprichwort ausdrückt: im Land der<br />

Blinden ist der Einäugige König. Überall wo es <strong>ein</strong><br />

Geschäft zu machen gibt, stoßen wir entweder<br />

auf Leute aus Ceará, Nordosten Brasiliens oder<br />

auf die blonden, hellhäutigen „Gauchos“ aus<br />

Südbrasilien, die so etwas Einfaches wie das<br />

Transportproblem gelöst haben: Das Schiff des<br />

Gauchos kostet etwas mehr als die altmodischen<br />

Riesensardinenbüchsen, die hier den<br />

Linienverkehr betreiben, macht die Fahrt aber<br />

statt in sieben nachtschlafenden St<strong>und</strong>en, Abfahrt<br />

um 21h00, Ankunft um 02h00 morgens!, in 2 ½<br />

St<strong>und</strong>en. So effizient, dass er gar als Einziger an<br />

den kilometerlangen Kais sogar so etwas wie <strong>ein</strong><br />

kl<strong>ein</strong>er Trailer hat, der Schiffspassagen verkauft!<br />

S<strong>ein</strong>e „Lancha“, <strong>ein</strong> flaches Boot, hat Klimaanlage<br />

<strong>und</strong> DVD, ultraweiche, nummerierte Sitze. Nur<br />

ich sch<strong>ein</strong>e mich daran zu stören, dass ich mir,<br />

ausgerechnet hier mitten im Amazonas, den<br />

Hollywoodfilm über den Millionär aus den<br />

indischen Slums r<strong>ein</strong>ziehen muss.<br />

Beim Abendessen schwelgen sie im „Gab´s-auchmal-hier!“<br />

<strong>und</strong> erzählen von <strong>ein</strong>em traditionellen<br />

Fest oder wohl eher Theaterspiel, mit dem<br />

Thema: „Zé Matuto trifft Matutuando, gerade<br />

auf Urlaub“. Zé Matuto ist der ungebildete<br />

Hinterwäldler, oft nicht mal des Schreibens<br />

mächtig, fast automatisch Caboclo, halb Indio,<br />

Nachfahre von schwarzen Sklaven oder<br />

Quilombolas, entflohenen Sklaven, <strong>und</strong> damit<br />

höchstens bauernschlau. Matutuando im Urlaub,<br />

der Sohn des Krämers, Arztes oder Rechtsanwaltes,<br />

des Bürgermeisters, damit gut<br />

ausgebildet, sicher schon als Jugendlicher im<br />

Gymnasium ins Internat gesteckt, weit weg, wohl<br />

in die Hauptstadt Belém, wo sich ihm, wie kann<br />

es anders s<strong>ein</strong>, die große Welt auftut, sich ihm zu<br />

Füßen legt.<br />

Jeder kann sich nun die lächerlichsten<br />

Situationen ausdenken, die Gespräche, die der<br />

Weltenbürger mit dem Hinterwäldler führt. Ein<br />

währschafter Bauernschwank! Ist das Theater<br />

schon Lende, so ist das Auswandern bis heute<br />

Realität. Die junge Besitzerin der Hafenbar<br />

jedenfalls will es zumindest bis Santarém<br />

schaffen, Tourismus studieren, <strong>ein</strong>e eigene<br />

Tourismusagentur haben. Die Gr<strong>und</strong>stücke,<br />

gleich vier, hat sie, zusammen mit ihrem Mann,<br />

<strong>ein</strong>em Gaucho, daselbst schon gekauft. Er wird<br />

wohl Soja pflanzen oder Reis, der Boden ist sehr<br />

fruchtbar. Wer kann es ihnen verargen, dass sie<br />

dieselben Träume haben wie alle anderen<br />

Brasilianer? Abends mal ins Shopping gehen<br />

wollen, sich <strong>ein</strong>en überteuerten Hamburger<br />

leisten. Träume, die sich hier im Amazonas<br />

höchst selten irgendwo im Nirgendwo realisieren<br />

lassen.<br />

Der Fisch? Hat, ohne industrialisierte<br />

Tomatensoße, w<strong>und</strong>erbar geschmeckt, genauso<br />

wie das lokale Eis. N<strong>ein</strong> nicht das vom „Xequemate“,<br />

vom „Schach Matt“, dessen Blechbüchsl<strong>ein</strong>-Verkaufsstand<br />

war noch nicht hochgeklappt.<br />

Galgenhumor zeigt sich überall, auch in anderen<br />

vieldeutig humoristischen Namen.<br />

Ach, noch <strong>ein</strong> Nachtrag: Falls Sie sich vor<br />

Fröschen oder Kröten ekeln, gehen Sie besser<br />

erst im Hotel zur Toilette. Hier in der Bar sitzt<br />

nämlich, sozusagen als Türwächter, <strong>ein</strong> Prachtsexemplar<br />

mittendrin in der Damentoilette. Falls<br />

Sie ihn nicht küssen wollen, wer weiß, ob er sich<br />

in <strong>ein</strong>en dunkelhäutigen, muskulösen<br />

Indioprinzen verwandelt?! sollten Sie sich aber<br />

auch unterstehen, ihm irgendetwas anzutun –<br />

noch sind zu viele der amazonischen Amphibien<br />

unbekannt, wissenschaftlich nicht erfasst, ganz<br />

<strong>ein</strong>fach unerforscht. Damit besteht die reale<br />

Chance, dass es sich bei diesem Exemplar hier<br />

um <strong>ein</strong>e lokale, noch unbekannte Gattung<br />

handelt. K<strong>ein</strong> Witz, aber noch <strong>ein</strong>e Facette der<br />

realen amazonischen Realitäten.<br />

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Obidos, die Kehle des Amazonas<br />

Das hinterste des amazonische Hinterland ist,<br />

noch, <strong>ein</strong>e andere Welt. Das bestätigt sich hier in<br />

Óbidos immer wieder. Ob es daran liegt, dass das<br />

propere Städtchen, eigentlich nur für s<strong>ein</strong>en<br />

Karneval berühmt, etwas mehr als <strong>ein</strong>tausend<br />

Kilometer von Belém entfernt, nur per Luft oder<br />

übers Wasser erreicht werden kann? Wie wäre´s<br />

mit <strong>ein</strong>em Lufttaxi? Der Flug soll atemberaubend<br />

s<strong>ein</strong>. Etwas weniger luxuriös ist die „Lancha“, <strong>ein</strong><br />

erst kürzlich in Betrieb genommenes schnelles<br />

Passagierboot. Die Reise von Santarém den<br />

Amazonas hoch dauert etwas drei St<strong>und</strong>en.<br />

Zum hiesigen, schlecht konservierten<br />

Kolonialstilcharme von Obidos gesellt sich <strong>ein</strong>e<br />

überraschende Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong><br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft. Sie passt zum ländlich<br />

besinnlichen Lebensstil, der nicht nur des Klimas<br />

wegen sozusagen auf der Straße vor m<strong>ein</strong>en<br />

Augen abspielt. Hier hat k<strong>ein</strong>er Angst vor der<br />

sonst allgegenwärtigen Kriminalität. Türen <strong>und</strong><br />

Fenster, Gartentore <strong>und</strong> Garagenportale stehen<br />

hier fast immer weit <strong>und</strong> <strong>ein</strong>ladend offen. Die<br />

allgegenwärtigen Schaukelstühle mit den<br />

Sitzlehnen <strong>und</strong> Sitzen aus Plastikschnüren sind<br />

immer besetzt. Abends setzt sich die ganze<br />

Nachbarschaft auf die Schwelle oder den<br />

Bürgersteig. Genießt die abendliche Frisch, den<br />

leisen Wind. Die jüngeren Semester laufen, im<br />

Sportdress natürlich, viele Male um den riesigen,<br />

baum- <strong>und</strong> schattenlosen Dorfplatz, der nun von<br />

hohen, extrastarken Straßenlaternen erleuchtet,<br />

zum kollektiven Rummel- <strong>und</strong> Fußballplatz wird.<br />

Auch der Dorfjugend ist der Platz <strong>ein</strong>e<br />

willkommene Alternative zu den Laptops, MTV<br />

<strong>und</strong> Handys. Genieße alles sozusagen aus der<br />

Vogelperspektive. Die Bar macht sich die<br />

ungewöhnliche Topografie zu Nutze.<br />

Und ungewöhnlich ist die Topografie hier in<br />

mehrfacher Hinsicht. Kurz vor dem Ende der Fahrt<br />

auf dem endlos breiten, endlos grauschlammigen,<br />

endlos verzweigten Meeren des Amazonas,<br />

schieben sich die nie mehr als strichartigen, kaum<br />

baumhohen, immer mehr oder wenig fernen Ufer<br />

des Stroms von beiden Seiten her in weit<br />

ausholendem Bogen immer näher zusammen.<br />

Türmen sich auf der rechten Seite gar zu <strong>ein</strong>em<br />

weithin sichtbaren Hügelchen auf: Es ist die Kehle<br />

oder auch die Schnalle des Amazonas, s<strong>ein</strong>e<br />

schmalste <strong>und</strong> tiefste Stelle. Sie ist „nur“ 1.890<br />

Meter breit <strong>und</strong> ungewöhnlich tief, nämlich um<br />

die 75 Meter.<br />

Ein strategisch hochinteressanter Punkt, der halbe<br />

Hügel wird von den Wassern umspielt. So haben<br />

sich hier die Portugiesen schon 1697<strong>ein</strong> Fort<br />

errichtet, das bald auch zur Missionsstation von<br />

Franziskanermönchen wurde. Später wurde dann,<br />

im Zug der von Marques de Pombal angeordneten<br />

„Verportugiesierung“ des Amazonas aus dem<br />

Indiodorf mit Missionsstation die Stadt Óbidos, in<br />

Hommage an die gleichnamige Stadt in Portugal.<br />

Auch Reste von Kolonialarchitektur, mehr oder<br />

weniger gut erhalten, gibt es hier. Öffentliche<br />

Bauten wie das Rathaus mit s<strong>ein</strong>en<br />

handbemalten Kacheln, blau auf weißem Gr<strong>und</strong>,<br />

die markanten Fenster- <strong>und</strong> Türrahmen gelb<br />

abgehoben. Óbidos ist das Zentrum <strong>ein</strong>es<br />

Bezirks, verfügt damit über verschiedene<br />

staatliche Dienstleistungen wie das Amtsgericht.<br />

Es ist ausgerechnet der hiesige Staatsanwalt, der<br />

mir das Innere des Rathauses zeigt. Gabelt mich<br />

fotografierend vor der Tür auf. Kommt wohl<br />

gerade, es ist vielleicht halb zehn Uhr morgens,<br />

zur Arbeit. Nimmt mich, gastfre<strong>und</strong>lich wie alle<br />

hier, am Arm <strong>und</strong> bittet mich, hochentzückt über<br />

m<strong>ein</strong> Interesse an s<strong>ein</strong>em Rathaus, <strong>ein</strong>fach<br />

her<strong>ein</strong>. Er führt mich, die Beamten grüßen etwas<br />

verblüfft, durch die leider schon ziemlich<br />

verfremdeten Räume.<br />

Eine Verschnaufpause im <strong>ein</strong>fachen Hotel. Unter<br />

dem strengen Blick des sicher schon<br />

verblichenen Hausherrn werfe ich in der guten<br />

Stube auf dem Buffet mit den Kristallgläsern<br />

<strong>ein</strong>en neugierigen Blick ins Gästebuch. Ein Arzt.<br />

Ach ja, da gab‘s doch <strong>ein</strong>en Aushang im Hafen.<br />

Später wird es auch lautstark vom Werbeauto<br />

verkündet, das endlos s<strong>ein</strong>e Reihen zieht: Doktor<br />

Reginaldo, Augenarzt, ist am 8. Juli im<br />

Brillengeschäft „Boa Vista“ – „Gute Sicht“. Da<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 938


nimmt er für R$ 40,00 computergestützte<br />

Untersuchungen vor. Auch <strong>ein</strong> Tierarzt, <strong>ein</strong> paar<br />

Professoren der Uni aus Santarém sind<br />

<strong>ein</strong>geschrieben. Bringen <strong>ein</strong>em Regierungsprogramm<br />

sei Dank, ihr Wissen <strong>und</strong> auch die<br />

Universitätsdiplome bis hierher. Es gilt, die<br />

Gr<strong>und</strong>schullehrer des vergessenen Hinterland zu<br />

bilden. Sie sollen etwas mehr als die<br />

obligatorischen neun Schuljahre weitergeben<br />

können. Normalerweise gehören auch Geologen<br />

<strong>und</strong> Ingenieure zu den Gästen. Hier wird nach<br />

Mineralien sondiert <strong>und</strong> es werden Wasserkraftwerke<br />

gebaut.<br />

Das Portrait, <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbar altmodische,<br />

handkolorierte Schwarz-Weiss-<strong>Foto</strong>grafie in<br />

ovalem Rahmen, fasziniert mich. Formeller Anzug,<br />

die für heutigen Geschmack wohl etwas zu breite<br />

Krawatte zieht überdeutlich nach rechts.<br />

Vielleicht hat sich aber auch nur der Rahmen<br />

etwas verschoben. Wozu wohl das kuriose<br />

Arrangement aus grobem Salz <strong>und</strong> Knoblauch<br />

gleich neben dem urkatholischen Segensspruch<br />

hier macht, wage ich die Witwe <strong>und</strong><br />

Hotelbesitzerin nicht zu fragen. Sie ist nie all<strong>ein</strong>.<br />

Drei andere Frauen in ihrem Alter leisten ihr<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> alle sch<strong>ein</strong>en sie immer überaus<br />

beschäftigt. Der Fernseher gibt den ganzen Tag<br />

s<strong>ein</strong>en Senf dazu. Es fehlt mir die Geduld,<br />

herauszuhören, ob es die immer präsente<br />

Fernsehanstalt Globo ist oder <strong>ein</strong>er der vielen<br />

evangelikalen Sender. Die Küche schließt ans<br />

Wohnzimmer an. Dunkel kann ich sie ahnen, wenn<br />

ich mir m<strong>ein</strong>en Zimmerschlüssel vom Holzbrett<br />

hole. Das Feuer im ursprünglichen Holzherd<br />

sch<strong>ein</strong>t nie auszugehen. Das Fenster gibt den Blick<br />

auf <strong>ein</strong>en betonierten Hinterhof frei. Da watscheln<br />

<strong>ein</strong> paar Hühner <strong>und</strong> Enten frei herum. Der<br />

nächste Feiertag, der Kochtopftod kommt<br />

bestimmt.<br />

Durchstreife, tropischer Hitze trotzend, die Stadt.<br />

Stoße eher zufällig auf die Reste des Forts.<br />

Kanonen von Krupp, aus denen, wie ich später<br />

nachlese, wohl nie <strong>ein</strong> Schuss abgefeuert wurde.<br />

Malerisch in <strong>ein</strong>e Mauer <strong>ein</strong>gelassen, liegen sie<br />

unter <strong>ein</strong>em Kreuz hoch über der Flussenge. Die<br />

Aussicht ist hier fast völlig zugewachsenen.<br />

Wieder unten am Hafen, da wo die Fische<br />

angeliefert werden <strong>und</strong> die Sonne besonders<br />

sticht, bew<strong>und</strong>ere ich das riesige, kopflose<br />

Pirarucufilét. Frisch <strong>ein</strong>gesalzen ist es hier lose<br />

über das Geländer gelegt, wo es um Trocknen<br />

ausgehängt ist. Draußen werden winzige Boote<br />

mit noch winzigeren Menschen von den endlosen<br />

Weiten der Wasser <strong>und</strong> der Bucht verschlungen.<br />

St<strong>und</strong>enlang sehe dem Treiben zu. Alles muss per<br />

Schiff hierher gebracht werden. Erinnere mich an<br />

<strong>ein</strong>e riesige Ladung, sicher h<strong>und</strong>ert Besen, die<br />

