Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata
Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas
Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas
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-§§§§§<br />
AMAZONIEN<br />
Ein <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong><br />
Susan <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 2
<strong>Amazonien</strong><br />
Konzept, Recherche, <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong> Texte <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />
susangeba@gmail.com<br />
Alle Rechte vorbehalten, copyright <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />
Danke an alle, die mich zu diesem Werk inspirierten <strong>und</strong> sich in<br />
irgend <strong>ein</strong>er Form darin wiederfinden. Danke auch m<strong>ein</strong>er lieben Fre<strong>und</strong>in Vreni Müller.<br />
Sie hat mich immer wieder bestärkt <strong>und</strong> mir den nötigen Mut gegeben.<br />
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Aus dem brasilianischen Amazonas oder M<strong>ein</strong> Amazonas hat Stallgeruch<br />
Was macht <strong>ein</strong>en Reisenden zum Reisenden? João<br />
Meireilles Filho legt in der Einleitung für s<strong>ein</strong><br />
w<strong>und</strong>erbares Buch „Große Expeditionen in den<br />
brasilianischen Amazonas“ die folgenden Kriterien<br />
fest: Ein Reisender ist jener, der durch s<strong>ein</strong>e<br />
Reisen neue Perspektive, <strong>ein</strong>en neuen Blick auf<br />
die Welt ableitet. Wobei er nicht vergisst zu<br />
erwähnen, wie schwer es <strong>ein</strong>em Reisenden fallen<br />
kann, s<strong>ein</strong>e intellektuelle <strong>und</strong> kulturelle<br />
Überlegenheit abzulegen, <strong>und</strong> dass es wohl noch<br />
schwerer ist, nicht zu werten.<br />
Ob Marsten Bates, <strong>ein</strong>er dieser Reisenden, wohl<br />
recht hatte, als er den Amazonas als <strong>ein</strong>e Welt<br />
beschrieb, die sich durch den Menschen weder<br />
verändern, noch dominieren lässt <strong>und</strong> sich<br />
k<strong>ein</strong>em s<strong>ein</strong>er Ziele unterwirft?<br />
Diesen beiden Giganten setze ich selbstbewusst<br />
m<strong>ein</strong>e eigenen Recherchen, Eindrücke <strong>und</strong><br />
Erfahrungen aus dem brasilianischen Amazonas<br />
entgegen. Ein Amazonas, m<strong>ein</strong> Amazonas, <strong>ein</strong><br />
Amazonas mit Stallgeruch. Die Bild- <strong>und</strong><br />
Textsammlung „<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lesebuch</strong>“ entstand aus dem Wunsch heraus, mir<br />
selber <strong>ein</strong> riesiges Dilemma zu erklären. Das<br />
Klischee<br />
<strong>Amazonien</strong> besser zu verstehen <strong>und</strong> zu<br />
hinterfragen. Den Widerspruch zu hinterfragen,<br />
dass es im Amazonas k<strong>ein</strong>e Menschen gibt, es aber<br />
genau diese Menschen sind, die ihn zerstören. Die<br />
weit verbreitete romantische Vorstellung, das<br />
Klischee des Amazonas, <strong>ein</strong> unberührtes Paradies<br />
gibt es nämlich nicht. Es ist nämlich <strong>ein</strong> Teil der<br />
Welt, der paradoxerweise auf <strong>ein</strong>e hochkomplexe,<br />
hochinteressante Geschichte, sie begann lange vor<br />
der Besitznahme durch die Portugiesen,<br />
zurückblickt. Nicht desto Trotz geistert die<br />
Vorstellung, dass es hier an jeder Ecke<br />
Giftschlangen, menschenfressende Piranhas <strong>und</strong><br />
vielleicht gar Löwen oder gar Zebras gäbe durch<br />
die meisten Köpfe, auch der Brasilianer ….. .<br />
Vervollständigt vom Fixierbild Indio, Pardon, der<br />
indigenen Bevölkerung, die unseren Traum vom<br />
puren unschuldigen Wilden so perfekt<br />
materialisiert, gleichzeitig mythisch <strong>und</strong> von den<br />
unterschiedlichsten Unholden verfolgt.<br />
Über den Amazonas ist schon so viel geschrieben<br />
worden. Aber m<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong> kämmt alle<br />
Klischees gegen den Strich. Zeigt <strong>ein</strong>en Amazonas<br />
außer Reichweite, der Reichweite der schönen,<br />
sich ständig wiederholenden Bilder. M<strong>ein</strong><br />
Amazonas hat Stallgeruch. M<strong>ein</strong> Amazonas zeigt die<br />
Natur, die Menschen, ihre Geschichte, ihre Kultur<br />
<strong>und</strong> ihren Alltag total subjektiv, ich hoffe<br />
respektvoll, so wie ich den Amazonas erlebe.<br />
Einige der Texte, <strong>ein</strong>ige der Themen oder<br />
Anekdoten mögen sich wiederholen. Es war mir<br />
wichtiger, den selben Kontext mehrmals<br />
darzustellen. Besonders die historische Perspektive<br />
sch<strong>ein</strong>t mir unabdingbar. Einen kompletten<br />
historischen Abriss gibt es auf Seite 556-570, Belém<br />
im Auge des Tropensturms.<br />
In Zeiten des Internets sehe ich das Werk als <strong>ein</strong>e<br />
Art Bilder- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong>, <strong>ein</strong> Puzzle, die Summe<br />
von vielen kl<strong>ein</strong>en Einzelteilen, die man gerne auch<br />
<strong>ein</strong>zeln lesen kann.<br />
Viel Vergnügen!<br />
Die Autorin<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 13
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 14
Prolog<br />
Ribeiro, Ribeirinho<br />
Ribeiro, Ribeirinho<br />
Do sempre e do mesmo<br />
ano sim, ano não.<br />
O rio sobe, o rio desce,<br />
visto ou não visto a mãe d´água.<br />
Avistas, não avistas as beiras dos mares,<br />
dos rios, submersas nas águas<br />
acinzeladas pelas chuvas,<br />
ano sim, ano não.<br />
Do sempre e do mesmo<br />
ano sim, ano não.<br />
As águas chegando, as águas irão,<br />
visto ou não visto a cobra, a grande.<br />
Avisto, não avisto o verde tenso<br />
assim não tão denso<br />
lá longe, nas margens verdes<br />
desde sempre, eternamente,<br />
regadas, não regadas,<br />
ano sim, ano não, in<strong>und</strong>adas.<br />
O tempo é o mesmo<br />
ano sim, ano não.<br />
As águas sobem, as águas descerão.<br />
Visto ou não visto as bocas d´água,<br />
não tão gulosas assim.<br />
Desde sempre, para sempre<br />
e os mortos enterrados logo ali<br />
onde as águas não sobem,<br />
não sobem jamais.<br />
Ano sim, ano não.<br />
Ribeiros, ribeirinhos descansarão.<br />
Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />
vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />
Der Fluss steigt, der Fluss fällt,<br />
hat man die Mutter der Wasser gesehen oder nicht.<br />
Erhascht oder nicht die Grenzen der Meere,<br />
der Flüsse, untergetaucht unter die Wasser,<br />
von den Regen angegraut,<br />
Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus.<br />
Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />
vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />
Die Wasser kommen, die Wasser gehen,<br />
gesehen oder nicht gesehen die Schlange, die große.<br />
Erblickt oder nicht das kompakte Grün.<br />
Eigentlich gar nicht so dicht<br />
die grünen Ufer, weit weg.<br />
Seit immer schon, seit Ewigkeiten,<br />
geflutet, nicht geflutet,<br />
überschwemmt, <strong>ein</strong> Jahr ja, das andere nicht.<br />
Die Zeit ist die gleiche<br />
<strong>ein</strong> Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />
Die Wasser steigen, die Wasser fallen.<br />
Hat man den Schl<strong>und</strong> des Wassers<br />
gesehen oder nicht.<br />
Gar nicht so gierig,<br />
seit immer schon <strong>und</strong> für immer<br />
<strong>und</strong> die Toten genau dort begraben,<br />
wo die Wasser nicht hinkommen,<br />
niemals so hoch steigen.<br />
Ein Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />
Ribeiro, Ribeirinho, ruh dich aus.<br />
Do sempre e do mais<br />
ano sim, ano não.<br />
Como sempre e mais do mesmo.<br />
O tempo chegará, virá.<br />
Visto ou não visto o peixe, o boi.<br />
Avisto, não avisto no espelho d’ ‘agua<br />
assim não tão f<strong>und</strong>o<br />
no f<strong>und</strong>o as almas penadas.<br />
Ano sim, ano não.<br />
Jahr <strong>ein</strong>, Jahr aus,<br />
vom Gleichen <strong>und</strong> vom Selben.<br />
Wie immer <strong>und</strong> noch mehr.<br />
Die Zeit wird kommen, wird sie kommen?<br />
Gesehen oder nicht gesehen die Seekuh.<br />
Kann sie, sehe sie nicht im Spiegel der Wasser,<br />
gar nicht so tief<br />
auf dem Gr<strong>und</strong> die Seelen der Verdammten.<br />
Ein Jahr ja, <strong>ein</strong> Jahr nicht.<br />
.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 15
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 16
Inhalt<br />
Aus dem brasilianischen Amazonas oder<br />
M<strong>ein</strong> Amazonas hat Stallgeruch<br />
Prolog<br />
Ribeiro, Ribeirinho 16<br />
Im Flug<br />
Einleitung<br />
M<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong> - Versuch <strong>ein</strong>er Einleitung<br />
Klimaschock<br />
Erste Eindrücke 29/30<br />
Von den Hitzen 32/33<br />
Von den Wassern 36/37<br />
Nicht Regen, Sintfluten 42<br />
Tropenregnen 48<br />
Konzert im Regen 52<br />
Unberührt 54<br />
Babyrosa 57<br />
<strong>Amazonien</strong> – grüne Hölle<br />
oder Paradies?<br />
Überwältigens Immergrün 65/66<br />
Ökosystem Festes Land/Terra Firme 67<br />
Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün 76/77<br />
Natur pur – von wegen! 85/86<br />
Amazonische Savannen 93<br />
Tropennutzwald 103<br />
S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro 106<br />
Von der Paranuss bis zum Kumarin - die<br />
«Drogas do Sertão» 109/110<br />
Der Schokoladenbaum 112<br />
Holz, das nach Rosen riecht 116-120<br />
Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften 122/123<br />
Nachhaltigkeit ja, aber wie? 126/127<br />
Zauberwort Biotechnologie 128<br />
Curupira, der Beschützer des Regenwalds 130<br />
Das Messer 140<br />
Ihre Majestät 146/147<br />
Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung 152<br />
Von den Wassern<br />
Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong><br />
Schwarzwasserflüsse 167<br />
Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee 172<br />
Zusammenfließen der Wasser, Naturschauspiel –<br />
Encontros das águas 175<br />
Flusses Ernte 178<br />
Über den grünen See 194/196<br />
Der verzauberte Wald 199<br />
Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem 206<br />
Regelmäßig überflutet, die Várzea 210<br />
Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut 214<br />
Aus dem Tierreich<br />
Stimmen des Amazonas 221<br />
Von der Schlange verschlungen / Hart wie St<strong>ein</strong> 223<br />
Die Unsichtbaren 228/229<br />
Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln 235/236<br />
Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar 239/240<br />
Die Wespe 242<br />
S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier 246<br />
Fischreichtum, praktisch unbekannt 252/253<br />
Am Strand<br />
Ein perfekter Sonntag 269/270<br />
Zu Schiff<br />
Seefahrers erste Reise 289-291<br />
Fast im Paradies 299<br />
Am Kai 306-308<br />
Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die<br />
Glorie Gottes 311<br />
Der Kapitän 315/316<br />
Der Dolarsch<strong>ein</strong> 318<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 17
Caboclos Universum<br />
Letzte Grenzen<br />
Indigenes – die ewige Faszination 328<br />
Negiertes Erbe 335-337<br />
Vom Kolonisiert-Werden 339-342<br />
Ein Platz an der Sonne 347/348<br />
Fremde unter sich / Zo’é 352<br />
Von den Quilombolas, den Nachfahren<br />
geflüchteter Sklaven 355/356<br />
Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos & Caboclos 366/367<br />
Arigó – oder im Land der Blinden ist der<br />
Einäugige König 369/370<br />
Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name 371<br />
Caboclos Haus 377<br />
Die Mutter der Wasser 380/381<br />
Von Schönheit leben 383/384<br />
Amazonischer Alltag<br />
Reale Realitäten 400-402<br />
Das ist halt so….. 404<br />
Globalisierung auf amazonisch 406<br />
Die Bibliothek 408-411<br />
Der Portraitkult 417<br />
Paternal 419/420<br />
Abends auf dem Kirchplatz 426<br />
Glaubensbekenntnisse 430/431<br />
Noch mehr Glaubenssachen 432<br />
Der Ur-Zaun 433<br />
Bettwäsche / Sehr erfreut, Kakerlake 436<br />
Von allerlei Krankheiten 438-441<br />
Das geografische Tier 442<br />
Allerlei Verkehrsmittel 443-456<br />
Vom Transportieren 457-474<br />
Allerlei Verkehrsmittel II 475-477<br />
Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? 479<br />
N.T. <strong>und</strong> i9 481<br />
Chic caboclo 484/485<br />
Ekel, ganz privat 490-493<br />
So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn! 498/499<br />
Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit 502/503<br />
Überliefertes 504<br />
Vom Anpreisen 513/514<br />
Der König der schwarzen Cocada 518/519<br />
Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann 521<br />
Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier,<br />
verehrte K<strong>und</strong>in! 526/527<br />
Deutscher Brandtw<strong>ein</strong> / Späte <strong>und</strong> andere<br />
Ein- <strong>und</strong> Ansichten / Tierisches 528<br />
Im Kreuzfeuer 530<br />
Hinter Gittern 537/538<br />
Art-Cabocla 542<br />
Urbanes <strong>Amazonien</strong><br />
Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte –<br />
<strong>ein</strong> historischer Abriss<br />
556-560 <strong>und</strong><br />
566-570<br />
Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I 579-582<br />
Belém der Jesuiten, Museu Sacra Santo Alexandre 585<br />
Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II 598<br />
Kacheln 601-602<br />
Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige 608/609<br />
Belém modern 614<br />
Von den Mangobäumen 616<br />
Museum Goeldi, Belém 620/621<br />
Paris in den Amerikas 629/630<br />
Wenn die Tiere um ihr Glück spielen 633<br />
Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit 645-647<br />
Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates 653<br />
Im Hinterhof 654<br />
Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro 632-634<br />
Manaus 665/666<br />
Manaus große alte Lady, das Theater 672-674<br />
National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque 683/684<br />
An der Bushaltestelle 686/687<br />
Im Museum des Kautschuks 693<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 18
<strong>Amazonien</strong> isst<br />
Ode an die amazonischen Töpfe 702/703<br />
Cupuaçu 705<br />
Die Eisdiele 707<br />
Guaraná, der Energiedrink 709<br />
Maniok – die Vielfältige 717/718<br />
Das Haus der Farinha 724<br />
Heute ist Farinha-Tag 725<br />
Roter Açaí – weißer Açaí 734/735<br />
Der frischeste Fische der Welt! 741-743<br />
Remoso <strong>und</strong> andere Tabus 745<br />
Vom Salz 749/750<br />
Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte 752<br />
Der Brei 755<br />
Ein regionales Frühstücksbankett 757<br />
Köstliche Straßenkost 761<br />
X-alles inklusive 766<br />
Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets 772<br />
Der verspeiste Panther 774/775<br />
Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten 781<br />
Padres Büchse 786/787<br />
An den, der mich liest oder Der Jesuit 788<br />
Caboclos Kultur<br />
Gerüche, Düfte, Parfüms 793/794<br />
Vom magischen Bad voller Düfte oder<br />
“Cheiro cheiroso” 797/798<br />
Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern 801<br />
Uschi, die Duftende 803<br />
Chico, der Schlangenflüsterer 805-808<br />
Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen<br />
Verwandlung 809<br />
Vom Schönheitskult 815/816<br />
Der rosafarbene Delfin 819/820<br />
Grauer Delfin gegen den rosafarbenen –<br />
Sairé Alter do Chão 844/845<br />
Carimbó, Musik mit Humor / Guitarrada 849/850<br />
Hinterland<br />
Urbe Amazonas 861/862<br />
Santarém oder Vom Ende der Welt 871-873<br />
Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong> 888/889<br />
Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum<br />
Henry Fords 896-898<br />
Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden 901<br />
Der Wasserturm 908/909<br />
Vom Festival der Früchte 915<br />
Se vira! – Hilf dir selbst! 919<br />
Herzblatt 921<br />
Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“ 925-927<br />
Obidos, die Kehle des Amazonas 938/939<br />
Para Inglês ver 942-944<br />
Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen 946/947<br />
Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland 951<br />
Marajó 958/959<br />
Bragança 964<br />
<strong>Amazonien</strong> feiert<br />
Maizenaschlachten am Karneval 976<br />
Karneval an der Baía do Sol 978/979<br />
Strassenkarneval 981/982<br />
Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit 990/991<br />
Junifeste 1004/1005<br />
Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro,<br />
Santarém 1015/1016<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 19
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 20
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 21
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 22
Im Flug<br />
Sozusagen im Flug zieht <strong>ein</strong> halber Kontinent<br />
unter mir vorbei. Drei<strong>ein</strong>halb St<strong>und</strong>en lang kann<br />
ich von m<strong>ein</strong>em Fensterplatz aus verfolgen, wie<br />
sich Brasilien verändert. Beim Aufsteigen unter<br />
mir die Stadt Manaus. Betongrau, erdfarben, wie<br />
alle anderen Städte in unendlich viele Quadrate<br />
zerschnitten, zerhackt. Nur am Horizont dunkles,<br />
fast schwarzes Grün. Dann <strong>ein</strong>, auch im Verhältnis<br />
zur endlosen Stadt, riesiger Streifen Wasser, der<br />
immer noch breiter wird. Ein paar lang gezogene<br />
Inseln oder halt, wohl <strong>ein</strong>e Flussschlaufe, <strong>ein</strong> Knie.<br />
Überall verteilt Wolkengebirge, schwerelos in den<br />
Raum gestellt, schwebend, wie tausend kunstvoll<br />
aus<strong>ein</strong>andergerissene Wattebällchen. Hart<br />
abgegrenzt mache ich ihre Schatten da auf dem<br />
fernen Boden aus.<br />
Was ist das denn? Ein paar riesige Schlieren,<br />
auslaufend <strong>und</strong> mächtig, wie wenn jemand nach<br />
dem Malen der Wasserbecher umgefallen wäre.<br />
Die trübe Soße, zusammen gewaschen aus allen<br />
verwendeten Farben, zieht weite Schleifen, teil<br />
sich, fließt in alle Richtungen. Dann aber, wie<br />
wenn das Resultat den Verursacher nicht<br />
befriedigt hätte, <strong>und</strong> er es sozusagen verdünnen<br />
wollte, schickte er ihm frischeres, blaues Wasser<br />
nach, veranstaltete <strong>ein</strong> gigantisches, nasses<br />
Treffen, denn die beiden Wasser laufen <strong>ein</strong>e lange<br />
Weile neben<strong>ein</strong>ander her, ohne sich zu<br />
vermischen. Klar grenzen sich die Konturen<br />
von<strong>ein</strong>ander ab – wir fliegen gerade über das<br />
Treffen der Wasser vor Manaus! Hier fließt der<br />
Rio Negro in den Solimões, der da zum Amazonas<br />
wird.<br />
Die Muster wiederholen sich in tausenderlei<br />
monotonen Varianten. Ungezählte ähnliche<br />
Flussläufe, f<strong>ein</strong> verästelt, dazwischen dunkles<br />
Grün. Mal sind es f<strong>ein</strong>e Honigfäden, mal<br />
lehmdreckige Soßen, die jemand über <strong>ein</strong> holprig<br />
grünes Kohlblatt hat laufen lassen. Dann wieder<br />
sind es Straßen, erdfarben, erkennbar an ihrer<br />
regelmäßigen Breite. Jetzt sind wir genau über<br />
anderen schlammbraun milchkaffeefarbenen<br />
Wassern. Jede <strong>ein</strong>zelne Wolke verschattet <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>es Stück Erde genau unter ihr. Fällt der<br />
Wolkenschatten auf die Wasser, verfärben auch<br />
sie sich dunkler, werden fast graubraun. Andere<br />
Wasser tauchen auf, blauer, grünlicher,<br />
dazwischen immer wieder sehr viel Kohl. Eine<br />
<strong>ein</strong>zelne Straße, braun <strong>und</strong> gleichmäßig<br />
gew<strong>und</strong>en, schiebt sich von unten her in den<br />
Ausschnitt, führt ins Nirgendwo, direkt in die<br />
Wolken, die den Horizont verschleiern. Andere<br />
Wolken, dazwischen gehängt, geschoben, reißen<br />
aus<strong>ein</strong>ander, ballen sich gebirgig auf, mehrstöckig,<br />
verdicken sich oder werden wieder zu Schlieren,<br />
Schleiern, Dunst.<br />
Lasse mir von früher erzählen, als man von Belém<br />
bis Manaus sechs, sieben St<strong>und</strong>en flog, <strong>und</strong> nicht<br />
wie jetzt, in der halben Zeit, in drei<strong>ein</strong>halb<br />
St<strong>und</strong>en bis São Paulo kommt. Die Flugzeuge<br />
waren Militärmaschinen, die Stewards trugen rote<br />
Hemden, gut erkennbar im grünen Dschungel,<br />
<strong>ein</strong>e Machete am Gürtel <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Revolver. Die<br />
Passagiere saßen rechts <strong>und</strong> links im Rumpf des<br />
Flugzeuges, das Gepäck war notdürftig in der<br />
Mitte mit <strong>ein</strong>em Netz gesichert. Jeder bekam für<br />
den Notfall <strong>ein</strong>e Überlebensration zugeteilt, die<br />
für drei Tage reichen musste, in dieser riesigen<br />
Wildnis, die mir viel mehr Wasser zu haben<br />
sch<strong>ein</strong>t als festes Land. Mehr wie <strong>ein</strong>e grünbraune<br />
Hölle vorkommt, als wie das Paradies. Endlos,<br />
bläulich, bräunlich, riesige Landstriche ohne <strong>ein</strong>en<br />
<strong>ein</strong>zigen, menschlichen Eingriff.<br />
Eine oder <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb St<strong>und</strong>en später <strong>ein</strong> anderes<br />
Bild. Kupfrig, orangebraun die scharf<br />
abgegrenzten Felder, riesige Brocken, aus dem<br />
Urwald herausgeschnitten, herausgeholzt,<br />
dazwischen immer noch endlose bewaldete<br />
Flächen, Wolken, Wolkenschatten. Bis dann das<br />
bearbeitete, urbar gemachte Land immer mehr<br />
Besitz ergreift, überhandgewinnt, der Boden<br />
heller wird, sich immer mehr zerstückelt. Die<br />
Flüsse nurmehr f<strong>ein</strong>e Rinnsale, dazwischen immer<br />
wieder scharf <strong>und</strong> kantig abgeschnittene,<br />
kommerziell genutzte Flächen. Felder, bestellt<br />
oder brachliegend, verdrängen langsam aber<br />
stetig alles Grün, an dessen Stelle abgezirkeltes<br />
Beige, Braun <strong>und</strong> Graubraun tritt. Das Land ist<br />
nun fast vollständig aufgeteilt, bestellt, genutzt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 23
Winzige Resten Wald ringen dazwischen ums<br />
Überleben, dringen bis zu <strong>ein</strong>em andern,<br />
mächtigen Fluss vor. Unaufhaltsam der<br />
Fortschritt, die Zivilisation. Schon tauchen, fleckig<br />
aus<strong>ein</strong>ander laufend, die ersten Städte auf,<br />
werden immer mehr. Bald sind wir am Ende der<br />
Reise angelangt. Erstaunlich dreidimensional<br />
erheben sich, winzigen, dicht an dicht gesetzten<br />
Bauklötzchen gleich, beim Landeanflug die<br />
klotzigen, hochkantigen Kästchen der<br />
Hochhäuser, eng zum Zentrum, zum modernen<br />
Kern der Stadt zusammengeballt, aus <strong>ein</strong>em<br />
breiten Gürtel niedrig geduckter<br />
Einfamilienhäuser heraus. Alles von <strong>ein</strong>em<br />
komplexen Netz von Flüssen, halt, falsch, Straßen<br />
durchzogen.<br />
Noch zieht der Vogel <strong>ein</strong>e lange Schleife, bis<br />
dahin, wo sich die Ockerfarbe langsam, aber stetig<br />
ins letzte noch vorhandene Grün hin<strong>ein</strong> frisst, <strong>und</strong><br />
schon landen wir im Beton auf dem Asphalt.<br />
Bäume, Natur ganz generell, werden hier nur als<br />
Zierde, als Parks geduldet, ständig kontrolliert,<br />
gestutzt, zurecht geschnipselt, urban.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 24
<strong>Amazonien</strong><br />
Versuch <strong>ein</strong>er Einleitung<br />
«<strong>Amazonien</strong>», <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Textbuch über den brasilianischen Amazonas ergänzt den Band «Brasilien!»,<br />
ebenfalls <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Textbuch. Auch dieser Band schöpft aus m<strong>ein</strong>em F<strong>und</strong>us. Unter dem Titel «Brasilien!»<br />
sind zwanzig Jahre Brasilien versammelt. Lose Texte, <strong>ein</strong> paar Gedichte, viele <strong>Foto</strong>s. «<strong>Amazonien</strong>» spiegelt m<strong>ein</strong>e<br />
Jahre hier im Amazonas, der so ganz anders ist, als man ihn normalerweise vorgesetzt bekommt.<br />
Auch dieses Werk spiegelt <strong>ein</strong>e sehr eigene, vielleicht romantische, manchmal eurozentrische Weltsicht,<br />
wechselt zwischen bitterböse <strong>und</strong> Faszination. Auch dieses zweite Werk ist <strong>ein</strong>e, m<strong>ein</strong>e Liebeserklärung an den<br />
brasilianischen Amazonas <strong>und</strong> damit an Brasilien. Brasilien hat mich gelehrt, im Jetzt, im Heute zu leben. Der<br />
Amazonas hat mich gelehrt, noch toleranter zu werden, alles noch weniger eng zu sehen. Eine ganz besondere<br />
Faszination übt auch das amazonische Essen, die Küche Nordbrasiliens auf mich aus. Diese Faszination findet<br />
ihren Niederschlag in verschiedenen Kochbüchern zum Thema, die man auch im Internet finden kann.<br />
Das Werk «<strong>Amazonien</strong>» ist, wie das Brasilienbuch, daraus entstanden, dass ich mir den Amazonas erklären,<br />
erarbeiten musste. So vieles ist anders, komplexer, vielfältiger als das, was man landläufig über den Amazonas so<br />
liest. Als ich mich das erste Mal an die Aufarbeitung der amazonischen Geschichte machte, um die Komplexität<br />
des Heute endlich besser verstehen zu können, gab es unzählige Einzelquellen, aus denen ich mir m<strong>ein</strong>e<br />
Geschichte des Amazonas zusammen schrieb. Heute gibt es das ausgezeichnete Werk von Marcio Souza<br />
«História da Amazônia», geschrieben von <strong>ein</strong>em Insider, <strong>ein</strong>em Manauara, die noch genauere <strong>und</strong> tiefere<br />
Einblicke <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en historischen Abriss gibt.<br />
«<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> Bilderbuch» ist unprätentiös <strong>und</strong> es geht, wie ich hoffe, respektvoll mit den vielen,<br />
mir so ans Herz gewachsenen Menschen hier um.<br />
Beim Lesen viel Vergnügen <strong>und</strong> Toleranz, denn «M<strong>ein</strong> <strong>Amazonien</strong>» zeigt <strong>ein</strong> anderes <strong>Amazonien</strong>, als das, was<br />
man aus den Reiseprospekten kennt.<br />
<strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 25
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 26
Klimaschock<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 27
Klimaschock<br />
Erste Eindrücke 29/30<br />
Von den Hitzen 32/33<br />
Von den Wassern 36/37<br />
Nicht Regen, Sintfluten 42<br />
Tropenregnen 48<br />
Konzert im Regen 52<br />
Unberührt 54<br />
Babyrosa 57<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 28
Erste Eindrücke<br />
Nach <strong>ein</strong>er Woche ist mir noch immer fast alles<br />
fremd. Was macht man, wenn sich <strong>ein</strong> gemachtes<br />
Bild nicht mit der Wirklichkeit deckt? Ich habe<br />
weder mit diesem Riesen, diesem wuchtigen<br />
Ungetüm, noch mit dieser totalitären, alles<br />
dominierenden Natur gerechnet. Wo bleibt der<br />
Naturpark, den man mir angepriesen hat? Wo<br />
bleiben die überschaubaren, grandiosen<br />
Landschaften, die man mir auf den sorgfältig<br />
ausgewählten <strong>Foto</strong>s präsentierte? Verzweifelt<br />
suche ich den Regenwald m<strong>ein</strong>er romantischen<br />
Träume, m<strong>ein</strong>er unschuldigen Vorstellungen,<br />
m<strong>ein</strong>en Garten Eden. Wo sind sie geblieben? Alles<br />
ist befremdend. Befremdend die ungeheuren<br />
Distanzen. Fremd das riesige, graue Meer,<br />
ausgebreitet vor der Stadt wie <strong>ein</strong> riesiges, graues<br />
Tuch, leicht gewölbt, bis über den Horizont.<br />
Süßwasser-Meer, Zwitter, halb Fluss, halb See <strong>und</strong><br />
eigentlich das Delta des Amazonas. Fremd die<br />
endlosen, sandfarben Riesenstrände, verlassen,<br />
beleckt von trübem Wasser, weder süß noch<br />
salzig. Fremd, die „dreckigen“, gelbschlammigen<br />
Wassermassen, Flüsse, Wasserarme, die endlos<br />
<strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>bar ohne Ziel durch monotone Sümpfe<br />
mäandern.<br />
Auf dem Markt begegne ich den fremdartigen<br />
Wasserbewohnern. Berge von<br />
Süßwassercrevetten, in der Schale getrocknet.<br />
Riesige Fische, frisch, oder <strong>ein</strong>gesalzen, in<br />
mächtige Scheiben gehauen. Am meisten<br />
be<strong>ein</strong>druckt mich der schleimgraue, uralte Fisch.<br />
Wie <strong>ein</strong> Dinosaurier liegt er auf der Marmorplatte,<br />
breitmäulig <strong>und</strong> echsenhaft. Erloschen schauen<br />
s<strong>ein</strong>e tiefliegenden Glubschaugen ins Leere der<br />
schmutzigen Markthalle.<br />
Auch die monotone Schönheit des Regenwaldes<br />
berührt mich eigentümlich. Er ist von schiefrigem,<br />
gelblich-grauem Grün. Die paar wenigen Pflanzen<br />
wiederholen sich in seltsamer Monotonie. Das ist<br />
er also, der Amazonas aus den Schlagzeilen, die<br />
grüne Lunge der Erde, das bedrohte Paradies.<br />
„Brandrodungen im Amazonas verursachen<br />
Klimaveränderungen! Der Amazonas wird sterben!<br />
Die reiche Biodiversität der Welt steht vor der<br />
Zerstörung! Schützt die Brasilianischen Indios!“ –<br />
Tropisches Requiem. Auf der ganzen Welt ist<br />
„<strong>Amazonien</strong>“ in den Schlagzeilen. Jeder Zeitung<br />
lesende Europäer ist bestens über die<br />
<strong>ein</strong>schlägigen Zusammenhänge zwischen Ozonloch<br />
<strong>und</strong> den Brandrodungen im Amazonas informiert.<br />
Der Raubbau am Tropenholz gibt Stoff für manche<br />
reißerische Titelgeschichte. Drüben, in Europa,<br />
habe ich viel über die amazonischen W<strong>und</strong>er <strong>und</strong><br />
noch mehr über deren Zerstörung gelesen. Nichts<br />
davon ging mir unter die Haut. Es war weit weg.<br />
Jetzt prallen sie hart auf<strong>ein</strong>ander – das<br />
europäische Klischee „<strong>Amazonien</strong>“ <strong>und</strong> die<br />
unerwartete, m<strong>ein</strong>e persönliche amazonische<br />
Wirklichkeit.<br />
Schön? Schönheit? N<strong>ein</strong>. Diese unerwartete<br />
Wildheit ist <strong>ein</strong> Schock. Erst beim dritten, vierten<br />
Blick beginnt mich das Wilde endlich zu<br />
faszinieren. Zuerst sind es die Pflanzen. Alle sind<br />
enorm, zu groß, mehr als armlang,<br />
übermannshoch, vier, fünf Armlängen dick.<br />
Blattpflanzen, Palmwedel, Knorrenstämme, alle<br />
überdimensioniert. Ein Wald für Riesen! Für mich<br />
wird er zum Ur-Wald: ur-sprünglich, ur-wüchsig<br />
<strong>und</strong> ur-alt.<br />
Es ist m<strong>ein</strong> zweiter Tag in Belém, der alten, halb<br />
verlotterten, teilweise hässlich-modernen Stadt<br />
am Delta des Amazonas. Immer noch bin ich wie<br />
betäubt. Wie k<strong>ein</strong>e Reise zuvor beansprucht,<br />
strapaziert dieser Besuch alle m<strong>ein</strong>e Sinne. Eine<br />