Besenstiele getrennt, fertig zum Verladen. Das<br />

Linienboot wartet geduldig. Noch mehr<br />

verschweißte Sechserpackungen Erfrischungs-<br />

getränke quellen ihm aus dem Bauch. Türmen<br />

sich auf dem brütenden Kai. Auch hier will<br />

k<strong>ein</strong>er auf Guaraná oder Coca-Cola verzichten.<br />

Weiter vorne rollen, pling, pling, über <strong>ein</strong>e Art<br />

Hühnersteig riesige leere Gaspatronen, die hier<br />

überall zum Kochen verwendet werden, vom<br />

Lastwagen. Pling, Metall schlägt auf Metall.<br />

Schon rollen sie direkt in den Schiffsbauch.<br />

Formen riesige blaue Türme. Zwei Männer<br />

tragen <strong>ein</strong> Maschinenungetüm, dazu haben sie<br />

die Maschine fest an <strong>ein</strong>en langen, armdicken<br />

Pfahl gezurrt, den sie sich nun über die Schultern<br />

legen, in den Schiffsbauch. Leise <strong>und</strong><br />

tonnenschwer schwingt das Ungetüm zwischen<br />

ihnen hin <strong>und</strong> her. Die Adern an den Schläfen<br />

schwellen <strong>und</strong> der Schweiß rinnt. Gelangweilte<br />

Passagiere auf Durchreise sehen ihnen vom<br />

ersten Deck aus ihren Hängematten zu. Dann<br />

werden Säcke <strong>und</strong> noch mehr Säcke mit<br />

Paranüssen angeliefert. Im Gegenlicht der<br />

Abendsonne buckelt <strong>ein</strong>e Handvoll Arbeiter Sack<br />

für Sack aus dem Schiffsbauch, reichen sie hoch<br />

auf den Lastwagen. Der Turm wird hoch <strong>und</strong><br />

höher. Als sie fertig sind, schwingen sie sich hoch<br />

auf den Berg, posieren gröhlend <strong>und</strong> lachen für<br />

<strong>ein</strong> <strong>Foto</strong> <strong>und</strong> fahren zum Schluss alle davon in die<br />

<strong>ein</strong>fallende Nacht hin<strong>ein</strong>.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 939


<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 940


Drachen fliegen lassen<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 941


Pro forma oder “Para Inglês ver”<br />

Das Haus sch<strong>ein</strong>t mir <strong>ein</strong>s wie andere auch,<br />

mitten in der eher schlecht erhaltenen Altstadt.<br />

Man lost mich durch <strong>ein</strong>e Tür. Fast falle ich die<br />

paar Stufen runter, direkt in den r<strong>und</strong>um<br />

überdeckten Hof. Er ist zugepflastert <strong>und</strong> verbaut.<br />

Rechterhand gibt es <strong>ein</strong>e riesige, offene<br />

Freiluftküche. Eine großzügige Spüle, übers Eck<br />

<strong>ein</strong> enormer Kochherd mit mindestens sechs<br />

Gasbrennern. Gleich anschließend, von <strong>ein</strong>er<br />

niederen Mauer abgetrennt, <strong>ein</strong> massiver Tisch<br />

mit buntem Wachstuch. In offenen Regalen<br />

riesige Töpfe, in überraschenden Dimensionen,<br />

alle aus blitzblank geriebenem Aluminium. In<br />

solchen Pfannen kann man nur mit sehr viel Fett<br />

oder Flüssigkeit kochen, sonst brennt ganz schnell<br />

alles an.<br />

Emsiges Treiben. Gleich zwei Empregadas<br />

schneiden, rühren, brühen das Mittagessen. Es<br />

gibt leckeren Reis mit Ente, es schwimmen gleich<br />

mehrere davon im dunklen Sud, <strong>und</strong> gegrillten<br />

Pirarucu. Ein <strong>ein</strong>ziges, riesiges, grätenloses<br />

Fischfilet zischt <strong>und</strong> singt schon länger über der<br />

rot glühenden Glut <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>fachen Holzofengrills,<br />

linkerhand, gleich unter der Stange des<br />

w<strong>und</strong>erschön roten Papageis. Der überwacht alles<br />

mit argwöhnischem r<strong>und</strong>kugligem Blick, die<br />

Pupille steif. Fremde mag er gar nicht. Der Blick<br />

der Gastgeberin ist genauso aufmerksam, aber<br />

weniger streng. Die Jahre haben sie weicher<br />

gemacht. Sie rührt k<strong>ein</strong>en Finger, hier lässt man<br />

kochen, verfolgt das ganze Kochprozedere aber<br />

ganz genau. Auch ihre Tochter gibt Anweisungen.<br />

Vor der habe sie, gesteht mir ihre Mutter später<br />

im Geheimen, ganz viel Respekt. Die sei doch<br />

Bankfilialleiterin der brasilianischen Staatsbank<br />

gewesen, da in Rio de Janeiro, bevor sie sich mit<br />

kaum Fünfzig <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er ausgezeichneten Rente zur<br />

Ruhe setzte, <strong>und</strong> jetzt halb im Amazonas <strong>und</strong> halb<br />

in Rio lebt.<br />

Angezogen von den Kochdüften tauchen immer<br />

mehr Leute auf. Kommen durch die Tür, ganz ohne<br />

anzuklopfen <strong>und</strong> auch aus anderen Zimmern. Klar,<br />

jemand muss die Riesenportionen ja verspeisen!<br />

Die Tochter ist federführend, ist hier <strong>und</strong> heute im<br />

Haus ihrer Mutter so energisch <strong>und</strong> durchsetzungswillig<br />

wie immer. Revanchiert sich hinter<br />

deren Rücken, indem sie mir ihrerseits<br />

Geheimnisse erzählt. Ihre Mutter leide an<br />

Diabetes, sollte deshalb auf verschiedene Dinge<br />

verzichten. Aber da habe sie sie doch kürzlich<br />

dabei erwischt, wie sie ganz <strong>ein</strong>fach im<br />

Margarineschächtelchen die grausliche Margarine<br />

zur Seite geschoben habe! Das entstandene Loch<br />

füllte sie dann mit w<strong>und</strong>erbar hausgemachter<br />

Butter auf! Hier nennt man das So-Tun-Als-Ob,<br />

“Fazer para Inglês ver”, soviel wie machen, damit<br />

es vor den Engländern durchgeht.<br />

Sie habe nie geheiratet, eher ungewöhnlich, was<br />

sie aber nicht zu stören sch<strong>ein</strong>t. Flößt mit ihren<br />

klaren, modern Ansichten nicht nur der Mutter,<br />

sondern auch der ganzen Tischr<strong>und</strong>e, unter<br />

anderem <strong>ein</strong> Ex-Kultursekretär der Stadt <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Kandidat für das Bürgermeisteramt, Respekt <strong>ein</strong>.<br />

Die zwei Empregadas haben deutlich indigene<br />

Züge, wie übrigens auch der Ex-Kultursekretär,<br />

dessen Che Guevara-T-Shirt <strong>und</strong> schulterlangen<br />

Locken auf <strong>ein</strong>en späten, amazonischen 68-er<br />

schließen lassen. S<strong>ein</strong> Diskurs, genauso wie der<br />

Diskurs des Kandidaten, ist total lokaltypisch.<br />

W<strong>und</strong>erschöne Worte, die ewig nostalgisch die<br />

gute alte Zeiten heraufbeschwören. Projekte, die<br />

so gigantisch sind wie der Amazons selber, sich<br />

schon deshalb selber annullieren.<br />

Beim zweiten Besuch wird mir endlich klar, wieso<br />

mich der Taxifahrer gleich beim Nennen der<br />

Adresse um Grade respektvoller behandelte.<br />

Heute lotst man mich nämlich durch die<br />

Vordertür! Oder besser, durchs Schreibzimmer<br />

des hiesigen “Cartórios”. Dem “Cartório” kommt<br />

in jeder brasilianischen Stadt <strong>ein</strong>e Schlüsselstellung<br />

zu. Hier werden Dokumente beglaubigt,<br />

Geburten, standesamtliche Hochzeit <strong>und</strong><br />

Todesfälle offiziell registriert, Hauskäufe <strong>und</strong><br />

Verkäufe <strong>und</strong> Vollmachten <strong>und</strong> Testamente<br />

beglaubigt <strong>und</strong> hinterlegt. Alles natürlich gegen<br />

entsprechende Gebühr. Traditionellerweise wird<br />

die Pfründe “Cartório” <strong>ein</strong>er Privatperson<br />

übergeben. Es ist <strong>ein</strong> Geschäft, dessen Besitzer<br />

damit <strong>ein</strong> sozusagen staatlich garantiertes<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 942


Einkommen hat. M<strong>ein</strong>e Gastgeberin, die ältere<br />

Lady <strong>und</strong> ihre Familie sind also Besitzerin des<br />

wohl wichtigsten Organs der Stadt!<br />

Versuche mit nichts anmerken zu lassen. Zutritt<br />

für Unbefugte untersagt, kostet es mich <strong>ein</strong>ige<br />

Überwindung, die Schranke des Cartóriotresen zu<br />

ignorieren. Quetsche mich an zwei wartenden<br />

Einheimischen im Sonntagsstaat vorbei. Sie sitzen<br />

ganz gerade <strong>und</strong> unbequem auf zwei schmalen<br />

Bänkchen. Halten ihre Identitätskarten <strong>und</strong><br />

andere kostbare Dokumente steif vor sich hin.<br />

Upps, nun fre<strong>und</strong>lich nickend an den Angestellten<br />

vorbei. Der nicht so tiefe Raum ist mit Akten <strong>und</strong><br />

Papieren vollgestopft. Die eleganten Bildschirme<br />

der hochmodernen Computer stechen wie<br />

exotische Exemplare aus dem etwas improvisierten<br />

Schreibstubenmief heraus. Vermeide die<br />

scharfen Ecken zweier kl<strong>ein</strong>er Schreibtische <strong>und</strong><br />

schiebe mich durch den schmalen Durchgang.<br />

Folge den anderen hinter <strong>ein</strong>en alten Schrank, der<br />

rechts so an die Wand gestellt ist, dass er <strong>ein</strong>en<br />

schmalen Gang freilässt. Hinter dem Schrank <strong>ein</strong>e<br />

Tür, die mich direkt <strong>und</strong> übergangslos mitten in<br />

die Vorzeige-Gute-Stube der alten Dame führt.<br />

Die selten benutzten Möbel wirken zeremoniell,<br />

das Holz dunkel, fast Schwarz. Schon winken sie<br />

mich wieder hinaus. Ach, da ist er ja wieder, der<br />

zementierte, halb überdachte Hof!<br />

Auch heute ist der Tisch schon gedeckt. Auf<br />

blumigbuntem Tischtuch liegen die obligaten<br />

Glasteller, durchsch<strong>ein</strong>end bräunlichgelb, verkehrt<br />

herum, der Rand exakt über <strong>ein</strong>fache, blecherne<br />

Messer <strong>und</strong> Gabeln gelegt – der launische Wind<br />

könnte ja irgendwelchen Schmutz hin<strong>ein</strong>blasen.<br />

Sie werden nur vor dem Herausschöpfen<br />

umgedreht. Auch diesmal reagiert der Papagei<br />

ungelassen. Als Trost füllt ihm die <strong>ein</strong>e Köchin die<br />

Blechdose mit Paranüssen. Die knackt er <strong>ein</strong>e<br />

hinter der anderen mit lautem Knall auf. Wieder<br />

trödeln so nach <strong>und</strong> nach die unterschiedlichsten<br />

Leute <strong>ein</strong>. Heute gibt es Acarí, <strong>ein</strong> schuppengepanzerter<br />

Urfisch, in zwei Variationen<br />

aufgetischt, <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>gesuppt, <strong>ein</strong>mal gegrillt.<br />

Dazu Reis <strong>und</strong> wieder weder Gemüse noch Salat.<br />

K<strong>ein</strong>er hier ist <strong>ein</strong>e Schildkröte, die sowas frisst,<br />

wie man hier spöttisch sagt.<br />

Die Fische wurden schon vor dem Kochen<br />

zweigeteilt. Der Kopf des Fisches mit dem<br />

stumpfschwarzer Panzer besteht aus <strong>ein</strong>er<br />

<strong>ein</strong>zigen abger<strong>und</strong>eten, unten flachen<br />

Knochenplatte <strong>und</strong> hat zwei kreisr<strong>und</strong>e Augen<strong>und</strong><br />

Nasenhöhlen, tief <strong>ein</strong>gelassen. Das Maul des<br />

Fisches findet man erst, wenn man den Kopf<br />

umdreht. Fre<strong>und</strong>lich erklärt mir m<strong>ein</strong><br />

Tischnachbar, dass der Schuppenpanzer des<br />

Fisches am besten runter geht, wenn man <strong>ein</strong>en<br />

Löffel darunterschiebt <strong>und</strong> das schwarze Ding<br />

damit gleich am Stück loslöst. Das freigelegte<br />

Fischfleisch, dunkelrosa, schmeckt w<strong>und</strong>erbar. Das<br />

Auslöffeln <strong>und</strong> Aussagen des flach gepressten<br />

Fischkopf, er soll <strong>ein</strong>e absolute Delikatesse s<strong>ein</strong>,<br />

allerdings überlasse ich den anderen.<br />

Als Nachspeise gibt es heute Açaí, toll, mit oder<br />

ohne Zucker, Tapioca oder gar ganz altmodisch<br />

mit Farinha. Das ist nicht so exotisch wie die<br />

Bohne von gestern, Ingá, von deren Kerne ich das<br />

weiße, angenehm süßliche Fruchtfleisch<br />

herunter nagte. Es gelingt mir erst, als mir<br />

jemand erklärt, dass es besser geht, wenn man<br />

es vorher mit dem Messer <strong>ein</strong>schneidet.<br />

Wieder schweifen die Gespräche weit, holen aus,<br />

hochpolitisch. Lösen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen kühnen<br />