ganz neue Erfahrung. Körper <strong>und</strong> Kopf sind<br />
gefragt, m<strong>ein</strong> ganzes Ich, m<strong>ein</strong> Geist, alles ist<br />
mit<strong>ein</strong>bezogen. <strong>Amazonien</strong> stellt unbekannte<br />
Herausforderungen an m<strong>ein</strong>en Tastsinn, an<br />
m<strong>ein</strong>e Zunge, an die Ohren, die Haut, ans Atmen.<br />
Eine Art Trance, <strong>ein</strong> Schock. Körperliche<br />
Wahrnehmungen verschmelzen mit visuellen.<br />
Auch kämpfe ich mit total unerwarteten Bildern.<br />
Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht s<strong>ein</strong> soll oder<br />
erstaunt. Ganz anders haben sie mir im alten<br />
Europa den Urwald präsentiert, auf sorgfältig<br />
ausgewählten Hochglanzfotos, in den<br />
Hochglanzmagazinen, den Reisebüchern.<br />
Seite um Seite W<strong>und</strong>erwelt Regenwald: pralles,<br />
exotisches Grün, wimmelnd von fremdländischer<br />
Schönheit – die schier unglaubliche Flora <strong>und</strong><br />
Fauna <strong>Amazonien</strong>s, unberührt <strong>und</strong> fast noch<br />
unerforscht. Der Begleittext schwankt zwischen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 29
wortgewaltigem Staunen vor den „W<strong>und</strong>ern des<br />
Amazonas“ <strong>und</strong> unwissenschaftlichem Schaudern<br />
vor der „Grünen Hölle“. Perfekte Werbung,<br />
kalkuliertes Marketing, Exotik <strong>und</strong> fremdartige<br />
Schauder versprechend oder exotischen<br />
Nervenkitzel – genau richtig für drei Wochen<br />
teuer bezahlten Urlaub.<br />
Ich glaube zu ahnen, wie sich Cabral, der<br />
„Entdecker“ Brasiliens, gefühlt haben mag, in dem<br />
Moment, als er das erste Mal s<strong>ein</strong>en Fuß auf<br />
brasilianisches Territorium setzte. Falsch,<br />
ungültig, wie weggewischt alles, was er bis dahin<br />
an Wissen über die Natur, die Pflanzen, die<br />
Bäume gesammelt hatte. Genau wie er befinde<br />
ich mich auf total neuem, irritierend<br />
unbekanntem Boden, in <strong>ein</strong>er fremden Welt.<br />
Alles, was bisher logisch, normal <strong>und</strong><br />
selbstverständlich war, muss korrigiert werden,<br />
angepasst <strong>und</strong> ergänzt. Ich betrete <strong>ein</strong>e andere<br />
Realität auf demselben Planeten. Später, als ich<br />
versuche, diesen Schock zu reflektieren, mir<br />
Literatur beschaffe, entdecke ich, dass diese<br />
m<strong>ein</strong>e „neue Welt“ sehr wohl bekannt ist. Der<br />
illustere <strong>und</strong> schwer zugängliche Klub der<br />
Botaniker <strong>und</strong> Wissenschaftler, in s<strong>ein</strong>e eigene<br />
Welt <strong>ein</strong>gesponnen, hat schon sehr viel<br />
Wissenswertes über <strong>Amazonien</strong> gesammelt.<br />
Schon im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert beispielsweise<br />
hatte es Italiener, Holländer, Deutsche <strong>und</strong> immer<br />
auch wieder Schweizer gegeben, die dieses<br />
Pflanzenwelt des Amazonas beschrieben,<br />
zeichneten <strong>und</strong> aufs Genaueste katalogisierten<br />
<strong>und</strong> analysierten.<br />
Aber gehen wir zum Anfang zurück. Es ist kurz vor<br />
Mittag; in <strong>ein</strong>er halben St<strong>und</strong>e landen wir in<br />
Belém. Wir sind schon über 3 St<strong>und</strong>en unterwegs.<br />
Wir kommen aus Brasiliens Süden, aus der<br />
pulsierenden 15 Millionen Kapitale São Paulo, mit<br />
Zwischenstopp in Brasília. Immer wieder drücke<br />
ich m<strong>ein</strong>e Stirn ans dickglasige Bullauge des<br />
Flugzeuges. Seit mehr als <strong>ein</strong>er St<strong>und</strong>e überfliegen<br />
wir <strong>ein</strong>e riesige, <strong>ein</strong>e enorme, <strong>ein</strong>e endlose,<br />
grünblättrige Ebene. Ein <strong>ein</strong>ziges, grünes Meer aus<br />
r<strong>und</strong>kuppeligen Bäumen, dicht an dicht, bis zum<br />
Horizont, blau geädert, mäandrierend durchzogen<br />
von Flüssen <strong>und</strong> Strömen. Endlich, der Flieger setzt<br />
auf. Ein letzter Blick aus dem Bullauge. Der<br />
Flughafen, Beton, <strong>ein</strong> paar Palmen, gesichtslos wie<br />
alle anderen. Kaum strecke ich aber m<strong>ein</strong>en Kopf<br />
aus dem Flugzeug, schlage ich m<strong>ein</strong> Gesicht gegen<br />
<strong>ein</strong> unsichtbares, dampfend heißes Tuch, <strong>ein</strong>e<br />
elastische, schwül-heiße Wand. Es sind gute 30<br />
Grad <strong>und</strong> die Luftfeuchtigkeit liegt bei 90 Prozent<br />
– <strong>ein</strong> thermischer Schock! Die nächsten Minuten<br />
erlebe ich wie in Zeitlupe. Kaum gelingt es mir, die<br />
ersten Schritte auf der neuen, fremden Erde zu<br />
machen. Unwillkürlich verlangsamen sich m<strong>ein</strong>e<br />
Bewegungen. Dumpf <strong>und</strong> schwerelos zugleich legt<br />
sich feuchte Schwüle auf m<strong>ein</strong>e Haut, <strong>ein</strong><br />
glibberiger Film. Imaginäre Zentnergewichte<br />
setzen sich auf m<strong>ein</strong>e Brust. Schon schnappe ich<br />
japsend nach Luft, m<strong>ein</strong>e Hand kommt langsam<br />
hoch zur Kehle – <strong>ein</strong> Fisch auf dem Trockenen. In<br />
mehreren Anläufen sauge, schnappe, presse ich<br />
die kostbare, lau-feuchte Luft in m<strong>ein</strong>e Brust, auf<br />
der das Tier sitzt, weiter bis zum Magen, bis in<br />
den Bauch. Sofort kondensiert das Wasser auf<br />
m<strong>ein</strong>em Körper. Auch ohne die kl<strong>ein</strong>ste<br />
Bewegung öffnen sich alle m<strong>ein</strong>e Poren, bilden<br />
sich überall kl<strong>ein</strong>e Schweißbäche. K<strong>ein</strong>e Faser<br />
m<strong>ein</strong>es Shirts bleibt ungenässt. Ich ertappe mich<br />
dabei, wie ich mich auf so selbstverständliche<br />
Dinge wie Atmen oder Gehen konzentrieren<br />
muss. Wirklich sehr anstrengend, diese<br />
Verbindung von Feuchtigkeit <strong>und</strong> Hitze!<br />
Automatisch mache ich es wie die Einheimischen,<br />
die „Caboclos“. Ich ergebe mich, liefere mich aus,<br />
übernehme ihren ungewohnt bedächtigen,<br />
pragmatischen Rhythmus. Hier hetzt k<strong>ein</strong>er.<br />
Später werde ich, wie alle hier, mindestens<br />
dreimal am Tag <strong>ein</strong> kühles Bad nehmen <strong>und</strong> mir<br />
dann, dreimal am Tag, frische Kleider anziehen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 30
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 31
Von den Hitzen<br />
Eigentlich halte mich für ziemlich hitzeresistent.<br />
Und ich hasse Klimaanlagen. Die schicken mich<br />
aus dem Amazonas direkt in die Antarktik. Aber<br />
schon nach drei Tagen in den Tropen ertappe ich<br />
mich dabei, dass ich das altmodische Taxi<br />
verfluche, das noch k<strong>ein</strong>e hat. Lieber die Busse<br />
nicht erwähnen, die nur bei starkem Fahrtwind<br />
<strong>und</strong> überall geöffneten Fenstern erträglich sind.<br />
Trotzdem – kann mich bis heute nicht<br />
entscheiden, was wohl unangenehmer ist. Das<br />
sich Kampflos-Ergeben oder das stoische<br />
Versuchen-zu-Widerstehen? Denn eigentlich ist<br />
jeglicher Widerstand absolut zwecklos. Wische<br />
mir, schon wieder, „ai, ai“, diskret <strong>ein</strong> paar dicke<br />
Tropfen Schweiß von Stirn <strong>und</strong> Oberlippe.<br />
Überhöre das fast zu jeder Jahreszeit<br />
angebrachte, hoch beliebte „Zu-heiß, wirklich zu<br />
heiß“-Small-Talk-Gestöhn. Hier im Norden<br />
variieren die heiß-feuchten Schwaden die<br />
immerselben, winzigen Hitzenuancen. Auch in<br />
den tiefsten Schatten, da wo sich weder Finger<br />
noch Blatt rührt. Schon hat er sich wieder<br />
angesammelt. Unschuldiger Schweiß kondensiert<br />
sich an, unter, oder ist es über den verschiedenen<br />
Schichten Anti-Mückenspray <strong>und</strong> Sonnenschutz?<br />
Verballt sich zu <strong>ein</strong>er eigenartig eklig-glitschigen<br />
Masse. Minuten nachdem ich <strong>ein</strong>es von mehreren<br />
täglichen Bädern genommen habe. Je mehr man<br />
sich darauf konzentriert, desto unerträglicher<br />
wird es! Destillieren sich, unablässig genährt,<br />
unkontrollierbare Rinnsale, jeglicher Kontrolle<br />
entzogen, rinnen aus Achselhöhlen <strong>und</strong><br />
Kniebeugen, kleben Haut an Haut, häufen sich<br />
ungefragt auf Oberlippe <strong>und</strong> Stirn, fließen über<br />
Schläfen, Wangen, lösen sich leise vom Kinn, pling,<br />
feiern klammheimlich Wiedersehen tief im<br />
Dekolleté.<br />
Auch wenn die Steigerung fast unmöglich ist –<br />
schlimmer sind nur die fantastischen<br />
Tropennächte! Entweder mühlt <strong>ein</strong> Ventilator die<br />
Hitzeschwaden durch, speit <strong>ein</strong>em in regelmäßigen<br />
Abständen s<strong>ein</strong>en heißen Atem ins Gesicht,<br />
oder der Motor der Klimaanlage heult <strong>ein</strong>em,<br />
schlimmer als <strong>ein</strong>e Flugzeugturbine, direkt ins<br />
empfindliche Ohr. Überzieht noch empfindlichere<br />
Körperstellen, man ist nicht mehr die Jüngste, mit<br />
s<strong>ein</strong>em eiskaltem Hauch, was für den nächsten Tag<br />
mindestens <strong>ein</strong>en steifen Nacken garantiert. Die<br />
Situation ist sozusagen ausweglos. Ohne diese<br />
künstlichen Hilfsmittel teilt man sogleich die breiig<br />
stillstehende Luft mit den unterschiedlichsten<br />
Insekten, die wenigstens gegen Zug allergisch sind.<br />
An Schlaf ist nicht zu denken. In solch<br />
durchwachten Nächten sch<strong>ein</strong>t es, als ob der<br />
schlimmste, der glühend schwüle Atem des<br />
Amazonas direkt aus dem Purgatorium, gar aus<br />
der Hölle komme! Lässt alle kapitulieren,<br />
unterwirft sie sich alle, lässt sie unisono nicht nur<br />
das <strong>ein</strong>e oder andere Hemd durchschwitzen, n<strong>ein</strong><br />
lässt sie tierisch leiden, bis auf die Seele, arme,<br />
gestrafte, verurteilte Sünderseele. Sie büßen für<br />
alle schon begangenen, <strong>und</strong> geht im selben<br />
Aufwisch, besser Bad, auch gleich für alle noch<br />
nicht begangenen Sünden! Besonders dann,<br />
wenn sich die Hitzen sozusagen immer noch<br />
enger zusammen schließen, so eng, <strong>ein</strong><br />
Saunabad wäre <strong>ein</strong> Klecks dagegen, erdrückend,<br />
erstickend, <strong>ein</strong>em im teuflischen Zusammenspiel<br />
von Hitze <strong>und</strong> Feuchtigkeit niederziehen, aber<br />
doch nicht schlafen lassen. Da hatte Satan<br />
persönlich s<strong>ein</strong>e raffinierte Hand im Spiel!<br />
Besonders viel Mühe hat er sich mit den sich<br />
stauenden Hitzewellen gegeben, die den so<br />
pünktlichen <strong>und</strong> konstanten Regenschauern<br />
vorausgehen. Zermürbend werden Sek<strong>und</strong>en zu<br />
Minuten, Minuten zu St<strong>und</strong>en, von<br />
Hitzeteufelchen zugemessen, die <strong>ein</strong>em gar die<br />
irgendwie <strong>ein</strong>gedickte Luft zum Atmen<br />
wegschnappen, in <strong>ein</strong>e Art unsichtbares Gel,<br />
dickflüssiger Gelee verwandeln, alle verfügbare<br />
Nässe aus <strong>ein</strong>em herausfiltern <strong>und</strong> winden, in<br />
Salzen kristallisieren lassen, uns in <strong>ein</strong>er<br />
schwergewichtig <strong>und</strong>urchdringbaren Suppe<br />
langsam, genüsslich sozusagen im eigenen Saft<br />
gar kochen, den letzten kostbaren Lebenssaft<br />
<strong>und</strong> -willen rauben. Hitzedelirien! War man sich<br />
doch früher in s<strong>ein</strong>er Europazentriertheit sicher,<br />
dass das tropische Klima den menschlichen<br />
Organismus schwäche, nicht nur der Faulheit<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 32
Vorschub leiste <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e laxe Moral <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
ausgeprägte Sinnlichkeit begünstige, sondern<br />
sogar die Entwicklung <strong>ein</strong>er wirklich zivilisierten<br />
Zivilisation verunmöglichte!<br />
Versuche <strong>ein</strong>mal mehr, mich von allem Irdischen<br />
zu lösen, m<strong>ein</strong>es ausgeliehenen, so weltlichen<br />
<strong>und</strong> mit s<strong>ein</strong>em Leiden so zweitrangigen Körpers<br />
unwürdig. Körperlos, leicht, unberührbar kühl.<br />
Fließe, gleite, schwitze, denn genau dann spüre<br />
ich, wie sie sich gegen mich verschworen haben!<br />
Schlüpfrig glitschige Klunker, <strong>ein</strong> Springen <strong>und</strong><br />
Fließen, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige glückliche Ver<strong>ein</strong>igung aller<br />
in allen Falten <strong>und</strong> Spalten m<strong>ein</strong>es Körpers<br />
erzeugten Schweißperlen!<br />
Gestern wollten sie mich trösten. Bald habe man<br />
ja hier „Winter“! Da regne es viel mehr, da sei das<br />
Klima viel besser, angenehmer als das jetzige, des,<br />
was für <strong>ein</strong> Hohn, „Amazonischen Subtropensommers“!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 33
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 34
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 35
Von den Wassern<br />
Vollbepackt wollen wir den Flughafen verlassen,<br />
als sich plötzlich, schnell wie <strong>ein</strong> Blitz, der Himmel<br />
schließt <strong>und</strong> gleich wieder öffnet – Regen setzt<br />
<strong>ein</strong>, urplötzlich, urgewaltig. Sintfluten. Minuten<br />
vorher war der Horizont noch stahlblau. Jetzt<br />
brechen aus dunkeldüsteren Wolkenschleusen<br />
Wasserfälle, Wasserwände hervor. Die Straße zu<br />
unseren Füßen verwandelt sich in Sek<strong>und</strong>en in<br />
<strong>ein</strong>en Bach, in <strong>ein</strong>en Fluss, in reißende<br />
Sturzfluten. Schon stehen die abgestellten Autos<br />
Zentimeter tief in drecksprudelndem Wasser. Die<br />
Gullys kommen ihrer Arbeit nicht nach, kotzen,<br />
würgen, erbrechen sprudelnd Wasserfluten,<br />
grauslich gräulich. K<strong>ein</strong>en kümmert’s, k<strong>ein</strong>er hat<br />
<strong>ein</strong>en Regenschirm dabei. Alle stellen sich <strong>ein</strong>fach<br />
unter das nächste Dach. Warten geduldig, bis die<br />
Regenschnüre reißen, die Sintfluten versiegen.<br />
Und so geschieht es auch. Urplötzlich, wie<br />
abgedreht, alle Schleusen wurden im selben<br />
Moment geschlossen, bricht der Regen wieder ab,<br />
schon hellt sich der Himmel auf.<br />
Schon etwas gewiefter, kaufe ich mir das nächste<br />
Mal, kaum angekommen, an der nächsten Ecke<br />
vom fliegenden Händler, allzeit bereit auf<br />
klimatische Bedingungen zu reagieren, <strong>ein</strong>en<br />
Regenschirm. Einen Regenriesenschirm, eigentlich<br />
<strong>ein</strong> Männerschirm. Versuche nicht mal, den Preis<br />
herunter zu handeln. Die Schirme sind so billig,<br />
dass es sich nicht lohnt, die lausige Qualität zu<br />
beanstanden. Es gibt drei, vier Karomuster –<br />
Burberry sollte eigentlich von den cleveren,<br />
geschäftstüchtigen Chinesen Royalties verlangen!<br />
N<strong>ein</strong>, das wilde Tigermuster, genauso globalisiert<br />
<strong>und</strong> banalisiert, oder besser popularisiert? ist zu<br />
auffallend.<br />
Sie sind zwar alle riesig. Trotzdem werde ich<br />
pudelnass, k<strong>ein</strong>er ist groß genug, mich auch gegen<br />
die schräg fallenden Fluten zu schützen. Schwer<br />
durchhängende Himmel künden Schlimmes. Oder<br />
wie man auf Portugiesisch sagt: - Wenn man k<strong>ein</strong>e<br />
H<strong>und</strong>e hat, jagt man halt mit Katzen! Nehme den<br />
Erstbesten. Schon fallen, aus eben noch strahlend<br />
sauberen Lüften, gigantische Regen, Wasserfälle,<br />
ganze Schwimmbäder. Urplötzlich, urgewaltig,<br />
himmlische Schleusen, himmlischer Stauseen<br />
bersten, alle Wasser der Erde fallen in <strong>ein</strong>em<br />
<strong>ein</strong>zigen Guss nieder. Sintfluten, -flüsse, -meere,<br />
zu <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Kraft geballt. Reißen alles mit,<br />
unterwerfen, machen untertan. Es fällt, schlägt,<br />
schießt mit solcher Wassergewalt fast senkrecht<br />
auf die Erde, den Asphalt, dass mir Wasserkugeln<br />
bis zu den Knien zurück spritzen. Noch <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong><br />
für die lokale Alltagsuniform Bermudas <strong>und</strong><br />
Plastik-Flip-Flops.<br />
Die Faszination hält an. Auch den x-ten Regenguss<br />
finde ich noch immer aufregend. Es ist so viel, so<br />
unendlich viel Wasser, Wasser im Übermaß, dass<br />
es alles stoppt. Rette sich, wer kann! Wieder<br />
drängen sich unter Dachvorsprüngen, Vordächern,<br />
Marquisen oder gar notdürftig unter<br />
weit ausholenden Bäumen kl<strong>ein</strong>e, verschupfte<br />
Menschenaufläufe. Auch die wenigen<br />
Glücklichen, die-mit-Schirm!, verstopfen die<br />
Eingänge der Geschäfte, wollen nicht wirklich<br />
was kaufen, warten Gott ergeben, dass jemand<br />
die Sintfluten abschneidet, kappt, beendet. Noch<br />
schwemmen die aber alles mit, waschen alles<br />
weg. Verwandeln normale Straßen in reißende<br />
Flüsse, bedrohlich schäumend, gurgelnd, auf<br />
irgend <strong>ein</strong> tiefer liegendes Ziel zuströmend <strong>und</strong><br />
kratertiefe Löcher im Asphalt auswaschend.<br />
Jeder Regenguss bricht ihnen noch <strong>ein</strong> paar<br />
Zentimeter Rand runter.<br />
Mitten im tropisch dichten Regenwald sollen<br />
solche Regengüsse noch <strong>ein</strong>drücklicher s<strong>ein</strong>. Man<br />
könne minutenlang nur das Trommeln <strong>und</strong><br />
Prasseln der Regen hören, spüre aber k<strong>ein</strong>erlei<br />
Nass; das dichte, viellagige Blätterdach lasse<br />
nicht den geringsten Tropfen durch. Nur nach<br />
<strong>und</strong> nach bahnten sich dann die Wasser ihren<br />
Weg, sprängen als unregelmäßige Tropfen<br />
herunter, bleischwere Wasserkugeln, über Blatt<br />
<strong>und</strong> Blatt gerollt, viele Blattstockwerke tiefer<br />
angesammelt, angereichert, heruntergerollt,<br />
abgeprellt, vom Waldboden wie von <strong>ein</strong>em<br />
trockenen Schwamm gierig aufgesogen.<br />
Whouw! Schon ist es vorbei! Seit Minuten schon<br />
werden sie unmerklich leiser, reißen auf, die<br />
Regen reißen ab, wie mit derselben grausigen<br />
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Urkraft abgeschnitten. Was bleibt, ist der schwere<br />
Geruch. Die Luft, noch feucht, massig, schon leckt<br />
die Sonne, schafft sich Weg, stechend, schleckt<br />
unsichtbar die Wasser vom Asphalt, verdampft sie<br />
in riesigen Nebelschwaden aus den Wäldern.<br />
Jeder geht s<strong>ein</strong>en Weg, magisch haben sich die<br />
Menschenaufläufe aufgelöst.<br />
Niemand muss mich erinnern, dass ich nur <strong>ein</strong><br />
winziges Sandkorn bin, das sich in dieses irdische<br />
Treibhaus, diesen schwül dampfenden<br />
Waschkessel, der <strong>Amazonien</strong> heißt, vorgewagt<br />
habe. Wasser ist hier die <strong>ein</strong>zige Triebfeder.<br />
Ewiger Kreislauf, nicht mal mit Superlativen<br />
annähernd zu beschreiben - unfassbare 20 % der<br />
Süßwasserreserven der ganzen Erde sind in den<br />
amazonischen Zyklus involviert. Erste Landkarten,<br />
nicht nur des Amazonasgebietes, reproduzieren<br />
meist nicht mehr als das relativ gut bekannte<br />
Netzwerk der Flüsse, dazwischen nicht als leeres,<br />
jungfräuliches Papier, unbeschriftetes Land.<br />
Uff, entschuldigen Sie, aber nun muss ich wirklich.<br />
Dringend, sozusagen sofort! Muss mich auf die<br />
Socken, Pardon! Gummilatschen machen – denn<br />
schon bald, sehr bald wird, sehen Sie sie denn<br />
nicht? <strong>ein</strong>e alles verschlingende, <strong>ein</strong>e höllische,<br />
gigantische Regenwolke all ihre Wasser auf uns<br />
niederprasseln lassen! Erschreckend, urgewaltig,<br />
be<strong>ein</strong>druckend!<br />
Eine<br />
spricht,<br />
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Nicht Regen, Sintfluten<br />
Der Regen setzt nie aus, nicht mal sonntags. Kaum<br />
beginnt die Sonne an den Pfützen zu lecken,<br />
türmen sich schon dramatisch drohend die<br />
nächsten Wolkenwände auf, pechschwarz,<br />
himmelhoch <strong>und</strong> schwer, tonnenschwer. So<br />
beladen, dass sie sich schon bald, n<strong>ein</strong>, jetzt<br />
gleich! erleichtern werden.<br />
verdampft die Sintfluten. Die eben noch so<br />
fröhlichen Papageien verstummen. Die Jungs sind<br />
längst wieder zu Hause.<br />
Aber eigentlich mag man den Regen hier in<br />
Nordbrasilien. Auch die Papageien, es sch<strong>ein</strong>en<br />
unzählige zu s<strong>ein</strong>, machen sich plötzlich aufgeregt<br />
kreischend <strong>und</strong> animiert schnatternd genau dann<br />
bemerkbar, wenn es Sintfluten gießt. Nur die<br />
kl<strong>ein</strong>en Jungen sind da noch animierter. Sie<br />
spielen ihr unverwechselbares Spiel:<br />
Regenfußball. Gibt es etwas Schöneres, als nur<br />
spärlich bekleidet unter dem Regen durch<br />
zusprinten <strong>und</strong> dann im Schlamm auszurutschen<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong> richtig dreckiges Schlammbad zu<br />
nehmen? Mit oder ohne erhaschtem Ball<br />
natürlich. Um sich wieder sauber zu kriegen, ist<br />
k<strong>ein</strong>e große Anstrengung nötig. Das lösen die<br />
Sintfluten ungefragt <strong>und</strong> ungebeten.<br />
Prasseln schon wieder aus eben noch strahlend<br />
sauberen Lüften.<br />
Wasser ist, neben der Tropenhitze, die Triebfeder,<br />
das Metronom für fast alles hier. Mit der selben<br />
grausigen Urkraft, sozusagen wie abgeschnitten,<br />
reißen die Regen ganz plötzlich wieder ab. Schon<br />
bannt die Sonne, stechend, leckt, räumt,<br />
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Tropenregnen<br />
Tropenregen. Ich liebe das gleichförmige Tropfen,<br />
das immerwährende Rauschen. Er erfrischt, kühlt,<br />
erneuert. Legt sich wie tausend Schleier über die<br />
Landschaft, über die Wasser, verlangsamt,<br />
beruhigt, macht schwerelos. Was für <strong>ein</strong>e Lust,<br />
nicht mal das Notwendigste zu tun. Sich <strong>ein</strong>fach<br />
hingeben, <strong>ein</strong>schläfern lassen. Der Regen dämpft,<br />
macht die Glieder schwer, drückt auf die<br />
Augenlider, wiegt mich hin, wiegt mich her, lullt<br />
mich <strong>ein</strong>, beschert mir <strong>ein</strong>en tiefen, langen <strong>und</strong><br />
erholsamen Schlaf.<br />
Die ersten Regenschnüre fallen fast lautlos. Ihr<br />
Rauschen unterscheidet sich kaum vom Wispern<br />
der Palmwedel, die <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zelne Bö kämmt,<br />
immer wieder <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>mal. Die ersten f<strong>ein</strong>en<br />
Tropfen rinnen, springen, fallen kühn von der<br />
allerletzten Spitze der Blätter <strong>und</strong> Wedel.<br />
Springen runter auf die Erde, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Folge<br />
winzig silberner Tropfen, verb<strong>und</strong>en zu flüchtignassen<br />
Regenfäden, Regenschnüren, in<strong>ein</strong>ander<br />
geklinkt. Es ist <strong>ein</strong> ständiges Fallen, Schlagen,<br />
Prasseln, Sintfluten, <strong>ein</strong> sich treffen, zusammenkommen,<br />
sich ver<strong>ein</strong>en in den Adern, der Rispen<br />
der Blätter. Ein Kugeln, Fließen <strong>und</strong> Stürzen, <strong>ein</strong><br />
Dribbeln, Stampfen, Laufen, nach unten, hinunter,<br />
den Rispen entlang, den Ästen, den Rinden <strong>und</strong><br />
Wurzeln. Ein Umspülen, Umfließen, Unterspülen,<br />
Mitreißen. Rinnsale, Bächl<strong>ein</strong>, Wirbel, Kreise,<br />
Tümpel. Schlussendlich aufgesogen, getrunken,<br />
verschlungen von den durstigen Erden, Schollen,<br />
Schwämme, Filter.<br />
Es gluckst <strong>und</strong> rauscht, mal leiser, mal heftiger, gar<br />
ungebändigt laut, wenn die Regen sich immer<br />
mehr hoch steigern, <strong>ein</strong>er nassen Synfonie gleich<br />
zu unzähligen, wild gewordenen Wildbächen<br />
werden. Schräg <strong>und</strong> noch schräger fallen, die<br />
halbe Varanda unter Wasser setzen, ihre nassen<br />
Donnerkeile bis unters schützende Dach treiben.<br />
Längst haben sich die Erdstraßen, die sandigen<br />
Wege in reißende Fluten verwandelt,<br />
schlammgrau. Kratern öffnen sich, Canyons<br />
werden ausgefräst, Balast irgendwo am Ufer<br />
abgelagert. Äste, Kiesel, Abfall, von den<br />
wildgewordenen Fluten <strong>ein</strong>fach mitgerissen.<br />
Noch tropft er, fällt, kämpft <strong>und</strong> springt. Mal<br />
schlägt ihn der Wind schräg an die fensterlosen<br />
Läden bis unters Dach, dann wieder tanzt er<br />
gerade runter, hüpft von <strong>ein</strong>em B<strong>ein</strong> aufs andere,<br />
waltz wie tausend Tausendsassas, ist gleichzeitig<br />
überall <strong>und</strong> doch schon davon gestoben. Da -<br />
kaum merklich verlangsamt sich das Stakkato.<br />
Streichelt, peitscht, reitet kullernd die schmalen<br />
Haarsträhnen der Palmwedel entlang <strong>und</strong> dann<br />
langsam <strong>und</strong> stetig aufzugeben. Er stirbt, erstirbt,<br />
es stirbt.<br />
Hinterlässt frischen Glanz, strahlendes Grün,<br />
polierte Frische. Schließt den ewigen Kreislauf.<br />
Verdampft, steigt auf, unsichtbar präsent,<br />
kondensiert, ballt, wird schwer, noch schwerer,<br />
wird zu neuem Tropenregnen, unendlich<br />
furchtbar, unendlich fruchtbar.<br />
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Konzert im Regen<br />
„Klunk, klank, klink, klunk“, irgendwie hat ihr<br />
„Gesang” etwas Fröhlich-Animiertes. Sie stimmen<br />
ihn abends an, sobald es zu nieseln oder gar zu<br />
regnen beginnt. Es ist <strong>ein</strong>e der hübschesten<br />
Kakofonien, die ich kenne: Die Frösche <strong>und</strong><br />
Kröten – ich weiß nicht so genau, wie sie<br />
aussehen, sie sind unsichtbar, irgendwo draußen<br />
in den dunklen, nachtschwarzen „Igarapés”, den<br />
überfluteten Ufern des Rio Negros oder anderer<br />
Flüsse mit ihrer hoch spezialisierten Flora <strong>und</strong><br />
Fauna – singen, quaken, unken oder bellen. Einer<br />
blökt gar wie <strong>ein</strong> Schaf <strong>und</strong> <strong>ein</strong> dritter erinnert an<br />
<strong>ein</strong>e rostige Tür, die im Wind hin <strong>und</strong> her ächzt.<br />
Markieren oder verteidigen sie ihr Territorium?<br />
Suchen sie <strong>ein</strong>en Partner? Ich weiß es nicht.<br />
Sicher hat man noch nicht alle ihre Gesänge <strong>und</strong><br />
deren Funktion identifiziert. Zu viele werden es<br />
s<strong>ein</strong>, winzige <strong>und</strong> riesige, in m<strong>ein</strong>er Vorstellung<br />
alle mit kugelr<strong>und</strong>en, uralten Glupschaugen <strong>und</strong><br />
warziger Haut. Nur <strong>ein</strong>em Indigenen würde es<br />
wohl gelingen, sie zu identifizieren, jeden nach<br />
s<strong>ein</strong>em Gesang zu unterscheiden <strong>und</strong> allen die<br />
passenden indigenen Namen zu geben. Aber der<br />
Indio m<strong>ein</strong>er Fantasie hat sich längst im Tropical-<br />
Tower von Manaus mit s<strong>ein</strong>en akkuraten<br />
Gärtchen, dem schweren Holz <strong>und</strong> den endlosen<br />
dunklen Korridoren, sie wären <strong>ein</strong>er U-Bahn-<br />
Station würdig, <strong>ein</strong> Hotelzimmer gemietet, fährt<br />
mit <strong>ein</strong>em riesigen Rover vor <strong>und</strong> will von all<br />
dieser ungezügelten Natur, wie jeder richtige<br />
Brasilianer, am liebsten gar nichts wissen.<br />
Gekurften<br />
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Unberührt<br />
Am paradiesischsten, unberührtesten sch<strong>ein</strong>t der<br />
Regenwald dann, wenn die überbordenden<br />
Regen, Wassermassen über Wassermassen,<br />
Regenschauer nach tropischsten Regenschauern,<br />
unbemerkt den f<strong>ein</strong>en Schnitt wegwaschen, der<br />
da am Horizont die Meere <strong>und</strong> Meere schlammiggrauen<br />
Wassers von den Himmeln <strong>und</strong> Himmeln<br />
schlammig-grauen Wassers schneidet.<br />
Fadenf<strong>ein</strong> gewischte Striche verschleiern endlose<br />
Ufer, Sandstrände, weit, beige-grau, Silhouetten<br />
nur, Kontur. Hie <strong>und</strong> da herausgehoben graugrüne<br />
Palmen, ver<strong>ein</strong>t im Lianen-Blätter-<br />
Luftwurzeldurch<strong>ein</strong>ander. Dschungel, Wildnis,<br />
unzähmbar. Der Blick verliert sich im grauen Grün,<br />
Igarapés, tausendfach verdoppelt, silbern-grünvergraut,<br />
geheimnisvoll dunkel, unendlich.<br />
kann<br />
Der<br />
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Gefüllte Bonbons<br />
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Babyrosa<br />
Ich warte mal wieder irgendwo auf irgend<strong>ein</strong>en<br />
Bus. Das Hemd des Busfahrers, Teil s<strong>ein</strong>er<br />
Uniform, ist leuchtend Rosa. Habe dieses<br />
leuchtende Schockrosa, auch in f<strong>ein</strong>eren<br />
Babyrosaabstufungen, synthetisch, leuchtend wie<br />
<strong>ein</strong> Bonbon, hier schon an verschiedenen<br />
Mannsbildern gesehen. Sieht toll aus! Steht<br />
besonders den „Caboclos“ mit ihrer leicht<br />
gebrannten Haut ausgezeichnet. Ihrem<br />
selbstsicheren Auftreten nach sch<strong>ein</strong>en sie das<br />
auch zu wissen.<br />
Rosa. Schließen Sie die Augen <strong>und</strong> sagen Sie mir,<br />
welche Farben die Menschen in den Tropen<br />
tragen? Die Mehrheit erwartet starke, üppige<br />
Farben, wahre Farborgien. Die Realität allerdings<br />
bleibt auch hier hinter den Erwartungen zurück.<br />
Wenn die Hochglanzprospekte <strong>ein</strong> farbenfrohes<br />
Tropenparadies vorgaukeln, schummeln sie.<br />
Besonders wenn es um den Amazonas geht. Die<br />
brillante Leuchtfarben, die uns Zugewanderten so<br />
magisch anziehen, die selben, die sich so<br />
effektvoll vom üppigen Grün der Natur abheben<br />
<strong>und</strong> natürlich w<strong>und</strong>ervoll zu all den<br />
Abschattierungen olivener, karamellfarbener,<br />
schokobrauner, zimt- <strong>und</strong> nelkenfarbener Haut<br />
passen, gibt es nur in den Reiseprospekten oder in<br />
Brasiliens Nordosten.<br />
M<strong>ein</strong> Amazonas ist monochrom, auch da, wo die<br />
Flüsse fast so strahlend blau sind wie die<br />
Riesenhimmel. Die Schiffe bringen zwar etwas<br />
farbige Fröhlichkeit ins Einerlei, aber sonst<br />
beschränkt sich alles auf <strong>ein</strong>e stetige<br />
Wiederholung oder Varianten der selben<br />
Halbtöne: Die selben Blaus, Sand, Schlamm,<br />
Bronze, Rostrot <strong>und</strong> Dichtgrün. Dichtgrün, Blau,<br />
Bronze, Rostrot, Schlamm <strong>und</strong> Sand, mit <strong>ein</strong>er<br />
Prise Weiß <strong>und</strong> Türkis, neben den Pastells der<br />
traditionellen Häuser aus der Kolonialzeit. Die<br />
hässlich-modernen Städte sind überall grau, <strong>ein</strong>e<br />
nicht sehr scharfe Schwarz/Weiß <strong>Foto</strong>grafie,<br />
überschiefert, gräulich, wie mit <strong>ein</strong>em Schleier<br />
überzogen, wie alle Farben hier im Norden. Grau<br />
geht den Regen voraus <strong>und</strong> folgt ihnen nach.<br />
Brennt dazwischen die Sonne tropisch herunter,<br />
schneidet, ja brennt sie das Grün des Regenwaldes<br />
heraus. Ewiggrün ist er, mit sehr wenigen, sehr gut<br />
versteckten Blüten.<br />
Brasilien leuchtet, aber auf <strong>ein</strong>e ganz unerwartete<br />
Art, denn hier ist der Strahlehimmel meist mit<br />
Wolkenbänken marmoriert. Sie wandern, in<br />
ständiger Bewegung, über die Himmel. Mal sind<br />
sie leicht hin getupft, fast könnte man mit ihnen<br />
spielen, mal sind sie schwer. Plötzlich ballen sie<br />
sich zusammen, verschlucken sich gegenseitig,<br />
verwandeln sich in braungraue Wände, aus denen<br />
es bald jene Wasser regnen wird, die überall hin<br />
kommen. Schräg fallende, ausgewaschene,<br />
ausgeblutete Tinten, <strong>und</strong>urchsichtig, schleirig<br />
vergraut. Die Flüsse werden noch schlammiger, zu<br />
bräunlichen Tees, kaffeefarbene Schlammfluten.<br />
Die irdischen Wasser mischen, verwischen sich<br />
mit den himmlischen Sintfluten. Natur, Flüsse,<br />
Meere, Regen, Wolken, Himmel werden zu<br />
<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Ganzen, hinter denen auch die<br />
letzten endlos üppigen, <strong>ein</strong>zigen <strong>und</strong> monotonen<br />
Grüns verschwinden.<br />
Von oben sieht der Amazonas aus wie grüne<br />
Wüsten, <strong>ein</strong> Meer aus lauter an<strong>ein</strong>andergereihter<br />
Brokkoliköpfe, über die jemand mit<br />
sehr, sehr viel Geduld <strong>und</strong> spielerischer Hand<br />
<strong>ein</strong>en f<strong>ein</strong>en Faden Honig hat zerlaufen lassen,<br />
zusammen mit <strong>ein</strong> paar sandfarbenen<br />
Abschattierungen, mal weißlicher, heller, mal<br />
orangener oder brauner Erde, Sand <strong>und</strong> hie <strong>und</strong><br />
da frei gerodete Böden. Nicht von ungefähr<br />
finden alle Brasilianer unsere üppig farbigen<br />
Blumengärten zum Sterben schön, <strong>ein</strong>e sorgfältig<br />
gezogene Rose, im Tropenklima kümmerlich vor<br />
sich hin vegetierend, zum Dahinschmelzen, <strong>ein</strong><br />
Ideal! Viel schöner als das w<strong>und</strong>erschönste<br />
Riesenblatt, die schönste tropische Orchidee.<br />
Wie sehr sich die Sehnsucht nach dem<br />
„Exotischen“, das, was nur der andere hat,<br />
ähneln!<br />
Aber halt, da ruft der Busfahrer, unübersehbar<br />
im Babyrosa Hemd, schon zum Einsteigen. Los<br />
gehts!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 57
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<strong>Amazonien</strong><br />
Grüne Hölle oder Paradies?<br />
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<strong>Amazonien</strong> – grüne Hölle oder Paradies?<br />
Überwältigend immergrün 65/66<br />
Ökosystem Festes Land/Terra Firme 67<br />
Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün 76/77<br />
Natur pur – von wegen! 85/86<br />
Amazonische Savannen 93<br />
Tropennutzwald 103<br />
S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro 106<br />
Von der Paranuss bis zum Kumarin - die «Drogas do Sertão» 109/110<br />
Der Schokoladenbaum 112<br />
Holz, das nach Rosen riecht 116-120<br />
Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften 122/123<br />
Nachhaltigkeit ja, aber wie? 126/127<br />
Zauberwort Biotechnologie 128<br />
Curupira, der Beschützer des Regenwalds 130<br />
Das Messer 140<br />
Ihre Majestät 146/147<br />
Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung 152<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 64
Überwältigend immergrün<br />
Bis heute ist es am <strong>ein</strong>fachsten, sich dem<br />
Waldungeheuer auf dem Wasser zu nähern, wie<br />
immer schon. Seit Jahrh<strong>und</strong>erten dringen<br />
Besucher, die meisten Abenteurer <strong>und</strong><br />
Naturalisten <strong>ein</strong>geschlossen, pragmatisch auf dem<br />
Wasserweg in den Tropendschungel <strong>ein</strong>, natürlich<br />
nur mit lokal k<strong>und</strong>igen Führern.<br />
Einmal die Ufer erklommen, ist man schon bald<br />
mitten drin. Schwer, sich für <strong>ein</strong>e der vielen<br />
Ebenen zu entscheiden. Ein Fußmarsch durch den<br />
Tropenwald hat viele zu viele interessante<br />
Perspektiven. Die erste Etage, sozusagen aus der<br />
Ameisenperspektive, auf Wurzelhöhe, lässt<br />
erahnen, wie gigantisch komplex alles verzahnt<br />
ist. Steigungen steigen jäh an, Gefälle fallen brüsk<br />
<strong>und</strong> seifig ab. Modrige Blätter oder f<strong>ein</strong>er Sand<br />
sind wenig trittfest. K<strong>ein</strong>er hat sich die Mühe<br />
gemacht, fußfre<strong>und</strong>liche, hemmende Schwellen<br />
oder gar Stufen anzubringen. Das Wurzelwerk ist<br />
stupend. Grillen haben hoch aufgerichtete,<br />
unendlich zerbrechliche Tonröhren als Bau<br />
errichtet. Im Unterholz gedeihen vor allem<br />
Sträucher oder ewig grüne Schattenpflanzen. Die<br />
Blätter oft w<strong>und</strong>ersam gezeichnet, gestromt <strong>und</strong><br />
gelöchert. Baumgiganten lassen ihre Wurzeln<br />
raumgreifend wie Polypenarme oberirdisch<br />
ausschweifen, über den Boden kriechen, sich<br />
besitzergreifend immer weiter ausbreiten, sodass<br />
man hoch über sie hinweg steigen muss. Bei<br />
<strong>ein</strong>em dritten brechen sich Luft- oder<br />
Stützwurzeln, <strong>ein</strong>e über die andere, durch die<br />
Rinde Bahn, wachsen sehnig <strong>und</strong> adrig<br />
über<strong>ein</strong>ander hinweg, wie wenn man <strong>ein</strong>en<br />
muskulösen, sinnlichen Körper enthäuten würde.<br />
Formen stelzenartige Gebilde, die die Kuppeln auf<br />
diese Art <strong>und</strong> Weise verankern, sozusagen, im<br />
Boden festkrallen.<br />
Steht man, nach <strong>ein</strong>em schweißtreibenden<br />
Aufstieg, am Fuß <strong>ein</strong>es solchen <strong>ein</strong>es vielleicht<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte alten Riesen, kann man ermessen,<br />
wie viel Standfestigkeit dazugehören muss, um so<br />
exponiert tropischen Gewittern <strong>und</strong> Stürmen<br />
standzuhalten. Vom vielen Hochschauen könnte<br />
man sich leicht <strong>ein</strong>e Genickstarre holen. Oben<br />
finden sich die wenigen Pflanzen, die etwas Farbe<br />
ins Grün bringen. Bromelien <strong>und</strong> Orchideen,<br />
farbige Blätter, die eigentlich Blüten sind, siedeln<br />
hoch auf den Ästen. Unten massivste drei, vier Mal<br />
mannshohe Bretterwurzeln, <strong>ein</strong>e Art hölzernes<br />
Gebirge, verbarrikadieren Stämme, Riesen, die<br />
auch <strong>ein</strong> paar Personen zusammen nicht so ohne<br />
Weites umarmen.<br />
Auf Augenhöhe entzücken die absurdesten,<br />
kunstvoll in<strong>ein</strong>ander verflochtenen Lianen,<br />
„Cipós“. Sie krümmen sich in den wildesten<br />
Formen <strong>und</strong> allen möglichen Dicken, werfen sich<br />
auf, lassen sich runter, schlingen sich hoch.<br />
Amazonisch wilde Klöppelspitze, ausgespannte<br />
Geflechte oder dreidimensionale Wandteppiche,<br />
modernste Kunst, kunstvoll von der Natur<br />
geschöpft. Himmelsleitern, Schildkröten- oder<br />
Affentreppen genannt, führen hoch in die Wipfel,<br />
in die Himmel oder gar ins Nichts? Alles strebt<br />
hier zum lebensbringenden Licht, <strong>ein</strong> rauer,<br />
brutaler Kampf ums Überleben. Eine der vielen<br />
Lianen, die „Apuí“, macht aus dem Umschlingen<br />
gar <strong>ein</strong>e tödliche Umarmung. Windet sich derart<br />
an ihrer Wirtspflanze hoch <strong>und</strong> höher, wird dabei<br />
dick <strong>und</strong> dicker, dass sie ihrem Gastgeber den<br />
Schnauf abschneidet, ihn, längst braucht sie in<br />
nicht mehr zum Hochsteigen, <strong>ein</strong>fach absterben<br />
lässt.<br />
Viele Cipós, Lianen sind, wie viele andere<br />
Pflanzen hier, heilkräftig. Einige funktionieren<br />
wie Wasserspeicher. Die indigene Bevölkerung<br />
bedient sich dieser Naturapotheke nicht nur zur<br />
Heilung, sondern auch für rituelle Bäder,<br />
spirituelle Aufsude <strong>und</strong> wohlriechende<br />
Räucherungen. Puxadores, Curandeiros <strong>und</strong><br />
andere Heiler brauen aus den Pflanzen, Samen,<br />
Harzen, Ölen <strong>und</strong> Rinden magische „Garrafadas“.<br />
Wer wie ich, von den vielen Namen - wie wäre es<br />
mit „Aquariquara“, „Ucuhubarana“ oder<br />
Jacarerana, Tamaquaré <strong>und</strong> Pracaxizeiros -<br />
würde mich wohl Wochen kosten, nur diese paar<br />
Namen auswendig zu lernen – schon erschöpft<br />
ist, kann ja mal versuchen, sie wie<br />
Zungenbrecher immer schneller herzusagen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 65
Ob es an den ungewohnten Buchstabenkombinationen<br />
der verschiedenen indigenen Sprachen<br />
liegt, dass mich diese Namen bis heute verwirren?<br />
Da lasse ich mich lieber von der stupenden<br />
Schönheit <strong>und</strong> Vielfalt der satinen Rinden,<br />
samtenen Moosen, seidigen Flechten, Schwielen,<br />
Rissen <strong>und</strong> dekorativen Luftwurzeln der<br />
absurdesten, dekorativsten Kletterpflanzen<br />
betören, in deren Vielfalt <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zigartig<br />
monochrom grüner Reiz verborgen liegt, auch<br />
wenn sie namenlos bleiben.<br />
Interessant sind auch die vielfältigen<br />
Philodendren, die so manches europäische<br />
Wohnzimmer schmücken. Hier wuchern sie<br />
sozusagen außer Kontrolle. Ihre fingerartig<br />
ausgeschnittenen Blätter erreichen gigantische<br />
Proportionen. Ranken sich, in Spiralen immer<br />
r<strong>und</strong> um den Stamm herum bis ans Licht oder<br />
klettern pfeilgerade hoch, die dekorativen Blätter<br />
mit den verschiedensten weißen Zeichnungen<br />
wechselseitig geometrisch angeordnet. Ein Kapitel<br />
für sich sind die Dornen, Hörner, Höcker <strong>und</strong><br />
gefährlichen fingerlangen Stacheln. Gut<br />
verborgen, sch<strong>ein</strong>bar harmlos legen sie sich in<br />
regelmäßigen Abständen ringförmig um Stämme<br />
<strong>und</strong> Äste. Seien Sie auf der Hut, manche haben<br />
Widerhaken! Sollen sie doch kostbare Blätter <strong>und</strong><br />
Samen vor den allgegenwärtigen Fressf<strong>ein</strong>den<br />
bewahren.<br />
K<strong>ein</strong> Zweifel, es gibt immer noch unendlich viel<br />
Unbekanntes, Unerforschtes, Mysteriöses hier im<br />
Regenwald. Deshalb schaut auch die Wissenschaft<br />
mit glänzenden Augen auf den Amazonas, auf den<br />
intakten Tropenwald. Wer weiß, ob <strong>ein</strong>e s<strong>ein</strong>er<br />
Pflanzen, Moose, Schimmelpilze oder Tiere uns<br />
gar von Menschheitsgeiseln wie Krebs oder<br />
anderen Krankheiten befreien kann?<br />
Blumenverkäufer –<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 66
Ökosystem Festes Land/<br />
Terra Firme<br />
Es gibt unzählige verschiedene Tropenwaldböden.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich ist die Humusschicht im Tropenwald<br />
sehr dünn, die Erde wenig fruchtbar, weil<br />
arm an Nährstoffen <strong>und</strong> sandig. Der nötige Humus<br />
Dieselben<br />
wird dem Boden ständig von außen zugeführt.<br />
Flecken schwarzer, das heißt humusreicher Erde<br />
sind im ganzen Amazonas zu finden <strong>und</strong> werden<br />
heute als Überreste unbekannter Zivilisationen<br />
<strong>ein</strong>gestuft. Sie gelten als Schlüssel zu <strong>ein</strong>er<br />
Neubewertung der ganzen amazonischen<br />
Geschichte vor der Eroberung durch die<br />
Portugiesen. Andere Waldflächen werden in<br />
jährlichen Zyklen halbjährlich unter Wasser<br />
gesetzt. Ziehen sich die Wasser dann zurück,<br />
hinterlassen sie fruchtbare Erde. Da, wo der<br />
Urwaldboden aber nicht überschwemmt wird,<br />
„Terra firme“, Festes Land genannt, muss er all<br />
s<strong>ein</strong>e Nährstoffe aus den ständig<br />
herunterfallenden Blättern, Ästen, Rinden <strong>und</strong><br />
vielem anderen gewinnen. Ein Kinderspiel für das<br />
hiesige tropisch-feuchte Klima. Zusammen mit<br />
unzähligen, unsichtbaren Lebewesen, Pilzen <strong>und</strong><br />
Bakterien garantieren es jenen Brutkasten, der<br />
hier alles so effizient wie intelligent in <strong>ein</strong>em<br />
ewigen Kreislauf verrotten, vermodern <strong>und</strong><br />
verschimmeln lässt. Und damit immer wieder für<br />
immer neues Leben sorgt.<br />
Der ewige Kampf ums Überleben, um Sonne <strong>und</strong><br />
Licht ist brutal. Nur die stärksten gewinnen. Fällt<br />
<strong>ein</strong> Baumriese, warten unzählige mager<br />
hochgeschossene, schäbige Bäumchen genau auf<br />
diese, ihre Chance, um den ewigen Kreislauf<br />
weiter zu setzen. Sie schießen hoch <strong>und</strong> höher,<br />
ihre Wurzeln wuchern aus <strong>und</strong> breiten sich noch<br />
weiter aus <strong>und</strong> schon ist die Lücke geschlossen.<br />
Effizient, ewiglich <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ersam.<br />
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Tropenwald, feucht <strong>und</strong> immergrün<br />
Wenn die Nebelschwaden nach den Regen<br />
dampfend aufziehen, sich das Ganze wieder<br />
ver<strong>ein</strong>zelt, bekommt man <strong>ein</strong>e Idee, wie<br />
unendlich vielfältig die Natur hier im Tropenwald<br />
zu Werke gegangen ist. Ein <strong>ein</strong>ziger Hektar<br />
beherbergt so viele Arten Bäume wie alle Wälder<br />
Europas zusammen. Schwer fassbar, vorstellbar,<br />
zu riesig, endlos <strong>und</strong> monoton. Ständig ziehen die<br />
Ufer vorbei, flach, <strong>ein</strong>e Art aufgeschnittener,<br />
unregelmäßiger Brokkoli. Wilde, fremde<br />
Ursprünglichkeit. Sie heischt Respekt.<br />
Immerwährendes Grün <strong>und</strong> Braun überzeugen<br />
nur langsam <strong>und</strong> zögerlich. Sie sind eher<br />
<strong>ein</strong>schüchternd, imponierend, denn schön. Der<br />
Urwald beginnt sich über die Details zu<br />
erschließen, unendlich langsam, ganz verstehen<br />
kann man ihn wohl nie in s<strong>ein</strong>er ganzen<br />
unendlichen Wildnis.<br />
Genau hinsehen lohnt sich. Nicht nur nach unten,<br />
sondern auch immer hoch, gar himmelwärts. In<br />
manchen Dschungelhotels kann man auf endlosen<br />
Holzstegen hoch durch die Wildnis wandern, um<br />
mitzukriegen, wie viel <strong>und</strong> wie aktives Leben hoch<br />
in den Kronen <strong>und</strong> Wipfeln, nah beim Licht<br />
herrscht. Von solch privilegierter Warte aus kann<br />
man auch feststellen, dass das Blätterdach des<br />
Regenwaldes alles andere als homogen ist. Es<br />
erinnert wohl eher an <strong>ein</strong>en grünen, warzigen<br />
Blumenkohl. Einzelne Baumriesen wie zum<br />
Beispiel der Paranussbaum, durchstoßen das<br />
mehr oder weniger geschlossene Baumkronendach,<br />
erheben sich hoch über die anderen hinweg.<br />
Bleibt man aber unten, zwischen den mächtigen<br />
Bretterwurzeln, auf der Suche nach dem nächsten<br />
Baumriesen, versteht man, worin der Unterschied<br />
vom Sek<strong>und</strong>är- zum Primärwald liegt. Im Primärwald<br />
stehen sie noch, atemberaubend, gigantische<br />
Riesen, ver<strong>ein</strong>zelt, uralt. In den küsten- näheren<br />
Waldgebieten wurden alle diese Giganten schon<br />
lange herausgeschlagen. Vielleicht noch<br />
mühevoller als heute. Auf unserem Weg treffen<br />
wir auf <strong>ein</strong>en schon in handlichen Brettern<br />
zurechtgeschnittenen Baum. Er wird gerade von<br />
<strong>ein</strong>em Einheimischen, sie dürfen das Holz hier im<br />
Naturpark FLONA nützen, Bretterbündel für<br />
Bretterbündel per Fahrrad aus dem Wald<br />
geschafft.<br />
Dem Giganten Amazonas werden wohl nur<br />
Superlative gerecht. Der Amazonas ist <strong>ein</strong>es der<br />
größten zusammenhängenden<br />
Feuchtwaldgebiete, welcher etwa fünf Prozent der<br />
gesamten Landfläche der Erde <strong>und</strong> über 40<br />
Prozent des brasilianischen Territoriums bedeckt.<br />
(Der Name „Regenwald“, <strong>ein</strong> etwas schwammiger<br />
Begriff, wird heute durch die wohl korrektere<br />
Terminologie „Tropischer Feuchtwald“ ersetzt.)<br />
Ein Feuchtwald, durchflossen von <strong>ein</strong>em sich<br />
fächerförmig ausbreitendes Flusssystem, das 1/5<br />
des Süßwassers der ganzen Erde enthält. Ein<br />
überaus komplexes tropisches Ökosystem, um<br />
das man Brasilien schon früher <strong>und</strong> besonders<br />
heute weltweit beneidet. Immer noch, auch<br />
wenn neueste Forschungen ergeben, dass zum<br />
Beispiel der Mythos von der grünen Lunge der<br />
Erde nicht mehr haltbar ist. Zwischen 2003 <strong>und</strong><br />
2014 haben die Tropenwälder mehr<br />
Kohlendioxid abgegeben als sie absorbiert<br />
haben. Das alles, weil wir Menschen darauf<br />
bestehen, den Wald zu roden <strong>und</strong> zu<br />
verbrennen.<br />
Aber nicht nur diese Superlative lenken die<br />
Aufmerksamkeit der halben Welt auf den<br />
Amazonas. Auch s<strong>ein</strong> materieller Wert ist nicht<br />
zu unterschätzen. Unter den Wurzeln der<br />
Tropenbäume warten viele Bodenschätze auf ihr<br />
Schicksal. Kaum <strong>ein</strong> Mineral, das hier im<br />
Amazonas nicht geschürft werden kann. Ganz zu<br />
schweigen vom Wert, den der Wald <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />
Flora <strong>und</strong> Fauna für die Wissenschaft hat.<br />
Um die Liste wenigstens vorläufig komplett zu<br />
machen, ständig werfen neue Forschungen neue<br />
Superlative auf, gibt es das „Aquífero Alter do<br />
Chão“. Es ist <strong>ein</strong> riesiges, unterirdisches<br />
Wasserreservoire, das das größte der Welt zu<br />
s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t <strong>und</strong> dessen Süßwasserreserven<br />
unter den Staaten Amazonas, Pará <strong>und</strong> Amapá<br />
liegen. Es wird geschätzt, dass sie ausreichen<br />
würden, um den Tagesbedarf an Wasser der<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 76
Weltbevölkerung während unvorstellbaren 250<br />
Jahren abdecken zu können.<br />
Leider ist die amazonische Realität etwas realer.<br />
Der Fluss Amazonas ist <strong>ein</strong>e pulsierende<br />
Hauptverkehrsader. Er badet <strong>und</strong> verbindet die<br />
wichtigsten Städte der Region. Alle Flüsse<br />
ergießen sich irgendwann in den Amazonas <strong>und</strong><br />
auf ihm wird seit Urzeiten all der aus dem<br />
Regenwald gewonnene Reichtum weg geschifft,<br />
auch wenn er heute von den Schneisen im<br />
Tropenwald Konkurrenz bekommen hat. Der<br />
Dschungel s<strong>ein</strong>erseits ist Heim, Auskommen <strong>und</strong><br />
Heimat für viele, oft sehr arme Menschen. Wer es<br />
sich aussuchen kann, zieht, <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>facheren<br />
Leben nach, in <strong>ein</strong>e der Molochstädte. Der<br />
Urwald, der feuchte Tropenwald ist was für<br />
Forscher, Gringos oder Touristen. Nur sehr<br />
langsam verschiebt sich das Interesse vom<br />
Kahlschlag zum intakten Wald, dessen Image<br />
sowieso eher <strong>ein</strong> Fantasiegebilde ist, als der<br />
Realität entspricht. Wie auch immer, der<br />
tropische Feuchtwald will mit Respekt behandelt<br />
werden. Zu oft <strong>und</strong> oft zu Recht macht er Angst.<br />
Ist furch<strong>ein</strong>flößend, so be<strong>ein</strong>druckend <strong>und</strong><br />
gigantisch wie unberechenbar, unwirklich <strong>und</strong><br />
unpraktisch.<br />
Viele wollten <strong>und</strong> wollen ihn noch am liebsten<br />
weghaben. Er ist eklig, gilt vielen als Hindernis,<br />
sch<strong>ein</strong>t dem Fortschritt <strong>und</strong> dem<br />
Wirtschaftswachstum im Weg zu stehen. Zu viele<br />
Generationen haben mit dem Wald gerungen, ihr<br />
Leben im Wald verloren. Bis heute verdient in den<br />
Augen der Mehrheit <strong>ein</strong>e gerodete Kuhweide, <strong>ein</strong><br />
jedes gerodete, baumfreie Stück Land <strong>ein</strong>en viel<br />
besseren Preis als <strong>ein</strong> Quadratmeter intakter,<br />
unberührter Regenwald, für den oft auch die<br />
nötigen Papiere, Rechte <strong>und</strong> so weiter fehlen. Sehr<br />
leicht kann es passieren, wie sie hier ironisieren,<br />
dass man den zweiten, oder dritten Stock kauft.<br />
Oder auch, dass ganz <strong>ein</strong>fach schon jemand das<br />
Stück Wald besetzt hat <strong>und</strong> es nun mit<br />
Waffengewalt verteidigt, aber auch sonst fast<br />
nicht mehr wegzubringen ist.<br />
Traurige Tropen!<br />
Der<br />
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Natur pur – von wegen!<br />
Der Regenwald! Er gilt als <strong>ein</strong>es der letzten<br />
Reservate, als grüne Lunge <strong>und</strong> als <strong>ein</strong>es der<br />
letzten unberührten Paradiese. Je nach<br />
Perspektive kann es aber auch sehr schnell<br />
umkippen, wird zur grünen Hölle. Paradies wie<br />
Hölle, darin sind sich die Träumer aber <strong>ein</strong>ig,<br />
beide sind fast unbewohnt, es gibt fast gar k<strong>ein</strong>e<br />
menschlichen Wesen, die ihnen Stand halten. Er<br />
gilt als <strong>ein</strong>e letzte Reserve überwältigender Natur,<br />
voller wilder Tiere <strong>und</strong> Pflanzen, tief drin vielleicht<br />
von <strong>ein</strong> paar ungezähmten, aber romantisch<br />
idealisierten Indiovölkern, pardon Indigenen<br />
Völkern bewohnt. Wir alle beanspruchen diesen<br />
Traumtropenwald in irgend<strong>ein</strong>er Weise. Nur,<br />
leider, leider muss diese Fantasie <strong>ein</strong>e IIlusion, <strong>ein</strong><br />
Traum bleiben. Denn er deckt sich in k<strong>ein</strong>er Art<br />
<strong>und</strong> Weise mit der realen Realität. Den Amazonas<br />
gibt es gar nicht. Es gibt unendlich viele sehr<br />
verschiedene Amazonasse. So vielfältig <strong>und</strong><br />
grandios, dass es kaum jemandem gelingt, die<br />
riesige, kontinentale Dimension des enormen<br />
Gebietes ganz zu erfassen.<br />
Dass die Natur im Amazonas überwältigt, steht<br />
außer Frage. Besonders überwältigend sind die<br />
Wassermassen, Ströme, Meere, alle gigantisch.<br />
Der Regenwald, den man sich als Tourist zu<br />
Gemüte führen kann, gibt sich allerdings eher<br />
spröde, muss zuerst erschlossen werden. Da, wo<br />
er wirklich unberührt ist, lassen <strong>ein</strong>em s<strong>ein</strong>e<br />
Baumgiganten den Atem stocken. Wer aber Tiere<br />
sehen will, muss schon sehr früh aufstehen, sehr<br />
leise s<strong>ein</strong> oder ganz <strong>ein</strong>fach in <strong>ein</strong>en der spärlichen<br />
Zoos gehen, um die Panther, Delphine <strong>und</strong> „Peixe<br />
Bois“, Seekühe aus der Nähe sehen zu können.<br />
Ansonsten beschränken sich die tierischen<br />
Begegnungen auf <strong>ein</strong> paar w<strong>und</strong>erschöne Vögel,<br />
mit viel Glück <strong>ein</strong> Äffchen, <strong>ein</strong> paar Alligatorenaugen,<br />
hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>e Kröte <strong>und</strong> unendlich viele,<br />
oft eher lästige oder gar gefährliche, Fieber<br />
bringende Moskitos <strong>und</strong> die unterschiedlichsten<br />
Ameisen, auf ihre Art auch sehr faszinierend.<br />
Zudem verbirgt sich hinter den Schlagzeilen <strong>und</strong><br />
Mythen vom grünen Dschungel <strong>ein</strong>e ganz andere,<br />
realere Realität. Komischerweise sch<strong>ein</strong>t es da<br />
draußen k<strong>ein</strong>em auszufallen, wie Widersprüchlich<br />
es ist, was man so alles über den Amazonas <strong>und</strong><br />
s<strong>ein</strong>e Zerstörung liest. Denn wir waren uns doch<br />
gerade <strong>ein</strong>ig, dass der Amazonas unbewohnt ist.<br />
Der Amazonas zerstört sich nicht selbst. Wer dem<br />
Amazonas auf die Pelle rückt, sind wir alle. Es sind<br />
Menschen, reale Menschen, Menschen aus<br />
Fleisch, Blut <strong>und</strong> Knochen, viele mit indigenen<br />
Zügen, andere zugewandert, Menschen wie wir.<br />
Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
wurde der Tropenwald als <strong>ein</strong>e Art Hindernis<br />
angesehen, das es zu eliminieren galt. Ein<br />
Hindernis auf dem Weg zur ökonomischen<br />
Entwicklung zum von allen ersehnten Fortschritt.<br />
In den 1970er Jahren warf die brasilianische<br />
Militärregierung <strong>ein</strong>en begehrlichen Blick auf den<br />
Amazonas <strong>und</strong> baute die Transamazônica.<br />
Versprach damit die Region nun endgültig zu<br />
bevölkern. „Integrar para não entregar“ –<br />
integrieren, sich <strong>ein</strong>verleiben, um nicht hergeben<br />
zu müssen. (Bis heute geistern die Lenden<br />
herum, dass die Amerikaner den Amazonas<br />
schon annektiert hätten oder schlimmeres.)<br />
Schuf <strong>ein</strong> gigantisches innerbrasilianisches<br />
Migrationsprojekt, das im Amazonas vielen<br />
Hungernden <strong>und</strong> den Ärmsten der Armen<br />
„Terras sem homens para homens sem terra “<br />
Land ohne Menschen (Amazonas) für Menschen<br />
ohne Land (Nordosten) versprach. Das Resultat?<br />
Viehzucht, Soja <strong>und</strong> Ackerbau bedrohen bis<br />
heute den wertvollen Regenwald, denn der wirft<br />
unangetastet eigentlich fast gar nichts ab.<br />
Zudem ist das vom oder gar im Regenwald leben,<br />
alles andere als romantisch. Neben den vielen<br />
Risiken, die man <strong>ein</strong>geht, kommt das Fehlen<br />
jeglicher Perspektiven, nicht nur von<br />
Schulbildung dazu was auch die neueren<br />
Regierungsprogramme nicht lösen, die die<br />
Tendenz zum Assistentialismus fördern. Zudem<br />
ist es wirklich nicht jedermanns Sache, drei, vier,<br />
zehn Tagreisen mit dem Schiff von der nächsten<br />
Zivilisation weg zu leben. Zivilisation bedeutet so<br />
Banales wie Elektrizität, Shoppingcenter,<br />
ärztliche Versorgung, <strong>ein</strong>e Apotheke, Handy,<br />
Internet <strong>und</strong> die neuesten Filme aus Amerika.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 85
Eine gute Schule oder gar <strong>ein</strong>e Universität<br />
tauchen auch irgendwo auf der Liste auf.<br />
Schlimmer wohl nur, wenn der hiesige bissige<br />
Humor im „Das gab´s-schon-mal-hier-Syndrom“<br />
schwelgt. Besonders im Landesinnern erinnern<br />
sich viele Einwohner sehnsüchtig daran. Es<br />
handelt sich um <strong>ein</strong>e treffende Umschreibung<br />
jener sich immer wieder erschöpfenden<br />
Wirtschaftszyklen, so typisch für Brasilien <strong>und</strong><br />
noch typischer für den Amazonas sind. Es gab hier<br />
den blühenden Handel mit Paranüssen, Jutte oder<br />
dem schwarzen Pfeffer, alles kaum mehr als <strong>ein</strong>e<br />
oder zwei Generationen her. Dann, in den 80er<br />
Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, gab‘s gar<br />
Goldgräber <strong>und</strong> jetzt sind gerade neue<br />
Edelst<strong>ein</strong>vorkommen im Gespräch. Bis deren<br />
Ausbeutung freigegeben wird, gammeln die<br />
Städte im Hinterland unter schlimmster<br />
politischer Misswirtschaft in der tropischen Hitze<br />
vor sich hin, die <strong>ein</strong>zige, die alle „Gabs-hier-schonmal“<br />
überlebt <strong>und</strong> wohl noch <strong>ein</strong>e Weile<br />
überleben wird.<br />
Mit Recht sagen manche hier: - „Ihr Europäer, was<br />
habt ihr mit eurem Wald gemacht? Abgeholzt.<br />
Verfeuert, verbaut, verbrannt. Warum dürfen wir<br />
nicht dasselbe machen? –“ Nicht nur die<br />
Menschen, die in jahrh<strong>und</strong>ertealten oder ganz<br />
neuen Städten leben, sagen es, sondern auch die,<br />
die Seite an Seite, nur durch <strong>ein</strong>e haarf<strong>ein</strong>e Linie<br />
von <strong>ein</strong>em archaischen Brasilien getrennt, leben. In<br />
jenem Amazonas, der weder dem Indigenen<br />
gehört, nackt, den Körper w<strong>und</strong>erschön bemalt,<br />
sondern den vielen anderen, die zwar auch s<strong>ein</strong>e<br />
Züge tragen, längst aber zu <strong>ein</strong>er schwer zu<br />
definierbaren Mischrasse, zu Caboclos oder<br />
Ribeirinhos geworden sind, wie überall in Brasilien.<br />
Amazonas heißt auch riesige, globalisierte Städte.<br />
An allen strategisch wichtigen Punkten gegründet,<br />
haben sich manche, wie Belém <strong>und</strong> Manaus, zu<br />
Megametropolen gewandelt, die die selben<br />
Probleme wie die des restlichen Brasiliens haben.<br />
Hier dominiert bis heute <strong>ein</strong>e mehrheitlich weiße<br />
Oberschicht, Nachfahren der Kolonisatoren,<br />
Immigranten aus allen Herren Ländern, wild<br />
gemischt, hergelockt vom Latex <strong>und</strong> anderen,<br />
selten erfüllten Versprechen. Ein anderer Teil<br />
kommt aus arabischen Ländern <strong>und</strong> aus Asien. Der<br />
Staat Pará hat die drittgrößte japanische Kolonie<br />
Brasiliens.<br />
Viele Zuwanderer mussten erleben, dass der<br />
Amazonas alles andere ist, als das fruchtbare Land,<br />
als das er ihnen angepriesen wurde. Historisch<br />
gesehen gelten der Amazonas, Brasilien <strong>und</strong> die<br />
anderen Lat<strong>ein</strong>amerikanischen Länder als die<br />
ältesten Peripherien der kapitalistischen Welt. Sie<br />
wurden nach der Maxime in ebendiese Welt<br />
integriert, dass ihre natürlichen Ressourcen <strong>und</strong><br />
die damit verb<strong>und</strong>enen ökonomischen Gewinne<br />
unendlich seien, nie versiegen würden. Dieses<br />
Weltbild wird gerade korrigiert. Ein überaus<br />
schwerfälliger, schmerzhafter Prozess.<br />
Der Amazonas ist längst nicht mehr <strong>ein</strong>e der<br />
letzten Grenzen, die es urbar zu machen gilt. Die<br />
Menschen, die hier wohnen, wollen ihren Anteil<br />
am Kuchen. Auch sie wollen als vollwertige<br />
Staatsbürger angesehen werden. Bestehen auf<br />
ihren staatsbürgerlichen Rechten. Sind sich<br />
bewusst, dass sie für <strong>ein</strong> besseres Leben<br />
kämpfen müssen. Mit oder gegen den<br />
Amazonas.<br />
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Amazonische Savannen<br />
Karg, aber faszinierend ist <strong>ein</strong> eher unbekannterer<br />
Teil des Amazonas. Eine Art „Catinga“, Halbwüste,<br />
mit <strong>ein</strong>er lockeren, komplett an die sandigen<br />
Böden angepassten Fauna, mit <strong>ein</strong>er eher<br />
buschigen, stachligen Vegetation, die <strong>ein</strong>e eigene,<br />
karge Schönheit offenbart. Nicht nur, dass es<br />
monatelang nicht regnet, auch der sandige Boden<br />
verlangt, dass sich die ganze tropische Natur<br />
s<strong>ein</strong>en Bedingungen unterwirft. So entsteht <strong>ein</strong>e<br />
offene Bewaldung, je nach Geografie <strong>und</strong> lokalen<br />
Verhältnissen gibt es mittleren oder nur niedrigen<br />
Baumbestand <strong>und</strong> auch niedriges Buschwerk.<br />
Dieser Amazonas wird technisch als „Cerrado“<br />
oder Savanne bezeichnet. Hier werden viele<br />
Bäume nicht mehr als 30 Meter hoch. Die<br />
Baumkuppen bilden, ganz anders als im dichten<br />
Regenwald, k<strong>ein</strong> geschlossen verflochtenes Dach.<br />
So gelingt es den Sonnenstrahlen mühelos bis<br />
zum Boden vorzudringen. Wo der nährstoffarme<br />