Schlag, gleich hier am Tisch, wie an vielen<br />

Stammtischen, all die Probleme Brasiliens.<br />

Vergessen auch die kl<strong>ein</strong>en Nebenhiebe zu den<br />

lokalen Politikern nicht.<br />

Sitze mit <strong>ein</strong>em Dinosaurier zu Tisch. Ein<br />

Dinosaurier, der sich seit 50, vielleicht gar 100<br />

Jahren fast nicht verändert hat <strong>und</strong> bis heute<br />

erfolgreich widersteht. Eine weiße Elite, die alle<br />

Fäden <strong>und</strong> Schlüsselstellungen fest in den<br />

Händen hält, Empregadas, deren Hautfarbe zwar<br />

auch getönt ist, aber nicht von schwarzem,<br />

sondern von Indioblut, stehen für jenes<br />

amazonische Hinterland, das schon immer so war<br />

<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Weile so bleiben wird.<br />

Gerade mischt <strong>ein</strong>e neue politische Bewegung<br />

die Karten auf. Ein Volksreferendum soll nämlich<br />

darüber urteilen, ob man den Riesenstaat Pará in<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 943


drei Staaten teilen soll. Für die hiesigen Politiker<br />

<strong>ein</strong> riesiges Geschäft! Das würde den ganzen<br />

lukrativen Staatsapparat <strong>ein</strong>fach verdreifachen.<br />

Alle sind alle dafür. Tapajós já! Tapajós gleich<br />

jetzt. Endlich würde dann das Zentrum, heute<br />

Belém, die Hauptstadt <strong>und</strong> damit auch das so heiß<br />

ersehnte Geld des brasilianischen Staates<br />

näherrücken. Dass zwei der drei neuen Staaten<br />

schon defizitär zur Welt kommen würden, sch<strong>ein</strong>t<br />

hier k<strong>ein</strong>en zu kümmern. Was wirklich interessiert<br />

ist das große Geld aus Brasília. Die lokalen<br />

Politiker reiben sich schon alle Hände.<br />

Das Referendum wird allerdings abgelehnt. Die<br />

Städte Obidos <strong>und</strong> Santarém reagieren mit drei<br />

Tagen offiziell dekretierter Staatstrauer.<br />

Und so bleibt alles, wie es immer war. Eine weiße<br />

Elite, die alle Fäden fest in den Händen hält mit<br />

Hausangestellten, deren Hautfarbe das indigene<br />

Blut nicht verleugnet. Und so werden sie weiter,<br />

im Kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> im Großen so vieles machen “para<br />

Ingles ver*”, nur so zum Sch<strong>ein</strong>, nur in der<br />

Rhetorik wegen.<br />

*Das Wortbild, der Ausdruck “para inglês ver”<br />

bedeutet, dass man etwas nur zum Sch<strong>ein</strong>, ohne<br />

Konsequenzen macht. Es entstand wohl, weil<br />

England zur Zeit des Imperiums großen Druck auf<br />

Brasilien ausübte, dem Sklavenhandel <strong>ein</strong> Ende zu<br />

setzten. Brasilien unternahm darauf <strong>ein</strong> paar<br />

falsche Anstrengungen, um dem Druck<br />

stattzugeben.<br />

die<br />

Energien<br />

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Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen<br />

Einen <strong>ein</strong>zigen Engel mache ich auf der Prozession<br />

aus. Später, auf halbem Weg kommt noch <strong>ein</strong><br />

zweites Engelkind, <strong>ein</strong> Mädchen, dazu. Der erste<br />

Engel, <strong>ein</strong> Junge, verheddert sich immer wieder in<br />

s<strong>ein</strong>em stahlblauen Satinkleid. Es ist ihm etwas zu<br />

groß, die Ärmelabschlüsse aus passend blau<br />

<strong>ein</strong>gefärbten Schwanenfedern fallen ihm flaumig<br />

weit übers Handgelenk. Hoch über dem kl<strong>ein</strong>en,<br />

ernsten Gesicht ruht <strong>ein</strong> Kranz mit blauen,<br />

aufgesteckten Rosen. Die breite Schärpe hat man<br />

ihm unters Kinderbäuchchen geb<strong>und</strong>en. Auf dem<br />

Rücken trägt er engelgleich zwei blautransparente<br />

Flügel. Das Engelmädchen ist identisch<br />

kostümiert, allerdings in starkem Pink, das sich<br />

vorteilhaft gegen s<strong>ein</strong>en gebräunten T<strong>ein</strong>t<br />

abhebt. Kinderengelchen lösen <strong>ein</strong> Versprechen<br />

<strong>ein</strong>. Die hochverehrte Sant´Ana, die Mutter<br />

Mariens, hat die Führbitten erhöhrt <strong>und</strong> es wird<br />

ihr nun so vergolten.<br />

Das Fest für Sant´Ana, hier hoch verehrt, dauert<br />

16 Tage, findet immer am 2. Sonntag im Juli statt.<br />

Es beginnt mit <strong>ein</strong>em aufwendigen Círio, <strong>ein</strong>e<br />

Prozession, an dem die ganze Stadt teilnimmt<br />

<strong>ein</strong>e Bestätigung des sozialen <strong>und</strong> hierarchischen<br />

Statuses der Menschen in der lokalen<br />

Gesellschaft. Wenige sehen darin den Reflex <strong>ein</strong>es<br />

Modells, das seit der Kolonisation unverändert<br />

übernommen wurde <strong>und</strong> bis heute kaum<br />

hinterfragt wird. Besonders hier im hintersten<br />

Hinterland.<br />

Während des ganzen Festes gibt es jeden Abend<br />

<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Prozession. Dabei wird die Statue der<br />

Heiligen jeden Abend von <strong>ein</strong>em anderen Stadtteil<br />

feierlich bis zur Kirche getragen, <strong>ein</strong> festlicher Zug,<br />

mit viel laut explodierendem Feuerwerke <strong>und</strong><br />

intensive Teilnahme der lokalen Bevölkerung. Die<br />

Prozession, die ich heute mitmachen werde,<br />

beginnt weit draußen. Da wo der Asphalt, lies<br />

Fortschritt, noch nicht angekommen ist. Das<br />

Kirchl<strong>ein</strong> ist schmalbrüstig, hat aber <strong>ein</strong>e<br />

w<strong>und</strong>erschöne Kirchenglocke, eher selten hier in<br />

Brasilien.<br />

Langsam fällt die Nacht her<strong>ein</strong>. Die Hitze des Tages<br />

hat noch k<strong>ein</strong> Grad nachgelassen. Bedächtig formt<br />

sich der kl<strong>ein</strong>e Zug. Eine Vorsängerin stimmt <strong>ein</strong>es<br />

der Ave Marias an, unterbrochen von Rosenkranzgebeten<br />

<strong>und</strong> religiösen Gesängen. Alles stoppt,<br />

wenn die Heilige vorbeizieht. Respektvoll hält der<br />

spärliche Verkehr. Auch der Engeljunge geht mit.<br />

Schaut dem ganzen Treiben etwas scheu zu.<br />

Später lese ich das aufwendig gedruckte<br />

Festprogramm. Da steht nicht nur, wer für die<br />

diesjährigen Feierlichkeiten wie viel Geld<br />

gespendet hat. Oder vielleicht <strong>ein</strong>en der vielen<br />

Bingopreise, der Hauptpreis gar <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>stück,<br />

oder die Trophäen der Versteigerung. Auch die<br />

hiesige winzige Heiligenfigur ist sehr aktiv im Geld<br />

sammeln. Vor dem Fest reist sie bis nach Manaus<br />

<strong>und</strong> Belém, wo sie die Häuser von Ex-Anwohnern,<br />

Ex-Obidensen besucht. K<strong>ein</strong>er lässt es sich<br />

nehmen, etwas zu spendieren, vom Sandwichgrill<br />

bis zum Rührgerät.<br />

Wie alle amazonisch-katholischen Feste hat auch<br />

dieses Fest s<strong>ein</strong>e urpopuläre Seite. Es ist <strong>ein</strong><br />

wirkliches Volksfest, an dem die ganze Stadt<br />

teilnimmt, zum Beispiel mit freiwilliger<br />

Fronarbeit oder <strong>ein</strong>er spendierten Nachspeise.<br />

Die werden zugunsten der Festkasse im<br />

“Clipper”, dem städtischen Festsaal verkauft. In<br />

die selbe Kasse kommt auch der Erlös der<br />

tagtäglich stattfindenden Versteigerung. Heute<br />

kann man <strong>ein</strong> gegrilltes Spanferkel, <strong>ein</strong>e<br />

Heiligenfigur, <strong>ein</strong>e Hängematte <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Set<br />

Glasdosen gewinnen. Ganz klar, dass die Preise<br />

symbolische Höhen erreichen, denn die Bieter<br />

wollen nicht nur sich selber, sondern auch die<br />

Stadt mit ihrer Finanzkraft be<strong>ein</strong>drucken. Noch<br />

großzügiger gehe es bei der Viehversteigerung<br />

zu. Da habe sich mancher in <strong>ein</strong>en größenwahnsinnigen<br />

Eifer hin<strong>ein</strong>gesteigert, den die Kuh dann<br />

am nächsten Tag nicht mehr wert war. Aber was<br />

soll´s. Der Stolz <strong>und</strong> der Ruhm bleiben <strong>und</strong> es ist<br />

alles für <strong>ein</strong>en guten Zweck, die Kirche natürlich<br />

<strong>und</strong> SantÁna. Dass alles unter Kontrolle bleibt,<br />

zeigt die Geschichte mit der kl<strong>ein</strong>en Festkönigin.<br />

Dafür wurde nicht das schönste Mädchen, wie es<br />

eigentlich angesagt <strong>und</strong> erwartet war, gewählt,<br />

sondern die Tochter dessen, der am meisten<br />

Geld spendete. Ländliche Dorffeste sind wohl auf<br />

der ganzen Welt gleich.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 946


Noch gehen wir. Jedes Fest der Heiligen steht<br />

unter <strong>ein</strong>em Motto. Dieses Jahr ist es die<br />

Ökologie. Man habe für den Círio nicht wie sonst<br />

Petflaschen mit Kerzen auf dem nächtlichen Fluss<br />

freigesetzt, sondern alles aus natürlichen<br />

Materialien hergestellt. Klar - die heutige<br />

Prozession hat das Motto: Der liebevolle Umgang<br />

mit Flüssen <strong>und</strong> Seen. Die Heiligenfigur wird auf<br />

<strong>ein</strong>em mit vielen Blumen dekorierten Wagen<br />

mitgeführt. Ein paar Kinder tragen <strong>ein</strong>e Tafel mit<br />

oben erwähnten Motto. Noch <strong>ein</strong> paar<br />

Ministranten hergerichtet <strong>und</strong> schon formt sich<br />

der Zug. Er besteht zur Mehrzahl aus Frauen.<br />

Manche tragen <strong>ein</strong>e Kerze in den Händen, <strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>en Korb mit <strong>ein</strong>er Heiligenfigur. Schon fällt die<br />

Sonne hinter den Horizont <strong>und</strong> wir setzen uns in<br />

Bewegung. An Zuschauern, die stille stehen <strong>und</strong><br />

dem Zug nachsehen fehlt es nicht.<br />

Die Straße vor der Kirche ist wie die ersten paar,<br />

die wir begehen, zwar sehr breit aber staubig. Die<br />

bräunliche Erde ist längst festgetreten <strong>und</strong> –<br />

gefahren, aber der Staub, f<strong>ein</strong> wie Mehl, ist<br />

überall, sicher auch in allen Ritzen der <strong>ein</strong>fachen<br />

Holzhäuser, die die Straße säumen. Dazwischen<br />

immer wieder <strong>ein</strong> simples Verkaufslokal, alles,<br />

was es zu kaufen gibt, auf vielen Regalbrettern<br />

ausgestellt. Daneben immer wieder <strong>ein</strong>e Bar,<br />

auch sie improvisiert, ewig gleich, alle verkaufen<br />

die selbe Marke Bier.<br />

Der Fußmarsch dauert, erklimmt <strong>ein</strong>ige<br />

Steigungen. Dann erreichen wir die <strong>ein</strong>fachen<br />

Gassen des Dorfkerns. Als wir die zentrale Kirche<br />

betreten, ist sie rappelvoll. Lieblos auf modern<br />

restauriert, oder wie es <strong>ein</strong> Hiesiger ausdrückt: Der<br />

damalige Bischof verstand die Erneuerung der<br />

Kirche vor allem auch ganz praktisch <strong>und</strong> konkret.<br />

Die Predigt ist schön. Wie erholsam, endlich mal<br />

wieder <strong>ein</strong>e traditionelle, normale Ansprache ohne<br />

Heuchelei, Firlefanz, falsch klingender Gitarrenbegleitung<br />

<strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>heiliger Beteiligung der<br />

Gem<strong>ein</strong>de zu sehen. Fühle mich vom Glauben der<br />

Leute mitgetragen, echter Glauben, der ganz von<br />

Innen kommt.<br />

Tribut an die Kirche <strong>und</strong> die Heilige gezollt, nun<br />

geht es schräg über dem Kirchenplatz, zum<br />

Clipper. Die Attraktionen, nicht nur das Essen, sind<br />

alle hausgemacht, oder besser lokal, sind eher<br />

schwach. Auch mit der live Übertragung auf <strong>ein</strong>en<br />

riesigen Bildschirm werden sie nicht besser. Die<br />

lokale Kinderballettschule, ich habe ihnen heute<br />

beim Training auf dem freien Platz zugesehen, tritt<br />

nicht auf, dafür aber <strong>ein</strong> ziemlich missgestimmtes<br />

Jugendorchester. Da war ja die Blaskapelle, die<br />

heute im Freien marschieren <strong>und</strong> blasen trainiert<br />

hat, noch besser.<br />

Was soll´s. Bald schon kommt die Versteigerung<br />

<strong>und</strong> das Bingo. Zudem haben dann die meisten<br />

schon <strong>ein</strong> paar Biere getrunken <strong>und</strong> so steht der<br />

gehobenen Stimmung, Stant´Ana sei Dank, gar<br />

nichts mehr im Wege. Ach, wer denn heute die<br />

Nachspeise gespendet habe? Ja, die seien sicher<br />

gut. Bringen Sie doch mal drei Portionen davon.<br />

Unterdessen ist die ganze Familie <strong>ein</strong>getrudelt.<br />

Auch die immer etwas sauertöpfische<br />

Hausangestellte ist mit dabei. Merke, dass sich<br />

alle nicht nur geduscht <strong>und</strong> die Haare gewaschen<br />

haben, sondern auch in Schale gestürzt. K<strong>ein</strong>e<br />

enganliegenden Shorts <strong>und</strong> winzige Blüschen. Ein<br />

schickes Kleid auch für die Hausangestellte, die<br />

darin w<strong>und</strong>erhübsch aussieht mit ihren so<br />

ausgeprägten indigenen Zügen. Nun fehlt nichts<br />

mehr, damit <strong>ein</strong> ganz normaler Mittwochabend<br />

zum Fest wird, zum Fest Sant’Anas natürlich.<br />

*Sant’Ana, die Mutter Marias, wird in Brasilien<br />

normalerweise mit <strong>ein</strong>em Buch <strong>und</strong> in Begleitung<br />

des Kindes Maria dargestellt. Ihr ins Buch<br />

gestreckte Zeigefinger zeigt, dass sie gerade<br />

dabei ist, Maria das Lesen zu lehren.<br />

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Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland<br />

Eigentlich hat mich der Friedhof hierher gebracht.<br />

Habe ihn von hoch oben erblickt. Das Ufer, <strong>ein</strong><br />

paar Baumreihen, er zieht mich magisch an. Nun<br />

schaukle ich leise im ausgeliehenen Stuhl hin <strong>und</strong><br />

her. Der Stuhl ist nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />

Eisenstangengerüst mit f<strong>ein</strong>en Plastikschnüren<br />

überzogen, tropenklimatauglich, von so<br />

zweifelhaftem wie populärem Design. Das<br />

hochstelzige Holzhaus ist giftgrün gestrichen.<br />

Stelzen <strong>und</strong> markante Längsrippen strahlen weiß.<br />

Traditionelle, bewährte Architektur – der Wind,<br />

der unter den Stelzen durch bläst, hält das Haus<br />

kühl. Geschickt fährt die Hand m<strong>ein</strong>es Gastgebers<br />

fort, s<strong>ein</strong>e malerisch ausgehängten Netze zu<br />

flicken. S<strong>ein</strong> Arbeitspartner ist wortkarger.<br />

Eigentlich wollte ich nur <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>. Aber den extra<br />

für mich hergeschafften Stuhl, vorsorglich in den<br />

Schatten <strong>ein</strong>es Mangobaumes gestellt, kann ich<br />

nicht zurückweisen. Und das sich entspannende<br />

Gespräch ist so unerwartet wie interessant.<br />

Die unschuldige Frage, ganz zu Anfang des<br />

Gesprächs <strong>ein</strong>geflossen, verrät s<strong>ein</strong> Weltbild.<br />

Schickt ihr sogleich <strong>und</strong> vorsorglich die<br />

fre<strong>und</strong>liche Zusicherung hinterher, dass er mich<br />

trotz m<strong>ein</strong>es Akzentes bestens verstehe. - Kommt<br />

die Senhora vielleicht aus Portugal? – N<strong>ein</strong>?<br />

Mache wenig Anstalten, ihm den absolut<br />

nebensächlichen Unterschied zwischen der<br />

Schweiz <strong>und</strong> Schweden zu erklären. Das Gespräch<br />

fließt ganz natürlich. Er zeigt sich weltoffen, hat<br />

etwas zu sagen. Das hinterwäldlerische<br />

Misstrauen, die offensichtlich trennenden<br />

Klassenunterschiede <strong>und</strong> –schranken, die<br />

überlässt er s<strong>ein</strong>em Kollegen, der kaum <strong>ein</strong> Wort<br />

beiträgt.<br />

Frage ihn zum Schluss nach dem jüdischen<br />

Friedhof. Er ist durch <strong>ein</strong>en goldenen Davidstern<br />

kenntlich gemacht. Es ist der Erste, den ich hier im<br />

Norden finde. Die Gräber sind der Tradition<br />

entsprechend schmucklos. Später erfahre ich, dass<br />

es manch <strong>ein</strong>en Juden ins amazonische Hinterland<br />

verschlagen hat. Auf der anderen Straßenseite<br />

liegen die Katholischen begraben. Hier sind die<br />

Gräber deutlich prächtiger.<br />

Gehe m<strong>ein</strong>er Wege. Hinterlandcharme pur.<br />

Wieder am Hafen, die Sonne wird gleich hinter<br />

den Horizont fallen, holt sich die Frau Kapitän<br />

gerade etwas Koriander fürs Abendessen vom<br />

schwimmenden Dachkräutergarten. Es fehlt nur,<br />

dass der Hausherr zum Essen auf die wippenden<br />

Planken bittet. Er wiegt sich leise auf Deck, den<br />

Bierbauch entblößt. Weiter vorne streiten zwei<br />

junge Hähne bitterböse um Territorium. Zwei<br />

clevere Jungen verkaufen aus <strong>ein</strong>er Schubkarre<br />

Bananen. Eigentlich wollten sie erst nach Hause<br />

gehen, wenn sie alle verkauft haben. In der<br />

Zwischenzeit fährt der <strong>ein</strong>e den anderen statt der<br />

Bananen in der Schubkarre spazieren. Auf dem<br />

Polizeiposten schäkert der uniformierte Polizist<br />

heftig mit <strong>ein</strong> paar weiblichen, leicht bekleideten<br />

Verehrerinnen. Ob es sich gar um Angehörige<br />

der Insassen des voll gepferchten Gefängnisses<br />

handelt? Nur ihre Arme sind sichtbar. Die<br />

Gesichter unkenntlich hinter den Gittern. Der<br />

Gesprächston ist locker flockig. Auch sie nehmen<br />

teil am friedlich launigen Hinterwäldlerplausch.<br />

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Marajó<br />

Der kl<strong>ein</strong>e Junge, der da soeben vorbei trabte, der<br />

ritt <strong>ein</strong>en Büffel! Einen Wasserbüffel! Auf den<br />

Rücken des riesigen schwarzen Ungetüms<br />

geklebt, sprengt er ganz ohne Zaumzeug <strong>und</strong><br />

Sattel vorbei! Auf der riesigen Insel Marajó<br />

sch<strong>ein</strong>t die Zeit stehen geblieben zu s<strong>ein</strong>. Oder<br />

mindestens ticken die Uhren <strong>ein</strong>en Tick<br />

gemächlicher. Noch sind die Wasserbüffel neben<br />

dem Fahrrad <strong>und</strong> dem Crossmotorrad die<br />

wichtigsten Verkehrsmittel, nach dem Schiff<br />

natürlich. Transportiert wird per Mototaxi.<br />

Gewichtigeres aber wird vom Wasserbüffel<br />

gezogen, geschleppt oder gebuckelt. Die Büffel<br />

übrigens sollen alle sehr zahm s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> geduldig.<br />

Immer wieder kann man sie treffen. Irgendwo,<br />

frei, am Strand zwischen <strong>ein</strong> paar schattigen<br />

Bäumen <strong>und</strong> natürlich in <strong>ein</strong>em Wasserloch<br />

suhlend. Es muss wohl am Klima liegen.<br />

Kreischende Touristen tragen sie auf enormen<br />

Sätteln spazieren. Die selben Touristen, die<br />

nachher w<strong>und</strong>erbaren Joghurt, Sauermilch <strong>und</strong><br />

Käse aus Büffelinnenmilch, wie man hier sagt,<br />

verspeisen werden, gar <strong>ein</strong> ausgezeichnetes<br />

Büffelschnitzel. Am liebsten mögen die Büffel<br />

aber <strong>ein</strong> ausgiebiges Bad. Und das bekommen sie<br />

tagtäglich. An der L<strong>ein</strong>e, am Nasenring<br />

festgemacht, rennt dieser hier sichtlich erfreut<br />

dem Fahrrad des Besitzers nach. Schon biegt er<br />

ab. Es geht direkt zum Strand!<br />

Dass die Büffel hier perfekt angepasst sind <strong>und</strong><br />

Teil der lokalen pittoresken Landschaft, darüber<br />

gibt es k<strong>ein</strong>en Zweifel. Sie wurden um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende des 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

auf Marajó <strong>ein</strong>geführt. Ihr Vorfahren kamen aus<br />

Indien, den Philippinen <strong>und</strong> aus Italien <strong>und</strong> sie<br />

gehören vier verschiedenen Rassen an. Wie sie<br />

hierher kamen? Darüber gehen die Versionen<br />

aus<strong>ein</strong>ander. Einige erzählen von <strong>ein</strong>em Schiffbruch,<br />

der die ersten Tiere hier stranden ließ.<br />

Andere führen <strong>ein</strong>fache, kommerzielle Motive für<br />

den Import an.<br />

Marajó, der Archipel mit mehr oder weniger der<br />

Fläche der Schweiz, er besteht aus dreitausend<br />

Inseln <strong>und</strong> Inselchen, die die größte Binneninselgruppe<br />

der Welt bilden, wird gerade für den<br />

sanften Ökotourismus entdeckt. Ein paar, die<br />

wissen, wie man <strong>ein</strong> Geschäft macht, sind schon<br />

zur Stelle. Allerdings geht hier alles <strong>ein</strong> wenig<br />

langsamer. Landschaftlich <strong>und</strong> kulinarisch hat<br />

Marajó viel zu bieten. Marajó <strong>ein</strong> paar Bootsst<strong>und</strong>en<br />

von Belém entfernt, ist nur übers Wasser<br />

oder per Flugzeug zu erreichen. Kann man von<br />

<strong>ein</strong>er Insel etwas anderes erwarten?<br />

Das Wasser hat das Sagen auf Marajó. Und es ist<br />

nicht irgend<strong>ein</strong> Wasser. Die Inselgruppe wird auf<br />

der <strong>ein</strong>en Seite von den Flüssen Amazonas, Pará<br />

<strong>und</strong> Tocantins, also Süßwasser <strong>und</strong> auf der<br />

anderen vom Atlantik, Salzwasser, umspült. An<br />

den riesigen, <strong>ein</strong>samen Stränden mischt sich das<br />

Süßwasser mit dem salzigen des Meeres, sind<br />

nicht mehr süß <strong>und</strong> noch nicht ganz salzig. An der<br />

Atlantikküste dominieren die Mangues. Da<br />

werden in mühevoller, schlammiger Arbeit die<br />

Krebse aus dem Morast gepullt, bevor sie an<br />

langen Schnüren aufgefädelt lebend verkauft<br />

werden.<br />

Man kann hier nur leben, wenn man die<br />

Einzigartigkeit der Natur respektiert.<br />

Und <strong>ein</strong>zigartig ist die Natur hier wirklich. Der<br />

Westen der Insel ist <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige riesige Ebene,<br />

spärlich <strong>und</strong> niedrig bewaldet, <strong>ein</strong>e Savanne. Nur<br />

die Bacurizeiros ragen weithin sichtbar heraus.<br />

Der Westen ist mit dichtem, tropischem<br />

Regenwald bedeckt. In der Regenzeit sind 2/3<br />

der Insel überschwemmt. Neben den<br />

allgegenwärtigen Wassern, den Mündungen der<br />

riesigen Flüsse gilt es auch die Gegebenheiten<br />

des Meeres, den ständigen Wechsel zwischen<br />

Ebbe <strong>und</strong> Flut zu beachten. Manche abgelegenen<br />

Orte wie das halbvergessene Dorf Arapixi<br />

erreicht man nur bei Flut. Bei Ebbe ist der Fluss<br />

mit dem selben Namen nicht beschiffbar. Er gilt<br />

generell als schwierig, unberechenbar, denn er<br />

ist zwar ewig breit aber untief. Das führt dazu,<br />

dass er ständig s<strong>ein</strong> Bett wechselt, gar an<br />

unerwarteten Orten Sandbänke anhäuft.<br />

Ein anderes Naturphänomen, die Pororoca, <strong>ein</strong>e<br />

riesige Flutwelle, zieht heute viele Touristen an.<br />

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Vor allem Surfer, besonders Verrückte<br />

veranstalten <strong>ein</strong>en Surfwettbewerb. Jener<br />

gewinnt, der sich am längsten hoch oben auf der<br />

Flutwelle halten kann.<br />

Die Pororoca tritt normalerweise bei<br />

Mondwechsel auf, bei Voll- <strong>und</strong> Leermond. Sie<br />

entsteht, wenn sich die Wasser des Atlantiks bei<br />

Flut in die Wasser der Flüsse, die sich hier ins<br />

Meer fließen, ergießen. Beim Zurückfließen<br />

entstehen Riesenwellen, die bis zu 10 Meter hoch<br />

sind <strong>und</strong> sich mit <strong>ein</strong>er Geschwindigkeit von bis zu<br />

35 km pro St<strong>und</strong>e vorwärts bewegen, dabei auch<br />

mal <strong>ein</strong> Stück der Uferböschung, <strong>ein</strong>en Baum oder<br />

so mitreißen. Das Naturphänomen macht sich<br />

durch <strong>ein</strong> dramatisches Röhren <strong>und</strong> Brüllen<br />

bemerkbar, lange bevor die Welle sichtbar ist.<br />

Minuten bevor die Pororoca durch prescht, wird<br />

es totenstill. Dann ist es besser, dem Naturschauspiel<br />

aus gebührendem Abstand zuzusehen.<br />

Ansonsten reiht sich Marajó in die lange Liste der<br />

Hinterländer <strong>ein</strong>, die schon mal bessere Zeiten<br />

sahen. Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden hier<br />

indigene Grabstädten gef<strong>und</strong>en, die auf<br />

komplexe Gesellschaften hinweisen, mit <strong>ein</strong>em<br />

hohen Entwicklungsstand. Es wird vermutet, dass<br />

die Insel schon lange vor der „Entdeckung“<br />

Brasiliens durch die Portugiesen <strong>ein</strong> reicher<br />

Handelsumschagplatz war.<br />

Zur Zeit der Kolonisation war die Insel dicht mit<br />

indigenen Völkern besiedelt, die heftigen<br />

Tauschhandel betrieben. Man glaubt, dass es um<br />

die 30 Stämme waren, die da seit 5.000 Jahren<br />

wohnten, aber schon im Ende 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

ausgerottet oder vertrieben waren. Ihre<br />

w<strong>und</strong>erschönen Töpferwaren sind in Museen in<br />

Europa, USA oder in Südbrasilen zu sehen. Auch<br />

das Museu Goeldi <strong>und</strong> das Museu do Marajo in<br />

Cachoeira do Arari besitzen Ceramica Marajoara,<br />

Zeugen <strong>ein</strong>er komplexen Kultur, noch <strong>ein</strong>er, deren<br />