Boden es zulässt, wuchern niedere Kriechpflanzen,<br />
f<strong>ein</strong> ziselierte Farne <strong>und</strong> die<br />
unterschiedlichsten, genügsamen Moose. Hie <strong>und</strong><br />
da tut sich gar <strong>ein</strong>e sandige Lichtung auf. Da<br />
wächst die “Maria fecha a porta” Maria-schließtdie-Tür.<br />
Legt man <strong>ein</strong>en Finger in die offenen<br />
Blätter der kriechenden Mimose, falten sie sich<br />
bei der geringsten Berührung hoch. Kleben die<br />
filigranen Blättchen ganz dicht zusammen, <strong>ein</strong>s<br />
aufs andere. Hier fühlt sich der Cashewbaum<br />
genauso zu Hause wie der Murici, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />
gelbe Frucht, die eigenartig fettig ist <strong>und</strong> leicht<br />
nach Käse schmeckt. Es gibt wilde Maracujás,<br />
deren rote Blüten von weitem grüßen <strong>und</strong> die<br />
unterschiedlichsten Bromelien, die sich nicht an<br />
Bäume klammern, sondern im sandigen Boden<br />
wurzeln. Faszinierend sind die verschiedenen<br />
parasitären Aufsitzerpflanzen, unter dem<br />
Sammelnamen “Ervas de Passarinho”, sowas wie<br />
Vogelkräuter bedeutet, zusammengefasst. Sie<br />
suchen sich wie die Mistel andere Pflanzen als<br />
Gastwirte, die sie dann anzapfen. Sie produzieren<br />
leckere Früchte, die gerne von den Vögeln<br />
verspeist <strong>und</strong> damit verbreitet werden. Da wo <strong>ein</strong><br />
Klecks Kot hinfällt, sprießt <strong>ein</strong>e neue Pflanze. Sie<br />
besetzen jede nur mögliche Stelle, klammern oder<br />
hängen sich waghalsig an Äste <strong>und</strong> Wurzeln.<br />
Beginnen unsch<strong>ein</strong>bar als kl<strong>ein</strong>e Abszesse, aus<br />
denen sich bald würgende, umschlingende<br />
Sträucher bilden.<br />
Hoch in den Ästen kann man auch die<br />
unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten Nester <strong>und</strong> Bauten finden.<br />
Der „Japim“, <strong>ein</strong> schwarzer Vogel mit<br />
eidottergelben Streifen hängt s<strong>ein</strong>e Säcke, in<br />
mühsamer Flechtarbeit zusammengebaut, kl<strong>ein</strong>e<br />
Kunstwerke, die oft sie ganze Kolonien bilden, in<br />
die schaukelnden Äste. Termiten, Wespen <strong>und</strong><br />
Ameisen kleben ihre Bauten, ausgefallene Gebilde,<br />
gut getarnte, blasenartige Hügel oder Gebilde die<br />
an Stalaktiten erinnern <strong>und</strong> mit unzähligen<br />
gedeckten Straßen verb<strong>und</strong>en sind, in die Bäume.<br />
Mit viel Glück <strong>und</strong> Geduld kann man gar auch hoch<br />
oben <strong>ein</strong>e der riesigen Echse entdecken, oder im<br />
Unterholz kl<strong>ein</strong>e Eidechsen beobachten.<br />
Blattschneiderameisens<br />
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Tropennutzwald<br />
Längst hat sie die Moderne, das Abwaschbar-s<strong>ein</strong>,<br />
der erschwingliche Preis oder <strong>ein</strong>fach das<br />
Praktisch-s<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>- <strong>und</strong> überholt. Palmstrohdächer???<br />
K<strong>ein</strong>er will mehr <strong>ein</strong> mit Palmstroh<br />
gedecktes Dach, das alle 2-3 Jahre erneuert<br />
werden muss, auch wenn sie jenen Dächern aus<br />
Wellblech oder recycelten Reifen um viele<br />
Thermograde überlegen sind. Schauerlich,<br />
Strohdächer sind Wohnort für zu viele Insekten,<br />
nicht alle geeignet für <strong>ein</strong> friedliches<br />
Zusammenleben, <strong>und</strong> können in der Regenzeit<br />
ganz schön lecken.<br />
Auch die Tage der traditionellen Häuser aus Holz<br />
sind gezählt. Die letzten Exemplare modern vor<br />
sich hin. All das kunstvolle Handwerk, das<br />
Handwerk <strong>und</strong> das Wissen, das dahinter steckt,<br />
verlieren sich. Nur <strong>ein</strong> paar verrückte Althippies<br />
oder Intellektuelle bauen sich <strong>ein</strong>e an den<br />
Malocas inspirierte Behausung, lassen sich gar<br />
von den <strong>ein</strong>heimischen Materialien <strong>und</strong><br />
Strukturen zu modernen, klimagerechten<br />
Neukonstruktionen inspirieren, die nicht nur<br />
Komfort bringen <strong>und</strong> klimaangespasst sind,<br />
sondern auch die Traditionen respektieren.<br />
Auch hier ist die Architektur globalisiert. Man<br />
nimmt sich lieber den Süden Brasiliens oder<br />
Miami als Vorbild. Die modernen Baumaterialien<br />
aus dem Baumarkt sind <strong>ein</strong>fach zu billig, der<br />
Plastik zu verlockend. Nun also Glasscheiben in<br />
Metallrahmen statt Holzfenster, die sind so schön<br />
dicht <strong>und</strong> können nur schlecht aufgemacht<br />
werden. Wozu auch, drinnen sorgt die<br />
Klimaanlage, lustigerweise als „Central de ar“,<br />
Luftzentrale bekannt, für arktische Temperaturen.<br />
Der Tropenwald war <strong>und</strong> ist noch <strong>ein</strong> Nutzwald.<br />
Traditionellerweise bezog die lokale Bevölkerung<br />
alles Baumaterial aus dem Tropenwald. Die<br />
unterschiedlichsten Palmen lieferten das<br />
Ausgangsprodukt für fast alle ihre Gebrauchsgegenstände,<br />
vom Tragegestell bis zum Hausdach,<br />
von der Kalebasse <strong>und</strong> dem Kanu bis zu den<br />
Spielzeugen der Kinder. Viele dieser Gegenstände<br />
findet man heute nur noch als Kunsthandwerk für<br />
Touristen.<br />
Aber nicht nur für das leicht zu flechtende<br />
Palmstroh wird der Regenwald genutzt. Manche<br />
tun es als Nostalgie ab, oder als Folklore, für die<br />
meisten sind diese altmodischen Dinge ganz<br />
<strong>ein</strong>fach unpraktisch, außer Mode. Bald werden nur<br />
noch die Fremdenführer von der „Sapopema“,<br />
erzählen, dem Baum, dessen Stamm hohl ist, <strong>und</strong><br />
der von den Indigenen als <strong>ein</strong>e Art Radio, als<br />
Kommunikation auf Distanz benutzt wird. Das Holz<br />
<strong>ein</strong>es anderen Baumes riecht unverkennbar nach<br />
Vicks <strong>und</strong> wird mit denselben medizinischen<br />
Indikationen angewendet. S<strong>ein</strong> Name? „Viqueiro“!<br />
Mit „Breu“, <strong>ein</strong> helles, duftendes Harz, werden<br />
Spalten in Kanus abgedichtet. Die „Ayuasca“ ist <strong>ein</strong><br />
kraftvolles Abführmittel, soll auch für tolle<br />
Halluzinationen sorgen, die so den Körper von<br />
allem Bösen r<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> heute in verschiedenen<br />
Ritualen, von sektenartigen Gruppen in ganz<br />
Brasilien angewendet wird, um zu s<strong>ein</strong>em<br />
wirklichen Ich zu finden. „Marapuama“ ist <strong>ein</strong><br />
kraftvolles Holz, denn die Rinde <strong>und</strong> Wurzeln des<br />
Baumes sollen der männlichen Potenz auf die<br />
Sprünge helfen, aber auch Rheuma kurieren.<br />
Die Moderne wird auch sie in die Erinnerung<br />
verbannen, der Fortschritt ist unaufhaltsam. Nur<br />
ewig Nostalgische w<strong>ein</strong>en ihnen Tränen nach.<br />
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Pupunha, <strong>ein</strong>e leckere Palmfrucht<br />
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Alles Buriti<br />
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S<strong>ein</strong>e Majestät der Buritizeiro<br />
Jede Frucht <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Kunstwerk, Frucht für<br />
Frucht <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er, kostbar lackierter, chinesischer<br />
Handschmeichler. Oval, von der Größe <strong>ein</strong>er<br />
Tomate, erinnern die Früchte des Buritizeiros mit<br />
ihren eng stehenden, glänzenden Schuppen, <strong>ein</strong>e<br />
w<strong>und</strong>ersam über die andere gelegt, an den<br />
Panzer <strong>ein</strong>es vorsintflutlichen Fisches oder <strong>ein</strong>er<br />
trocken glänzenden Echse. Darunter verbirgt sich<br />
das tieforange, ölige Fruchtfleisch, das essbar ist.<br />
Daraus wird nicht nur Brei gekocht, sondern es<br />
wird auch zu <strong>ein</strong>er süßen, köstlich säuerlichen<br />
schnittfesten Paste <strong>ein</strong>gekocht. Die Paste wird in<br />
Holzkästchen verkauft, die aus den sehr leichten,<br />
gut formbaren Mittelrippen der Buritiwedel<br />
geschnitzt sind. Aus dem selben Material ensteht<br />
auch das bunte Spielzeug, das traditionellerweise<br />
zum Cirio in Belém angeboten wird. Die Kinder<br />
lieben vor allem die kl<strong>ein</strong>en, naturgetreu<br />
nachgeschnitzten Schiffchen, die wirklich lustig<br />
davon schwimmen.<br />
Es gibt ungezählte Palmenarten in Brasilien, <strong>ein</strong>e<br />
majestätischer als die andere. Ihre silbergrauen<br />
Stämme sind hoch aufgeschossenen, Ring hinter<br />
f<strong>ein</strong> gezeichnetem oder wulstigem Ring<br />
hochgezogen. Ganz oben die Fächerblätter,<br />
Blattkronen, deren Wedel sich langsam, sehr<br />
langsam nach unten senken, welken, irgendwann<br />
<strong>ein</strong>en neuen Ring freilegen. Je majestätischer die<br />
Palme, desto riesiger die Blätter. Jede Palme hat<br />
<strong>ein</strong> anderes Format, <strong>ein</strong> anders geformtes Blatt.<br />
Manche fransen sich von der starken Mittelrippe<br />
aus auf, andere wie der Buriti haben vollr<strong>und</strong>e<br />
Wedel auf langstielig federnde Rispen gesteckt, die<br />
sich aus dem Stamm erheben. Sie fächern sich<br />
elegant <strong>und</strong> immerzu in Bewegung von <strong>ein</strong>em<br />
zentralen Punkt aus auf, drei Dutzend nervös r<strong>und</strong>e<br />
Tuffs, wie die von amerikanischen Cheerleaders,<br />
beim leisesten Luftzug von unzähligen Armen<br />
geschüttelt. Im Gegenlicht der fallenden Sonne<br />
erinnern sie an sorgfältig aufgetürmte Locken, Tuff<br />
hinter Tuff sorgsam hingepüschelt. Da, wo die<br />
Wedel sich zum Stamm verbinden, sprießen an lang<br />
gezogenen Trauben die kastanienbrauen Früchte.<br />
Viele Palmen mögen den Strand, das Wasser. Der<br />
Buritizeiro mag es, s<strong>ein</strong>e Füße, Pardon Wurzeln, zu<br />
baden. Er gedeiht am besten an den Ufern von<br />
Igarapés, kl<strong>ein</strong>en Flüssen <strong>und</strong> Sümpfen, wo er<br />
kl<strong>ein</strong>e, lockere Wäldchen bildet. S<strong>ein</strong>e malerischen<br />
Fächer in fast schwarzem Grün spiegeln sich<br />
zusammen mit den stahlblauen Himmeln <strong>und</strong> den<br />
Watteschönwetterwolken in den stillen<br />
amazonischen Waldseen.<br />
Ein Bild, das ich mir mitnehme. In der Erinnerung<br />
winken mir die Tuffs, im Gegenlicht schwarz wie<br />
dramatische Scherenschnitte, vom heißen Hauch<br />
<strong>ein</strong>er Brise geschüttelt, <strong>ein</strong> letztes Adeus zu.<br />
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Von der Paranuss bis zum Kumarin - die «Drogas do Sertão»<br />
Wenn Sie sich gleich <strong>ein</strong>e Paranuss knacken,<br />
Kakao trinken oder ihr Parfüm nach Bittermandel<br />
<strong>und</strong> Vanille riecht, so konsumieren Sie, kaum<br />
<strong>ein</strong>er käme so ohne weiteres darauf, indirekt drei<br />
historische «Drogas do Sertão», drei bis heute<br />
populäre brasilianische Rohmaterialien <strong>und</strong><br />
Exportgüter aus dem Amazonas. Paranüsse<br />
werden, wie immer schon, bis heute im System<br />
des Extrativismus von Underdogs aus den<br />
amazonischen Tropenwäldern gebuckelt. Zwar<br />
hat Bolivien Brasilien längst puncto Produktivität<br />
überholt. Trotzdem hat die Paranuss ihren Platz in<br />
Brasiliens Exportstatistik, zählt zu jenen<br />
Nischenprodukten, die sich weder bei den<br />
Bodenschätzen noch bei der Holzproduktion<br />
<strong>ein</strong>ordnen lassen. Auch der Kakao stammt aus<br />
dem Amazonas, wo er heute wieder sehr<br />
erfolgreich <strong>und</strong> in ausgezeichneter Qualität<br />
angebaut wird. Hipe ist gerade wilder Kakao, der<br />
ganz neue, unerwartete Geschmacksnuancen<br />
bringt <strong>und</strong> nur in sehr kl<strong>ein</strong>en Mengen verkauft<br />
wird.<br />
Auch die Tonkabohne taucht in der selben<br />
Statistik auf. Die Produktion der Tonkabohnen,<br />
neuerdings wieder für Desserts <strong>und</strong> anderes<br />
wiederentdeckt, ist allerdings weniger archaisch.<br />
Tonkabaumholz ist <strong>ein</strong> sehr begehrtes Edelholz,<br />
extrem resistent <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> dunkler Braunton ist<br />
gerade in Mode. Tonkabäume werden deshalb<br />
auch schon in Plantagen angebaut. Und da<br />
werden auch die kl<strong>ein</strong>en schwarzen Bohnen mit<br />
dem betörenden Aroma geerntet. Ganz gewitzte<br />
Produzenten machen sich gar die Fledermäuse zu<br />
Komplizen. Die lieben die leicht süßliche Schale<br />
der Hülle, die die Tonkabohne umschließt. Dazu<br />
muss man nur <strong>ein</strong> paar Körbe kopfüber in die<br />
Bäume hängen. Dahin<strong>ein</strong> ziehen sich die<br />
Fledermäuse zum Schlafen zurück. Nehmen sich<br />
aber vorher als Leckerbissen <strong>ein</strong>e Tonkafrucht mit.<br />
Die nagen sie dann säuberlich ab, um sie dann<br />
<strong>ein</strong>fach, gleich da unter dem Korb, zu entsorgen.<br />
Da muss man die Früchte dann nur noch<br />
zusammen lesen.<br />
Der chemische Stoff, der für den Duft verantwortlich<br />
ist, heißt Cumarin. Cumarin <strong>und</strong> s<strong>ein</strong><br />
eigentümlicher, angenehm würziger Geruch gilt als<br />
wichtiger Duft- <strong>und</strong> Fixationsstoff in der Kosmetik<strong>und</strong><br />
Parfümindustrie. Allerdings wird es wird<br />
heutzutage mehrheitlich synthetisch hergestellt.<br />
Der Verdienst kommt dem <strong>ein</strong>em Münchner<br />
Chemiker, August Vogel zu, der den Wirkstoff<br />
erstmals 1813 isolierte. 1820 erkannte es der<br />
Franzose Jean-Baptiste-Gaston Guibourtc dann als<br />
eigene Substanz, was es möglich machte, es<br />
synthetisch nachzubauen.<br />
Noch <strong>ein</strong> anderes Beispiel ist Urucum. Auf jedem<br />
lokalen Markt ist das rote Pulver zu finden. Es wird<br />
aus den Samen des Urucuzeiros gewonnen, <strong>und</strong><br />
k<strong>ein</strong>e lokale Köchin verzichtet darauf. Erst<br />
«Urucum», als Pulver dann «Colorau» genannt,<br />
gibt dem ach so bleichen Hähnchen <strong>und</strong> dem<br />
schrecklich blassen Fisch die richtige appetitlich<br />
rötliche Farbe. Die indigene Bevölkerung mischt<br />
sich damit ihre Körperbemalung an. Im Rest der<br />
Welt ist «Urucum» <strong>ein</strong>er der zugelassenen<br />
Lebensmittelfarbstoffe, die Butter, Käse <strong>und</strong> was<br />
weiß ich noch appetitlich rot-orange färben.<br />
Das alles wirft <strong>ein</strong> neues Licht auf den Amazonas,<br />
der heute mehrheitlich als grüne Lunge, als<br />
wildes, intaktes, unberührtes Ökosystem<br />
dargestellt wird. Ein aus der Ferne romantisierter<br />
Sehnsuchtsort, dessen indigenen Bewohner ihre<br />
ganz eigene Weltsicht <strong>und</strong> so faszinierende<br />
Mythen haben. Dass er aber auch viele Produkte<br />
mit komplexer Geschichte, die meist bis zu den<br />
Anfängen der Kolonialzeit zurückreicht, aus dem<br />
Amazonas kommen, zeigt, wie verflochten,<br />
hochkomplex <strong>und</strong> globalisiert alles ist.<br />
Aber schauen wir zurück. Das heute fast<br />
ausgerottete Rotholz, das «Pau Brasil», zum<br />
Färben von Textilien begehrt, war nur der<br />
Anfang. Im Amazonas fanden die neuen Herren<br />
<strong>ein</strong>e schier unerschöpfliche Quelle an Hölzern,<br />
Früchten, Tieren, Pflanzen, die auszubeuten sich<br />
lohnte <strong>und</strong> noch heute lohnt. Wurde Brasilien<br />
nur entdeckt, weil die Portugiesen <strong>ein</strong>en neuen<br />
Weg zu den Indien suchten, um ihren Handel mit<br />
Gewürzen auszuweiten, fanden sie später im<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 109
Amazonas genau das, was sie gesucht hatten.<br />
Denn als Portugal s<strong>ein</strong> Monopol mit dem Handel<br />
der Gewürzen aus Indien an die zahlreiche<br />
Konkurrenz verlor, bot der Amazonas Ersatz.<br />
Lokale, aber auch akklimatisierte Spezereien, die<br />
würzten <strong>und</strong> konservierten oder in der Medizin<br />
<strong>und</strong> der Parfümindustrie <strong>ein</strong>gesetzt wurden,<br />
wurden zum Geschäft der St<strong>und</strong>e. Eine für beide<br />
Seiten äußerst vorteilhafte, fruchtbringende<br />
Kooperation mit den religiösen Orden, allen voran<br />
dem Orden der Jesuiten, machte den Anfang. Ein<br />
Geben <strong>und</strong> Nehmen. Die religiösen Orden<br />
bekehrten die Indigenen zum wahrhaften<br />
Glauben, bot ihnen auch teilweise Schutz vor<br />
Willkür <strong>und</strong> lehrte sie vieles. Als Dank dafür<br />
wurde ihnen der lukrative Handel anvertraut.<br />
Besonders die Jesuiten, schon damals <strong>ein</strong><br />
komplett globalisierter Orden mit strenger<br />
Hierarchie, die auf unbedingten Gehorsam<br />
pochte, baute <strong>ein</strong> überaus effizientes <strong>und</strong><br />
lukratives Tauschgeschäft mit der lokalen<br />
Bevölkerung auf. Der Sammelbegriff für all diese<br />
Produkte aus dem Tropenfeuchtwald war «Drogas<br />
do Sertão».<br />
Ein Teil der Urbanisierung <strong>Amazonien</strong>s ist direkt<br />
mit der Ausbeutung ebendieser «Drogas do<br />
Sertão» zu erklären. Städte wie Belém <strong>und</strong><br />
Santarém wurden gegründet, um dem Schmuggel<br />
<strong>und</strong> der Piraterie ebendieser «Drogas do Sertão»<br />
Einhalt zu bieten.<br />
Der Jesuitenorden <strong>und</strong> viele andere tauschte<br />
Seelenheil gegen «Drogas do Sertão» <strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />
diente somit allen s<strong>ein</strong>en Herren, den<br />
himmlischen <strong>und</strong> den weltlichen. Verschifften<br />
Talg von Seekühen, Schildkröteneier <strong>und</strong> –talg,<br />
lebende Papageien, Krokodile <strong>und</strong> andere<br />
Kuriositäten für überseeische Sammler <strong>und</strong> ihre<br />
Kuriositätenkabinette. Otter- <strong>und</strong> Panterfelle<br />
waren als Handeslgut genauso beliebt wie<br />
Paranüsse, Guarana, Kakao, Pfeffer <strong>und</strong> andere<br />
Gewürze. Ein paar der Spezereien waren so<br />
kostbar, dass sie in Gold aufgewogen wurden.<br />
Während der Rest Brasiliens, <strong>ein</strong>e portugiesische<br />
Kolonie, in strenger Abhängigkeit zum<br />
Mutterland gehalten, s<strong>ein</strong>en Reichtum aus<br />
Sklavenarbeit <strong>und</strong> Monokulturen bezog, Zucker,<br />
Kakao <strong>und</strong> Kaffee in riesigen Plantagen anbaute<br />
<strong>und</strong> exportierte, kam der Reichtum <strong>Amazonien</strong>s<br />
bis weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hin<strong>ein</strong> aus der<br />
Extraktionswirtschaft.<br />
Im Amazonas ging das Handelsmonopol nach der<br />
Vertreibung der Jesuiten durch den aufgeklärten<br />
Minister Marques do Pombal, <strong>ein</strong> Iluminist, in die<br />
Hände der portugiesischen Regierung über. Das<br />
Ziel war es, Handelskompanien nach dem Muster<br />
der Holländer <strong>und</strong> Engländer aufzubauen. Die<br />
Weltgeschichte wollte es anders.<br />
Aber der Handel von damals, der nur natürliche<br />
Ressourcen ausbeutet, hat bis heute s<strong>ein</strong>e<br />
Bedeutung in der lokalen Ökonomie. Wie<br />
ehemals wird in der Region bis heute wie in<br />
<strong>ein</strong>em riesigen, unerschöpflichen Selbstbedienungsladen<br />
alles, was die Natur hergibt,<br />
geerntet. Angepflanzt wird nur, was für den<br />
täglichen Bedarf nötig ist. Der Amazonas gilt bis<br />
heute als <strong>ein</strong>e unendliche, riesige Ressourcenreserve,<br />
die es auszubeuten gilt, meist zum Wohl<br />
lokaler Eliten <strong>und</strong> auf den Rücken der weniger<br />
Informierten, Minderbemittelten, die, die k<strong>ein</strong>e<br />
Lobby haben. Stehengelassen hat das riesige<br />
Gebiet wenig Wert.<br />
Als Nachtrag: Das Wort “Sertão”, heute meist für<br />
den kargen brasilianischen Nordosten verwendet,<br />
wo es <strong>ein</strong>en kargen, trockenen Landstreifen<br />
beschreibt, mag für den Tropenwald unpassend<br />
klingen. Aber das Wort Sertão” benannte früher<br />
<strong>ein</strong>fach alle, meist unerforschte, karge,<br />
unfre<strong>und</strong>liche Teile der ungezählten<br />
brasilianischen Hinterlande, von denen es bis<br />
heute viele gibt. Auch das Wort “Droge” war<br />
anders besetzt. Es umschrieb all die<br />
Naturprodukte, die zu kulinarischen Zwecken,<br />
zum Konservieren, in der Medizin oder in der<br />
Parfümproduktion <strong>ein</strong>gesetzt wurden.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 110
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Der Schokoladenbaum<br />
Flink wie <strong>ein</strong> Wiesel, die B<strong>ein</strong>e, sie stecken fest in<br />
der Schlaufe aus Palmblatt, hart gegen den<br />
Stamm gepresst, steigt der Junge mit raschen<br />
Hüpfern den steil-glatten Stamm des Baumes<br />
hoch. Schwupps, schon ist er ganz oben <strong>und</strong> wirft<br />
uns <strong>ein</strong>e zwei Handspannen große Frucht<br />
herunter. Sie hat die Form <strong>ein</strong>es Baseballs, oval<br />
mit spitz zulaufenden Enden. Die Schale ist<br />
gelblich, mit braunen Spritzern <strong>und</strong> lässt sich<br />
leicht wegbrechen. Schon liegt das weiße<br />
Fruchtfleisch frei. Es umschließt die perfekt in die<br />
Hülle <strong>ein</strong>gepassten Samen.<br />
Sauge die saftig-süße dünne Umhüllung aus.<br />
Achtlos spucke ich die Kerne aus. Bis mir jemand<br />
erklärt, dass ich soeben <strong>ein</strong>e Schokoladenbohne<br />
verschmäht habe – <strong>ein</strong> Kakaobaum! Der Baum<br />
heißt, nicht von ungefähr, im Englischen<br />
„Chocolate-tree”. Der Kakao ist der Bruder des<br />
Cupuaçu. Beide sind Bäume, die am besten in<br />
Schatten anderer Bäume wachsen. Kürzliche<br />
Forschungen bestätigen, dass der Cacaueiro,<br />
Theobroma, aus Brasilien stammt, irgendwo vom<br />
Oberlauf des Amazonas stammt er her, von wo er<br />
sich auf ganz Süd- <strong>und</strong> Zentralamerika ausbreitet<br />
hat.<br />
Heute ist Kakao so begeht, dass man seit kurzem<br />
gar wilden Kakao direkt aus dem Tropenwald<br />
erntet. S<strong>ein</strong>e überraschenden Noten, gewachsen<br />
an den unzulänglichen Ufern amazonischer<br />
Flüsse, entzücken da draußen <strong>ein</strong> paar wenige<br />
verwöhnte Schleckmäuler, die gerne für<br />
Schokolade mit “Terroir” bezahlen.<br />
Und da liegt der Hase im Pfeffer. Ökonomisten<br />
rechnen vor, dass die Gewinnspanne umso größer<br />
ist, je mehr sie sich dem Endprodukt nähert. Mit<br />
anderen Worten: Wer <strong>ein</strong> Rohprodukt bis zum<br />
Endprodukt, sprich Schokolade, veredelt, verdient<br />
viel mehr als der, der nur das Ausgangsprodukt,<br />
sprich die Kakaobohne, anbaut oder gar die<br />
Kakaofrüchte im Tropenwald <strong>ein</strong>sammelt. Genau<br />
darauf setzt <strong>ein</strong> großes Projekt vom Staat Pará<br />
unterstützt, das <strong>ein</strong>e der wichtigen “Drogas dos<br />
Sertão”, den Kakao wieder zum Leuchten bringt.<br />
Der brasilianische Kakao stammt nicht nur aus<br />
dem Amazonas, der Amazonas war früher bekannt<br />
für s<strong>ein</strong>en aromatischen Kakao, der <strong>ein</strong>en<br />
wichtigen Beitrag zur lokalen Ökonomie leistete.<br />
Über die letzten fünfzig Jahre aber musste er<br />
s<strong>ein</strong>e Vormachtstellung an den Staat Bahia<br />
abgeben. Das Regierungsprojekt aber macht<br />
Terrain gut. Schon hat der Staat Pará Bahia<br />
überholt <strong>und</strong> gilt heute als der größte Kakaoproduzent<br />
Brasiliens.<br />
Entlang der Belém-Brasilia setzen viele Ansiedler,<br />
<strong>ein</strong>ige in Cooperativen organisiert, auf Kakaoanbau.<br />
Relativ arbeitsintensiv, ist er ideal für<br />
Kl<strong>ein</strong>bauern <strong>und</strong> Familienbetriebe, die zusammen<br />
mit den Kakaobäumen auch Maniok, Früchte <strong>und</strong><br />
Gemüse pflanzen können. Nicht nur der Kakao<br />
floriert, auch die amazonische Schokolade ist auf<br />
guten Wegen. Eine Kooperative aus Medicilândia<br />
zum Beispiel produziert schon ihre eigene<br />
Schokolade, die sie exportiert, aber auch in<br />
eigenen Läden verkauft. Das Produkt ist so gut,<br />
dass es auch international Erfolge feiert.<br />
Endlich beginnen <strong>ein</strong>ige Früchte des Amazonas<br />
Früchte zu tragen. Irgendwann wird es mir dann<br />
nicht mehr passieren, dass mir <strong>ein</strong>e Bekannte<br />
Schokolade in den Amazonas mitbringt. Aus<br />
Amerika. Hergestellt in der Schweiz. Vielleicht<br />
mit Kakao aus Brasilien, gegessen im<br />
Amazonas…..<br />
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Holz, das nach Rosen riecht<br />
Möchten Sie unseren Planeten besser kennen<br />
lernen? Wie wäre es mit <strong>ein</strong>er Reise in die Wildnis<br />
<strong>Amazonien</strong>s, zum Bauchnabel des Universums:<br />
grün, neblig <strong>und</strong> feucht? Da gibt es Indigene, Holz,<br />
das nach Rosen riecht, Naturschützer in Aktion<br />
<strong>und</strong> viele w<strong>und</strong>erbare Geschichten – <strong>Amazonien</strong><br />
ist immer für <strong>ein</strong>e Überraschung gut.<br />
- „Willst du am Samstagabend ausgehen? Einen<br />
Forró tanzen? Da brauchst du dich nicht zu<br />
parfümieren, n<strong>ein</strong>! Du riechst schon w<strong>und</strong>erbar!<br />
Das Parfüm des Rosenholzes imprägniert sich in<br />
d<strong>ein</strong>e Haut. Den Duft kriegst du nicht runter.“ -<br />
João da Silva, besser bekannt unter s<strong>ein</strong>em<br />
Spitznamen „Avô”, Großvater, er verdankt ihn<br />
s<strong>ein</strong>en 86 Jahren, ist <strong>ein</strong> typischer Caboclo (so<br />
heißen die Einheimischen hier). Er hat die<br />
asiatischen Gesichtszüge <strong>ein</strong>es Indios der Region<br />
von Manaus <strong>und</strong> lacht <strong>ein</strong>es s<strong>ein</strong>er strahlenden<br />
Lachen. Wenn er spricht, benutzt er, wie alle hier,<br />
das im restlichen Brasilien aus der Sprache<br />
verschw<strong>und</strong>ene „tu”, du. Er arbeitet, seit er sich<br />
erinnern kann, oder wie er sich ausdrückt: Seit er<br />
sich selber als Menschen wahrnimmt. Er arbeitet<br />
bis heute, als Matrose, auf <strong>ein</strong>er kurzen Reise auf<br />
dem Rio Negro. Der Fluss ist glatt wie <strong>ein</strong> Spiegel.<br />
Er benutzt die Gelegenheit, stellt <strong>ein</strong>es s<strong>ein</strong>er<br />
braunen B<strong>ein</strong>e auf die Reling, <strong>und</strong> beantwortet<br />
unsere neugierigen Fragen. Wir wollen mehr über<br />
<strong>ein</strong>en sehr speziellen Baum wissen, den Baum,<br />
dessen Holz nach Rosen riecht. - „Das war <strong>ein</strong> sehr<br />
gutes Geschäft, das Rosenholz! Gute Arbeit, ja.<br />
Wir haben gut verdient. Wenn wir <strong>ein</strong>en Baum<br />
schnitten, haben wir immer alles mitgenommen,<br />
sogar den Wurzelstock haben wir ausgegraben<br />
<strong>und</strong> mitgeschleppt. Ein Baum, der 25<br />
Handspannen dick war, ergab 25 Tonnen Holz.<br />
Einer mit 30 Tonnen Holz. Das brachte sehr viel<br />
Geld, ja. Heute ist es schwierig, überhaupt noch<br />
Bäume zu finden. Man muss sehr weit in den Wald<br />
r<strong>ein</strong> gehen, sehr weit.“ -<br />
Pau-Rosa, wie der Baum auf Portugiesisch heißt,<br />
(lat. Aniba roaeodora) ist vom Aussterben bedroht.<br />
Es steht heute auf der Liste der geschützten Arten<br />
<strong>und</strong> darf nur unter sehr strengen Bedingungen<br />
ausgebeutet werden. S<strong>ein</strong> Holz riecht nach Rosen<br />
<strong>und</strong> die daraus gewonnene Essenz, <strong>ein</strong> Öl, wird als<br />
Gr<strong>und</strong>material in der Parfümindustrie verwendet.<br />
Naturschützer <strong>und</strong> brasilianische Regierungsstellen,<br />
wie das Ibama, sind sensibilisiert: Ihren<br />
Voraussagen nach wird das Schlagen von<br />
Rosenholz in <strong>ein</strong>igen Jahren verboten s<strong>ein</strong> oder<br />
ganz von selbst verschwinden. Die wenigen<br />
Fabriken, die es noch gibt, produzieren pro Jahr ca.<br />
50 Tonnen Rosenholzessenz, wofür ca. 2’000<br />
Bäume pro Jahr gefällt werden müssen. Das<br />
entspricht etwa <strong>ein</strong>em Umsatz von U$ 1.5000.000.<br />
Aber es zeichnen sich schon andere Lösungen ab.<br />
- „Doktor! Psst, Doktor, schauen Sie doch mal<br />
her!“- Es ist Senhor Raul Alencar, Patriarch,<br />
gewiefter Händler <strong>und</strong> Rosenholzölproduzent. Er<br />
will, so deutet s<strong>ein</strong> erhobener Zeigefinger an, mit<br />
Lauro <strong>Barata</strong> sprechen. „Doktor” nennt er, wie<br />
alle Leute hier, jeden, der <strong>ein</strong>en Titel hat oder<br />
sonst <strong>ein</strong>e wichtige soziale Position bekleidet.<br />
Mich, s<strong>ein</strong>e Ehefrau, nennt er die Patronin. Er<br />
spricht <strong>und</strong> gestikuliert wie <strong>ein</strong> Nordestino. Die<br />
Bewohner des ewig dürren Sertão im Nordosten<br />
Brasiliens wanderten, im Sog des Kautschukbooms,<br />
früher in Massen in die schwüle Wildnis<br />
des Amazonas aus. Er spricht viel <strong>und</strong> mit vielen<br />
Umwegen, untermalt das Gesprochene mit<br />
großen Gesten. Aber er spricht nicht nur,<br />
sondern ist auch <strong>ein</strong> Visionär. Schließlich will er<br />
s<strong>ein</strong>en Söhnen <strong>ein</strong> paar gut laufende Geschäfte<br />
hinterlassen.<br />
- „Wie ist der Senhor denn Rosenholzproduzent<br />
geworden?“ - Auf uns wartet <strong>ein</strong>e lange,<br />
verwickelte Geschichte! Begonnen hat sie damit,<br />
dass Senhor Raul als Mittelsmann <strong>ein</strong>es reichen,<br />
sehr kultivierten jüdischen Händlers <strong>und</strong><br />
Universitätsprofessors Samuel Benchimol<br />
arbeitete, der, wir sind in den goldenen Jahren<br />
des Kautschukbooms, <strong>ein</strong>en guten Teil der<br />
Ausfuhren aus Manaus kontrollierte. - „M<strong>ein</strong><br />
Chef wusste alles. Und er kontrollierte alles.<br />
Ohne Computer! Er hatte nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Heft.<br />
Und <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Sekretärin. Er schickte mich da<br />
<strong>und</strong> dorthin, hier <strong>ein</strong> paar Tonnen Paranüsse<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 116
holen, da <strong>ein</strong> paar Kanister Andirobaöl, er<br />
handelte mit allem, was der Urwald hergab. Er<br />
wusste ganz genau, wann <strong>und</strong> wie viel er wem zu<br />
bezahlen hatte. Ich war es, der alle Kontakte mit<br />
Lieferanten <strong>und</strong> Produzenten hielt. Ich war immer<br />
unterwegs. Bis, ja, bis ich mich selbständig<br />
machte.“ -<br />
- „Später, da arbeitete ich schon auf eigene<br />
Rechnung, hatte schon <strong>ein</strong>e Rosenholzdestillerie,<br />
habe ich es auch mit Kautschuk versucht. Das war<br />
in den 70er Jahren. Da wollte die Militärdiktatur<br />
den Kautschuk wieder zum rentablen Geschäft<br />
aufbauen. Die haben alles in ganz großem Stil<br />