Geschichte noch geschrieben werden muss.<br />

Nun gilt es also den Herausforderungen der<br />

Neuzeit in die Augen zu schauen, <strong>und</strong> aus dem<br />

Hinterland der Hinterländer <strong>ein</strong> Touristenort zu<br />

machen. Und dabei die lokale Bevölkerung weder<br />

zu überfordern noch auszugrenzen. Ihnen den<br />

ihnen zugehörenden Gr<strong>und</strong> zu garantieren <strong>und</strong><br />

dabei besonders die Ärmsten der Armen, die<br />

Ribeirinhos, Extrativisten, die Indigenen,<br />

Quilombolas, Nachfahren von Sklaven <strong>und</strong> alle<br />

anderen Vergessenen Gehör <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Ort zu<br />

verschaffen. Alles mit dem Anspruch von<br />

Nachhaltigkeit <strong>und</strong> unter dem Zeichen von<br />

„Empowering“, dem sich gerade all die NGOs so<br />

gerne annehmen. Ob die paar Büffel wohl dabei<br />

helfen können?<br />

Der<br />

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Bragança<br />

Woran erkennt man, dass <strong>ein</strong> Ort oder <strong>ein</strong>e Stadt<br />

arm ist? Vielleicht an den malerisch vergammelten<br />

Schiffen, die im Hafen voller Müll, wie alle<br />

hier, vor sich hin dümpeln? An den Krabbenverkäufern,<br />

die ihre Ware am Hafen in langen,<br />

lebenden Schnüren direkt vom Fahrrad aus<br />

anbieten?<br />

Bragança, die schön restaurierte historische Stadt,<br />

1634 als Weiler begründet, liegt malerisch am<br />

Fluss Caeté. Von der glorreichen Vergangenheit<br />

zeugen die Catedral de Nossa Senhora do Rosário,<br />

1854 von Sklaven erbaut, die Jesuitenkirche São<br />

Benedito, <strong>und</strong> der Palacete Augusto Corrêa, <strong>ein</strong>e<br />

genaue Kopie des Palastes der Braganças in<br />

Portugal.<br />

Die abgevrakten Schiffe im Hafen sind Teil <strong>ein</strong>es<br />

der größten Fischfangpools des Staates Pará.<br />

Auch wenn der Fischfang sehr viele Leute ernährt,<br />

vor allem als Eigengebrauch, im Hinterland<br />

schlägt der pro Kopf Verbrauch an Fisch den von<br />

Japan, so trägt der organisierte Fischfang<br />

überraschend wenig zur lokalen Ökonomie bei.<br />

Was nicht erstaunt, wenn man bedenkt, dass<br />

Fisch hier im Amazonas zum Vergleich mit Fleisch<br />

nicht sehr teuer ist <strong>und</strong> zudem als <strong>ein</strong>e<br />

extrativistische Tätigkeit angesehen werden muss.<br />

Ein erfolgreicher Fang kann weder geplant<br />

werden noch garantiert er dem Fischer <strong>ein</strong><br />

regelmäßiges Einkommen. Der Fangertrag hängt<br />

sehr stark von unterschiedlichen Variablen ab, von<br />

Wetter, Wasserstand <strong>und</strong> saisonalem Angebot.<br />

Manche Fische unternehmen lange Wanderungen<br />

während des Zyklus ihres Lebens oder zum<br />

Ablaichen <strong>und</strong> verschwinden so für Monate.<br />

Fischfang ist <strong>ein</strong>e Art Achterbahnfahrt.<br />

Gefischt wird noch vor allem für lokale Fischmärkte<br />

<strong>und</strong> die Fischmärkte der großen Städte<br />

oder für den Export, dann aber nur spezifische<br />

Riesenfische, die entsprechend grätenlose<br />

Fischfilets produzieren, was zwangsläufig zur<br />

Überfischung <strong>ein</strong>zelner Fischarten führt.<br />

Erschwerend kommt dazu, dass die unendlich<br />

vielen Fische, es soll über 1.200 essbare Fische im<br />

Amazonas geben, noch viel zu wenig erforscht<br />

sind. Viele amazonische Fische sind nicht nur<br />

extrem dekorativ, sondern auch extrem faszinierend.<br />

Ihre Gewohnheiten <strong>und</strong> Lebensweisen, es<br />

gibt zum Beispiel Fische, die sich sowohl in Süßwie<br />

auch in Salzwasser wohlfühlen, sind sehr<br />

exotisch. Auch wenn die Fischzucht als <strong>ein</strong>e<br />

ökonomisch sehr interessante Alternative<br />

angesehen wird, vor allem der Tambaqui kommt<br />

schon fast vollständig aus Zucht, was s<strong>ein</strong>e Art<br />

wohl retten wird, steckt sie noch in den<br />

Kinderschuhen.<br />

Und so ist es auch Bragança beschieden, auf <strong>ein</strong>en<br />

Prinzen zu warten, der es ökonomisch wachküssen<br />

wird.<br />

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Alltag in Oriximiná<br />

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<strong>Amazonien</strong><br />

feiert<br />

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<strong>Amazonien</strong> feiert<br />

Maizenaschlachten am Karneval 976<br />

Karneval an der Baía do Sol 978/989<br />

Strassenkarneval 981/982<br />

Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit 990/991<br />

Junifeste 1004/1005<br />

Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro, Santarém 1015/1016<br />

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Maizenaschlachten am Karneval<br />

Immer wieder begegnen wir über <strong>und</strong> über<br />

bemehlten Gestalten. Überall liegen die<br />

traditionellen, gelben Maizena-Schächtelchen mit<br />

den schwarzen Buchstaben herum, leer natürlich.<br />

Der Nachschub sch<strong>ein</strong>t, wie der an Bier <strong>und</strong><br />

Energiegetränken unerschöpflich. Na gut, früher<br />

soll es ja Brauch gewesen s<strong>ein</strong>, sich neben Mehl<br />

mit Blasen voller Urin <strong>und</strong> anderen<br />

Unappetitlichkeiten zu bewerfen. Hier beschränkt<br />

man sich heute auf Maizena <strong>und</strong> ganz modern,<br />

<strong>ein</strong>e Art Schnee aus der Sprühdose.<br />

Könnte auch zu Hause bleiben, aber die Neugier<br />

war stärker. Seit Tagen sind die kl<strong>ein</strong>en, improvisierten<br />

Baracken mit den Palmstrohdächern<br />

installiert, zusammen mit den Bierfässern, die<br />

wohl nur <strong>ein</strong>en Teil des Abfalles aufnehmen<br />

werden. Auch die ambulanten Verkäufer schießen<br />

wie Pilze aus <strong>ein</strong>em feuchten Waldboden. Ihre<br />

eher krakelig improvisierten Plakate verraten,<br />

dass sie Amateure sind. Trotzdem boomt das<br />

Geschäft mit eiskaltem Bier, Bier, Maizena <strong>und</strong><br />

Energiedrinks. Andere funktionieren ihre<br />

unbebauten Gr<strong>und</strong>stücke mit charmanten,<br />

orthografisch nicht immer ganz korrekten<br />

Plakaten zu Parkplätzen um. Alter do Chão ist <strong>ein</strong><br />

Touristenort <strong>und</strong> bereit fürs Fest. Echten<br />

Geschäftssinn verrät auch die Perückenverkäuferin.<br />

An <strong>ein</strong>em improvisierten Drahtgestell<br />

flattern lila <strong>und</strong> schrillgrüne Perücken im<br />

Chanelstil, daneben <strong>ein</strong> wilder Irokese <strong>und</strong> auch<br />

die Afroperücken im besten Black-Panther-Stil,<br />

wirr wie <strong>ein</strong> aufgedröseltes Wollknäuel.<br />

Improvisation <strong>und</strong> Kurz-Entschlossen-S<strong>ein</strong> ist<br />

gefragt. Alle Perücken finden Abnehmer. Der<br />

halbe Dorfplatz kostümiert sich, die Hitzen sind<br />

unerträglich, wenigstens den Scheitel. Da schau,<br />

der überdimensionierte Wollknäuel gibt dem<br />

lokalen, dunkelhäutigen Indionachfahren <strong>ein</strong><br />

überraschend echt afrikanisches Aussehen. Im<br />

kl<strong>ein</strong>en Krämerladen kauft sich <strong>ein</strong> anderer soeben<br />

<strong>ein</strong>en Nachttopf, orange oder pink? <strong>und</strong> testet<br />

auch gleich, ob er ihm wirklich bis zu den Ohren<br />

runter geht. Huch, da kommen schon die ersten<br />

Maizenabestäubten, dann nun doch lieber in die<br />

Gegenrichtung.<br />

Der Karneval ist es sich auch hier, in Alter do Chão,<br />

wert, von der Stadt aus dem Steuertopf finanziert<br />

zu werden. Den Minikarnevalsblock, alle im Besten<br />

Alter, vier überaus fröhliche, schon etwas<br />

angeheiterte Damen <strong>und</strong> zwei Kavaliere, allerdings<br />

haben sich privat in Unkosten gestürzt. Nichts hält<br />

sie mehr. Die Männer reichen den Frauen weder<br />

puncto Verkleidung noch an Aufgekratzt-S<strong>ein</strong> das<br />

Wasser. Alle vier tragen über ihren hochsynthetisch<br />

kitschige Perücken je <strong>ein</strong> Paar roter, listig<br />

blinkender Teufelshörnchen. Deren <strong>ein</strong>gebaute<br />

Lichter blinken durch den animierten Abend in<br />

teuflischem Rhythmus, <strong>ein</strong> <strong>und</strong> aus, <strong>ein</strong> <strong>und</strong> aus.<br />

Den Männern hat dazu wohl <strong>ein</strong>fach die Courage<br />

gefehlt. Auch die Kostüme sind originell.<br />

Ultrakurze Kleidchen, die sich selbstkritisch über<br />

die Trägerin <strong>und</strong> deren etwas aus den Fugen<br />

geratenen Körper lustig machen. Jedes Kleid ziert<br />

<strong>ein</strong> grazil gemaltes, lecker-köstliches<br />

Kurvenkörperchen in Front- <strong>und</strong> Hinternansicht.<br />

Die pospaltentiefen Rückendekolletés <strong>und</strong> die<br />

neckisch aufgerichteten Teufelsschwänze lassen<br />

k<strong>ein</strong>en Zweifel an den provozierenden Absichten.<br />

Das größte Vergnügen der Truppe besteht aber<br />

darin, sich zwischen <strong>ein</strong> paar wippenden<br />

Tanzschritten, mit vielen kl<strong>ein</strong>en Schlucken Bier<br />

begossen, reihum abzulichten <strong>und</strong> abgelichtet zu<br />

werden, was die ganze Sache noch um vieles<br />

pikanter zu machen sch<strong>ein</strong>t. Stacheln sich<br />

gegenseitig zu noch gewagteren, noch<br />

ordinäreren Posen an. Die werden dann alle<br />

sogleich, Digitalkamera im Handy sei Dank,<br />

reihum angesehen <strong>und</strong> quietschend<br />

kommentiert, um dann <strong>ein</strong>er noch sinnlicheren<br />

Aufnahme überboten zu werden. Lasziv<br />

hingeflätscht oder gar kompliziert um die hohe<br />

Stange gew<strong>und</strong>en, die gerade zufällig da steht.<br />

Die Männer, außen vor, nuckeln schon etwas<br />

betäubt an ihren Bierbüchsen. Ignorieren die<br />

spitzen, entzückten Schreie über noch <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong><br />

auf dem Winzmonitor, dem gleich noch <strong>ein</strong><br />

weiteres <strong>Foto</strong> nachgeschoben wird. Dann aber<br />

bläst die pinkfarbene Chanelperücke zum<br />

Aufbruch. Von Weitem kann ich nur noch ihre<br />

knackigen, leider falschen Hinterteile bew<strong>und</strong>ern<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal mehr feststellen, dass dieser<br />

Karneval wohl ohne mich stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />

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Karneval an der Baía do Sol<br />

Von Weitem schon machen sich die<br />

karnevalesken Schreie bemerkbar. Alle springen<br />

herbei, k<strong>ein</strong>er will auch nur das kl<strong>ein</strong>ste Detail<br />

verpassen. Im Handumdrehen stauen sich die<br />

Sommergäste auf dem prekären Sträßchen, es<br />

windet sich <strong>ein</strong>er der vielen Buchten der Insel<br />

Mosqueiro entlang, die Belém vorgelagert ist. Nur<br />

am Strand <strong>und</strong> weit vom Alltag kann <strong>ein</strong>e solch<br />

lockere <strong>und</strong> unkomplizierte Atmosphäre<br />

aufkommen. Schon biegt <strong>ein</strong> „Trio Elétrico“,<br />

(großer Laster, auf dem <strong>ein</strong>e Musikband die<br />

Zuschauer animiert), <strong>ein</strong> umfunktionierter uralter<br />

VW-Kombi, um die Ecke. Er droht jeden Moment,<br />

in s<strong>ein</strong>e Einzelteile aus<strong>ein</strong>ander zu brechen. Dabei<br />

käme wohl die improvisierte Dekoration zu<br />

Schaden. Sie macht sich in schreiendem Gelb über<br />

<strong>ein</strong>e äußerst populäre Landekette lustig. Die ist<br />

dafür bekannt, dass sie sich ihre Waren in<br />

winzigen, aber dafür endlos abstotterbaren Raten<br />

bezahlen lässt. So kann sich auch <strong>ein</strong> fast nicht<br />

Begüterter das neueste Handy oder <strong>ein</strong>en<br />

Küchentisch kaufen. Dass man die letzte Rate<br />

schon beim Kauf aus den Augen verloren hat <strong>und</strong><br />

das Handy wohl zweimal bezahlt, rechnet k<strong>ein</strong>er<br />

nach. Die Qualität der Musik lässt mehr als zu<br />

wünschen übrig. Das stört k<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> wird durch<br />

die ohrenbetäubende Lautstärke wieder gut<br />

gemacht.<br />

Die Narren, die den „Trio Elétrico“ „ziehen“ oder<br />

wohl besser von ihm gestoßen werden, sind unter<br />

sich. Nur Männer gleichen sie die fehlende<br />

Inspiration beim Kostüm oder anderen<br />

Verkleidungen durch die unterschiedlichsten<br />

Stadien des Angeheitert-S<strong>ein</strong>s aus. Sie sind<br />

unisono, wie inspiriert, als Frauen verkleidet! Die<br />

eher strammen B<strong>ein</strong>e sind alle schon etwas<br />

wacklig, was wohl nicht nur den ungewohnten<br />

Schuhen <strong>und</strong> dem st<strong>ein</strong>igen Weg zuzuschreiben<br />

ist. Nur die äußerst animierte „Nega fulô“ tanzt<br />

aus der Reihe. Sie hat der glänzenden Schwärze<br />

mit Schuhcreme nachgeholfen <strong>und</strong> trägt zum<br />

trägerlosen Oberteil aus grell farbiger „Chita“<br />

(buntbedruckter, brasilianischer Baumwollstoff)<br />

<strong>ein</strong>en frech verwegenen Hut mit dem selben<br />

Blumenmuster. Sie tanzt außer Rand <strong>und</strong> Band.<br />

Unter der schlecht aufgetragenen Schicht<br />

schwarzer Schminke verraten stramme Schenkel<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong>e abgeflachte Nase das Indioblut des<br />

lokalen Caboclos. Die zusammengelaufene<br />

Menschenmasse begleitet, ganz wie es beim<br />

Karneval Brauch ist, den „Trio Elétrico“ <strong>ein</strong> Stück<br />

weit. Die Zuschauer werden, fröhlich vor sich hin<br />

schwitzend, mit heißen Küssen bedacht. Maskuline<br />

Lippenpaare, von ungelenken Händen schrill mit<br />

grellem Lippenstift nachgezeichnet verteilen sie<br />

vorurteilslos. Doch bald gibt man sich von der<br />

Hitze besiegt <strong>und</strong> zieht sich, immer noch leise<br />

kreischend <strong>und</strong> kiecksend, jede wieder in s<strong>ein</strong><br />

Haus zurück.<br />

Gleich setzt auch der nächste Regen <strong>ein</strong>. Er setzt<br />

s<strong>ein</strong> hinterlistiges Zerstörungswerk fort, leckt da<br />

an der Schuhcreme, wäscht hier <strong>ein</strong> wenig<br />

Schweiß von mehr oder weniger muskulösen<br />

Oberkörpern, den selben, die die ganze Zeit<br />

drohen, ihre Winzkostüme, Bikinioberteile nur,<br />

zu zersprengen.<br />

All das an <strong>ein</strong>er der vielen Buchten, an der Baía<br />

do Sol, die seit Urzeiten von den schlammigen<br />

Wassern des Amazonas gebadet wird. Überreste<br />

<strong>ein</strong>es, wie sie erzählen, glanzvollsten Karnevals<br />

Brasiliens, <strong>ein</strong> gesellschaftlicher Höhepunkt,<br />

lange im Voraus geplant, organisiert <strong>und</strong><br />

zelebriert. Die Bälle fanden in den schicken<br />

Clubs, in der ganzen Stadt verteilt, statt. Die<br />

meisten verkleideten sich als Pierrot, Kolumbine<br />

oder Harlequim, aber es gab auch Bahaianas,<br />

Türken oder gar <strong>ein</strong>en Tiroler. Das Stadtzentrum<br />

war für den „Corso“, den Umzug karnevalesk<br />

geschmückt: Masken, <strong>ein</strong>ige lustig, <strong>ein</strong> schrilles<br />

Lachen hier, andere traurig, <strong>ein</strong>e zerdrückte<br />

Träne da <strong>und</strong> viele buntfarbene Lichter. Auf der<br />

Straße war alles erlaubt, alles möglich. Es gab<br />

Umzüge mit Konfetti- <strong>und</strong> Luftschlangenschlachten<br />

<strong>und</strong> viele benutzten „Lança perfume“ (Ein<br />

Spray, der die Mischung aus chemischen<br />

Lösungsmitteln <strong>und</strong> Parfüm in <strong>ein</strong>en eisigen<br />

Strahl verwandelt, heute verboten, da als Droge<br />

missbraucht), oder Schlimmeres, um das andere<br />

Geschlecht auf sich aufmerksam zu machen.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 978


Jeder Karneval hatte s<strong>ein</strong>e „Marschinha“<br />

(Märschchen, Karnevalsmusik, oft mit lustiganzüglichen<br />

Texten), die alle auswendig kannten<br />

<strong>und</strong> mitsangen. Wer k<strong>ein</strong>e der so begehrten<br />

Einladungen zu <strong>ein</strong>em der Bälle ergatterte, behalf<br />

sich mit <strong>ein</strong>em kreativen Trick, erfand irgend<strong>ein</strong>en<br />

Kniff, um das Fest zu „löchern“, „furar a festa“,<br />

(sich ohne Einladung Eintritt verschaffen) um sich<br />

doch noch unter die närrischen Narren zu<br />

mischen.<br />

Bis heute erzählen sie davon, hochzufrieden <strong>und</strong><br />

sehnsüchtig, dann, wenn sie von Weitem <strong>und</strong><br />

über die Bierbäuche hinweg dem Umzug<br />

zuschauen. Besonders stolz sind sie, wenn es<br />

ihnen zudem noch gelang, <strong>ein</strong>e „boca livre“,<br />

(Freier M<strong>und</strong> = Essen <strong>und</strong> Trinken auf Kosten des<br />

Hauses) zu ergattern. Aber leider sind die Zeiten<br />

nun anders <strong>und</strong> die Bierbäuche oder Farinhapneus<br />

erlauben es ihnen nicht mal mehr die<br />

irgendwo ausgeliehenen Bikinioberteile hinten<br />

auch wirklich zuzuhacken. Es ist halt wirklich<br />

nichts mehr wie früher….<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 979


Der Block der Prinhas verspricht 10 St<strong>und</strong>en Karneval<br />

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Strassenkarneval<br />

Der Dresscode ist klar: Shorts, bequeme Schuhe<br />

oder gutsitzende Sandalen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> unauffällig<br />

schlichtes Shirt. K<strong>ein</strong>e Tasche, k<strong>ein</strong>e Accessoires,<br />

nichts was irgendwie auffallen könnte! Bin zwar<br />

nur zur Generalprobe <strong>ein</strong>geladen, als unbeteiligte<br />

Statistin, aber der Karneval ist echt, die Animation<br />

<strong>und</strong> die Spannung schon fast auf dem Höhepunkt.<br />

Es fehlt nur noch <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Woche, bis es Ernst<br />

wird <strong>und</strong> man um Aufstieg <strong>und</strong> Fall <strong>und</strong> damit<br />

natürlich viel Sponsorgeld, auch von der Stadt, im<br />

Sambódromo von Manaus mit anderen<br />

Karnevalsblocks wie dem der Piranhas rivalisiert.<br />

Heute trainiert man allerdings, wie früher, auf der<br />

Straße. Dass man auch hier im Norden <strong>ein</strong>en<br />

Karneval hat, zeigt dieser Umzug, organisiert <strong>und</strong><br />

ausrichtet von <strong>ein</strong>er der vielen Kommunen,<br />

„Comunidades“, wie sich die Bewohner populärer<br />

Stadtteile selber bezeichnen, in dem sich alle<br />

Karnevalverrückten zusammenfinden. Falls ich<br />

mich aktiver beteiligen wollte, könnte ich mir, wie<br />

nun überall, <strong>ein</strong>es der vielen buntschillernden<br />

Kostüme kaufen. Mich damit unter die wilden<br />

Narren mischen. Dir sind gar nicht so wild,<br />

sondern eigentlich sehr gut organisiert.<br />

Karneval ist, hinter den Kulissen, sehr seriös.<br />

Geprobt wird seit Wochen jeden Samstag. Es<br />

fehlen weder die Trommler der Band, der Sänger,<br />

der den Rhythmus vorgibt, noch die lokale<br />

Schönheit. Sie ist ihres perfekten Körpers wegen<br />

oder als hiesige Berühmtheit, <strong>ein</strong>e Art<br />

Maskottchen. Dazu auserkoren, leicht bekleidet,<br />

die Band mit viel Samba im Fuß <strong>und</strong> Federn überm<br />

kaum bedeckten Po zu Höchstleitungen<br />

anzufeuern. Der strahlende Chef des ganzen Zuges<br />

ist der gewitzte, öffentliche Angestellte. Der<br />

kurzkrempige Hut sitzt ihm, ganz 1950, ganz oben<br />

auf dem schon ziemlich kahlen Kopf. Das karierte<br />

Hemd spann sich etwas über dem Embonpoint.<br />

Zur gedeckten Hose trägt er f<strong>ein</strong>e, transparente<br />

Helancasocken <strong>und</strong> gut gewienerte schwarze<br />

Schuhe. S<strong>ein</strong>e sehr blonde, sehr fre<strong>und</strong>liche<br />

Gemahlin steht ihm, schon wieder ist Not am<br />

Manne, sofort zur Seite.<br />

Der Stadtteil heißt, wie passend, „Coroado“, der<br />

Gekrönte, <strong>und</strong> wir sind, klar, die aller<strong>ein</strong>zigen<br />

Gringas. Wohl auch die <strong>ein</strong>zigen, die mit dem Auto<br />

anfahren. Das Statussymbol hier ist das Motorrad.<br />

Rittlings wird es gerne zur Schau gestellt. Gleich da<br />

am Straßenrand der <strong>ein</strong>fachen Geschäfts- <strong>und</strong><br />

Wohnstraße. Alle Motos sind auf Hochglanz<br />

poliert, alle aggressiven Ecken <strong>und</strong> spitzen Kanten,<br />

direkt von japanischen Comics inspiriert,<br />

chromblitzend.<br />

Alle sind schon bereit, fiebern dem Umzug<br />

entgegen, der hier lang kommen soll. Endlich<br />

hören wir von weitem das rhythmische Trommeln.<br />

Schon tanzen sie direkt vor uns, die<br />

Fahnenträgerin <strong>und</strong> ihr Partner der „Comissão de<br />

Frente“. Dann die Gruppe junger Männer, ganz auf<br />

ihre etwas feminisierte Choreografie<br />

konzentriert. Schwingen ihre Kartonröhren <strong>und</strong><br />

Pappschilde, die wohl Waffen symbolisieren.<br />

Schwitzen ihre Shirts durch. Preschen<br />

geschlossen vor, ziehen sich zurück, stecken auf<br />

Kommando alle ihre Röhren in <strong>ein</strong>e mitgetragene<br />

Kartonschachtel <strong>und</strong> schon zieht, elektrisierend,<br />

der ganze restliche Zug, die Band an uns vorbei.<br />

Auch die Zuschauer fiebern mit. Die jungen<br />

Mädchen, alle frisch geduscht <strong>und</strong> hübsch<br />

zurechtgemacht. Die jungen Männer reiten stolz<br />

ihre Motos, gleich da auf dem Bürgersteig<br />

aufgebockt. Die Fußgänger winden sich um die<br />

scharfen Kurven <strong>und</strong> verchromt in der<br />

Dunkelheit blitzenden Zacken herum.<br />

M<strong>ein</strong>e Bedenken verfliegen. Wir fallen im wilden<br />

Getümmel gar nicht weiter auf. Das ganze Viertel<br />

ist auf den B<strong>ein</strong>en. Auch Kind <strong>und</strong> Oma, <strong>ein</strong> Baby<br />

gar im himmelblauen Kinderwagen, vielleicht <strong>ein</strong><br />

Geschenk irgend<strong>ein</strong>er Patronin. Wieder <strong>und</strong><br />

wieder lassen wir den ganzen Zug an uns<br />

vorbeiziehen. Wehe, wenn sie losgelassen! Das<br />

gazellenschlanke Mädchen, das die Schnur der<br />

Abschrankung hochhält, fällt zusammen mit den<br />

drei köstlich r<strong>und</strong>en Popozudas in den Samba.<br />

Sie rollen ihre Hintern um die Wette. Der<br />

androgyne, bis zum Gürtel nackte Travestie<br />

schüttelt s<strong>ein</strong>e strammen, festen Brüstchen noch<br />

<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>mal. Das Paar mit der Fahne, gelb<br />

<strong>und</strong> grün, stimmt elegant <strong>und</strong> konzentriert ihre<br />

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Tanzschritte auf<strong>ein</strong>ander ab. Lässt die goldbetresste<br />

Fahne hin <strong>und</strong> her wehen, verbeugen<br />

sich, teilen Kusshändchen aus. Die “Madrinha da<br />

Bateria”, schon im Glitzerkleid <strong>und</strong> auf extra<br />

hohen, dreifachen Plateausohlen, fegt<br />

noch <strong>ein</strong>en Samba auf den Asphalt. Die schon<br />

etwas angejahrte Dame da drüben hat ihre<br />

besten Satinshorts rausgesucht. Sie wiederholen<br />

den selben Goldton ihres üppig blondiertes<br />

Haares. Dazu trägt sie das grellfarbene Shirt <strong>ein</strong>es<br />

vergangenen Karnevals. In Pantöffelchen tanzt sie<br />

ausgelassen bei den Baianas mit.<br />

Immer wieder versperren Hindernisse den Weg.<br />

Der schmale Bürgersteig wird gerade von <strong>ein</strong>er<br />

Hähnchen- <strong>und</strong> Spießebräterei verstellt. Die<br />

fetten Happen schwitzen unter dem grellen Licht<br />

<strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zelnen Glühbirne in <strong>ein</strong>em Metallkasten<br />

vor sich hin. Die Zaungäste auf der gegenüber<br />

liegenden Straßenseite haben es sich hoch auf der<br />

Abschrankung der öffentlichen Schule bequem<br />

gemacht. Genießen das Geschehen aus<br />

privilegierter Höhe. Der „Puxador de Samba“<br />

schreit den immergleichen Samba in <strong>ein</strong>er<br />

Endlosschleife ins Mikrofon. Die Trommler <strong>und</strong><br />

Trommlerinnen geben ihr Bestes. Der Samba reißt<br />

alle mit. Die meisten singen den Text durch alle<br />

Strophen hindurch auswendig mit.<br />

Kurz vor dem Ziel, gleich um die Ecke liegt die<br />

großzügige Baracke der Gem<strong>ein</strong>schaft, haben <strong>ein</strong><br />

paar Mädchen ihre Plastikstühle auf die Straße<br />

gestellt. Sie sind, wie alle andern, im Rahmen ihrer<br />

eher beschränkten Finanzen sorgfältig <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>fallsreich nach den neuesten Trends<br />

aufgebrezelt.<br />

Erschöpft suchen wir uns <strong>ein</strong>en Ort, um uns zu<br />

erfrischen. Das <strong>ein</strong>zige Lokal, <strong>ein</strong>e Bäckerei mit<br />

Bar oder Bar mit Bäckerei, hat <strong>ein</strong>en leeren<br />

Wackeltisch. Zufrieden lassen wir uns in die<br />

Plastikstühle fallen. Das Menü ist von Hand an die<br />

Hinterwand gepinselt. Vier endlose Listen, die<br />

Buchstaben aufwendig abschattiert, rot/blau.<br />

Drüber kündet die frohe Botschaft: Jesus ist das<br />

Brot des Lebens. Zum Trinken gibt’s Guarana Baré,<br />

<strong>ein</strong>e lokale Marke, in der gläsernen Pfandflasche,<br />

oder Wasser.<br />

Nach <strong>ein</strong>em Schluck lassen wir alles nochmal<br />

Revue passieren. Am allerbesten haben uns die<br />

liebevoll designten Kostüme gefallen, alle im<br />

Clubhaus ausgestellt. Die Thematik der<br />

verschiedenen Blöcke sind überaus inspiriert. Da<br />

gibt es den Wagen, der das Licht <strong>und</strong> die<br />

Dunkelheit symbolisiert. Dann kommen Vögel <strong>und</strong><br />

ihre Eier, der Pirarucu, der Stockfisch des<br />

Amazonas, die Maul- <strong>und</strong> Klauenseuche <strong>und</strong> die<br />