aufgezogen. Wir bekamen alles: Wievielte<br />
Traktoren brauchen Sie? 100? 150? Geht in<br />
Ordnung. Nur für Arbeitskräfte mussten wir<br />
sorgen. Die Setzlinge kamen aus São Paulo.<br />
Leider. Die haben sich nie ans Klima gewöhnt <strong>und</strong><br />
sind alle kaputtgegangen.“ -<br />
Und so reiht sich <strong>ein</strong>e Geschichte an die andere.<br />
Heute ist der Abbau von Rosenholz nur <strong>ein</strong>es<br />
s<strong>ein</strong>er Geschäfte. Er ist <strong>ein</strong>er der wenigen<br />
Produzenten, die überlebt haben. - „Hey, Doktor,<br />
wollen Sie m<strong>ein</strong>e Ländereien sehen? Es ist sehr<br />
schön da. Es ist nicht weit.“ - „Wie viele St<strong>und</strong>en<br />
ungefähr?“ - „Es ist ganz nah, Doktor, nur drei<br />
oder vier Tagesreisen mit dem Boot.“ - Klar, wir<br />
sind im Amazonas. Ein paar Tagreisen – das liegt<br />
gleich um die Ecke.<br />
- „Mensch, war das vielleicht kalt auf dem Boot!<br />
Nachts! Ganz besonders auf dem Boot, aber auch<br />
im Wald kühlt es nachts ganz schön ab. Richtig<br />
frisch wird es.“ - Eduardo Mattoso, Physiker<br />
erinnert sich an s<strong>ein</strong>e verschiedenen Aufenthalte<br />
im Amazonas. Am Anfang aß ich wenig <strong>und</strong><br />
kochte immer selbst. Ich hatte schreckliche Angst,<br />
dass ich mir irgend<strong>ein</strong>e Krankheit holen könnte,“ -<br />
erzählt Eduardo. - „Die Einzigen, die sich nie<br />
täuschen, sind die Caboclos. Sie kennen den<br />
Regenwald wie ihre eigene Hosentasche! Sie<br />
wissen sehr genau, wo es Rosenholz gibt. Wollen<br />
sie <strong>ein</strong>en Rosenholzbaum identifizieren, brechen<br />
sie <strong>ein</strong> paar Blätter ab, riechen daran, beißen r<strong>ein</strong><br />
oder schlecken sie gar ab. Manchmal schneiden sie<br />
auch <strong>ein</strong> Stück Rinde ab <strong>und</strong> beißen ebenfalls r<strong>ein</strong>.<br />
Sie irren sich fast nie.“ -<br />
- „In Manaus lernte ich endlich Dona Neta <strong>und</strong><br />
Senhor Raul Alencar, zwei Produzenten von<br />
Rosenholzessenz, kennen.“ - Eduardo erzählte von<br />
s<strong>ein</strong>er ersten Reise. – „Dona Neta bot mir die<br />
<strong>ein</strong>malige Gelegenheit, ihre Realität kennen zu<br />
lernen. Sie ist <strong>ein</strong>e außerordentliche Frau. Sehr<br />
entschieden, mit <strong>ein</strong>er starken Energie, voller Mut<br />
<strong>und</strong> Führungsqualitäten. Sie kommandiert ganz<br />
all<strong>ein</strong>, mitten im Urwald, <strong>ein</strong>e Fabrik zur<br />
Destillation von Rosenholzessenz. Unter ihrem<br />
Kommando stehen 30 Männer. Sie ist<br />
nicht mehr als 40 Jahre alt, sieht aber aus wie 60.<br />
Ihr Leben ist sehr hart. Man sagte mir, dass sie<br />
<strong>ein</strong>en Revolver im Gürtel trage, <strong>ein</strong>e 38er. Ihre<br />
Fabrik hat sie vor 20 Jahren zusammen mit ihrem<br />
schon verstorbenen Mann gegründet. Der hatte,<br />
erzählte man mir, nicht nur 5 Frauen, sondern<br />
auch 27 uneheliche Kinder. In Wahrheit sollen es,<br />
will man s<strong>ein</strong>en Erzählungen glauben, mehr als<br />
40 gewesen s<strong>ein</strong>. Dona Neta hinterließ er zwei<br />
Töchter <strong>und</strong> das Geschäft, das sie heute all<strong>ein</strong>e<br />
führt.“ -<br />
- „Sie gab mir <strong>ein</strong>e Nachricht mit <strong>und</strong> damit hatte<br />
ich in der ganzen Fabrik freien Zutritt. Ich<br />
begleitete <strong>ein</strong>en ihrer Arbeiter bis dahin. Zuerst<br />
sind wir St<strong>und</strong>en mit dem Auto gefahren, bis zum<br />
Haus <strong>ein</strong>es Händlers, <strong>ein</strong> rustikales Haus ohne<br />
Komfort, am Rande der Straße. Da haben wir<br />
geschlafen <strong>und</strong> ich lernte das <strong>ein</strong>fache Leben im<br />
Wald kennen. Die Dusche zum Beispiel war <strong>ein</strong>e<br />
Tonne mit Regenwasser. Daraus schöpften wir<br />
das Wasser mit <strong>ein</strong>em Becher <strong>und</strong> leerten es uns<br />
gegenseitig über den Körper. Vor der Reise<br />
hatten sie mich gewarnt, das Wasser da sei voller<br />
Typhusviren! Deshalb nahm ich zwanzig Liter<br />
Trinkwasser mit. Aber Gott sei Dank gab es nicht<br />
mal Malaria da. Später war ich weniger vorsichtig<br />
<strong>und</strong> trank, wie alle da, das Wasser aus dem Fluss.<br />
Es ist dunkel, wie starker Schwarztee, voller<br />
Sedimente organischen Ursprungs. Es schmeckt<br />
<strong>und</strong> riecht nach Erde. Abends geht man sehr früh<br />
schlafen, in der Hängematte. Alle schlafen in<br />
Hängematten, Betten gibt es nirgends. Wir<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 117
lauschten <strong>ein</strong>e Weile dem Singsang der Kröten.<br />
Die singen nur, wenn es regnet. Später hörte ich<br />
zum ersten Mal – das erste von vielen tausenden<br />
von Malen – die schauerlichen Geschichten des<br />
Regenwaldes. Unheimliche, verrückte<br />
Geschichten, wenn man da so mitten im Urwald<br />
liegt, läuft es <strong>ein</strong>em schon kalt den Rücken runter.<br />
Zuerst erzählen sie immer von den „Onças“, den<br />
Jaguaren. Das war alles so plastisch, dass ich<br />
schon bald m<strong>ein</strong>te, ihr Brüllen zu hören. Später<br />
haben wir ihre Fußspuren gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Kratzer,<br />
ganz schön hoch, so in Brusthöhe. In den Rinden<br />
der Bäume, wo sie ihre scharfen Krallen wetzen.<br />
Dann erzählten sie mir von Curupira. Das ist <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er, aber sehr cleverer Indiojunge! S<strong>ein</strong><br />
größtes Vergnügen ist es, Leute, die im Wald<br />
unterwegs sind, in die Irre zu führen. Versuch ja<br />
nie, ihm zu folgen! Er täuscht alle. Denn s<strong>ein</strong>e<br />
Füße sind ihm nach hinten gewachsen. Er geht<br />
sozusagen umgekehrt. Merkst du, dass er dich<br />
verfolgt, so gibt es nur <strong>ein</strong> Mittel, um ihn<br />
abzuhalten. Wirf <strong>ein</strong> kompliziertes Geflecht aus<br />
verschlungenen Fäden hinter dich auf den Weg.<br />
Diesem Köder kann er nicht widerstehen! Sofort<br />
wird er versuchen, das komplizierte Geflecht zu<br />
entwirren <strong>und</strong> vergisst darüber – Gott sei Dank -<br />
dir zu folgen.“ -<br />
- „Am anderen Tag lernte ich den Regenwald von<br />
innen kennen. Ich machte Bekanntschaft mit dem<br />
„Jirico”. Das ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Traktor, der für Fahrten<br />
im Dschungel umgebaut ist. Schmal, vorne <strong>und</strong><br />
hinten mit je <strong>ein</strong>er improvisierten Plattform, ist er<br />
für den Transport von Holz, aber auch von<br />
Personen gebaut. Maximal haben sechs Personen<br />
Platz. Man muss sich ganz schön festhalten, denn<br />
er benimmt sich wie <strong>ein</strong> störrischer Esel! Und<br />
man muss immer auf der Hut s<strong>ein</strong>. Muss s<strong>ein</strong>e<br />
B<strong>ein</strong>e immer wieder blitzschnell hochheben, sonst<br />
läuft man Gefahr, dass sie unter den Traktor<br />
kommen.<br />
Er fährt immer denselben Weg entlang,<br />
der mehr oder weniger 1 bis 1,5 Meter breit ist. Es<br />
gibt große Steigungen <strong>und</strong> entsprechendes<br />
Gefälle, dazwischen riesige Löcher. Das geht in den<br />
Rücken, so <strong>ein</strong>e Reise! Zusammen mit der<br />
ganzen Equipe sind wir mehr als fünf St<strong>und</strong>en<br />
durch den Wald gefahren. Die Arbeiter,<br />
angeheuert für drei Monate ohne Pause, machten<br />
Witze, lachten, neckten sich ohne Unterbruch. Sie<br />
verbringen die drei Monate in <strong>und</strong> neben der<br />
Fabrik. Ihr Tagesablauf ist sehr hart <strong>und</strong> wird<br />
eigentlich nur von den Mahlzeiten unterbrochen.<br />
Zum Frühstück gibt’s Crackers, Couscous, <strong>ein</strong><br />
luftiges Gericht aus Mais, <strong>und</strong> Kaffee. Zu den<br />
anderen Mahlzeiten immer Reis <strong>und</strong> Bohnen mit<br />
„Jabá”, <strong>ein</strong>gesalzenem Fleisch, Nudel <strong>und</strong><br />
Farinha, <strong>ein</strong>e Art knuspriges Mehl aus Maniok.<br />
Abends schauen sich alle, das verpasst k<strong>ein</strong>er, im<br />
Fernsehen die tägliche Folge der Novela an.<br />
Alkohol ist strikt verboten. Die Arbeiter sind alle<br />
in sehr guter körperlicher Verfassung. Der<br />
Älteste, er war 71, nahm <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>en Besenstiel<br />
zwischen den Händen <strong>und</strong> sprang darüber, ohne<br />
außer Atem zu kommen, hin <strong>und</strong> zurück, hin <strong>und</strong><br />
zurück. Fast alle sind Analphabeten. Viele können<br />
<strong>ein</strong> paar Zahlen lesen, bis zehn vielleicht, aber<br />
was mehr als fünfzehn ist, verwirrt sie. Aber das<br />
kümmert k<strong>ein</strong>en. Es ist nicht wichtig für sie. Sie<br />
haben k<strong>ein</strong>e Ambitionen im Leben. Aber sie<br />
leiden auch k<strong>ein</strong>en Hunger <strong>und</strong> können vom<br />
dem, was sie haben, gut leben. In den Städten<br />
sind die Menschen aber allerdings oft sehr<br />
ausgemergelt, haben oder hatten schon mehrere<br />
Malariaanfälle, rauchen <strong>und</strong> trinken viel. Manuel<br />
Lulu, <strong>ein</strong>er von ihnen, sagte mir <strong>ein</strong>mal: „Ich kann<br />
alles! Motorsägen, jagen, fischen, alles. Nur<br />
Lektüre, das heißt lesen, kann ich nicht.“ -<br />
Sie arbeiten in drei oder vier Equipen. Die erste<br />
Equipe, drei oder vier Männer, wenn es fast k<strong>ein</strong><br />
Holz mehr gibt auch fünf oder sieben, suchen<br />
den Wald ab. Ihre Arbeit ist illegal. Aber wenn<br />
man an die enormen Distanzen denkt, merkt<br />
man, wie illusorisch der Ruf nach Kontrolle ist.<br />
Ich habe nie herausgef<strong>und</strong>en, wie sie sich im<br />
Wald zurechtfinden. Sie gehen auf <strong>ein</strong>em Weg<br />
r<strong>ein</strong> <strong>und</strong> auf <strong>ein</strong>em anderen raus. Sie verlaufen<br />
sich nie! Das Laufen im Wald ist sehr angenehm.<br />
Man geht im Schatten der Baumwipfel, da ist es<br />
frisch, es gibt nicht viele Moskitos, nur die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 118
Feuchtigkeit ist unangenehm. M<strong>ein</strong>e Jeans haben<br />
sich immer in kürzester Zeit mit Schweiß voll<br />
gesogen. Die Männer gehen sehr schnell, es ist<br />
nicht so <strong>ein</strong>fach, ihnen zu folgen. Tiere sieht man<br />
sehr wenige, sie sagen es gebe Affen, Jaguare,<br />
kl<strong>ein</strong>e Rehe <strong>und</strong> natürlich viele, viele<br />
Kl<strong>ein</strong>stlebewesen <strong>und</strong> Insekten. Schlangen gibt es,<br />
wie es sch<strong>ein</strong>t, wenige.<br />
Die erste Equipe kommt in Abständen von 20<br />
Tagen zur Fabrik zurück. Sie haben im Wald<br />
genaue Hinweise angebracht, wo es <strong>ein</strong>en<br />
Rosenholzbaum zum Fällen gibt. Normalerweise<br />
findet man pro Hektare etwa fünf Exemplare der<br />
der begehrten Bäume. Die zweite Equipe verlässt<br />
die Fabrik nach Mitternacht, so um <strong>ein</strong> Uhr früh,<br />
<strong>und</strong> kommt erst am Abend des nächsten Tages, so<br />
um 21 Uhr zurück. Die Männer schlafen<br />
Untertags, irgendwo, zum Beispiel auf den<br />
geschlagenen Stämmen. Auf jeder Reise gehen<br />
immer <strong>ein</strong>er oder zwei Traktoren kaputt, was zu<br />
unfreiwilligen Pausen führt, weil Teile fehlen oder<br />
so. Aber die Männer kriegen sie immer wieder<br />
irgendwie hin. Gelingt es k<strong>ein</strong>em mehr, den<br />
Traktor zu reparieren, löst Dona Neta das<br />
Problem. Sie ist die beste Mechanikerin von allen.<br />
Fehlen Teile, schreibt sie <strong>ein</strong>e Nachricht, lässt sie<br />
am Rand der Straße, wo sie <strong>ein</strong>er ihrer<br />
Mitarbeiter holt, die Teile kauft <strong>und</strong> auf s<strong>ein</strong>er<br />
nächsten Reise dahin mitbringt.<br />
Bäume, die weniger als vier Handspannen (ca. 30 cm<br />
Durchmesser) messen, schneiden sie nicht. Die<br />
Arbeiter von Dona Neta fällen nur Rosenholzbäume. Da<br />
könnte der wertvollste Baum daneben stehen – der<br />
interessiert sie nicht. Die gefällten Stämme<br />
zerschneiden sie in meterlange Stücke <strong>und</strong><br />
transportieren sie so zur Fabrik. Wenn sie da<br />
ankommen, rollen sie die Strünke über <strong>ein</strong>en Abhang<br />
hinunter, schleppen sie zum Häcksler <strong>und</strong> schneiden<br />
sie kl<strong>ein</strong>. Mit den weniger als zündholzschachtelgroßen<br />
Stücken füllen sie den Destillationsapparat aus Eisen.<br />
Sie lassen nicht das kl<strong>ein</strong>ste Stückchen übrig. Alle Äste,<br />
alles wird destilliert. Der Destillationsapparat ist sehr<br />
alt, er hat 15 oder 20 Jahre auf dem Buckel <strong>und</strong><br />
stammt von <strong>ein</strong>em verschrotteten Schiff.<br />
Der Vorgang ist <strong>ein</strong>fach. Destilliert wird mit Dampf. Der<br />
steigt aus <strong>ein</strong>er riesigen Pfanne auf, dringt in das Holz<br />
<strong>ein</strong> <strong>und</strong> löst das Öl aus dem Holz. Kühlt die Mischung<br />
aus Dampf <strong>und</strong> Öl aus, wird der Dampf wieder zu<br />
Wasser, das sich automatisch vom Öl trennt. Das Öl<br />
muss dann nur noch gesiebt werden <strong>und</strong> wird dann in<br />
Fässer abgefüllt, die mit der nächsten Reise bis zur<br />
Straße gebracht werden. Dona Neta verkauft nur an<br />
<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigen Großhändler, der das Öl dann<br />
exportiert. Die Beziehung mit dem Großhändler geht<br />
weit über den Kauf des Öls hinaus. Es ist <strong>ein</strong>e Art<br />
versteckter Abhängigkeit. Der Großhändler hilft mit<br />
Krediten, wenn Dona Netta – wie immer, in finanziellen<br />
Schwierigkeiten ist – bezahlt aber nur die Hälfte des<br />
Marktpreises.<br />
Ein anderer Teil der Reise führte Eduardo flussabwärts,<br />
bis Santarém. Er fuhr mit dem Linienschiff. Das ist die<br />
billigste <strong>und</strong> populärste Art auf dem Amazonas zu<br />
reisen, deshalb sind die Schiffe immer total überladen.<br />
Die Schiffe, aus Eisen, sind sehr alt <strong>und</strong> oft in<br />
fragwürdigem Zustand. Sie wurden in den dreißiger<br />
oder vierziger Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts aus<br />
England importiert <strong>und</strong> bieten nur minimalen Komfort.<br />
Auf dem Oberdeck breitet sich während der ganzen<br />
Reise, Tag <strong>und</strong> Nacht, <strong>ein</strong> dichter Wald aus<br />
Hängematten aus, dicht an dicht, <strong>ein</strong>e neben die<br />
andere gehängt. Daneben, darüber, in allen Ecken <strong>und</strong><br />
Nischen Menschen, ganze Familien, mit Kind <strong>und</strong> Kegel<br />
<strong>und</strong> Babys, nicht zu vergessen ihre wertvolle Fracht:<br />
Früchte, Fische, Hühner, Elektrogeräte, Autoteile,<br />
Fahrräder. Auf dieser Reise war es so kalt, dass<br />
Eduardo sich noch jetzt ungern daran erinnert:<br />
- „Nie in m<strong>ein</strong>em Leben habe ich so gefroren, wie<br />
nachts auf diesem verflixten Schiff!“ - Prompt kam<br />
Eduardo dann in Santarém mit <strong>ein</strong>er Grippe an.<br />
Trotzdem fuhr er bis zur Station Curuauna weiter. Die<br />
liegt nahe bei Santarém <strong>und</strong> heißt „Centro da<br />
Tecnologia da Madeira”, Zentrum der Holztechnologie<br />
<strong>und</strong> gehört der SUDAM, <strong>ein</strong>er staatlichen Stelle. Die<br />
Reise dauerte 3 V bis 4 St<strong>und</strong>en über Land<br />
<strong>und</strong> noch 40 Minuten mit dem Schiff. Die Straße ist<br />
neu. - „Früher dauerte die Autofahrt mehr als 10<br />
St<strong>und</strong>en.“ - Die Station, vor dreißig Jahren von<br />
Amerikanern gegründet, ist sehr außergewöhnlich, weil<br />
dort drei ganz unterschiedliche Ökosysteme<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 119
auf<strong>ein</strong>ander treffen. Das erste ist <strong>ein</strong> Urwald,<br />
dessen Bäume das ganze Jahr <strong>ein</strong> bis <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb<br />
Meter unter Wasser stehen. Das Ökosystem,<br />
Pflanzen, Fische <strong>und</strong> Tiere sind so perfekt an die<br />
Verhältnisse angepasst, dass die Bäume sofort<br />
verdorren würden, würde man sie in normale<br />
Erde verpflanzen. Dann gibt es den Teil, der<br />
„Várzea” heißt. Während der Regenzeit ist der<br />
Boden überflutet, für den Rest des Jahres bleibt<br />
er trocken. Hier ist die Erde sehr fruchtbar, <strong>ein</strong>e<br />
der fruchtbarsten des ganzen Amazonas, wo der<br />
Boden normalerweise sandig oder lehmig ist.<br />
Auch hier gibt es spezialisierte Pflanzen, perfekt<br />
an die außergewöhnlichen Gegebenheiten<br />
angepasst. Würde das Wasser nicht <strong>ein</strong>mal pro<br />
Jahr steigen <strong>und</strong> die Pflanzen unter Wasser<br />
setzen, würden sie alle sterben. Der letzte Teil ist<br />
„trockene” Erde. Lehmig, arm, die <strong>ein</strong>zige<br />
Nahrungsquelle ist <strong>ein</strong>e f<strong>ein</strong>e Schicht schwarzer,<br />
sich langsam zersetzender Blätter.<br />
- „Ich wohnte in <strong>ein</strong>em Holzhaus, von<br />
Amerikanern nach dem Muster amerikanischer<br />
Häuser konstruiert. Eine Architektur, die nichts<br />
mit der lokalen Bauweise zu tun hat. Deshalb war<br />
es im Haus drin <strong>ein</strong>fach unvorstellbar heiß.“ -<br />
Zudem waren alle Fenster <strong>und</strong> Türen mit<br />
Moskitonetzen zugespannt. Es gibt Malaria da,<br />
<strong>und</strong> wenn die Nacht <strong>ein</strong>bricht, beginnen die<br />
Moskitos, die Malaria übertragen, zu fliegen. Da<br />
bleibt <strong>ein</strong>em nur übrig, sich ins Haus<br />
zurückzuziehen. Der Generator für das Licht wird<br />
allerdings um 19:30 Uhr abgestellt. Gott sei Dank<br />
war wenigstens das Essen, der „Rancho”, sehr gut.<br />
Es wurde von weit hergebracht <strong>und</strong> bestand aus<br />
Farinha, <strong>ein</strong>gesalzenem Fisch, Nudeln, Bohnen,<br />
alles mit Frischfisch <strong>und</strong> Jagdbeute angereichert.<br />
Gleich neben der Station wohnen etwa 30<br />
Familien. Ihr Leben folgt der immergleichen<br />
Routine. Sie fischen, jagen, spielen Ball. Es sind<br />
<strong>ein</strong>fache, ungeschliffene Leute. Ihre Ignoranz<br />
schockierte mich. Die Frauen kamen mir vor, wie<br />
wenn sie Sklavinnen wären. Die Männer trinken<br />
viel.“ -<br />
- „Auf m<strong>ein</strong>er letzten Reise wurde ich ernstlich<br />
krank. Eine Virusinfektion. Ich fühlte mich schlapp,<br />
ohne jegliche Energie, ohne Appetit, konnte mich<br />
kaum noch auf den B<strong>ein</strong>en halten. Wir mussten<br />
<strong>ein</strong> gutes Stück durch Schlamm waten. Der Virus<br />
hatte sich schon in m<strong>ein</strong>em ganzen Körper<br />
<strong>ein</strong>genistet <strong>und</strong> ich dachte wirklich, ich würde da<br />
nie mehr ankommen.“ - Eduardo, wieder in<br />
ausgezeichneter Verfassung, zeigt die <strong>Foto</strong>s: Ein<br />
Meer schwarzen Schlammes, zurückgelassen vom<br />
austrocknenden Fluss. Ein paar Männer, alle<br />
stecken bis zu den Knien im Schlamm. Hinter ihnen<br />
<strong>ein</strong>e Reihe tiefer Löcher, ihre Fußspuren.<br />
<strong>Amazonien</strong> ist immer für <strong>ein</strong>e Überraschung gut!<br />
Aber Eduardo kann es kaum erwarten,<br />
zurückzugehen. Es gilt, mehr als dreitausend<br />
Pau-Rosa-Setzlinge zu pflanzen; <strong>ein</strong>e der<br />
Vorschriften des Ibamas. Jeder Produzent von<br />
Pau-Rosa muss für jeden abgeholzten Baum<br />
<strong>ein</strong>en neuen pflanzen. Das funktioniert leider nur<br />
in der Theorie. Die Produzenten müssten eigenes<br />
Land haben, wo sie die Setzlinge pflanzen<br />
könnten. Land zu kaufen <strong>und</strong> dann auch s<strong>ein</strong>e<br />
Eigentumsrechte zu beweisen, ist im Amazonas<br />
sehr kompliziert. „Grilagem”, der mehrmalige<br />
Verkauf des selben Gr<strong>und</strong>stückes, riesiger Stücke<br />
Land, oft größer als die ganze Schweiz, ist hier<br />
<strong>ein</strong> Bombengeschäft. Man witzelt, dass k<strong>ein</strong>er<br />
wisse, welches Stockwerk des Gr<strong>und</strong>stückes er<br />
besitze....<br />
Aber auch diese Klippen wollen die beiden,<br />
Professor Lauro <strong>Barata</strong> <strong>und</strong> Eduardo Mattoso,<br />
zusammen mit den Produzenten natürlich, noch<br />
umschiffen. Ein zweites Projekt, diesmal mit<br />
<strong>ein</strong>em Aufforstungsprogramm, ist schon<br />
konzipiert. Die Finanzierung ist allerdings noch<br />
ungewiss.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 120
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 121
Öle <strong>und</strong> Harze mit w<strong>und</strong>ersamen Kräften<br />
Jeder Tourist, der nach Belém kommt, drängt sich<br />
hier durch. Beléms zentrale Markthalle ist <strong>ein</strong><br />
Magnet. Wer sich den Reichtum des Regenwaldes<br />
sozusagen mit allen Sinnen aneignen will, dem sei<br />
<strong>ein</strong> Besuch auf dem „Ver-o-peso“ empfohlen. Die<br />
aus England importierte Eisenkonstruktion wurde<br />
1901, mitten im Kautschukboom errichtet. Der<br />
Name „Ver-o-peso“ (Sieh das Gewicht) stammt<br />
allerdings aus der Kolonialzeit, denn hier wurden<br />
alle <strong>ein</strong>geschifften Waren, um diese Zeit natürlich<br />
vor allem Kautschukballen, gewogen. Im Zollhaus<br />
„Haver-o-peso“ wurden dann die Steuern<br />
erhoben.<br />
Die Marktstände stehen eng. Wie jeder<br />
brasilianische Markt hat auch der «Ver-o-peso»<br />
<strong>ein</strong>e geheimnisvolle Sektion traditioneller<br />
Kräutermedizin. Und diese hier kann sich sehen<br />
lassen. Lockt mit bunten Farben, Magie <strong>und</strong><br />
jenem Zauber, dem kaum <strong>ein</strong>er widersteht, auch<br />
wenn er eigentlich auf harter Schulmedizin steht.<br />
Hier mischt sich überliefertes Kräuterwissen mit<br />
Aberglauben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er tüchtigen Portion<br />
Unerklärlichem, die, neueste Forschungen<br />
bekräftigen das, durchaus ihren Anteil an der<br />
Heilung haben. Hier verkaufen bauernschlaue<br />
Verkäufer <strong>und</strong> Verkäuferinnen, sie verkörpern<br />
<strong>ein</strong>e be<strong>ein</strong>druckende Mischung aus<br />
Kräuterdoktor, Heilk<strong>und</strong>igem, halb Medizinmann,<br />
halb W<strong>und</strong>erheiler, lavieren dabei hart am<br />
Scharlatan vorbei, ihre W<strong>und</strong>ermittel. In diesen<br />
paar Gassen des Marktes gibt es alles: Tinkturen,<br />
Wässer, Absude, Salben, Öle, frische <strong>und</strong><br />
getrocknete Pflanzen <strong>und</strong> was weiß ich noch mehr.<br />
Die Präparate sind in Flaschen verschiedenen<br />
Größen abgefüllt, nur das Etikett enthüllt, wofür<br />
sie alles gut sind. Malerisch mit Baumwollfaden<br />
am Flaschenhals aufgehängt, sind sie die beste<br />
Werbung, nach dem Motto, je mehr, desto besser.<br />
Auch das Angebot des verschmitzt aussehenden<br />
Händlers, bei dem wir stehen bleiben ist bunt<br />
gemischt. Er verkauft sowohl frische als auch<br />
getrocknete Kräuter, Knochen, Teile von Tieren,<br />
daneben auch magische <strong>und</strong> heilkräftige Amulette,<br />
Räucherstäbchen, Seifen, Parfüms <strong>und</strong> andere<br />
Ingredienzien, die, je nach Packungsaufschrift, das<br />
Pech verscheuchen <strong>und</strong> das Glück anziehen, <strong>ein</strong>en<br />
Mann auf sich aufmerksam machen oder K<strong>und</strong>en<br />
herbeilocken. Wir wollen <strong>ein</strong>e «Pomada<br />
Milagrosa», <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>ersame Pomade, die ihre<br />
w<strong>und</strong>ersame Heilwirkung bei W<strong>und</strong>en schon mehr<br />
als <strong>ein</strong>mal bewiesen hat. Endlich hat er sie<br />
gef<strong>und</strong>en. K<strong>ein</strong> Produkt trägt <strong>ein</strong> Preisschild. Der<br />
Preis wird auf die Kaufkraft des Käufers<br />
abgestimmt.<br />
Der Händler zeigt uns dann <strong>ein</strong>e trübe, recycelte<br />
Limonadenflasche. Sie ist mit rotem Siegellack<br />
verschlossen. Ihr Inhalt ist dickflüssig, schimmert<br />
rötlich. Es ist Andiroba-Öl. Ihm werden die<br />
verschiedensten Heilkräfte zugeschrieben. Wenn<br />
ich dem Verkäufer glauben soll, kann man damit<br />
nicht nur Rheuma kurieren, Insekten<br />
verscheuchen <strong>und</strong> ihre Bisse zum Abklingen<br />
bringen, sondern sogar Krebs heilen <strong>und</strong><br />
andere W<strong>und</strong>er bewirken. – Be<strong>ein</strong>druckend. Als<br />
ich dann allerdings den etwas verwesten, strengen<br />
Geruch des Öls wahrnehme, schrecke ich vor <strong>ein</strong>er<br />
generelleren Anwendung, gar intern! doch etwas<br />
zurück.<br />
Die Indigene Bevölkerung benutzen Andiroba-Öl<br />
seit präkolumbianischen Zeiten. Einige Stämme<br />
verwenden Andiroba, vermischt mit dem roten<br />
Pflanzen-Farbstoff Urucum, um sich gegenseitig<br />
die Körper kunstvoll zu bemalen. Sie wissen auch,<br />
dass Andiroba kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>en heilen kann <strong>und</strong><br />
insektenabweisend wirkt. Zu Hause lerne ich mehr<br />
über die bewegte Geschichte des Andirobabaumes.<br />
Sie sch<strong>ein</strong>t mir sehr typisch, <strong>ein</strong> Beispiel<br />
dafür, was mit anderen Produkten aus dem<br />
Regenwald passiert ist <strong>und</strong> bis heute passiert: Das<br />
Holz des Andirobabaumes, aus derselben Familie<br />
wie das Mahagoni, war <strong>und</strong> ist sehr gesucht <strong>und</strong><br />
wird wegen s<strong>ein</strong>er Härte <strong>und</strong> der Resistenz gegen<br />
Insektenbefall oft für den Bau von Häusern <strong>und</strong> bei<br />
der Konstruktion von Schiffen verwendet. Was<br />
dazu führt, dass die Bäume immer seltener<br />
werden <strong>und</strong> immer tiefer aus dem jungfräulichen<br />
Wald herausgeholt werden müssen.<br />
Begehrt war aber, bis in die 1950er Jahre, nicht<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 122
nur Andirobaholz, sondern auch Andiroba-Öl.<br />
Allerdings war es nicht s<strong>ein</strong>er heilenden<br />
Eigenschaften wegen begehrt, sondern <strong>ein</strong>fach als<br />
lokal zugängliches, billiges Fett, gerade richtig, um<br />
daraus <strong>ein</strong>fachste Haushaltseife zu kochen. Mit<br />
der Einführung <strong>und</strong> dem Massenanbau von Soja in<br />
den 1960er Jahren wurde die Gewinnung von Öl<br />
aus Andirobakastanien uninteressant. Heute ist es<br />
schwierig, größere Mengen davon kaufen zu<br />
wollen.<br />
Gewonnen wird das Öl bis heute auf primitive Art<br />
<strong>und</strong> Weise. Die „Caboclos“, die Einheimischen,<br />
sammeln die weichschaligen Kastanien am Fuß<br />
der Bäume oder an den Flussufern, wo sie zu<br />
Milliarden angeschwemmt werden. Dann lassen<br />
sie die Kastanien <strong>ein</strong>fach an der Sonne<br />
vermodern. Mit <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Blech als Abfluss,<br />
leiten sie dann das Resultat des Fäulnisprozesses,<br />
das austretende Öl, in bereitstehende Behälter<br />
ab. Das Öl kann auch ausgepresst werden <strong>und</strong> auf<br />
dem Markt sind die unterschiedlichsten<br />
Qualitäten zu finden. - Ein großes, schier<br />
unlösbares Problem, stellt man Anforderungen an<br />
die Qualität des Produktes.<br />
Neben Andiroba gehört auch Copaiba, <strong>ein</strong><br />
klebriges Harz, das w<strong>und</strong>erbar als W<strong>und</strong>heiler<br />
wirkt, in <strong>ein</strong>e amazonische Hausapotheke.<br />
Copaibaharz wird von drei oder vier<br />
unterschiedlichen Bäumen produziert. Die<br />
Stämme der Bäume sind innen hohl <strong>und</strong> das Harz<br />
sammelt sich da in <strong>ein</strong>em Reservoire an. Will man<br />
es gewinnen, zapft man den Baum wortwörtlich<br />
an, indem man ihm <strong>ein</strong> tiefes Loch in die Rinden<br />
bohrt. Das kann man durchschnittlich <strong>ein</strong>mal pro<br />
Jahr machen, denn so lange braucht der Baum, um<br />
das gestohlene Harz wieder nachzuproduzieren.<br />
Und Ihre W<strong>und</strong>e hier am B<strong>ein</strong> ist immer noch nicht<br />
abgeheilt? Ja, hier im Amazonas kann das etwas<br />
dauern. Einheimische schwören auf «Jucá», <strong>ein</strong>e<br />
braune Bohne. Die wird ins Wasser gebröselt <strong>und</strong><br />
der entstehende rötliche Aufguss auf die W<strong>und</strong>e<br />
aufgebracht. Funktioniert garantiert! Zweifel?<br />
Dann kann ich Ihnen nur die «Pomada Milagrosa»,<br />
die w<strong>und</strong>ersame Pomade empfehlen. Oder auch<br />
«Sebo de Holanda», das holländische Schaffett.<br />
Bei uns in der Schweiz verkaufen sie in der<br />
Apotheke <strong>ein</strong>e Pomade <strong>ein</strong>es Chemiemultis mit<br />
fast den selben Zutaten….. .<br />
Wie auch immer. Hier im Amazonas nutzen viele<br />
Einheimische <strong>und</strong> auch viele Zugewanderte<br />
Andiroba Den Juckreiz <strong>und</strong> die allergische<br />
Reaktion von Mücken- <strong>und</strong> anderen Stichen<br />
jedenfalls habe ich schon zu oft abklingen sehen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 123
Oriximiná am Fluss Trombetas<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 124
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 125
Nachhaltigkeit já, aber wie?<br />
Nachhaltigkeit ist in aller M<strong>und</strong>e. Besonders,<br />
wenn es den Amazonas betrifft. Sie wird unisono<br />
von allen, die über den Amazonas nachdenken,<br />
als der Schlüssel zur Lösung des Problems<br />
gesehen. In der Theorie. Denn die Praxis hinkt<br />
ziemlich hinterher.<br />
Der Kaufmann Carlos H<strong>ein</strong>rich Filho aus São Paulo<br />
arbeitet <strong>und</strong> handelt seit 20 Jahren mit Pflanzen<br />
des Amazonas. Er ist vom wachsenden Interesse<br />
Brasiliens an s<strong>ein</strong>en eigenen, natürlichen<br />
Ressourcen überzeugt. Für ihn ist die<br />
„Unterentwicklung” <strong>Amazonien</strong>s eng mit<br />
fehlendem Interesse, traditioneller<br />
Bequemlichkeit <strong>und</strong> mangelnder Infrastruktur<br />
verb<strong>und</strong>en.<br />
Vielleicht fehle es auch <strong>ein</strong>fach an <strong>ein</strong>er<br />
umfassenderen <strong>und</strong> weitblickenderen Planung<br />
<strong>und</strong> Organisation. Bis heute sei die brasilianische<br />
Mentalität mehr am kurzfristigen Nutzen als an<br />
langfristigem Engagement <strong>und</strong> langjährigen<br />
Investitionen orientiert. Damit bezieht er sich auf<br />
den bis vor kurzem politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
sehr unstabilen Zustand s<strong>ein</strong>es Landes. Das halte<br />
halt viel seriöse in- <strong>und</strong> ausländische Investoren<br />
ab. Auf der anderen Seite, fährt Senhor Carlos<br />
H<strong>ein</strong>rich Filho fort, kann die Kommerzialisierung<br />
<strong>ein</strong>es Produktes aber erst beginnen, wenn <strong>ein</strong>e<br />