Impfung <strong>und</strong>, als krönender Abschluss, die Hände,<br />

die arbeiten! Alles sozusagen wortwörtlich in<br />

bunteste Farbsymphonien <strong>und</strong> ansprechende,<br />

symbolträchtige Verkleidungen umgesetzt. Nur<br />

das eher entblößend, denn verhüllende Kostüm<br />

der Madrinha da Bateria ist Schwarz wie die<br />

Nacht.<br />

Schade, dass ich bei der Premiere nicht dabei<br />

s<strong>ein</strong> werde, denn es verspricht <strong>ein</strong> wirklich<br />

volkstümlicher, ursprünglicher Karneval zu<br />

werden, dem nichts fehlt, weder Ballett noch<br />

Travesties, weder lokale <strong>und</strong> gar überregionale<br />

Schönheiten noch Rhythmus.<br />

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Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit<br />

Der Festplatz ist Tage vorher schon r<strong>ein</strong> gefegt<br />

<strong>und</strong> strahlend bunt herausgeputzt. Der<br />

Gastgeber oder die Gastgeberin hat sich nicht<br />

lumpen lassen. Zwei Maste, <strong>ein</strong>er mit den<br />

traditionellen mehrfarbigen Laternen, der andere<br />

voller Früchte, kunstvoll zwischen die grünen Äste<br />

geb<strong>und</strong>en, sind schon aufgerichtet <strong>und</strong><br />

geschmückt. Das Fest kann beginnen. Die kl<strong>ein</strong>e<br />

Kapelle, sie bietet nur wenigen Gläubigen Platz,<br />

dem harten Kern sozusagen, ist <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />

Palmstrohhütte. Auch sie ist feierlich hergerichtet,<br />

viel Grün, primärfarbenes Seidenpapier, kunstvoll<br />

<strong>ein</strong>geschnitten, gestaucht, gefaltet oder in fragilie<br />

Fransen gestückelt. Selber gemachte <strong>und</strong> echte<br />

Blumen mischen sich unter die grellfarbenen,<br />

künstlichen. Den Baldachin über dem Altar<br />

schmücken drei weiße Kreuzl<strong>ein</strong>.<br />

Blenden wir zurück. Da hinten, etwas zurückversetzt,<br />

die Freiluft-Gem<strong>ein</strong>schafts-Küche. Neben<br />

dem geistigen wird auch sehr gut für das leibliche<br />

Wohl gesorgt. Von der Kapelle geht’s gleich zum<br />

geselligen Festmahl. Hier werden an drei<br />

Abenden alle verköstigt, die Teil des Festes s<strong>ein</strong><br />

wollen. Noch ist das kl<strong>ein</strong>e Frühstück abgedeckt.<br />

Es gibt zu viele Fliegen. Die <strong>ein</strong>geschrumpften,<br />

zartgliedrigen Matriarchinnen sitzen wartend auf<br />

wackligen Plastikstühlen. Dann zeigen die<br />

Böllerschüsse, gleich hinter dem Festplatz<br />

abgefeuert, dass die Prozession nicht mehr weit<br />

s<strong>ein</strong> kann. Sie weisen mir den Weg. Da, über den<br />

Feldweg werden sie kommen.<br />

Die weiße <strong>und</strong> die rote Fahne sind nicht zu<br />

übersehen. Gleich dahinter das Symbol der<br />

Dreifaltigkeit, mitgetragen auf <strong>ein</strong>er reich <strong>und</strong><br />

bunt geschmückten Bahre. Eine Trompete singt,<br />

die Saxofone fallen <strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Trommler schlagen<br />

dumpf den Takt. Schon hält die Gastgeberin mit<br />

durchgedrücktem Rücken <strong>und</strong> in sich verschlossen<br />

das mit lang flatternden Satinbändern geschmückt<br />

Heiligtum, <strong>ein</strong>e Krone, <strong>ein</strong>e winzige Taube mit<br />

offenen Flügeln über der Weltkugel <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />

Zepter, auf dem Schoß.<br />

Nun gilt es die Masten aufzurichten. Viele Hände<br />

haben ihn unter viel Gelächter mit frischen<br />

Zweigen, Früchten <strong>und</strong> auch Hochprozentigem<br />

geschmückt. Das Durch<strong>ein</strong>ander ist garantiert.<br />

N<strong>ein</strong>, so rum! Halt! Sich widersprechende<br />

Aufforderungen, Witze, unterschiedlichsten<br />

Einwürfe <strong>und</strong> Sprüche machen das Aufrichten<br />

nicht <strong>ein</strong>facher. Endlich übernimmt <strong>ein</strong> Einziger<br />

das Kommando. Wer ganze Mast wird um 180<br />

Grad gedreht, das halbe Dutzend kräftiger Männer<br />

steht sich allerdings immer noch auf den Füßen<br />

herum. Dann noch ganz am anderen Ende<br />

kunstvoll mit <strong>ein</strong>er Leiter nachgeholfen <strong>und</strong><br />

endlich steht er. Kerzengerade. Die silberne Taube<br />

ganz, ganz oben blitzt in der Sonne. Die weiße<br />

Fahne knallt mal, nur so zur Probe. Ein paar<br />

Gebete, die obligaten Ladainhas. Die Prozession<br />

formt sich <strong>und</strong> alle umschreitet mehrmals den<br />

Mast. Die kl<strong>ein</strong>e Zeremonie wird sich noch<br />

mehrmals wiederholen, jeden Abend. Dann wird<br />

das Frühstücksbuffet eröffnet.<br />

Abends dann, die Nacht ist dunkelbraun, ist die<br />

Stimmung andächtig. Der Singsang der<br />

Ladainhas, <strong>ein</strong>ige in Lat<strong>ein</strong>, die kl<strong>ein</strong>e Andacht,<br />

die Frömmigkeit sind echt. Ich bin die <strong>ein</strong>zige<br />

Außenstehende. Wieder formt sich die<br />

Prozession. Schreitet aus, die Fahnen an der<br />

Spitze, zieht ihre Kreise um die Masten. Kinder<br />

tragen Kerzen. Andächtig wird gesungen.<br />

Am nächsten Morgen fahre ich zufällig vorbei.<br />

<strong>Foto</strong>grafiere den w<strong>und</strong>erschönen kl<strong>ein</strong>en Stier.<br />

Weiß, s<strong>ein</strong>e sanften schwarzen Augen werden<br />

von langen Wimpern beschattet. Betrete die<br />

kl<strong>ein</strong>e Kapelle, die ich ganz für mich habe.<br />

<strong>Foto</strong>grafiere die Details, das liebevoll zurecht<br />

geschnittene Seidenpapier, die sorgfältig<br />

symmetrisch drapierten Baldachine. Die<br />

seitlichen Stützen des Baldachins sind mit farbig<br />

geringten, Seidenpapierhüllen verziert. Dazu<br />

wurde das Papier <strong>ein</strong>geschnitten <strong>und</strong> dann hoch<br />

gestaucht. Das gibt Volumen. Die kl<strong>ein</strong>en<br />

Papierröschen <strong>und</strong> die Vergissm<strong>ein</strong>nicht, so<br />

kitschblau umrahmen den Ort, wo bei der<br />

Zeremonie das Allerheiligste hingelegt wird.<br />

Spüre <strong>ein</strong>e Bewegung im Rücken. Es ist die<br />

Gastgeberin. Auf dem Arm das Dreifaltigkeitssymbol.<br />

M<strong>ein</strong>e <strong>Foto</strong>s sollen so komplett<br />

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wie möglich werden. Lichte die Satinbänder in<br />

Primärfarben ab, den kl<strong>ein</strong>en Baldachin mit den<br />

blauen Papierfransen, noch schriller <strong>und</strong><br />

w<strong>und</strong>erbarer im klaren Licht des Tages.<br />

Dann nehmen sie mich in die Küche mit. Da wird<br />

gerade <strong>ein</strong> Schw<strong>ein</strong> geschlachtet. Auf freiem Feld,<br />

der Tisch ist improvisiert. Kunstfertig wird es<br />

zerteilt. Aus den klitzekl<strong>ein</strong> geschnittenen<br />

Innereien, Herz, Lunge, die Nieren, macht man<br />

hier „Sarapatel“, <strong>ein</strong> gut gewürzter, mit Tomaten<br />

<strong>und</strong> viel Paprika lange geschmorter Eintopf. Auch<br />

dem Stier ist es ans Lebendige gegangen. Auch<br />

s<strong>ein</strong> nicht gerade zartes Fleisch wird langsam<br />

geschmort, st<strong>und</strong>enlang, viele, viele Gäste gilt es<br />

heute Abend satt zu kriegen.<br />

ausmachen, gut durchmischt <strong>und</strong> durchgeschüttelt,<br />

sind da <strong>und</strong> faszinieren nicht nur die<br />

ausländische Zuschauerin.<br />

Nächstes Jahr bin ich wieder da, die Dreifaltigkeit<br />

erwartet mich.<br />

Es ist immer der selbe reduzierte Kreis, der sich<br />

trifft. Ein paar Altchen, die Enkel, viele Frauen<br />

aber auch überraschend viele Männer. Beten die<br />

Ladainhas herunter, gefasst, in sich gekehrt. Knien<br />

nieder <strong>und</strong> küssen die Bänder, die am Allerheiligsten<br />

festgeb<strong>und</strong>en sind. Folgen den Fahnen,<br />

der weißen <strong>und</strong> der roten, feierlich um den Mast<br />

herum. Noch <strong>ein</strong> Kreis. So, wie es immer schon<br />

war.<br />

Der Nachwuchs ist unter ihnen. Wer weiß, ob sie<br />

die Traditionen der Heiligen Dreifaltigkeit<br />

weiterführen. Die Gr<strong>und</strong>zutaten jedenfalls, die<br />

religiösen <strong>und</strong> die weltlichen, die <strong>ein</strong> Fest<br />

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Junifeste<br />

Eine prominent angebrachtes Spruchband kündigt<br />

es seit <strong>ein</strong>er Woche an. Am Samstag ist Junifest!<br />

Hier im Norden <strong>ein</strong> Großereignis. Seit früh<br />

morgens ist die schmale Hauptstraße gesperrt.<br />

Schon flattern quer über die Straße gespannt die<br />

vielen Reihen bunter Wimpel im Wind. Aber nur<br />

nach dem Einfallen der Nacht kommt so recht<br />

Betrieb auf. Die tagsüber hingestellten<br />

Eisenkonstruktionen bekommen Farbe,<br />

Holzkohlengrills werden angefacht, rechts <strong>und</strong><br />

links die Straße hoch bereiten sich die kl<strong>ein</strong>en<br />

Baracken auf den Ansturm vor. Handgeschriebene<br />

Speisekarten bieten die traditionellen<br />

Junifestspeisen an: Weißer Maisbrei, Liebesäpfel,<br />

Vatapá, Freilaufhühnchen <strong>und</strong> viele andere. Aber<br />

auch kl<strong>ein</strong>e Fleischspießchen, liebevoll<br />

Katzenbarbecue genannt <strong>und</strong> Tapiocas, sorgfältig<br />

<strong>ein</strong>zeln in Bananenblätter <strong>ein</strong>gerollt, dürfen nicht<br />

fehlen. Da, auf der kl<strong>ein</strong>en Bühne wird die<br />

Musikgruppe spielen. Sie spielt ausgezeichnet.<br />

Das ist bemerkenswert, denn ihre Mitglieder<br />

gehen die restliche Zeit des Jahres ganz normalen<br />

Berufen nach. Ein Teil des Asphalts füllt sich mit<br />

Tischen <strong>und</strong> Stühlen, der Rest bleibt frei. Hier<br />

werden verschiedene Gruppen tanzen.<br />

Ganz Brasilien feiert die Junifeste, <strong>ein</strong>e Tradition<br />

aus Portugal mitgebracht, heute auch deutlich<br />

modifiziert, modernisiert <strong>und</strong> adaptiert. Die Feste<br />

werden zu Ehren dreier Heiligen gefeiert, jeweils<br />

am Namenstag deselben. São António am 13. Juli,<br />

São João am 24. <strong>und</strong> São Pedro am 29. Juli. In<br />

manchen Städten oder Dörfern ist es nur die<br />

Nachbarschaft, die zusammen feiert, aber in<br />

anderen gibt es <strong>ein</strong>en richtigen Tanzwettbewerb<br />

mit Gewinnern, die von <strong>ein</strong>er Jury ausgesucht <strong>und</strong><br />

prämiert werden. Hier im Norden, wo sie sehr<br />

gerne <strong>und</strong> kompetent feiern, ist so <strong>ein</strong> Fest immer<br />

<strong>ein</strong> Erlebnis.<br />

Das ganze Dorf ist auf den Füßen. Viele Kinder sind<br />

kostümiert. Der Brauch will, dass die Junifeste<br />

bäuerliche Feste sind, Feste der Hinterwäldler. Die<br />

Mädchen tragen Affenschaukeln mit großen<br />

Maschen <strong>und</strong> Blumenkleider, die Jungen Schnauzbart<br />

mit Brauenstift aufgemalt, Karohemden <strong>und</strong><br />

<strong>ein</strong>fache Strohhüte. Die <strong>ein</strong>fallsreichen, raffiniert<br />

ironischen Kostümierungen der Tänzer <strong>und</strong><br />

Tänzerinnen aber überstrahlen alles. Noch sind die<br />

Röcke hochgeschürzt. Weit wie Räder werden ihre<br />

wallenden Säume bald den Asphalt wischen.<br />

Andere Gruppen setzen auf üppig Kniekurzes,<br />

gestärkt <strong>und</strong> tüllverstärkt stehen die Röckchen<br />

weit ab. Wichtig ist, dass die Kostümierung<br />

farbenfroh ist, reich bestickt <strong>und</strong> viele Volants,<br />

Rüschen oder Spitzen hat. Im Kontrast dazu die<br />

hautengen Tops oder Boleros, oft bauchfrei, auch<br />

die der Männer. Halb Hinterwäldler, halb barocke<br />

Disneyprinzessin oder Prinz, Knappen, ganz wie‘s<br />

beliebt, hauptsächlich schreiend, fröhlich,<br />

ausgelassen. Die Frauen tragen die Haare kunstvoll<br />

hochgesteckt, w<strong>und</strong>erbare Arrangements, Tiaras,<br />

Kronen. An Perlen, Glanz <strong>und</strong> Glitzer wird nicht<br />

gespart. Die Männer in den traditionellen kurzen<br />

Jacken über nackter Brust <strong>und</strong> Dreiviertelhosen.<br />

Auch die ursprünglichen Strohhüte dürfen nicht<br />

fehlen, natürlich auch überaus farbenfroh<br />

verziert. Das Kostüm der Tanzgruppe wird von<br />

der Jury neben der Tanzdarbietung mit beurteilt.<br />

Wer am meisten Aplaus, die verrückt-buntkitschigsten<br />

Kostüme <strong>und</strong> natürlich die beste<br />

Tanzdarbietung auf den Asphalt legt, gewinnt.<br />

Die Musik legt los, die komplizierte Choreografie<br />

sitzt, wogt hin <strong>und</strong> her, alle haben sie im Kopf,<br />

verinnerlicht bis in die Finger- <strong>und</strong> Zehenspitzen.<br />

Manche tanzen Carimbó andere <strong>ein</strong> paar von den<br />

traditionellen Junifestmelodien. Die Röcke<br />

fliegen, drehen <strong>und</strong> bauschen sich im sinnlichen<br />

Tanz. Auch die jungen Männer lassen sich nicht<br />

lumpen. Alle Tanzgruppen sind aus Laien<br />

zusammen gesetzt. Jeder kann mitmachen.<br />

Jüngere, Molligere, die meisten mit indigenen<br />

Zügen, alle mit viel Talent, Verve, Rhythmus. Im<br />

normalen Leben sind sie Maurer oder Elektriker,<br />

Bootsführer oder Verkäufer. Schau, da hat sich<br />

schon der obligate Straßenköter, n<strong>ein</strong>, diesmal<br />

ist es <strong>ein</strong>e Katze! zwischen die stampfenden<br />

B<strong>ein</strong>e verlaufen.<br />

Auch der Humor hat s<strong>ein</strong>en Platz. Dann nämlich,<br />

wenn die „Vaca Lusa“, die Lusitanische Kuh<br />

auftritt. Sie bringt <strong>ein</strong>e riesige Schar Kinder mit,<br />

alle kostümiert. Und nicht nur als traditionelle,<br />

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hochschwangere Braut <strong>und</strong> heiratsunwilliger<br />

zukünftiger Schwiegersohn. N<strong>ein</strong> auch als<br />

messerschwingender Vater der Braut, der gleich<br />

den Priester mitgebracht hat. Das Bräutchen ist<br />

perfekt besetzt <strong>und</strong> verkleidet. Spindeldürr <strong>und</strong><br />

hoch aufgeschossen geben ihr zwei Ballone, <strong>ein</strong>er<br />

vor den Bauch geb<strong>und</strong>en, der andere als kurviger<br />

Hintern die nötige Glaubwürdigkeit.<br />

Für lokalen Kontext sorgen der „Urubu Malando“,<br />

der Nichtstuer-Aasgeier, verliebt in die „Garça<br />

Namoradeira“ die flitterhafte Frau Reiher. Sie<br />

tragen w<strong>und</strong>erbar zerzauste Federkleider, das<br />

ihre entsprechend knapp bemessen, <strong>und</strong><br />

schnäblige Masken. Beide tanzen wie zwei<br />

Wirbelwinde. Nur der „Curandeiro“, der Heiler<br />

mit s<strong>ein</strong>em furchterregenden Make-up <strong>und</strong> den<br />

effektvollen Sprüngen stellt sie alle in den<br />

Schatten. Aber da kommt sie schon, die<br />

Lusitanische Kuh, die „Vaca Lusa“. Weiß, schwarz<br />

gefleckt, an den gekrümmten Hörnern Glitter, die<br />

B<strong>ein</strong>e des Mannes, der sie trägt, von <strong>ein</strong>em<br />

schrillgrünen Volant mehr schlecht als recht<br />

versteckt, vollführt sie ihre tollen Hüpfer, bis sie<br />

dann vom Bauer, was für <strong>ein</strong> Unglück,<br />

niedergestreckt wird. Die Frau des Bauers ist<br />

schwanger <strong>und</strong> nichts gelüstet sie mehr als <strong>ein</strong>e<br />

frische Rinderzunge. Aber kaum ist ihr Tod<br />

betrauert, kommt schon die w<strong>und</strong>ersame<br />

Rettung. Sie wird unter den anfeuernden Rufen<br />

des Ansagers wiedererweckt <strong>und</strong> tanzt noch <strong>ein</strong>e<br />

lustige R<strong>und</strong>e, zusammen mit dem ganzen<br />

Kinderreigen <strong>und</strong> den schwarzen Fre<strong>und</strong>innen,<br />

auch sie Kühe, schwarz, weiß gescheckt.<br />

Irgendwann, sehr viel später gilt es dann Abschied<br />

zu nehmen. Aber das Jahr hat noch <strong>ein</strong> paar<br />

andere Festlichkeiten auf Lager. Schon sieht man<br />

sich wieder.<br />

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Feierlichkeiten zu Ehren São Pedros des Heiligen der Fischer<br />

29. Juni - Santarém <strong>und</strong> Alter do Chão<br />

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São Pedro 2015, Santarém<br />

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São Pedro, Alter do Chão<br />

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São Pedro 2016, Alter do Chão<br />

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São Pedro 2017, Alter do Chão<br />

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Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro, Santarém<br />

Endlich legt die Manelito II ab. In ihrem Bauch<br />

reiht sich der Chor der Sänger <strong>und</strong> Sängerinnen,<br />

alle Fischer, Mitglieder der Fischerkooperative<br />

Z 20 auf. Schon legt <strong>ein</strong>es der Saxofone klagend<br />

los, die Trompete fällt <strong>ein</strong>. Die Trommel <strong>und</strong> die<br />

mächtige Pauke schlagen den Takt. Frei schwingt<br />

sich die ungebildete Stimme über die k<strong>ein</strong>e<br />

Menschenmenge. Singt ab Blatt <strong>ein</strong>es der vielen<br />

Lieder zu Ehren des Schutzpatrons São Pedro, des<br />

heiligen Petrus, dessen Tag, den 29. Juni, sie<br />

heute zu Wasser feiern. Lustig flattern die<br />

schwalbenschwänzigen Fähnchen, aus billigem<br />

blauem <strong>und</strong> weißem Stoff an holzige Stöckchen<br />

genagelt, über die Reling, langsam von Hand zu<br />

Hand über´s Hauptschiff verteilt.<br />

Die Manelito II führt die Prozession zu Wasser an.<br />

Bedächtig nur, zögerlich bekommt der Umzug<br />

mehr Körper, mehr Substanz. Die Tage des<br />

heiligen Petrus sch<strong>ein</strong>en gezählt. Fischer ist k<strong>ein</strong><br />

erstrebenswerter Brotberuf mehr, es fehlt an<br />

Nachwuchs. Zudem sind viele der Bootsbesitzer<br />

evangelisch geworden, wie es <strong>ein</strong> anderer<br />

ausdrückt, <strong>und</strong> jagen damit anderen Mythen<br />

nach. Aber noch sind sie dabei, die São Pedro II,<br />

die Luara I <strong>und</strong> die Malouvida genauso wie die<br />

Veloso, die Aliança II <strong>und</strong> auch die Hafenfeuerwehr.<br />

Auch die Calypso Fashon, genauso mit<br />

Schreibfehler, lässt sich nicht lumpen. Die meisten<br />

Schiffe schmücken sich hoch auf dem Dach im<br />

Dreieck mit den traditionellen Wimpeln oder<br />

Papierstreifen. Die winzige Malouvida, nicht viel<br />

mehr als <strong>ein</strong> Ruderboot mit Motor, ist gar mit<br />

unendlich vielen lamettaglänzenden Streifen<br />

hochgeputzt, überragt von <strong>ein</strong>er Heiligenfigur, von<br />

<strong>ein</strong>er brasilianischen Flagge begleitet.<br />

Zum Schluss fahren im Kielwasser der Manelito II<br />

mehr als 60 weiße, blau abgesetzte Schiffe, Boote<br />

<strong>und</strong> Bötchen, die meisten festlich geschmückt.<br />

Alle folgen sie der kl<strong>ein</strong>en, holzgeschnitzten Heiligenfigur.<br />

Sie wurde, mit ziemlichem Aufwand,<br />

unter Stoßen <strong>und</strong> Ächzen ganz nach oben aufs<br />

Oberdeck buxiert. Steht da, stolze Kühlerfigur, nur<br />

von zwei nicht weniger stolzen Männern bewacht<br />

<strong>und</strong> den beiden Standarten flankiert, hoch oben<br />

über dem mächtigen Steuerrad des Kapitäns.<br />

In weitem Bogen geht es im Konvoi den Kais<br />

entlang, an den gesichtslosen Hochhäusern vorbei.<br />

Soeben fahren wir an der Fischerkolonie vorbei,<br />

wo von <strong>ein</strong>er riesigen Treppe aus viele bunt<br />

gewandete Menschen herüberwinken. Es geht an<br />

der antiken Kirche vorbei, dann hinaus auf den<br />

Fluss, breit wie <strong>ein</strong> Meer. Schon schneidet der<br />

Konvoi das braungraublaue Wasser, sticht noch<br />

weiter hinaus, da wo sich die blauen Wasser des<br />

Tapajós mit den schlammigen des Amazonas<br />

treffen, neben<strong>ein</strong>ander her fließen, sich irgendwo,<br />

viel weiter flussabwärts, ver<strong>ein</strong>igen. Noch<br />

unterhalten sich die Chorknaben <strong>und</strong> -mädchen<br />

über Gott <strong>und</strong> die Welt, tragen die strahlend roten<br />

Chorgewänder zusammengefaltet in den Händen.<br />

Das Kruzifix <strong>und</strong> die Glocken liegen ungebraucht<br />

auf <strong>ein</strong>em Brett. Bald schon, schon sind auf dem<br />

Rückweg, werden sie sie überstreifen. Sie helfen<br />

sich gegenseitig. Schon ziehen sie sich die<br />

Chorhemden über den weißen Kutten zurecht.<br />

Einer steckt das Kruzifix hoch auf <strong>ein</strong>e schmucklose<br />

Stange. Ein letztes <strong>Foto</strong> mit dem gezückten<br />

Handy.<br />

Auf der schmalen Bank hat sich das kl<strong>ein</strong>e<br />

Mädchen mit dem festlichen roten Satinkleid<br />

schon hingelegt, zu viel Fahrtwind, Hitze <strong>und</strong><br />

Sonne. Die Großmutter mit den indigenen<br />

Gesichtszügen streicht ihr leise das Kleidchen<br />

zurecht, am Arm die pinkfarbene Kindertasche in<br />

Tierform.<br />

Wieder am Kai folgen sie alle der kl<strong>ein</strong>en,<br />

holzgeschnitzten Heiligenfigur, nach <strong>ein</strong>igem hin<br />

<strong>und</strong> her wieder auf die Straße buxiert. Am Kai<br />

sorgt gar <strong>ein</strong>e Politesse in engem, grauem<br />

Uniformrock <strong>und</strong> Bluse für Ruhe <strong>und</strong> Ordnung.<br />

Der Aufwand lohnt kaum; zur Prozession sind<br />

fast nur Alte, Frauen <strong>und</strong> Kinder gekommen.<br />

Stolz warten sie auf die kl<strong>ein</strong>e Figur. Aber vorher<br />

kommen noch die Bannerträger, es sind zwei<br />

bestickte Banner, <strong>ein</strong>er der Cooperative, der<br />

andere die brasilianische Nationalflagge. Dann<br />

kommt auch das blau-weiße, <strong>ein</strong>seglige<br />

Miniaturboot. Es ist liebevoll <strong>und</strong> naturgetreu<br />

nachgebaut, mit <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Blumengirlande<br />

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verschönt, am Bug <strong>ein</strong>e Schnur mit aufgereihten<br />

schwalbenschwanzigen Fähnchen. Auf dem<br />

großzügigen Segel der heilige Petrus aufgedruckt.<br />

S<strong>ein</strong>e Statue, gleich dahinter mitgetragen, ragt<br />

kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> ernst aus dem Meer grellbunter<br />

Plastikblumen, hochsynthetisch, um so vieles<br />

bunter <strong>und</strong> damit um so viel schöner als echte. Er<br />

ist bärtig, mit Tonsur oder Glatze, s<strong>ein</strong>e Kutte<br />

sticht gegen die üppigen Girlanden ab, die vorne<br />

aus dem Tragegestell quellen <strong>und</strong> auch vom<br />

feierlichen Satinband, das sie ihm um den Saum<br />

gelegt haben. Schon im abendlichen Kupferlicht<br />

zieht dann die Prozession zur Kirche zur<br />

abschließenden Messe. Hin <strong>und</strong> wieder löst sich<br />

<strong>ein</strong>er, kniet nieder, küsst das Satinband vom Saum<br />

der Heiligenfigur, geht wieder in der Menge auf.<br />

Vor der Kirche, türkisblau, lauschen alle den aufbauenden<br />

Worten des vollständig versammelten<br />

lokalen Klerus. Die wartende Menge hat sich stark<br />

vergrößert. Auch die schwarze Getränkeverkäuferin<br />

<strong>und</strong> der Zuckerwattehändler mit s<strong>ein</strong>er<br />

grellbunten Ware halten ehrfürchtig still.<br />

für<br />

In der Erinnerung verschwimmt die gleißend aufs<br />

Kielwasser brechende Abendsonne mit den<br />

weißen, schwalbenschwänzigen Fähnchen <strong>und</strong><br />

den unzähligen Booten. Im Gegenlicht bilden sie<br />

<strong>ein</strong> gleichschenkliges Dreieck <strong>und</strong> verwischen sich<br />

zusammen mit den glitzernden Wassern zu <strong>ein</strong>er<br />

<strong>ein</strong>zigen weiß-silbernen Symphonie.<br />

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Nationalfeiertag 7 de Setembro mit Parade<br />

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Immer Freitags<br />

Chorinho<br />

bei Dona Glória<br />

Alter do Chão


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Allerseelen, 2017<br />

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Der Tag nach Allerseelen, 2016<br />

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Círio de Nossa Senhora da Conceição<br />

Santarém, Pará<br />

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Tropische Weihnachten<br />

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<strong>Amazonien</strong><br />

Konzept, Recherche, <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong> Texte <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> –<br />

susangeba@gmail.com<br />

Alle Rechte vorbehalten, copyright <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />

Danke an alle, die mich zu diesem Werk inspirierten <strong>und</strong> sich in<br />

irgend <strong>ein</strong>er Form darin wiederfinden.<br />

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