gewisse Regularität <strong>und</strong> Qualität der Produktion<br />
garantiert werden kann. Davon sei man jedoch in<br />
<strong>Amazonien</strong> in allen Bereichen noch weit entfernt.<br />
Stolz erzählt er, dass ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Firma in Kürze<br />
<strong>ein</strong> riesiger Regierungskredit zugesprochen<br />
werden solle. Mit diesem Kredit wolle er<br />
verschiedene Projekte im Amazonas finanzieren.<br />
Das macht mich neugierig. Was für Projekte<br />
genau? Wird mit anderen Institutionen, mit den<br />
Universitäten, mit internationalen Firmen<br />
zusammenarbeitet? Hat man schon K<strong>und</strong>en, gibt<br />
es <strong>ein</strong>en Markt? Wird man hier in Brasilien<br />
verkaufen oder auch im Ausland? Senhor Carlos:<br />
„Ja, eigentlich, konkret ist noch nichts. Aber, ja,<br />
wissen Sie, viele Ideen sind erst am Entstehen, <strong>und</strong><br />
mit der Zeit wachsen neue; wenn das Geld erst<br />
<strong>ein</strong>mal da ist, werden wir mit praktischen<br />
Projekten beginnen.“ Im Moment stecke man<br />
allerdings noch in den Vorbereitungen, bei den<br />
Abklärungen. - Die Schweizerin lernt: In Brasilien<br />
werden die Dinge sehr pragmatisch angegangen<br />
<strong>und</strong> oft wird erwartet, dass sich alles von oben<br />
reguliert <strong>und</strong> fügt.<br />
Fakt ist, dass <strong>Amazonien</strong>, geprägt von drei<strong>ein</strong>halb<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte portugiesischer Kolonisation, damit<br />
bis zur Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>ein</strong>schneidenden<br />
Veränderungen in ökonomischer, sozialer,<br />
kultureller <strong>und</strong> ökologischer Hinsicht unterlag.<br />
Damit nicht genug, bis vor kurzen favorisierten die<br />
brasilinternen Projekte zur lokalen Entwicklung in<br />
<strong>ein</strong>em frenetischen Rhythmus die Ausweitung <strong>und</strong><br />
Verlagerung der letzten Grenzen der Zivilisation<br />
immer tiefer in den Regenwald hin<strong>ein</strong>, nahmen<br />
die Region immer mehr in Besitz. Ab 1950<br />
wurden tiefe Schneisen in den Tropischen Wald<br />
geschlagen, Belém-Brasília, Transamazônica <strong>und</strong><br />
Cuiabá-Santarém, Brasíia-Porto Velho, auf denen<br />
immer mehr interbrasilianische Migranten auf<br />
der Suche nach <strong>ein</strong>em besseren Leben in den<br />
Wald flossen. Die Achse der Ausbeutung,<br />
traditionellerweise auf den Amazonas <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />
Zuflüsse konzentriert, verschob sich. Staaten wie<br />
Tocantins, Süden <strong>und</strong> Südosten des Staates Pará,<br />
Matto Grosso <strong>und</strong> Rhondonia wuchsen, neue<br />
Städte entstanden, neue Demarkationslinien<br />
frassen sich tief in den Wald hin<strong>ein</strong>.<br />
Es herrscht heute Konsens, dass dieser Prozess<br />
oft gewaltsam vor sich ging. Es handelt sich um<br />
<strong>ein</strong>e Art wilder Norden. Wer die sozialen<br />
Indikatoren genau betrachtet, kann den heutigen<br />
Amazonas auch <strong>ein</strong>e Art tropische, unendlich<br />
riesige Favela ansehen. Wer <strong>ein</strong> gutes<br />
Einkommen hat, ist Staatsangestellter. Bis heute<br />
konzentriert sich der Besitz. Wenige besitzen<br />
viel. Bis heute wird öffentliches Land auch in den<br />
Städten illegal besetzt. Posseiros, Leute, die<br />
illegal <strong>ein</strong> Stück Land für sich in Anspruch<br />
nehmen, Holzschläger <strong>und</strong> -händler, Grilheiros,<br />
Lokalpolitiker, Spekulanten <strong>und</strong><br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer wollen alle das selbe, alle<br />
wollen die selben Gr<strong>und</strong>stücke, die k<strong>ein</strong>en<br />
sichtbaren Besitzer haben, besetzten, ausbeuten,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 126
sich untertan machen. Der Impakt für die Umwelt<br />
ist immens <strong>und</strong> die Konflikte vorprogrammiert.<br />
Geht es darum persönliche oder lokale Interessen<br />
zu befriedigen, verbünden sich die ungewöhnlichsten<br />
Parteien zu Allianzen, die nur ihren<br />
eigenen Interessen dienen. Der Staat ist viel zu<br />
wenig präsent. Ein Umdenken, auch ausgelöst<br />
durch ausländischen Druck, kommt nur sehr<br />
langsam voran. Bis es die Allerletzten <strong>und</strong> die<br />
Allerärmsten erreicht, wird es dauern. Zu viele<br />
Projete sind über ihre Köpfe hinweg entschieden<br />
worden.<br />
Hier im Amazonas ist das Holzschlagen <strong>und</strong> der<br />
Holzhandel <strong>ein</strong>e der traditionellsten <strong>und</strong><br />
ökonomisch am wichtigsten Einkommensquellen.<br />
Brasilien selber ist <strong>ein</strong>er der größten Produzenten<br />
<strong>und</strong> Konsumenten von Tropenholz. Ein paar<br />
brasilianische Schlüsselindustrien wie die<br />
Stahlproduktion, die Herstellung von Zellulose<br />
<strong>und</strong> Papier <strong>und</strong> die Bauwirtschaft, unter anderen<br />
Industriezweigen, hängen direkt vom Holz aus<br />
dem Tropenwald <strong>und</strong> von industriell angebautem<br />
Holz ab. Eine modernere, schonendere Nutzung<br />
des Waldes steckt noch in den Kinderschuhen <strong>und</strong><br />
ist extrem bürokratisch. Nur wer s<strong>ein</strong> Stück Wald<br />
komplett legalisiert hat, kann <strong>ein</strong>en Nutzungsplan<br />
<strong>ein</strong>reichen.<br />
letzten drei Jahrzehnte weitete sie sich besonders<br />
in Pará <strong>und</strong> in Mato Grosso massiv aus, gefolgt<br />
von dem boomenden Agrobusiness. Es wird vor<br />
allem Soja <strong>und</strong> Mais angebaut, ideale Produkt, um<br />
in kürzester Zeit den größtmöglichen Profit zu<br />
erzielen. Das ganze Szenarium spiegel das<br />
Problem, dass es bis heute im Amazonas nur in<br />
Ansätzen gelungen ist, <strong>ein</strong>e ökonomische<br />
Alternative zum Bestehenden zu etablieren. Eine<br />
Ökonomie, die nicht auf purem Extrativismus<br />
basiert, die nachhaltig ist <strong>und</strong> die vor allem auch<br />
<strong>ein</strong>e höhere Wertschöpfung für die lokal<br />
hergestellten Produkte bringt.<br />
Da beißt sich die Schlange in den Schwanz. Ein<br />
ewiger Kreis ohne Ausweg. Noch zu viele Leute<br />
leben hier Mitten im Amazonas unter<br />
menschenunwürdigen Bedingungen. Denn der so<br />
ersehnte Markt der, der sich mit <strong>ein</strong>em intakten<br />
Regenwald vielleicht erschließen ließe, lässt auf<br />
sich warten. Auch die biologische “Guthaben” des<br />
Amazonas, zum Beispiel in die von allen zitierte<br />
Bioindustrie umgewandelt, sind schwer in die Tat<br />
umzusetzen. Die Verantwortlichen spielen sich<br />
gegenseitig, siehe Textanfang, den Ball zu.<br />
Eine andere wichtige Einkommensquelle in<br />
Brasilien ist die Viehwirtschaft. Während der<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 127
Zauberwort Biotechnologie<br />
Das neue Wort, das Zauberwort, heißt<br />
Biotechnologie. Die soll gerade den Amazonas<br />
retten. Die naive Frage ist nur wie?<br />
Biotechnologie, <strong>ein</strong> geheimnisvoll komplexes<br />
Wort, irgendwie schlüpfrig, <strong>ein</strong>e Art Regenschirm,<br />
der all das zu umfassen sch<strong>ein</strong>t, was mit<br />
Technologie <strong>und</strong> Natur <strong>und</strong> deren Nutzung durch<br />
den Menschen zu tun hat. Biotechnologie ist,<br />
wenn es Wissenschaftlern in interdisziplinärer<br />
Zusammenarbeit gelingt, Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
Eigenschaften von Tieren <strong>und</strong> Pflanzen zu<br />
entschlüsseln <strong>und</strong> dieselben für uns Menschen<br />
auch gleich in nützliche Entwicklungen<br />
umzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel<br />
Medikamente, vielleicht gegen Krebs, Impfstoffe,<br />
nützliche Enzyme, genetisch modifizierte Zellen<br />
oder andere Organismen, die dann ihrerseits<br />
neue Funktionen übernehmen, neue chemische<br />
Verbindungen <strong>ein</strong>gehen, neue Diagnosemethoden<br />
erlauben oder was auch immer.<br />
Geht es um den Amazonas, kommen da wohl am<br />
ehesten die Grüne Biotechnologie, die sich mit<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Landwirtschaft beschäftigt, die Rote<br />
Biotechnologie, die sich auf den Bereich<br />
medizinisch-pharmazeutischer Anwendungen<br />
konzentriert <strong>und</strong> die Blaue Biotechnologie, die mit<br />
Insekten arbeitet, in Frage.<br />
Soweit so schön. Unbeantwortet bleibt allerdings<br />
die <strong>ein</strong>fache Frage, wer das denn nun machen<br />
solle???? Gilt es <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>gefahrene Schienen<br />
weiter zu befahren? Die wenigen Universitäten im<br />
Amazonas gehören nicht zu den besten Brasiliens.<br />
Bis heute ist es eher schwierig, kompetente<br />
Fachkräfte in die ach so unwirtlichen Tropen zu<br />
locken <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar Idealisten machen nun mal<br />
leider k<strong>ein</strong>en Sommer. Biotechnologie erfordert<br />
neben kompetenten Gehirnen, die erst noch<br />
geformt werden müssen <strong>und</strong> noch kompetenteren<br />
Forschern, auch <strong>ein</strong>e klare Vision der führenden<br />
Köpfe auf allen Ebenen, denen es hier leider aber<br />
noch nicht gelingt, weiter als über ihren eigenen<br />
Bauchnabel hinaus schauen. An Industrien, die die<br />
Forschungen auch gleich anwenden können, gar<br />
nicht zu denken. Die gilt es erst zu gründen.<br />
Auch die weiteren vielleicht noch naivere Fragen<br />
bleiben im Raum stehen. Wie denn nur soll das<br />
Kunststück gelingen, dass nicht nur der<br />
Tropenwald aber auch s<strong>ein</strong>e Bevölkerung<br />
nachhaltig von diesen Forschungen profitiert? Wie<br />
kann <strong>ein</strong> nachhaltiger Bogen geschlagen werden<br />
von der mehr oder weniger intakten Natur, <strong>ein</strong>mal<br />
mehr der riesige Tropenwald, bis zur Industrie?<br />
Wieso garantiert Biotechnologie, dass der Wald<br />
stehen bleibt? Wie nur wird es gelingen, den<br />
«Besitzer» ebendieses Tropenwaldes zu<br />
entschädigen? Wenn er überhaupt gefragt wird,<br />
<strong>ein</strong>bezogen. Nimmt man ihm etwas weg? Oder ist<br />
das, was er hat, Besitz aller Menschen? Wie viel ist<br />
s<strong>ein</strong> Wissen wert, über das nur er verfügt? Ist es<br />
nicht so, dass die großen Gewinner immer die<br />
anderen sind? Die, die sowieso die Macht <strong>und</strong><br />
das Geld in den Händen haben? Es nützt nichts,<br />
sie zu verteufeln. Nur die Zeit, sie tropft uns<br />
unaufhaltsam durch die Hände, wird uns <strong>ein</strong>e<br />
Antwort geben.<br />
Gibt die Biotechnologie den tropischen Wäldern<br />
<strong>und</strong> der Stadt hier <strong>ein</strong>e würdigere Zukunft? Oder<br />
ist sie <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e noch raffiniertere Variante<br />
der Ausbeutung, die wir schon so gut kennen,<br />
<strong>ein</strong>e neue Variante des Altbekannten?<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 128
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Curupira, der Beschützer des Regenwalds<br />
Aber halt! Was sind das denn für Fußabdrücke da<br />
im Sand? Kinderfüße... Von der Größe her<br />
könnten sie gar Curupira gehören!<br />
Curupira gilt als Wächter der Wälder, der<br />
endlosen Tropenwälder. Er ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />
Indiojunge mit Feuerhaar, <strong>ein</strong>em Auge mitten auf<br />
der Stirn <strong>und</strong> blauen Zähnen. Es gibt Leute, die<br />
schwören, ihn schon leibhaftig getroffen zu<br />
haben. Mitten im Dschungel, in <strong>ein</strong>er<br />
Notsituation, das leuchtende Haar in Flammen.<br />
Normalerweise macht er sich aber gerne<br />
unsichtbar. Praktischerweise sind ihm s<strong>ein</strong>e Füße<br />
nicht wie uns nach vorne, sondern nach hinten<br />
gewachsen. Das verwirrt alle, die ihn verfolgen<br />
möchten. Denn s<strong>ein</strong>er Spur kann man nicht<br />
trauen, s<strong>ein</strong>e verkehrt herum angewachsenen<br />
Füße hinterlassen <strong>ein</strong>e trügerische Fährte.<br />
Außerdem soll er so schnell laufen können, dass<br />
es k<strong>ein</strong>e Menschen gelungen sei, zu ihm<br />
aufzuschließen.<br />
Wie auch immer, er ist <strong>ein</strong>e Art Wächter des<br />
Tropenwaldes. Von komplexer Persönlichkeit, gilt<br />
er als Beschützer all derer, die sich dem Wald mit<br />
heeren Motiven nähern. Wird aber zum<br />
fürchterlichen Rächer, will man s<strong>ein</strong> Reich<br />
zerstören. Er verwandelt sich, was für <strong>ein</strong>e<br />
Täuschung, in <strong>ein</strong>e Jagdbeute. Lockt damit die<br />
unglücklichen Jäger immer tiefer in den Wald<br />
hin<strong>ein</strong>. Einmal verloren, stößt er schauerliche<br />
Pfeiftöne <strong>und</strong> dumpfe Laute aus, zaubert gar<br />
Traumbilder <strong>und</strong> Fata Morganas her, bis die<br />
Bösewicht so verwirrt sind, dass sie nur noch in<br />
die Irre gehen, oder noch schlimmer, immer im<br />
Kreis, somit nie mehr aus dem Wald herausfinden.<br />
Wer ihm trotzdem entkomme, so geht die Saga,<br />
lasse <strong>ein</strong>en Teil s<strong>ein</strong>es Selbsts im Urwald zurück.<br />
Werde <strong>ein</strong> anderer, für immer Gezeichneter.<br />
Es gibt nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Mittel ihn aufzuhalten.<br />
Merkt man, dass er <strong>ein</strong>em verfolgt, wirft man <strong>ein</strong><br />
kunstvoll kompliziertes Geflecht aus in sich<br />
verschlungenen Fäden hinter sich auf den Weg. -<br />
Diesem Köder kann er nicht widerstehen! Wird<br />
sofort versuchen, das komplizierte Gewirr zu<br />
entwirren, worüber er – Gott sei Dank – vergisst,<br />
<strong>ein</strong>em zu folgen.<br />
Zwar nur <strong>ein</strong>e der vielen schönen Lenden der<br />
Indios, aber im Kern allzu wahr - der komplexe<br />
Regenwald heischt Respekt. Wer schon Mitten<br />
drin war, wo es so gleichförmig ist, dass man sich<br />
problemlos verlieren kann, erzählt von heiligen<br />
Schaudern, die auch Handy <strong>und</strong> GPS, falls sie<br />
überhaupt funktionieren, es gibt zu viele<br />
Funklöcher, nicht abwenden. Nicht zu vergessen<br />
all die kl<strong>ein</strong>en, ekligen Insektenstiche, Kratzer,<br />
kl<strong>ein</strong>en Schnittw<strong>und</strong>en, Bisse, Schrammen <strong>und</strong><br />
Prellungen, die sich langsam entzünden,<br />
schrecklich jucken, die Glieder anschwellen lassen,<br />
wenn man nicht Opfer <strong>ein</strong>er schimmern Infektion<br />
wird. Und dann die Nächte! Die Sonne fällt hier<br />
pünktlich <strong>und</strong> relativ früh hinter den Horizont.<br />
Dann werde es im Wald drin empfindlich kalt, was<br />
die ständige Feuchtigkeit noch verschlimmere.<br />
Immer wieder werden unvorsichtige,<br />
dummerweise vom Weg abgekommene Touristen<br />
total zersch<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ziemlich mitgenommen aus<br />
den hiesigen Nationalparks gerettet. Wer es nicht<br />
schaffe, sterbe weder an Hunger noch an Durst,<br />
sagen sie, sondern am nicht ersetzten Verlust<br />
jener Salze, die ständig zusammen mit dem<br />
Schweiß ausgeschieden werden.<br />
Noch <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>, sich vor dem Curupira wirklich in<br />
Acht zu nehmen!<br />
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Brandrodung vor dem Feuer<br />
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Hier soll <strong>ein</strong> Agroflorestalprojekt angelegt werden<br />
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Selbst geschnitztes Werkzeug, das das Buschmesser stoppt.<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 139
Das Messer<br />
Das Messer, gut <strong>ein</strong>e Handspanne lang, gehört<br />
<strong>ein</strong>em „Mateiro“. „Mateiro“ kann wohl mit<br />
Waldarbeiter, Waldmann übersetzt werden.<br />
Mateiros werden, wie alle hier, der Einfachheit<br />
halber beim Vornamen gerufen. Sie sind zu jeder<br />
Arbeit bereit. Antônio zieht sich gerade das<br />
ausgeblichene T-Shirt über den Kopf. Entblößt<br />
<strong>ein</strong>en zähen, von körperlicher Arbeit durchtrainierten<br />
Oberkörper. Die sehnigen Muskeln<br />
zeichnen sich unter der olivenbraunen, sonnenverbrannten<br />
Haut ab. S<strong>ein</strong>e Bewegungen sind<br />
flink, wieselhaft, organisch. Gerne hätte ich ihn<br />
auf <strong>ein</strong>er Exkursion in den Tropenwald dabei, um<br />
zu sehen, wie er sich, wohl mit der selben<br />
Schnelligkeit <strong>und</strong> Geschicklichkeit, an aalglatten<br />
Palmenstämmen hochzieht, mir <strong>ein</strong>en Weg frei<br />
schlägt, auf <strong>ein</strong>e, für uns andere unsichtbare,<br />
Schlange hinweist.<br />
Stellt s<strong>ein</strong>e Gummilatschen zur Seite. Ignoriert<br />
den tropischen Regen, der k<strong>ein</strong>erlei<br />
Anstrengungen macht, nachzulassen, läuft<br />
sozusagen unter ihm durch <strong>und</strong> begibt sich, nur<br />
noch mit <strong>ein</strong>er losen Bermuda bekleidet, ins<br />
Treibhaus. Bald ist s<strong>ein</strong> dichtes, rabenschwarzes<br />
Haar total versuppt. Geht hin <strong>und</strong> zurück, holt mir<br />
die handspannenlangen Pflänzchen her, die ich<br />
aus der Erde nehme <strong>und</strong> für <strong>ein</strong>e längere Reise<br />
jeweils zu zehnt in Zeitungspapier <strong>ein</strong>wickle. Nur<br />
weil ich ausdrücklich darauf bestanden habe, <strong>und</strong><br />
weil ich schließlich <strong>ein</strong>e verrückte Ausländerin bin,<br />
darf ich hier Hand anlegen. Mir die Hände<br />
schmutzig machen ist viel interessanter, als<br />
tatenlos herumzustehen, wie die beiden<br />
verantwortlichen, so wichtigen Chefs. Und<br />
schmutzig werden m<strong>ein</strong>e Hände wirklich. Stolz<br />
fotografiere ich nach getaner Arbeit m<strong>ein</strong>e<br />
Trauerränder, neben den mit Pflanzenschösslingen<br />
voll bepackten, eigentlich für Fische bestimmten,<br />
Riesenkisten aus Styropor.<br />
Halte inne, der Nachschub ist kurzfristig unterbrochen.<br />
Da fällt m<strong>ein</strong> Blick auf das Messer.<br />
Achtlos hingeworfen, bannt s<strong>ein</strong> ungewöhnliches<br />
Design m<strong>ein</strong>en Blick. Der Griff muss jemand aus<br />
<strong>ein</strong>em rohen Stück Metall, <strong>ein</strong>em Rohr vielleicht,<br />
selbst hergestellt haben. Habe schon gehört, dass<br />
sich Gefangene in unendlicher Kl<strong>ein</strong>arbeit solche<br />
Mordsdinger zurechtbiegen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang an<br />
irgendwelchen Kanten scharf schleifen. Aber hier<br />
ist es wohl der „Mateiro“, der sich, der ewig<br />
verrottenden Holzgriffe leid, aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />
Stück währschaften Blechs <strong>ein</strong>en neuen,<br />
dauerhafteren zurechtgeschnitten hat. Hat die<br />
Klinge darin <strong>ein</strong>gespannt, das Blech um sie herum<br />
zu <strong>ein</strong>em Griff <strong>ein</strong>gerollt, was <strong>ein</strong>ige Geschicklichkeit<br />
voraussetzt. Die obere Hälfte des Griffes ist<br />
etwas breiter <strong>und</strong> flacher, sicher, damit es besser<br />
in der Hand liegt. Wage die Schärfe der Klinge, <strong>ein</strong><br />
langschenkliges, scharf zulaufendes Dreieck, am<br />
Ansatz abger<strong>und</strong>et, nicht zu überprüfen. Bin mir<br />
aber sicher, dass das Messer, in <strong>ein</strong>em anderen<br />
Kontext, durch s<strong>ein</strong>e funktionelle, ursprüngliche<br />
Schönheit bestechen würde.<br />
Wie müßig – bew<strong>und</strong>ere <strong>ein</strong>mal mehr nicht nur<br />
die handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch<br />
die Geschicklichkeit <strong>und</strong> Weitsicht solch <strong>ein</strong>facher<br />
Leute. Werte, die in der Welt derer, die so gut<br />
lesen <strong>und</strong> schreiben können, k<strong>ein</strong>en Platz haben,<br />
nicht honoriert werden, untergehen. Mateiros<br />
sind oft Analphabeten, Ungebildete. Sie stehen<br />
auf der streng hierarchischen Stufenleiter ganz<br />
unten. Ist der Zugang zum Tropenwald bis heute<br />
kompliziert, so war es früher noch komplexer. Oft<br />
wurde die indigene Bevölkerung für diese Arbeit<br />
zwangsverpflichtet, gepresst. Ihre Nachfahren<br />
sind es, die sich bis heute nach Samen bücken,<br />
Spuren lesen können <strong>und</strong> vor allem den Weg<br />
freischlagen <strong>und</strong> alle andere harte körperliche<br />
Arbeit verrichten. „Mateiros“ sind <strong>ein</strong>e Art<br />
Gehilfen, Gärtner, Mädchen für alles: Führer,<br />
Sachverständige, Träger. Jede Forschungsstation,<br />
jeder Biologe, alle, die im Dschungel forschen<br />
oder ihn als Touristen besuchen, irgendwie in ihn<br />
<strong>ein</strong>dringen, sind auf sie angewiesen. K<strong>ein</strong>er wagt<br />
sich ohne <strong>ein</strong> paar solcher Männer hin<strong>ein</strong>.<br />
Fahrlässig, ohne solch <strong>ein</strong>en Spezialisten auch nur<br />
<strong>ein</strong>en Fuß ins Dschungelgrün zu setzen. Es könnt<br />
s<strong>ein</strong>, dass man nie mehr hinaus kommt. Ewig im<br />
Kreis laufend, von der wilden Wildnis <strong>ein</strong>fach<br />
verschluckt wird. Am Salzverlust langsam zu<br />
Gr<strong>und</strong>e geht. Die Mateiros aber, das attestieren<br />
ihnen alle, die auf sie angewiesen sind, sch<strong>ein</strong>en<br />
<strong>ein</strong>en besonderen, <strong>ein</strong>en zusätzlichen Sinn zu<br />
besitzen. Sie geben die ihnen Anvertrauten<br />
immer wieder unfehlbar <strong>und</strong> auf direktem Weg<br />
der Zivilisation zurück.<br />
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Paranusstransport<br />
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Ihre Majestät<br />
Die Hochebene, flach wie <strong>ein</strong> Teller, bloß<br />
geschlagene Erde, helles, krümlig getrocknetes<br />
Braun, <strong>ein</strong> unendlich weites Feld, ist nur teilweise<br />
mit endlosen Reihen niederem Curuá, <strong>ein</strong>em<br />
Gewächs aus der Familie der Ananas, bepflanzt.<br />
Aus Curuáblättern werden die längsten <strong>und</strong><br />
stärksten Fasern gewonnen, die die Natur liefert.<br />
Wir befinden uns auf <strong>ein</strong>er Fazenda nahe<br />
Santarém. Die Hochebene endet weiter unten,<br />
stetig leicht abfallend, man kann die Ufer nur<br />
ahnen, im Fluss Tapajós, <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>bläulicher Strich<br />
am Horizont. Er fließt träge, s<strong>ein</strong> Blau um<br />
Nuancen dunkler als das Blau der unendlichen<br />
Himmel, Richtung Amazonas, mit dessen<br />
trübschlammigen Wassern er sich bald<br />
vermischen wird. Ein schnurgerader Weg<br />
durchschneidet das unter der brennenden<br />
Tropensonne endlos ausgebreitete Land. Er wird<br />
Zum Schluss, da, weit weg, von <strong>ein</strong>em Stück noch<br />
intakten Regenwaldes, kaum merklich erhobenes<br />
Grün, gestoppt. Man kann, weit weg, aber laut<br />
<strong>und</strong> konstant genug, pünktlich so gegen vier, halb<br />
fünf Uhr nachmittags, die gutturalen Schreie der<br />
Affen, es ist <strong>ein</strong>e Bande „Zogzogs“, hören. Man<br />
bekommt sie allerdings nie zu Gesicht, es bleibt<br />
bei den lärmig rauen Stimmen, die das Rudel vor<br />
dem Einnachten unter sehr viel Hallo<br />
zusammenrufen.<br />
Ihre Majestät erhebt sich, hoch <strong>und</strong> stolz<br />
aufgerichtet, <strong>ein</strong>e Einzelgängerin, purer<br />
Anachronismus, am Rand des Weges. Jeder kennt<br />
sie, m<strong>ein</strong>e Frage wird sogleich beantwortet: Es ist<br />
<strong>ein</strong>e Kastanie, <strong>ein</strong> Paranussbaum (Bertholletia<br />
excelsa). Sie ist auch in geschlossenen<br />
Urwaldgebieten <strong>ein</strong>e Einzelgängerin, ihr Stamm<br />
erreicht <strong>ein</strong>en Durchmesser von 1-2 m, aber es<br />
sollen Register von Bäumen geben, deren Umfang<br />
mehr als 5 m betrug. Paranussbäume gehören zu<br />
den höchsten Urwaldbäumen, erheben ihre<br />
großmächtigen Kuppeln weit über das Blattwerk<br />
aller Nachbarbäume. Werden bis zu<br />
atemberaubenden 50 Metern hoch – zu ihren<br />
Füßen bin ich nicht mehr als <strong>ein</strong>e Zwergin.<br />
Nicht unwahrsch<strong>ein</strong>lich, denn man nimmt an, dass<br />
<strong>ein</strong> Paranussbaum 500 oder mehr Jahre leben<br />
kann. Ihr hochgeschossener, mächtig-zilindriger<br />
Stamm mit der rissigen Borke verzweigt sich bald<br />
in üppige Äste. Ihr Holz ist begehrt, eigentlich<br />
bräunlich-rosa färbt es sich unter Licht<strong>ein</strong>fluss hell<br />
kastanienfarben. Daher auch der portugiesische<br />
Name, „Castanheira“. Hier auf der Hochebene<br />
braucht unsere Majestät den ewigen Kampf um<br />
Sonne <strong>und</strong> Nahrung nicht mehr zu kämpfen, sie<br />
steht all<strong>ein</strong>.<br />
Kastanienbäume sind ihrer ökonomischen<br />
Bedeutung wegen, noch <strong>ein</strong> Anachronismus, seit<br />
1994 durch staatliches Gesetz, vor dem Fällen<br />
geschützt. Ihre begehrten, nahrhaften Samen, sie<br />
gelten ihres hohen Eiweiß- <strong>und</strong> Fettgehaltes<br />
wegen als Teil der lokalen Gr<strong>und</strong>nahrung, werden<br />
in natura verspeist, aber auch gerne zusammen<br />
mit Farinha geröstet. Sie gelten, nach dem<br />
Kautschuk, als wichtigstes Exportgut. Allerdings<br />
sammelt man im bolivianischen Amazonas heute<br />
viel mehr davon; in Brasilien leiden die Bestände<br />
unter Übersammlung/Überernte. Die emsigen<br />
Kastaniensammler lassen zu wenige Samen zur<br />
Erneuerung übrig. Manche Bestände sind<br />
vergreist <strong>und</strong> leiden unter dem Klimawandel.<br />
Konzepte nachhaltiger Nutzung sind unbekannt<br />
oder ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e Illusion. Seit 1930 werden<br />
die Kastanien im selben System wie der<br />
Kautschuk kommerzialisiert. Das heißt, dass <strong>ein</strong><br />
Heer Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos die „Oriços“ die<br />
hölzernen, die <strong>ein</strong>zelnen Kastanien umhüllenden<br />
Kugeln im Regenwald zusammen liest, heraus<br />
buckelt <strong>und</strong> zu Sammelstellen bringt, wo die<br />
st<strong>ein</strong>harten Umhüllungen aufgeschlagen werden.<br />
Zwischenhändler, Teil <strong>ein</strong>es f<strong>ein</strong> verflochtenen<br />
kommerziellen Netzes, bei dem die Großhändler,<br />
die den Export dominieren, den Löwenanteil des<br />
Gewinns <strong>ein</strong>streichen, kaufen dann die<br />
Nussernten auf oder tauschen sie in <strong>ein</strong>er Art<br />
Kreditsystem gegen Lebensmittel <strong>und</strong> andere<br />
lebensnotwendige Artikel <strong>ein</strong> - <strong>ein</strong>e komplizierte,<br />
paternale Abhängigkeit.<br />
So ist unsere Majestät <strong>ein</strong>e Überlebende,<br />
zusammen mit drei oder vier anderen, künstlich<br />
mitten aus ihrem hochkomplexen Umfeld<br />
herausgehoben, heraus gefällt, herausgebrannt<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 146
<strong>und</strong> gerodet. Beim Näherkommen bemerke ich<br />
die kräftige Blütenpracht, die in aufstrebenden<br />
Pyramiden die äußeren Äste schmückt. Auf dem<br />
Boden <strong>ein</strong> paar starke, gelbe Blütenkugeln,<br />
perfekt geschlossen bewachen sie die Pollen.<br />
Daneben hat sich im Verwelken <strong>und</strong> Sterben <strong>ein</strong>e<br />
Blüte geöffnet, zeigt die in der Kugel geborgenen<br />
Bürstchen, <strong>ein</strong> hochkomplexer Apparat. Zwei sich<br />
überlappende Blütenhälften umschließen,<br />
komplett wie <strong>ein</strong> Ball, die Blütenknospe. Um ins<br />
Innere der Kugel zu gelangen, muss die obere<br />
Haube regelrecht hochgestemmt werden, was<br />
nur starken, sozusagen auf Kastanienblüten<br />
spezialisierten Bienenweibchen gelingt. Zwängt<br />
sich nun so <strong>ein</strong>e Biene zwischen Haube <strong>und</strong><br />
Blütenblättern durch, wird sie für ihre<br />
Herkulesarbeit mit leckerem Nektar belohnt,<br />
nimmt als Gegenleistung <strong>ein</strong> Pollenstaubbad.<br />
Diese Pollen trägt sie dann, sie fliegt an <strong>ein</strong>em Tag<br />
bis zu 20 km weit <strong>und</strong> befruchtet damit anderer<br />
“Castanheiras”. Paranussblüten sind<br />
Eintagesblüten. Sie öffnen sich in den frühen<br />
Morgenst<strong>und</strong>en, um am Nachmittag schon zu<br />
Boden zu sinken.<br />
Fingerübungen der Natur, <strong>ein</strong>e hochkomplexe<br />
Spielerei voller Verflechtungen <strong>und</strong> Symbiosen.<br />
Die männliche Biene verschmäht<br />
Kastanienbäume, ernährt sich <strong>ein</strong>zig <strong>und</strong> all<strong>ein</strong><br />
von <strong>ein</strong>er spezifischen Art Orchideen. Wenn sie<br />
sie bestäubt, liefert ihr die Orchidee <strong>ein</strong>en<br />
aromatischen Nektar, den wiederum weibliche<br />
Bienen anzieht.<br />
Hier, dem Reststück Dschungel sei Dank, ist der<br />
Zyklus intakt. Aus der befruchteten Blüte bildet<br />
sich der „Oriço“, <strong>ein</strong> st<strong>ein</strong>harter, kanonenkugliger<br />
Ball. Wie <strong>ein</strong> Geschoss fällt er nach 14, 15<br />
Monaten auf den Boden, wo ihn die<br />
Paranusssammler zusammen tragen. In der<br />
extrem harten Kugel sind 10 bis 25 Samen, die<br />
Paranüsse, auch sie von harten Schalen<br />
umschlossen, <strong>ein</strong>gebettet - die Paranuss geizt mit<br />
ihrer Frucht, denn da wo sich bei anderen<br />
Nusskugeln <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong> Deckel loslöst <strong>und</strong> die<br />
Nüsse freigibt, gibt es bei der Kastanienkugel nur<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Öffnung. Nur die starken Nagezähne<br />
der „Cotia“, des Agutis (Dasyprocta aguti), <strong>ein</strong><br />
überall präsentes, kl<strong>ein</strong>es Nagetier, mit dem<br />
Meerschw<strong>ein</strong>chen verwandt, das s<strong>ein</strong>en<br />
r<strong>und</strong>lichen Körper mit dem rötlich braunen Fell auf<br />
kurzen flinken B<strong>ein</strong>chen hierhin <strong>und</strong> dahin bewegt,<br />
gelingt es, die Kugeln zu knacken. Ein tropisches<br />
Eichhörnchen versteckt <strong>und</strong> vergisst es <strong>ein</strong>en Teil<br />
der Beute <strong>und</strong> „pflanzt“ so unzählige neue Bäume.<br />
Kantig <strong>und</strong> schwer, die Schale gefurcht, liegt die<br />
Nuss in m<strong>ein</strong>er Hand. Der Verkäufer schlägt mir<br />
mit dem riesigen Buschmesser, immer scharf an<br />
s<strong>ein</strong>en Daumen vorbei, <strong>ein</strong>e Nuss auf. Wenn sie<br />
ganz frisch sind, “Castanhas de leite”,<br />
Milchkastanien, sind die Nüsse sehr weiß <strong>und</strong> von<br />
delikatem, nussigem Geschmack. Das Nussaroma<br />
klickt etwas in m<strong>ein</strong>er Erinnerung an. Genau so<br />
<strong>ein</strong>e Nuss hat uns immer der Nikolaus gebracht!<br />
Wenn er, endlich, zum Schluss s<strong>ein</strong>en prallen<br />
Jutesack ausschüttete, lag sie zwischen den<br />
Mandarinen <strong>und</strong> den Mandeln, mischte sich<br />
unter die Hasel- <strong>und</strong> Baumnüsse. Das war sie<br />
also, <strong>ein</strong>e exotische Paranuss, so fern <strong>und</strong> so nah.<br />
Ihre Majestät die Kastanie ist <strong>ein</strong> Symbol für den<br />
globalen Handel. Ein Symbol auch der absurden<br />
Komplexität <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit des<br />
amazonischen Tropenwaldes. Ob es wohl<br />
zukünftigen Forschergenerationen irgendwann<br />
<strong>ein</strong>mal gelingen wird, alle s<strong>ein</strong>e Rätsel zu<br />
entschlüsseln?<br />
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Soja oder Paranussbaum? - Von der Zerstörung<br />
Die Bilder sind griffig. Die Fakten sprechen für<br />
sich. Ökonomie gegen Ökologie. Einsam mahnend<br />
erheben sich die Kastanienbäume über die<br />
akkuraten Reihen Sojapflanzen. Niedrig grüne<br />
Monokultur, insektenfrei, kriechen bis an den<br />
Horizont. Die Grenzen, wo früher der Tropenwald<br />
war, sind in der Ferne sichtbar. Darunter<br />
fruchtbare Erde, vor kurzem noch relativ billig zu<br />
haben, flach <strong>und</strong> deshalb ideal, um maschinell<br />
bearbeitet zu werden. Das lockte viele Farmer aus<br />
Südbrasilien hier in den Osten <strong>und</strong> Süden von<br />
Pará. Soja pflanzen, in kl<strong>ein</strong>en, mittleren <strong>und</strong><br />
mächtigen Dimensionen, ist <strong>ein</strong>e der mehr<br />
sichersten <strong>und</strong> effizientesten Formen, um<br />
kurzfristig Geld zu verdienen. Und wer will das<br />
nicht. Noch <strong>ein</strong> Zyklus, der sprießt, blüht <strong>und</strong> sich<br />
irgendwann erschöpfen wird.<br />
Hier in Brasilien <strong>und</strong> besonders im Norden denkt<br />
k<strong>ein</strong>er langfristig. Auch große Unternehmen<br />
wollen ihre Investitionen gleich morgen mit<br />
Gewinn zurückbekommen. K<strong>ein</strong>er riskiert, sich auf<br />
<strong>ein</strong>e Investition <strong>ein</strong>zulassen, die vielleicht in zehn<br />
oder mehr Jahren Gewinn abwerfen wird oder<br />
auch nicht. Es fehlt an Aufklärung, Erziehung <strong>und</strong><br />
Vision.<br />
Es ist <strong>ein</strong> faszinierender Widerspruch, dass<br />
Brasilien über <strong>ein</strong>e sehr fortschrittliche<br />
Umweltschutz- Gesetzgebung verfügt, die auch<br />
<strong>ein</strong>e aktive Beteiligung der sozialen Akteure<br />
erlaubt. Aber die Realität zeigt, dass die<br />
führenden Köpfe welcher politischen Couleur sie<br />
auch sind, nach wie vor überzeugt sind, dass<br />
Fortschritt nur mit ungebremstem<br />
Wirtschaftswachstum erreicht werden kann. Seit<br />
der Jahrh<strong>und</strong>ertwende, ab dem Jahr 2000<br />
beginnt Brasilien immer mehr Rohprodukte <strong>und</strong><br />
Rohmaterialien zu exportieren. Die überholen die<br />
industrialisierten Produkte <strong>und</strong> gelten heute <strong>ein</strong>e<br />
Art Nationalstolz. Neben Erdöl, Eisenerz, Zucker,<br />
Rindfleisch, Hähnchen, Tabak, Kaffee <strong>und</strong><br />
Orangensaft ist auch Soja mit <strong>ein</strong> großes Zugpferd<br />
der Exporte. Eine Entscheidung, die auf riesige<br />
Dimensionen, auf Monokulturen ohne Vergleich<br />
setzt <strong>und</strong> durch den unvorstellbar hohen<br />
Verbrauch an Pestiziden möglich gemacht wird.<br />
Brasilien steht weltweit an fünfter Stelle im<br />
Verbrauch an Düngemittel <strong>und</strong> Insektenvertilgern.<br />
Geht es um Sojaanbau, muss man auch über die<br />
ungenügende Infrastruktur sprechen. Soja wird<br />
mehrheitlich auf Lastwagen transportiert, <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er Teil nur auf dem Wasser oder mit der<br />
Bahn. Das ist teuer <strong>und</strong> trägt auch dazu bei, dass<br />
unschätzbare natürliche Ressourcen verloren<br />
gehen, als Wegzoll mit<strong>ein</strong>kalkuliert. Oder <strong>ein</strong>fach<br />
gesagt, Wachstum um jeden Preis. Eine große<br />
<strong>und</strong> wie es sch<strong>ein</strong>t unlösbare Herausforderung<br />
für die lokale Verwaltung <strong>und</strong> auch den<br />
brasilianischen Staat. Es sch<strong>ein</strong>t, als ob der<br />
w<strong>und</strong>erbare Diskurs <strong>ein</strong>mal mehr im Diskurs<br />
stecken bleibt <strong>und</strong> an den realen Realitäten,<br />
scheitert. Und so ändert sich nichts am lokalen<br />
Modell des Exportes von Commodities,<br />
Rohstoffprodukten, die vom Weltmarkt abhängig<br />
sind <strong>und</strong> hier an Ort k<strong>ein</strong>e oder nur sehr wenig<br />
Wertschöpfung erlauben.<br />
Gleich hier im Hafen von Santarém hat der<br />
amerikanische Riese Cargill <strong>ein</strong>en gigantischen<br />
Arm in den Fluss gestellt. Der erlaubt es, die<br />
Sojakörner direkt in die nimmersatten Bäuche<br />
der Schiffe zu füllen, die sie nach Europa,<br />
Nordamerika <strong>und</strong> Asien bringen. China ist <strong>ein</strong>er<br />
der Hauptk<strong>und</strong>en für brasilianisches Soja. Die<br />
riesigen gespensterhaften Erntemaschinen <strong>und</strong><br />
die endlosen LKW-Karawanen voller kostbarer<br />
Sojakörner arbeiten in der Gegend zwischen<br />
Dezember <strong>und</strong> Juni auf Hochtouren. Die<br />
Lastwagen entladen ihre kostbare Fracht in<br />
riesigen Körnersilos. Zudem werden über die<br />
B<strong>und</strong>esstraße BR 163 noch viele weitere Tonnen<br />
Soja aus Matto Grosso her gekarrt. Sind die<br />
Sojakörner geerntet, wird als Wechselkultur <strong>und</strong><br />
Düngung Mais angepflanzt.<br />
Die realen Realitäten haben den Traum vom<br />
unberührten Paradies, <strong>ein</strong> Sehnsuchtsort, längst<br />
überholt. Will man den Wald, wie man es von<br />
außen als wünschenswert ansieht, stehen lassen,<br />
ignoriert man, dass der Tropenwald historisch<br />
immer schon ausgebeutet wurde, genutzt <strong>und</strong><br />
benutzt. Nur an der Frage ?wie? scheiden sich<br />
die Geister.<br />
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Von den<br />
Wassern<br />
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Von den Wassern<br />
Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse 167<br />
Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee 172<br />
Zusammenfließen der Wasser, Naturschauspiel - Encontros das águas 175<br />
Flusses Ernte 178<br />
Über den grünen See 194/196<br />
Der verzauberte Wald 199<br />
Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem 206<br />
Regelmäßig überflutet, die Várzea 210<br />
Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut 214<br />
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Ströme, Meere, Weiß- Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse<br />
Faszinierend fremde Welt der amazonischen<br />
Weiß-, Hell- <strong>und</strong> Schwarzwasserflüsse, so benannt<br />
nach ihrer Optik. Für europäische Augen sind<br />
wohl die transparenten, grün-türkisklaren Wasser<br />
des Tapajós, Tocantins <strong>und</strong> Xingús die<br />
attraktivsten. Sie werden Hellwasser genannt. Der<br />
Rio Negro, der Schwarzwasser-Fluss, dessen<br />
moskitofreie, bernst<strong>ein</strong>farbene Wasser an<br />
verdünnte Coca-Cola oder starken Schwarztee<br />
erinnern, sind etwas gewöhnungsbedürftig. Träge<br />
<strong>und</strong> schmutzig wälzen sich die Riesenströme<br />
Solimões, Madeira, Amazonas <strong>und</strong> Rio Branco<br />
dahin. Die lehmigen, trüben „weißen“ Wasser<br />
dieser Flüsse signalisieren, dass ihre Wasser sehr<br />
nährstoffreich sind <strong>und</strong> viele Sedimente <strong>und</strong><br />
ausgewaschene Erde mitschwemmen. Sie haben<br />
gerade deswegen die reichste Flora <strong>und</strong> Fauna. So<br />
ist zum Beispiel der Rio Madeira bekannt für<br />
s<strong>ein</strong>en Fischreichtum.<br />
dass er über Nacht (!) s<strong>ein</strong> Bett wechsle. Mancher<br />
Kapitän soll schon auf den Wassern des Flusses<br />
schlafen gegangen s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> auf dem Trockenen<br />
erwacht. Interessant sind auch die schwimmenden<br />
Grasinseln, Matupá genannt, die sich immer<br />
wieder von den steil abfallenden Ufern loslösen,<br />
Eigenleben entwickeln <strong>und</strong> lautlos riesig<br />
flussabwärts schwimmen.<br />
Auch das Steigen <strong>und</strong> Fallen der Wasser im<br />
Jahresrhythmus ist ungewöhnlich. Der<br />
Wasserstand fällt während sechs Monaten, um<br />
dann die nächsten sechs wieder anzusteigen. Der<br />
Unterschied zwischen Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser ist<br />
beträchtlich, kann zehn, fünfzehn Meter<br />
ausmachen.<br />
Die amazonischen Flüsse sind riesig wie Meere,<br />
oft ist das andere Ufer nur zu erahnen. Jeder Fluss<br />
hat s<strong>ein</strong>e eigenen Tücken <strong>und</strong> Besonderheiten,<br />
alle werden sehr respektiert. Einer der trügeristen<br />
Flüsse soll der Rio Madeira s<strong>ein</strong>, unberechenbar<br />
<strong>und</strong> hinterhältig, denn er führt immer viel Erde<br />
<strong>und</strong> Schlamm mit sich, was sozusagen über Nacht<br />
tückische Sandbänke entstehen lässt. Manchmal<br />
unterspült die Strömung auch <strong>ein</strong>e bestehende<br />
Sandbank, was <strong>ein</strong>e riesige Flutwelle auslösen<br />
kann. Nicht von ungefähr wird ihm nachgesagt,<br />
Zusammenfließen des Tapajós <strong>und</strong><br />
Amazonas vor Santarém<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 167
Rio Trombetas<br />
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Schwarzwasser - dunkeltransparent wie Tee<br />
Bernst<strong>ein</strong>farbener Schwarztee, Coca-Cola<br />
vielleicht, das Schwarzwasser des Rio Negros, des<br />
Schwarzen Flusses, ist anders, etwas, woran<br />
mancher nicht gewohnt ist. Steckt man kühn <strong>ein</strong>e<br />
Hand ins Wasser, umspielt es bräunlich die<br />
Knöchel. Man kann sich über die dunkle<br />
Durchsichtigkeit <strong>und</strong> das wechselvolle Licht- <strong>und</strong><br />
Schattenspiel der Bäume freuen. Einige stehen<br />
fast bis an Blattwerk unter Wasser. Aber bald wird<br />
der Fluss Faszination. Lauwarm <strong>und</strong> gischtig perlt<br />
er <strong>ein</strong>em durch die Finger, körper- oder etwas<br />
weniger elegant Pipi-warm, von <strong>ein</strong>zelnen um<br />
Grade kühleren Strömen durchzogen, immer<br />
erstaunlich transparent.<br />
Die Wasser des Rios Negros sind dank vieler<br />
zersetzter Pflanzensedimente sehr alkalihaltig <strong>und</strong><br />
deshalb fast moskitofrei <strong>und</strong> durchsch<strong>ein</strong>end.<br />
Überall sieht man bis auf den weichen, strahlend<br />
hellen, staubf<strong>ein</strong>en Sandgr<strong>und</strong>. In diesen<br />
geologisch sehr alten Flussbetten verbirgt sich<br />
auch die Erklärung für s<strong>ein</strong>e Transparenz. Es gibt<br />
ganz <strong>ein</strong>fach k<strong>ein</strong>e Erde oder Sedimente mehr<br />
zum Mitschwemmen, die die Wasser <strong>ein</strong>trüben<br />
würden, gar <strong>und</strong>urchsichtig machten.<br />
Auch der Rio Negro ist <strong>ein</strong> Gigant. Er gehört zu<br />
den drei größten Flüssen der Erde. Durch s<strong>ein</strong><br />
Bett fließt mehr Wasser, als durch alle<br />
europäischen Flüsse zusammen. S<strong>ein</strong><br />
Wasserstand schwankt je nach Jahreszeit. Der<br />
Unterschied zwischen Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />
beträgt zwischen 9 <strong>und</strong> 12 Metern. Die<br />
Hafenanlage von Manaus, 1907 von Engländern<br />
konstruiert, schwimmt. Nur so wird sie den<br />
verschiedenen Wasserständen gerecht. Im<br />
Amazonas muss man erfinderisch s<strong>ein</strong>.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 172
Der Rio Negro fließt in den Solimões <strong>und</strong> wird zum Amazonas<br />
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Der Tapajós ergießt sich in den Amazonas<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 174
Naturschauspiel Encontros das águas - Zusammenfließen der Wasser<br />
Die Linie ist von weitem sichtbar. Windet sich in<br />
weichem Hin <strong>und</strong> Her mitten durch den Fluss. Ein<br />
unvergessliches Naturschauspiel, wenn die<br />
Wasser zweier Giganten auf<strong>ein</strong>ander treffen,<br />
neben<strong>ein</strong>ander her fließen,kilometerlang, um sich<br />
irgendwann dann doch zu ver<strong>ein</strong>igen wie vor<br />
Manaus oder Santarém. Schlägt das bullige<br />
Ausflugsschiff, das <strong>ein</strong>em in <strong>ein</strong>em Tagesausflug<br />
da hinaus bringt, <strong>ein</strong>en Haken, befindet man sich<br />
direkt auf der trennenden Linie, eher <strong>ein</strong> fahriger<br />
Zickzack, der die zwei Wasser trennt, teedunkel<br />
oder blau <strong>und</strong> hellerdig heben sie sich deutlich,<br />
fast gestochen scharf, von<strong>ein</strong>ander ab, mäandern<br />
in<strong>ein</strong>ander ohne sich zu vermischen. Kilometerweit<br />
fließen die schlammigen Weißwasser oder<br />
die transparenten Schwarzwasser neben den<br />
trüben her, perfekt getrennt durch <strong>ein</strong>e gut<br />
sichtbare, nur strichf<strong>ein</strong>e Linie.<br />
Es ist <strong>ein</strong> physikalisches Phänomen, das es<br />
möglich macht. Die Wasser dieser Giganten haben<br />
<strong>ein</strong>e unterschiedliche Temperatur <strong>und</strong> Dichte <strong>und</strong><br />
bewegen sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten<br />
fort. Vor Manaus fließen die transparenten,<br />
schwarzteedunklen Wasser des Flusses<br />
Rio Negro, des Schwarzen Flusses, der später zum<br />
Amazonas wird, träge neben den schlammbraunen<br />
des Solimões her, bis sie, man kann es<br />
nur ahnen, zu <strong>ein</strong>er Art strömendem Süßwassermeer<br />
werden. Dasselbe passiert weiter flussabwärts<br />
auf der Höhe von Santarém, wo sich der<br />
blaue, klare Tapajós mit dem trüben, opacken<br />
Amazonas ver<strong>ein</strong>t.<br />
der<br />
Zusammenfluss Rio Maués <strong>und</strong> Rio Negro<br />
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Flusses Ernte<br />
Ausgebreitet liegt sie vor mir auf der <strong>ein</strong>fachen<br />
Holzbank, die vielfältig überreiche Ernte, die mir<br />
die lehmig-schlammigen Wasser des Amazonas,<br />
breit wie <strong>ein</strong> Meer, vor die Füße geschwemmt<br />
haben. Ein kurzer Spaziergang entlang<br />
melancholisch beige-grauer Strände aus weichem<br />
Sand genügt, alle Taschen, gar das nach Kinderart<br />
über dem Bauch hochgeschürzte T-Shirt, mit<br />
Schätzen prall zu füllen. An- <strong>und</strong> mitgeschwemmt,<br />
hergetragen, zurückgelassen <strong>und</strong> vergessen,<br />
kl<strong>ein</strong>e Potenzpakete, um gleich da oder anderswo<br />
weiter unten in <strong>ein</strong> paar Jahren <strong>ein</strong>en neuen Wald<br />
entstehen zu lassen.<br />
Wie lange sie wohl, leise schaukelnd, „Igarapé“<br />
für „Igarapé“ durchflossen haben, meerwärts,<br />
immer weiter, bis hierher? Getrieben,<br />
geschaukelt, geschwemmt? Wie vielen hungrigen<br />
Mäulern sind sie glücklich entkommen? Sind es<br />
St<strong>und</strong>en, vielleicht Tage oder gar Monate, bis sie<br />
hier im Sand stranden? Es sind k<strong>ein</strong>e Muscheln,<br />
sondern Kokosnüsschen in allen Größen, alle<br />
Arten von Kastanien <strong>und</strong> anderen Nüssen,<br />
Mandeln, kl<strong>ein</strong>e Ballone, die Samen enthalten,<br />
w<strong>und</strong>erbar gew<strong>und</strong>ene Bohnen, Rispen, Rinden.<br />
Es gibt die verrücktesten Formen, Kombinationen<br />
<strong>und</strong> Hüllen, Verpackungsdesign wie es<br />
<strong>ein</strong>fallsreicher nicht s<strong>ein</strong> könnte. Was die Natur<br />
alles evoluiert, um ihre kostbare Fracht auf die<br />
Reise zu schicken!<br />
Diese hier ist leicht zu identifizieren: Diese<br />
dreikammrige Frucht enthält die Samen des<br />
Gummibaums, gräulich, vom Wasser<br />
ausgewaschen, ovalr<strong>und</strong> <strong>und</strong> r<strong>und</strong>herum<br />
<strong>ein</strong>gekerbt. Dann gibt es die dickbäuchigen,<br />
orangebraunen Samenfrüchte des Andirobabaumes,<br />
auf der <strong>ein</strong>en Seite abgeflacht <strong>und</strong> auf<br />
der anderen r<strong>und</strong>, zu fünft, sechst oder<br />
siebt in der selben runzelig weichen Kugel<br />
<strong>ein</strong>gebettet. Versuche, ob <strong>ein</strong>er der angeschwemmten<br />
Deckel mit dem charakteristischen<br />
Mittelspeer zu <strong>ein</strong>er der leeren Hüllen passt. Ein<br />
unmögliches Unterfangen. Die Technologie ist<br />
perfekt. Der Deckel springt ab <strong>und</strong> gibt die gut<br />
geschützten Samen frei, schickt sie auf <strong>ein</strong>e<br />
abenteuerliche Reise. Denn an Räubern <strong>und</strong><br />
Fressf<strong>ein</strong>den mangelt es nicht!<br />
Manche Samen sind so genial adaptiert, dass die<br />
Nuss, der Kern, tief im köstlichen Fruchtfleisch<br />
versteckt, nur dann sprießt, wenn er den eisernen<br />
Magen <strong>ein</strong>es Räubers, oft auch <strong>ein</strong> hoch<br />
spezialisierter Fisch, durchlaufen hat. Der<br />
Tambaqui zum Beispiel knackt mit s<strong>ein</strong>en starken<br />
Kiefern viele Palmfrüchte, die s<strong>ein</strong> Fleisch<br />
w<strong>und</strong>erbar fett <strong>und</strong> köstlich machen <strong>und</strong> zu<br />
bestimmten Jahreszeiten gar mit dem<br />
charakteristischen Geschmack der Palmfrucht, die<br />
er so gerne verspeist, imprägniert. Er verwertet<br />
alles, was ihm die Natur aufdeckt, respektive<br />
direkt vor die Nase plumpsen lässt.<br />
Auch gelb-orange Tucumãs schwimmen daher,<br />
ihre f<strong>ein</strong> abgeschälte Rinde schmeckt seltsam<br />
holzig. Der Fluss erspart <strong>ein</strong>em die wehrhaften,<br />
fingerlangen, stricknadeldicken Stacheln, die den<br />
Stamm umr<strong>und</strong>en <strong>und</strong> den Menschen <strong>und</strong><br />
andere Fressf<strong>ein</strong>de auf Distanz halten. Die<br />
beigebraunen, silbern gewaschenen Ballönchen<br />
sind wohl wilde Maracujás, aber ich will sie nicht<br />
zerstören, nur um sie zu identifizieren. Die<br />
andere kl<strong>ein</strong>e, ausgewaschene Kugel voller<br />
stumpfer Hörnchen ist Mutamba, früher als<br />
Heilmittel <strong>ein</strong>gesetzt.<br />
So liegt sie vor mir, die symbolische, überreiche<br />
Ernte des Flusses, Anfang <strong>und</strong> Schlusspunkt<br />
dieses monochromatischen Paradieses hier,<br />
<strong>ein</strong>silbig, eigenartig karg, um das Wort monoton<br />
zu vermeiden, endlos, endlos weit <strong>und</strong> endlos<br />
fruchtbar.<br />
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Alter do Chão<br />
bei Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />
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Aramani<br />
bei Hoch- <strong>und</strong> Niederwasser<br />
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Über den grünen See<br />
Stecke kühn die Hand ins Nass. Lauwarm <strong>und</strong><br />
gischtig bräunlich springt es mir perlend durch die<br />
Finger. Körperwarm. Als Kind sagten wir so warm<br />
wie Pipi! Das Wasser ist transparent-bräunlich,<br />
von <strong>ein</strong>zelnen, um Grade kühleren Strömen<br />
durchzogen, wie das erste ausgiebige Bad,<br />
herrlich erfrischend, bestätigt. Man wäscht sich<br />
für kurze Zeit die ganze, ständig präsente Hitze<br />
davon, besonders, wenn man sich der leichten<br />
Brise aussetzt, ohne sich abzutrocknen.<br />
Die absolut unverhältnismäßigen Proportionen<br />
erschrecken noch immer. Werden im blechernen<br />
Winzboot die endlosen Wasser des Grünen Sees<br />
durchqueren. S<strong>ein</strong>e Ufer sch<strong>ein</strong>en kilometerweit<br />
weg. Der Name Grüner See ist eigentlich<br />
irreführend. Das riesige Wasser ist <strong>ein</strong> Teil des<br />
Tapajós, der <strong>ein</strong> paar Kilometer weiter unten<br />
schon mit dem Amazonas zusammenfließt. Still<br />
liegt er vor uns, der leise Wind kräuselt <strong>ein</strong> paar<br />
stetige, launige Wellen. Man würde das<br />
Restaurant auch per Auto erreichen. Aber per<br />
Boot ist es romantischer. Die wirklichen Wege im<br />
Amazonas sind Wasserwege. Die Fahrt dauert<br />
weniger lange als das Winzboot <strong>und</strong> die<br />
Sichtdistanz befürchten ließen. Gott sei Dank<br />
stecken m<strong>ein</strong>e Füße in gut sitzenden<br />
Plastiksandalen, denn hie <strong>und</strong> da springt <strong>ein</strong>e<br />
schlecht geschnittene Welle ins Boot, netzt nicht<br />
nur m<strong>ein</strong>e B<strong>ein</strong>e. Nur für m<strong>ein</strong>en <strong>Foto</strong>apparat<br />
hätte ich wohl doch besser <strong>ein</strong>e Plastiktüte<br />
mitgebracht.<br />
Endlos flach <strong>und</strong> gleichförmig ziehen die fernen<br />
Ufer vorbei. Springen vor, ziehen sich zurück.<br />
Schon haben wir die erste Landzunge umfahren.<br />
Der Fahrer hält sich geschickt in relativer<br />
Ufernähe. Da ist die Strömung schwächer.<br />
Trotzdem sind die Wasser endlos. Dankbar zurre<br />
ich die orangefarbene Schwimmweste noch etwas<br />
fester. Erinnere mich an Sonnenaufgänge, bei<br />
denen sich die Sonne, zuerst nur <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>er, rosa<br />
Streifen über dem endlos flache Horizont, wie <strong>ein</strong>e<br />
goldene Münze in Minutenschnelle über die graue<br />
Messerklinge hochschiebt, bald zum glühenden<br />
Sonnenball mutiert. Schon schimmert der Bug des<br />
Schiffes in warmem Licht. An den dichtgrünen<br />
Ufern hebt sich hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong> gefallener<br />
Baumriese gespenstig-malerisch ab gegen die<br />
weißsandigen Strände, die die Ufer säumen. Im<br />
Januar liegen sie, es ist Niederwasser, fast ganz<br />
frei, <strong>ein</strong> dekoratives, gezacktes Bord.<br />
Bald liegt die Hälfte des Sees hinter uns. Noch<br />
erschien er mir endlos. Die Sonne steht schon<br />
ansehnlich hoch, als der Bootsführer da, weit weg,<br />
wage ins gleichförmige Baumdickicht zeigt. Da, da<br />
r<strong>ein</strong> müssen wir. Er kennt sich aus, für mich sind<br />
die Ufer, die zurückweichen <strong>und</strong> vorspringen, auch<br />
mal zwanzig, dreißig Meter hoch über den<br />
Wasserspiegel erheben, erschreckend<br />
gleichförmig, völlig identisch. Anders als auf dem<br />
Amazonas gibt es hier k<strong>ein</strong>e schwimmenden<br />
Grasinseln, die lautlos, intensivgrün <strong>und</strong> stetig<br />
vorbeiziehen. Schon tut sich vor uns <strong>ein</strong> so<br />
genannter „Furo“, <strong>ein</strong> Loch im Gestrüpp auf. Ein<br />
kl<strong>ein</strong>er, sich immer mehr verschließender<br />
Zugang. Bald schon versandet er. Nach <strong>ein</strong> paar<br />
h<strong>und</strong>ert Metern gilt es den Motor hochzulegen.<br />
Schon schiefern wir über den Gr<strong>und</strong>. K<strong>ein</strong><br />
Problem. Das flache Boot etwas auf den Sand<br />
gezogen <strong>und</strong> schon folgen wir dem kaum<br />
sichtbaren Pfad mitten ins grüne Nichts. Der<br />
Bootsführer kennt den Weg. Nach guten zehn<br />
Minuten Fußmarsch, immer dem stillen,<br />
sumpfigen Bächl<strong>ein</strong> nach, steht es, malerisch an<br />
<strong>ein</strong>em stillen, offenen Teich gelegen, plötzlich<br />
vor uns, funktionierend, <strong>ein</strong> paar Tische sind mit<br />
anderen Gästen besetzt. Der Bootsführer will<br />
zurück <strong>und</strong> so ver<strong>ein</strong>baren wir mit ihm <strong>ein</strong>e neue<br />
Uhrzeit. Er wird uns hier wieder abholen.<br />
Die Fischsuppe wird etwas dauern. Zeit genug,<br />
den Ort <strong>und</strong> die Umgebung zu erk<strong>und</strong>en.<br />
Bew<strong>und</strong>ere die kitschig illustrative Wandmalerei.<br />
Sie nimmt die ganze Wand, <strong>ein</strong>, die die Küche<br />
von der Gaststube, eigentlich nicht viel mehr als<br />
<strong>ein</strong> breites Dach, abtrennt. Sie zeigt <strong>ein</strong>en<br />
Fantasi<strong>ein</strong>diostamm, wohl die „Borari“, die hier<br />
in Alter do Chão heimisch sind, bei alltäglichen<br />
Verrichtungen. Ein großer, sandbedeckter freier<br />
Platz, im Hintergr<strong>und</strong> das Gem<strong>ein</strong>schaftshaus,<br />
palmstrohgedeckt <strong>und</strong> fensterlos. Es ist<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 194
echteckig <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> Dach läuft halbr<strong>und</strong> in <strong>ein</strong>er<br />
Spitze aus. Der <strong>ein</strong>zige Eingang ist symmetrisch in<br />
der Mitte. Indios haben oft Gem<strong>ein</strong>schaftshäuser.<br />
Alles gehört allen. Der persönliche Besitz<br />
beschränkt sich auf <strong>ein</strong> paar Werkzeuge, Pfeil <strong>und</strong><br />
Bogen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Haustier, vielleicht <strong>ein</strong> Papagei<br />
oder Äffchen als Gesellschaft <strong>und</strong> die<br />
Hängematte. Vor dem Gem<strong>ein</strong>schaftshaus <strong>ein</strong>e<br />
Feuerstelle <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e India, die Früchte entst<strong>ein</strong>t<br />
oder schält. Rechts ganz im Vordergr<strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
effektvoll bemalter Indiojunge. S<strong>ein</strong> vollr<strong>und</strong>es<br />
Gesicht, ist unter dem Topfhaarschnitt zur Hälfte<br />
mit rotem „Urucum“ bemalt. S<strong>ein</strong>e Männlichkeit<br />
bedeckt <strong>ein</strong>e Art Lendenschurz. Auf dem Finger<br />
hält er <strong>ein</strong>en grünen Papagei, der wohl s<strong>ein</strong><br />
Schoßtier ist. Um ihn herum andere Indigenas, die<br />
entweder Töpferwaren herstellen oder dieselben<br />
bemalen. Die links trägt <strong>ein</strong> Kind im Tragetuch.<br />
Die Männer des Stammes sch<strong>ein</strong>en soeben von<br />
der Jagd zurück. Ein Boot hat schon am Flussufer<br />
angelegt. Ein zweites Kanu wird gerade aufs Ufer<br />
hochgezogen. Über die Idylle fliegt stolz <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>zelner Reiher, am Flussufer ruht sich <strong>ein</strong><br />
anderes Reiherpaar aus. Links neben dem Jungen<br />
wartet <strong>ein</strong> abenteuerlich aussehender H<strong>und</strong>, halb<br />
Husky, halb Wolf. Über ihm prangt <strong>ein</strong><br />
Cashewbaum, voller Früchte. Ein paar gelbschwarzer<br />
Vögel, „Japins“, man kann sie hier oft<br />
beobachten, naschen davon. Weiter rechts, direkt<br />
auf den Stamm des Baumes, ist das, in<br />
brasilianischen Restaurants immer vorhandene,<br />
Waschbecken gemauert. Hier wäscht man sich vor<br />
dem Essen die Hände <strong>und</strong> nachher spült man sich<br />
den M<strong>und</strong> oder putzt hier gar die Zähne. Ganz<br />
rechts, gleich unter den üppigen Cashews,<br />
bewegen sich die Handtücher leicht im Wind. In<br />
der Mitte des Bildes zwei fest gemauerte<br />
Klimaanlagen, gleich darunter schwingen sich zwei<br />
rote Papageien in den strahlenden Himmel.<br />
Dann erk<strong>und</strong>e ich die Umgebung. Am sandigen<br />
Strand vor dem Restaurant, der an <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en<br />
See, eher <strong>ein</strong>em Teich endet, spielen zwei Jungen<br />
mit bloßen Füßen Fußball, was bei der Bruthitze<br />
wohl ziemlich anstrengend s<strong>ein</strong> muss. Sie lachen,<br />
lassen sich in den Sand fallen <strong>und</strong> vergnügen sich<br />
sehr. Der <strong>ein</strong>e hat den muskulösen Oberkörper<br />
entblößt, beide tragen Bermudas. Vor der Sonne<br />
schützen sich beide mit verkehrt herum<br />
aufgesetzten Schirmmützen.<br />
Gehe <strong>ein</strong> paar Schritte dem Teichufer entlang.<br />
Bew<strong>und</strong>ere die hoch aufgeschossenen Palmen, die<br />
sich im nur hin <strong>und</strong> da leise bewegten Wasser<br />
spiegeln. Schon glättet sich der Teich wieder, steht<br />
gleißend <strong>und</strong> unbewegt <strong>und</strong> ich sehe das ganze<br />
Panorama sozusagen doppelt, <strong>ein</strong>mal aufrecht<br />
stehend, <strong>ein</strong>mal auf dem Kopf. Sehe die<br />
Schönwetterwolkenberge zweimal, die sich<br />
ständig über den klarblauen Himmel schieben, sich<br />
teilen <strong>und</strong> sich zu immer neuen Formationen<br />
zusammenballen, vor die Sonne gleiten, sodass<br />
plötzlich alles im Schatten liegt, die Farben sich<br />
abrupt verdunkeln. Minuten später brennt sie<br />
schon wieder voll herab, die unregelmäßig<br />
r<strong>und</strong>kupplige Fauna, aus der sich immer wieder<br />
<strong>ein</strong>zelne Bäume herausheben, verdoppelt sich<br />
wieder. Ein paar „Buritís“ stehen, was sie sehr<br />
gerne mögen, gar mit den Füßen im Fluss,<br />
glasklarer, transparenter Spiegel. Diese Art<br />
Vegetation heißt, die Indigenen haben für alle<br />
diese Naturphänomene Namen, „Várzeas“. Die<br />
Hitze heizt die Wasser auf, sie werden lau,<br />
körperwarm. Wir suhlen uns wie Kinder, baden<br />
st<strong>und</strong>enlang, die Wasser so warm, dass uns die<br />
Abendluft nach dem Bad fast kühl vorkommt.<br />
Schau, wir sind gar nicht die letzten Gäste! Da<br />
kommt <strong>ein</strong>e ganze Familie, inklusive Patriarch, in<br />
zwei Autos angefahren. Sie setzen sich ganz<br />
vorne unter das letzte Ende des luftigen Dachs.<br />
Als das Essen kommt, stellt sich die Matriarchin<br />
hinter den Topf <strong>und</strong> schöpft jedem <strong>ein</strong>en vollen<br />
Teller heraus.<br />
Bald werden wir wieder abgeholt werden. Ich<br />
gehe schon vor. Genieße die Kupferst<strong>und</strong>e. Die<br />
Schatten ziehen sich immer länger. Schon bald<br />
wird die Nacht, früh <strong>und</strong> plötzlich wie immer,<br />
her<strong>ein</strong>brechen. Laufe auf dem kaum sichtbaren<br />
Pfad durch das hüfthohe Schilfgras, üppig grün,<br />
dem Bootsmann entgegen. Bew<strong>und</strong>ere die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 195
Spiegelungen, die Farben, die von Wolkenweiß<br />
<strong>und</strong> Strahlstahlblau bis zu Braungrün, fast<br />
Schwarz wechseln. Die blauen Wasser, die zu<br />
dunklen Tinten werden, wenn sich die Wolken<br />
mal wieder über die Sonne geschoben haben, <strong>und</strong><br />
sich für Minuten nur der schmale Streifen Grün<br />
dunkel in den Wassern spiegelt. Begegne auf<br />
m<strong>ein</strong>em Weg <strong>ein</strong>em Paar verlassener Flip-Flops,<br />
am Rand des kl<strong>ein</strong>en Flüsschens abgestellt, wie<br />
wenn ihr Besitzer mal schnell unter- <strong>und</strong><br />
weggetaucht wäre. Auch <strong>ein</strong> oder zwei <strong>ein</strong>same<br />
Ruderboote, notdürftig auf den Sand gezogen,<br />
bilden malerische Sujets.<br />
Schon holt mich die banale Realität wieder <strong>ein</strong>.<br />
Vor mir <strong>ein</strong>e Art gestrandeter Walfisch, <strong>ein</strong> von<br />
<strong>ein</strong>er effizienten Motorsäge umgehauener<br />
Tropenbaum rottet hier vor sich hin. Streckt s<strong>ein</strong>e<br />
nackten, halb gefallenen Äste <strong>und</strong> ausgerissenen<br />
Wurzeln dramatisch verdreht von sich. Ach ja, der<br />
Bootsjunge sagte, dass sie hier so was wie <strong>ein</strong>e<br />
Straße, sozusagen ins Nirgendwo bauen werden.<br />
Jedenfalls ist <strong>ein</strong>e Schneise, die ganze Böschung<br />
hoch in den niedrigen Wald geschlagen.<br />
Ein paar Schritte weiter, wieder sattes Grün.<br />
Bew<strong>und</strong>ere die vielen, dramatisch weichr<strong>und</strong>en,<br />
tiefen Falten, in die sich die Rinde <strong>ein</strong>es<br />
stattlichen Baumes legt. Kastanienbraun ziehen<br />
sie sich r<strong>und</strong> um den Stamm, laufen zu s<strong>ein</strong>en<br />
Füßen elegant in schwungvollen Wurzelwellen<br />
aus. Schon wieder im Boot öffnet sich der Kanal<br />
langsam, noch <strong>ein</strong>e leichte Kurve. Noch gleiten<br />
wir, vom <strong>ein</strong>zelnen r<strong>und</strong>blättrigen Ruder<br />
geschoben, lautlos zwischen grünen Wänden<br />
dahin, fahren an schon tief im Wasser stehenden<br />
Bäumen vorbei. Immer wieder öffnen sich andere,<br />
kl<strong>ein</strong>ere Kanäle, aber auch der Bootsjunge würde<br />
sich da nicht r<strong>ein</strong> wagen. Zu groß die Gefahr, sich<br />
darin zu verlieren. Der blaue Bug, fast im selben<br />
Blau der Wasser <strong>und</strong> des Himmels, schiebt sich<br />
immer weiter über die Windungen der Bäche,<br />
über uns die riesig saphirblauen Himmel.<br />
W<strong>und</strong>ersame Lianen, über Wirtspflanzen hinüber<br />
gewuchert, bilden absurd pittoreske Gebilde,<br />
geben den überwachsenen Sträuchern <strong>und</strong><br />
Bäumen <strong>ein</strong> gespenstisch plastisches Aussehen.<br />
Lassen ihre langen Triebe oder Luftwurzeln,<br />
überaus unordentliche Bärte, im Wasser schleifen<br />
- kompakte, unberührte, wilde Natur.<br />
Schon öffnet sich vor uns der Grüne See <strong>und</strong> wir<br />
gleiten über die endlose Fläche zurück, fahren<br />
nach Hause. Mitten auf dem See weit weg vor den<br />
Horizont geklebt, <strong>ein</strong>e streifige Wand. Die Sonne<br />
zieht, noch weiter weg, in riesige, zerfetzte<br />
Wolkengebirge Wasser hoch. Die sonnenabgewandten<br />
Seiten der Wolken sind bleigrau. Je<br />
weiter wir fahren, je weiter sch<strong>ein</strong>t sich das<br />
Phänomen von uns zu entfernen <strong>und</strong> schon<br />
übergleißt das Kupferlicht des früh her<strong>ein</strong>brechenden<br />
Abends die Ufer. Sie sind distanziert,<br />
dann wieder ganz nah. Die Schatten werden<br />
überlang <strong>und</strong> noch länger <strong>und</strong> alles, der helle<br />
Sand <strong>und</strong> die endlosen Wälder erröten in<br />
weichwarmen Kupfernuancen. Der bewegte See<br />
glättet sich zum öligen Spiegel, wirft tausendfach<br />
rosa-kupfer-orange Uferböschungen zurück.<br />
Begegnen auf der Heimfahrt mehrmals kl<strong>ein</strong>en<br />
Booten, manche gar ohne Motor, mit drei, vier<br />
Personen an Bord - bin wohl die Einzige, die sich<br />
von soviel Wasser <strong>ein</strong>schüchtern lässt, Respekt<br />
hat, sich immer, ganz leicht nur, davor fürchtet.<br />
Und da, malerisch rosa er- <strong>und</strong> überrötet liegt die<br />
Halbsichel von Alter de Chão wieder vor uns, Zeit<br />
für <strong>ein</strong> letztes lauwarmes Bad, genauso wie die<br />
kl<strong>ein</strong>en Jungen, die genau neben dem Ruderboot<br />
„Pôr-de-Sol“ (!), Sonnenuntergang in denselben<br />
hin<strong>ein</strong>springen, in ihm herumpaddeln, <strong>ein</strong><br />
wahres Fest veranstalten, <strong>ein</strong> paar dunkle<br />
Silhouetten nur vor der Goldmünze, die rasend<br />
schnell <strong>und</strong> strahlendorange <strong>ein</strong>fach hinter den<br />
Horizont fällt. Die leise Abendbrise kämpft <strong>ein</strong>en<br />
aussichtslosen Kampf mit der Tropenhitze, aber<br />
nach soviel Natur werden wir wohl wie die<br />
Wickelkinder schlafen.<br />
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Der verzauberte Wald<br />
Verzauberten Wald, „Floresta Encantada“ haben<br />
sie ihn getauft. Denn statt Vögel tummeln sich<br />
Fische zwischen s<strong>ein</strong>en Ästen <strong>und</strong> Wedeln <strong>und</strong><br />
zwischen s<strong>ein</strong>en Kronen schneiden Ruderboote<br />
lautlos die schattendunklen Wasserflächen,<br />
gleiten über stehende Wasserspiegel, dringen in<br />
endlos verzweigte Korridore <strong>ein</strong>.<br />
Sticht man per Boot aus dem grellen<br />
Sonnensch<strong>ein</strong> übergangslos in die dunklen<br />
Schatten des Igapó-Waldes <strong>ein</strong>, kann kaum <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong> leises Prickeln, <strong>ein</strong> heimliches Erschauern<br />
vermeiden. Was sich exotisch anhört, ist nichts<br />
anderes als <strong>ein</strong> perfekt angepasstes Ökosystem,<br />
das „Igapós“ genannt wird. Die Bäume würden<br />
absterben, würden sie nicht in Jahresabständen<br />
von den transparenten <strong>und</strong> damit nicht so<br />
nährstoffreichen Wassern/ Flüssen geflutet.<br />
Manche Bäume haben ihre Rinden mit Kork gegen<br />
die Wasser isoliert, andere benutzen hoch<br />
aufsteigende Luftwurzeln zum Atmen oder um<br />
sich festzukrallen - die Wasser steigen <strong>und</strong> fallen<br />
meterhoch. In der Trockenzeit kann man an den<br />
Markierungen, die das Wasser an den Rinden<br />
zurückgelassen hat, ablesen, bis wohin die Fluten<br />
angestiegen sind <strong>und</strong> wieder ansteigen werden.<br />
Auch die Schwämme, unsch<strong>ein</strong>bar verkrustet,<br />
sind <strong>ein</strong> Zeichen, dass die Natur hier unmögliches<br />
möglich macht.<br />
Sind die Wasser tief, legen sie, besonders an den<br />
Flüssen Tapajós, Tocantins <strong>und</strong> Xingú traumhaft<br />
weiße Sandstrände frei, die sich effektvoll gegen<br />
die transparent grün-türkisklaren Wasser<br />
abheben.<br />
Kupferrot<br />
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Igarapé Bäche <strong>und</strong> Teiche im Regenwald- Ökosystem<br />
„Klunk, klank, klink, klunk“, unkt es aus den<br />
Igarapés, irgendwo da draußen. Es sind Frösche<br />
<strong>und</strong> Kröten, die ihr Grunzen, Blöcken oder<br />
Schnarren, trotz der beschränkten<br />
Variationsbreite klingt ihr Gesang irgendwie<br />
fröhlich, immer dann beginnen, wenn der leise<br />
aber dauerhafte Regen <strong>ein</strong>setzt oder <strong>ein</strong>fach als<br />
Begleitgesang zum Her<strong>ein</strong>fallen der Nacht.<br />
Igarapés sind kl<strong>ein</strong>ere, oft zugewachsene<br />
Wasserläufe, <strong>ein</strong>e Art amazonischer<br />
Sumpflandschaft, Teil <strong>ein</strong>es viel komplexeren, f<strong>ein</strong><br />
<strong>und</strong> weit verästelten Wassersystems, das den<br />
ganzen Tropenwald durchzieht. Sie sind nicht sehr<br />
tief, können nur mit <strong>ein</strong>em schmalen Kanu<br />
befahren werden. Ihre Wasseroberfläche gleicht<br />
nachtschwarzen Spiegeln, ihr Wasser ist<br />
bräunlich-klar <strong>und</strong> oft „eisig kalt“. An den<br />
Wochenenden plantschen ganze Dorfgem<strong>ein</strong>schaften<br />
in natürlichen oder künstlich<br />
gestauten Becken <strong>und</strong> genießen die Frische des<br />
Wassers, das den Ruf hat, auch den schlimmsten<br />
Kater sofort zu kurieren. Diese „tiefe“<br />
Wassertemperatur verdanken die Wasser dem<br />
Halbschatten, den sie durchfließen, auch wenn sie<br />
fast still zu stehen sch<strong>ein</strong>en. Und doch, sie<br />
kommen von irgendwo her, fließen irgendwo hin.<br />
Will man ihre komplexe Vielfalt erk<strong>und</strong>en,<br />
empfiehlt sich das Kanu <strong>und</strong> <strong>ein</strong> lokaler Führer.<br />
überraschend dunklen Seen oder anderen<br />
geheimnisvoll stehenden Wassern. Hier gedeihen<br />
mit Glück <strong>ein</strong> paar Seerosen oder gar Vitoria<br />
Régias, die ihren Namen von Königin Victoria<br />
erhielten. Riesige Blattteller, die sich von der Mitte<br />
her auffalten <strong>und</strong> dabei ihr raffiniertes<br />
Luftkammersystem zeigen, das ihnen erlaubt,<br />
schwerelos auf der Wasseroberfläche zu fluten.<br />
Hie <strong>und</strong> da öffnet sich auch <strong>ein</strong>e prall-dicke Knospe<br />
zu <strong>ein</strong>er strahlend rosa-weißen Blüte.<br />
Die Igarapés sind ideale Rückzugsgebiete für viele<br />
kl<strong>ein</strong>e Fische, die sich gerne zwischen den vielen<br />
Wasserpflanzen verstecken. Deren Unterwasserschönheit<br />
ist unerschöpflich, geht vom<br />
filigranen Spitzenmuster über arabische inspirierte<br />
Mosaike bis zu geometrischen Scherenschnitten.<br />
Zusammen mit den fragilen Wassergräsern, deren<br />
flexible Haare sich elastisch <strong>und</strong> schwerelos der<br />
kaum bemerkbaren Strömung anvertrauen,<br />
formen sie immer neue, kunstvoll geflutete<br />
Teppiche, eigentliche Unterwasserkunstwerke.<br />
Plötzlich weiten sich die stillen Bäche zu<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 206
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Regelmäßig überflutet - dieVárzea<br />
Besonders faszinierend sind die Várzeas, wenn die<br />
Wasser ganz hoch gestiegen sind, die Böden der<br />
Pfahlbauten von den Wassern geleckt werden<br />
<strong>und</strong> das Vieh sich in kl<strong>ein</strong>en Plattformen<br />
zusammen pfercht, wenn es nicht sowieso dem<br />
Schlachthaus verkauft wurde. Dann warten alle,<br />
die Bewohner <strong>und</strong> das Vieh, dass die Wasser, so<br />
wie jedes Jahr, <strong>ein</strong>fach wieder sinken. Dann wird<br />
es bald wieder die w<strong>und</strong>ervoll altmodischen<br />
Tomaten geben <strong>und</strong> oberarmdicke Maniokwurzeln.<br />
Die Várzea ist das wohl am dichtesten bevölkerte<br />
Ökosystem des Amazonas. Da, wo die Flüsse mit<br />
wenig Gefälle fließen <strong>und</strong> der lehmige Boden zu<br />
Zeiten der Hochwasser die überbordenden<br />
Wassermassen der Weißwasser genannten Flüsse<br />
nicht aufnimmt, setzen sie über weite Strecken<br />
die Ufer unter Wasser. Es sind die trüben,<br />
sedimentreichen Fluten des Amazonas <strong>und</strong> des<br />
Solimões, die weite Striche der Ufer im<br />
Jahreszyklus überfluten. Hier siedeln umtriebige<br />
Kl<strong>ein</strong>bauern, vielseitig haben sie sich an die<br />
Gegebenheiten der Natur perfekt angepasst.<br />
Neben der Landwirtschaft <strong>und</strong> Viehzucht fischen<br />
sie auch <strong>und</strong> halten sich Fische wie Tambaqui in<br />
schwimmenden Käfigen, die direkt im Fluss<br />
dümpeln. Oder sie züchten, beschützt von hohen<br />
Wällen in tiefen, künstlich ausgehobenen Teichen<br />
den wertvollen Pirarucu. Fallen dann die Wasser,<br />
beginnt das Pflanzen. Die Bauern machen sich die<br />
natürlichen Gegebenheiten zunutze. Der Schlamm,<br />
der von den sich zurückziehenden Wassern<br />
zurückgelassen, ist extrem nährstoffreich, was die<br />
Erden sehr fruchtbar macht. Bald schon wird der<br />
lokale Markt mit frischen Produkten<br />
überschwemmt werden. Die besten Tomaten,<br />
herrlich altmodisch <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbar bauchig,<br />
schrecklich verderblich aber unvergleichlich im<br />
Geschmack, die winzigen Bohnen, die ihrem<br />
Namen Butterbohnen alle Ehren machen <strong>und</strong><br />
ebenfalls butterzart, <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erbarer Käse,<br />
“recozido”, hergestellt aus Rohmilch, die ohne Lab<br />
fermentiert wird <strong>und</strong> dann in der Buttermilch<br />
nochmals erhitzt wird.<br />
Das Leben hier ist eher <strong>ein</strong>sam. Die Häuser bilden<br />
nur kl<strong>ein</strong>e Gruppen, aber mit dem Schiff ist man<br />
schnell mal beim Nachbarn auf der anderen Seite<br />
des Flusses oder in der Stadt. Da haben alle, wie<br />
viele Hinterwäldler hier, <strong>ein</strong>e zweite Bleibe, bei<br />
Verwandten, wo auch die Kinder zur Schule gehen.<br />
Genau das ist dem kl<strong>ein</strong>en Jungen hier passiert. Es<br />
ist ihm so schrecklich langweilig. Es ist k<strong>ein</strong>er da,<br />
um mit ihm zu spielen. Alle größeren Kinder sind in<br />
der Stadt, in der Schule. Aber so ist das Leben hier<br />
halt, dafür hat er andere Spielkameraden, gepelzte<br />
oder gefiederte vielleicht, muss allerdings auch<br />
mal bei der rauen Arbeit auf dem Feld mithelfen.<br />
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Pororoca <strong>und</strong> Mangue, zwischen Ebbe <strong>und</strong> Flut<br />
Da wo sich Meerwasser mit den Süßwasserfluten<br />
mischt, entstehen eigene Ökosysteme, resistent<br />
gegen das tagtägliche Ansteigen <strong>und</strong> Fallen der<br />
Fluten. Die natürliche Auslese hat auch hier zu<br />
exotischen Anpassungen geführt. Stelzenwurzeln,<br />
hoch strebend komplex wie <strong>ein</strong>e gotische<br />
Kathedrale, verankern Baumriesen mitten im<br />
Sand. Sie widerstehen den immer näher<br />
leckenden Fluten, lassen sich gar ganz<br />
unterspülen. Immer wieder öffnet sich die Rinde<br />
<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e neue Wurzel wuchert über die<br />
schon vorhandenen hinweg. Solche<br />
Wurzelkathedralen sind ideale Brut- <strong>und</strong><br />
Zufluchtsstätten für Vögel, Fische <strong>und</strong> viele<br />
andere Lebewesen. Auch die Samen vieler Bäume<br />
sind sozusagen wasserfest. Viel Bäume lassen ihre<br />
Frucht von den Wassern davontragen. Statt<br />
Muscheln findet man am Strand Kokosnüsschen<br />
in allen Größen, alle Arten von Kastanien,<br />
Mandeln, kl<strong>ein</strong>e Ballone, die Samen enthalten,<br />
w<strong>und</strong>erbar gew<strong>und</strong>ene Bohnen, Rispen, Rinden.<br />
Welle erzeugen. Die tritt normalerweise auf, wenn<br />
die Mondphasen wechseln, bei Voll- oder<br />
Leermond. Die Welle, bis zu zehn Meter breit <strong>und</strong><br />
5 Meter hoch, bewegt sich mit der<br />
be<strong>ein</strong>druckenden Geschwindigkeit von um die 30<br />
km pro St<strong>und</strong>e meerwärts. Sie ist zur<br />
Touristenattraktion geworden. Es gibt gar <strong>ein</strong>en<br />
Surfwettbewerb. Es gewinnt der, dem es gelingt,<br />
am längsten auf der Welle zu reiten.<br />
Das Naturphänomen ist nicht ungefährlich <strong>und</strong> es<br />
empfiehlt sich, die Welle aus sicherer Entfernung<br />
zu vorbeibrechen zu sehen. Die Kraft der zum<br />
Meer zurück fließenden Wassermassen bricht<br />
ganze Uferstücke los, entwurzelt Bäume, lässt <strong>ein</strong><br />
Szenarium der Zerstörung hinter sich.<br />
Lange bevor die Pororoca selber durchwalzt,<br />
kündigt sie sich durch <strong>ein</strong> unverwechselbares<br />
Dröhnen an. Minuten bevor sie dann losbricht,<br />
herrscht Totenstille.<br />
Wer hier an den Stränden des Ozeans lebt, muss<br />
sich an die Gegebenheiten von Flut <strong>und</strong> Ebbe<br />
anpassen. Es gilt in Einklang mit den Gezeiten zu<br />
leben. Manche Dörfer auf der Insel Marajó zum<br />
Beispiel sind nur bei Hochwasser erreichbar.<br />
Andere Phänomene wie die „Pororoca”, <strong>ein</strong>e<br />
riesige Flutwelle, die entsteht, wenn bei Flut die<br />
Wasser des Ozeans tief die Süßwasser des<br />
Amazonas hochsteigen <strong>und</strong> damit <strong>ein</strong>e riesige<br />
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Aus dem<br />
Tierreich<br />
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Aus dem Tierreich<br />
Stimmen des Amazonas 221<br />
Von der Schlange verschlungen / Hart wie St<strong>ein</strong> 223<br />
Die Unsichtbaren 228/229<br />
Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln 235/236<br />
Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar 239/240<br />
Die Wespe 242<br />
S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier 246<br />
Fischreichtum, praktisch unbekannt 252/253<br />
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Stimmen des Amazonas<br />
Das Röhren, dunkel, hohl, über Kilometer weit zu<br />
hören, schwillt an, zieht sich zurück, wird von<br />
irgendwo her erwidert. Der Amazonas schreit.<br />
Wer das Brüllen zum ersten Mal hört, guttural,<br />
be<strong>ein</strong>druckend, erschauert. Manche fürchten<br />
sich, fühlen sich sehr unsch<strong>ein</strong>bar, würden wohl<br />
am liebsten im Boden versinken. Besonders wenn<br />
die Nacht schon auf den Morgen zugeht <strong>und</strong> sie<br />
das Gebrüll aus wirren Träumen geschrien hat.<br />
Der Amazonas hat viele Stimmen. Manchmal<br />
schreien sie, es sind die Brüllaffen, auch vor dem<br />
Einnachten, wohl um ihr Territorium <strong>ein</strong>zubrüllen,<br />
oder weil sie Anschluss suchen. Der Brüllaffe der<br />
<strong>Foto</strong>s (diese <strong>und</strong> vorhergehende Seite) jedenfalls,<br />
ist all<strong>ein</strong>. Auch er brüllt. Nur selten antwortet ihm<br />
<strong>ein</strong>er, wenn er vom höchsten Baum im Umkreis<br />
losröhrt. Ein Teenager noch, männlich, wohl von<br />
der Gruppe ausgestoßen.<br />
Die Stimmen <strong>ein</strong>es ländlichen Amazonas machen<br />
sich besonders Nachts bemerkbar, sind voller<br />
ungewöhnlich-unheimlicher Geräusche. Immer<br />
wieder schlägt irgendwo <strong>ein</strong> H<strong>und</strong> an, andere<br />
bellen zurück. Hähne schmettern ihr Kickericki im<br />
Halbst<strong>und</strong>entakt, lange vor dem Morgengrauen.<br />
Wenn die Brüllaffen gerade schweigen, miauen<br />
verliebte Katzen ihr Babygeschrei, das<br />
übergangslos in fetzenfliegendes Raulen<br />
übergeht. In die Pausen schnarrt der Aracuã.<br />
«Arancuã, Arancuã knarrt er s<strong>ein</strong>en Namen<br />
mehrmals hinter<strong>ein</strong>ander durch die Nacht. Wer es<br />
nicht besser weiß, würde das Schnarren nie <strong>ein</strong>em<br />
harmlosen, etwa hühnergroßen Vogel<br />
zuschreiben. Dann ist wieder alles wie immer. Nur<br />
die eilig tickenden Eintonfrequenzen der Grillen<br />
<strong>und</strong> Zikaden, <strong>ein</strong> elektrisches Zirpen, monoton <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>silbig füllen das Dunkel. Zusammen mit dem<br />
stetigen blutrünstigen Summen tausenderlei<br />
Stechmücken, die irgendwo da draußen auf ihren<br />
Blutzoll lauern. Ist Regen angesagt, kann man auch<br />
Kröten <strong>und</strong> Frösche hören, die <strong>ein</strong>em mit ihrem<br />
Quackkakofoniekonzert in den Schlaf wiegen. Ihr<br />
überaus variantenreiches Repertoire umfasst die<br />
unterschiedlichsten Tonhöhen. Sie quaken,<br />
schnattern, bellen oder singen. Einer blökt gar fast<br />
wie <strong>ein</strong> Schaf. Wie viele Stimmen der Amazonas<br />
hat, fällt erst in der Stadt auf. Da ist es vergleichsweise<br />
totenstill.<br />
Am Tag sind es eher die Vögel, die die Stille<br />
unterbrechen. Mit Glück kann man dem melo<br />
dischen Gesang des Sabiás, in vielen Gedichten<br />
besungen, lauschen. Ein absolut unsch<strong>ein</strong>barer<br />
Vogel mit extrem melodischem, hoch <strong>und</strong> nieder<br />
steigenden Gesang. Ist man weiter weg von der<br />
Zivilisation, hört man den lockenden Ruf des<br />
Capitão do Mato. Hin <strong>und</strong> wieder klopft auch <strong>ein</strong><br />
Specht mit extrem dekorativer Rotkäppchenhaube<br />
oder <strong>ein</strong> Baumläufer mit ohrenbetäubenden,<br />
energischen Schlägen die Bäume ab. Ihr Klopfen<br />
muss für die vielen Würmer, Termiten oder<br />
Larven, die unter der Baumrinde leben, <strong>ein</strong>fach<br />
unerträglich s<strong>ein</strong>. Darunter mischt sich das<br />
zirpige Pfeifen der Rotgesichte, katzengroße<br />
Sagui-Affen, mit dem sie sich ständig<br />
unter<strong>ein</strong>ander verständigen, wenn sie auf<br />
Beutezug sind. Oder das nervös gutturale<br />
Streitgespräch der «Zogzogs», die mal wieder ihr<br />
Territorium verteidigen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 221
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 222
Von der Schlange verschlungen<br />
Begegnungen mit Riesenschlangen sind immer so<br />
überraschend wie gewöhnungsbedürftig.<br />
Bin wie immer auf dem morgendlichen<br />
H<strong>und</strong>espaziergang. Die drei H<strong>und</strong>e,<br />
zufälligerweise alle an der L<strong>ein</strong>e, ziehen jeder in<br />
<strong>ein</strong>e andere Richtung. Die Horde bewaffneter<br />
junger Männer sehe ich erst, als sie mich fast über<br />
den Haufen rennt. In der Vorhut <strong>ein</strong> nicht mehr<br />
junger Mann mit gegerbten Zügen <strong>und</strong> dem<br />
rabenschwarzen Haar der Einheimischen. S<strong>ein</strong><br />
sehniger Oberkörper ist bloß. Die Schlange, leicht<br />
gekrümmt, vielleicht 2 ½, 3 Meter lang, zieht er<br />
am Schwanz hinter sich her. An ihren Kopf<br />
geheftet <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Karawane, jüngere Männer.<br />
Sie schwingen Macheten. Sch<strong>ein</strong>en aufgeregt. Die<br />
Schlange sch<strong>ein</strong>t mir, lebt noch. Ich schreie: -<br />
Was macht ihr mit ihr? Bringt sie nicht um! – Die<br />
Antwort, so überraschend wie lakonisch: Wir<br />
werden sie verspeisen! Nie werde ich wissen, ob<br />
ironisch oder wahr gem<strong>ein</strong>t. Wünsche ihnen<br />
guten Appetit <strong>und</strong> gehe m<strong>ein</strong>er Wege. Sie rennen<br />
weiter, die Schlange im Schlepptau. Eine Kurve<br />
entzieht sie der Sicht.<br />
Ja, man esse hier Schlangen.Die Hausangestellte<br />
macht mich nicht schlauer. Dachte, dass die nur in<br />
China auf den Speisezettel kämen….<br />
Wie auch immer. Aus der vorletzten, das weiß ich<br />
allerdings nur vom Hörensagen, wurden 20 l Fett<br />
ausgelassen. Die Unglückliche hatte vorher den<br />
vorwitzigen H<strong>und</strong> der Mutter <strong>ein</strong>es Bekannten<br />
erwürgt, was auch sie das Leben kostete.<br />
Schlangenfett ist hier sehr beliebt. Dem Fett wird<br />
große Heilkraft zugeschrieben.<br />
Wie auch immer. Die Schlange zeigt mir mal<br />
wieder die haarf<strong>ein</strong>e Messerschneide, auf der wir<br />
hier leben. Sie trennt die sogenannte zivilisierte<br />
Welt von der Barbarie oder was man auch immer<br />
unter den beiden versteht. Manchmal kann man<br />
besser <strong>und</strong> dann wieder schlechter damit<br />
umgehen. Bleibt nur die Frage in welcher der<br />
Welten sie mich wohl <strong>ein</strong>ordnen.<br />
Hart wie St<strong>ein</strong><br />
Ich liebe s<strong>ein</strong>e warmen, sanften <strong>und</strong> lang<br />
bewimperten Augen. Der kl<strong>ein</strong>e Stier ist<br />
erstaunlich zutraulich. Er ist hier auf dem<br />
unbebauten Nachbargr<strong>und</strong>stück, obs regnet oder<br />
schneit, Pardon, die Sonne runter brennt, an<br />
<strong>ein</strong>en langen Strick geb<strong>und</strong>en. Manchmal bindet<br />
ihn s<strong>ein</strong> Besitzer <strong>ein</strong> paar Straßen <strong>und</strong> neue<br />
saftgrüne Gräser weiter vorne an. Er senkt den<br />
Kopf <strong>und</strong> neigt ihn mir dann mit <strong>ein</strong>er unmissverständlichen<br />
Geste erwartend zu! Und als ich<br />
es wage, sch<strong>ein</strong>t es ihm gar zu gefallen, wenn ich<br />
ihm die Schädeldecke kraule. Sie ist straff wie<br />
<strong>ein</strong>e Trommel über den Schädel gespannt.<br />
Zwischen Haut <strong>und</strong> Knochen gibt es k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges<br />
Gramm Fett. Wage es sogar, ihm die Brust zu<br />
tätscheln: weiß, mit ver<strong>ein</strong>zelt f<strong>ein</strong>en Dalmatinersprenkeln<br />
<strong>und</strong> – was für <strong>ein</strong> Schock, hart wie<br />
<strong>ein</strong> St<strong>ein</strong>!!! Das erklärt mir ganz überraschend<br />
<strong>und</strong> ungewollt die schuhsohlenartige<br />
Beschaffenheit des hiesigen Fleisches! Es ist<br />
immer, zäh <strong>und</strong> hart, st<strong>ein</strong>hart! Auch dann, wenn<br />
der Metzger das Schnitzel durch <strong>ein</strong>e Art<br />
Häckselmaschine gibt, bevor er es mir <strong>ein</strong>packt.<br />
Bitte den kl<strong>ein</strong>en Stier insgeheim um Verzeihung.<br />
Geduldig beschwichtigt er mich mit noch <strong>ein</strong>em<br />
treuherzigen, lang bewimperten Blick. Doppelt<br />
mit <strong>ein</strong>em doppelten Wedeln der horizontal<br />
abstehenden Ohren nach <strong>und</strong> schon ist alles<br />
vergessen. Morgen werde ich ihm wieder die<br />
Schädeldecke kraulen.<br />
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Die Unsichtbaren<br />
Des hautnahen Kontaktes mit der Natur wegen im<br />
Amazonas? Nichts leichter als das. Gehören Sie<br />
zufällig zu den Liebhabern von Kaimanen, kl<strong>ein</strong>en,<br />
wendigen, scharfzähnige Krokodilen mit starren<br />
Augen, die man leicht als „böse“ vermenschlicht?<br />
Mögen Sie hochb<strong>ein</strong>ige Echsen, drachenartige<br />
Urviecher mit Stacheln auf dem Rücken, die leicht<br />
die Größe <strong>ein</strong>es mittleren H<strong>und</strong>es erreichen?<br />
Oder stehen Sie gar auf Riesenkakerlaken, Grillen<br />
<strong>und</strong> Insekten? Ja? Dann sind Sie im Amazonas<br />
genau richtig. Denn diese putzigen Tiere werden<br />
Sie, anders als die so oft in Hochglanzprospekten<br />
beschriebenen Jaguare, Papageien oder Brüllaffen<br />
im Amazonas problemlos finden. Zudem ist <strong>ein</strong>e<br />
Vielzahl mehr oder weniger niedlicher<br />
kriechender <strong>und</strong> fliegender Zimmergefährten im<br />
Angebot <strong>ein</strong>geschlossen. Die werden ihnen<br />
sozusagen auf den Leib rücken, oder besser ins<br />
Badezimmer hüpfen, genauso wie die raffinierten<br />
Insekten, die nichts lieber mögen als ganz<br />
frisches, sozusagen neues Blut. Aber seien wir<br />
nicht ungerecht, mit sehr viel Glück wird ihnen <strong>ein</strong><br />
Delfin s<strong>ein</strong>e Springkünste zeigen <strong>und</strong> auch<br />
Ornithologen kommen ganz auf ihre Rechnung.<br />
Nicht, dass ich Sie vom Dschungelhotel abbringen<br />
wollte, aber die Aufzählung der Tierarten, die man<br />
auf <strong>ein</strong>er offiziellen Karte des Amazonasgebietes<br />
findet, ersch<strong>ein</strong>t überaus aufschlussreich: Es gibt<br />
hier viele Affen. Ungeübten Augen entgeht ihr<br />
lautloses katzenartiges Dahingleiten in den<br />
Bäumen. Nur <strong>ein</strong> unerwartetes Rauschen von<br />
Blättern oder Wedeln verrät, dass sie gerade im<br />
Land sind. Da wo die Vegetation noch dicht ist,<br />
kann man ganze Affenclans beobachten, <strong>ein</strong>ige<br />
sind ziemlich gut an die Zivilisation angepasst. Früh<br />
morgens oder vor dem Einnachten können sie<br />
beim effektvollen von Ast-zu-Ast-springen verfolgt<br />
werden. Sie wählen den Ast, auf dem sie landen<br />
wollen <strong>und</strong> werfen sich dann mit offenen Gliedern<br />
schwungvoll, gar mit umgeschnalltem Baby, nach<br />
unten <strong>und</strong> irren sich nie. Nur die kl<strong>ein</strong>en<br />
rotgesichtig-hässlichen „Chuim“ machen durch<br />
ihre zirpende Rufe auf sich aufmerksam. Dann<br />
wenn sie sich seiltänzerisch über die Elektrokabel<br />
bewegen oder runter in ihre Fressbäume fliegen.<br />
Die anderen sind so stumm wie unsichtbar oder<br />
machen sich vor allem beim Einnachten <strong>und</strong><br />
nachts durch ihr an- <strong>und</strong> abschwellendes Gebrüll<br />
bemerkbar. Es sind die Brüllaffen, die schon<br />
manchen Unerfahrenen nicht schlafen ließen. Ihr<br />
gutturales, an- <strong>und</strong> abschwellendes Heulen kann<br />
man bis auf fünf Kilometer Entfernung hören.<br />
Besonders faszinierend sind die Nachtaffen. Ihr<br />
Huschen kann man mehr erahnen als wirklich<br />
verfolgen. Sieht sie springen oder ihre Silhouette<br />
im Licht <strong>ein</strong>er Straßenlanterne. Auch die „Gambás“<br />
sind nachtaktiv. Hier im Amazonas als „Mucuras“<br />
bezeichnet, sind sie Opossums, <strong>ein</strong> Nagetier, das<br />
s<strong>ein</strong>e Jungen in <strong>ein</strong>er Gürteltasche nährt <strong>und</strong><br />
schützt. Sie erinnern mit ihrer spitzen Schnauze<br />
<strong>und</strong> dem nackten, ellenlangen Schwanz an <strong>ein</strong>e<br />
riesige Ratte. Oft haben sie es sehr lustig. Ganze<br />
Familien holpern, poltern <strong>und</strong> kugeln nachts in<br />
unregelmäßigen Abständen über´s Dach.<br />
Perfekte Haustiere sind auch die w<strong>und</strong>ersamen<br />
Motten oder Nachtfalter, manche handtellergroß,<br />
andere perfekt als Blatt oder <strong>ein</strong> Stück<br />
Rinde getarnt. Manche fallen der agil <strong>und</strong><br />
zielsicher herausgeschleuderten Zunge der<br />
Hauskröte zum Opfer. Ihr müssen die vielen, vom<br />
grellen Licht angelockten Insekten als wahres<br />
Schlaraffenland vorkommen. Die Kröte<br />
allerdings, die mir auf der Damentoilette<br />
irgendwo im Hinterland Gesellschaft leistete,<br />
entkam dem erlösenden Kuss. Ich konnte mich<br />
nicht überwinden. Sie hätte sich, wer weiß<br />
vielleicht doch in <strong>ein</strong>en knackigen Indioprinzen<br />
verwandelt!<br />
Auch Faultiere sind zivilisationsangepasst.<br />
Manche Stadt im Hinterland hält sich auf dem<br />
zentralen Platz <strong>ein</strong>e Art Maskottchen, das hoch<br />
oben s<strong>ein</strong>e unendlich langsamen Bewegungen<br />
zelebriert, vielleicht gar von <strong>ein</strong>em Jungtier eng<br />
umklammert. Es gibt zwei Typen von Faultieren.<br />
Besonders vor den großen haben die Einheimischen<br />
alle sehr großen Respekt. Ihre<br />
sichelförmigen, messerscharfen Krallen können<br />
tiefe W<strong>und</strong>en schlangen. Grüne Wellensittiche,<br />
blau <strong>und</strong> rot gefiederte Papageien <strong>und</strong> die<br />
w<strong>und</strong>erschönen Tukane mit ihren sichligen<br />
Schnäbeln in den unterschiedlichsten Farben<br />
kann man mit sehr viel Glück im freien Flug<br />
sehen. Die graziösen „Garças“ Reiher allerdings<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 228
kann man am besten beim Einfallen der Nacht<br />
beobachten. Sie haben sich ausgerechnet <strong>ein</strong>en<br />
vielumfahrenen Riesenbaum mitten in <strong>ein</strong>er<br />
Kreuzung im Stadtzentrum als Nachtquartier<br />
ausgesucht. Von der Eisdiele gegenüber kann man<br />
ihren eleganten Anflug <strong>und</strong> die Landung, inklusive<br />
<strong>ein</strong>ige mit Schnäbelhieben entschiedene Missstimmigkeiten,<br />
<strong>ein</strong> Artgenosse sitzt schon auf dem<br />
Lieblingsast, ohne Feldstecher genau beobachten.<br />
Pünktlich zum Sonnenuntergang fliegt der erste<br />
an <strong>und</strong> wenn die Sonne ganz untergegangen ist,<br />
ist das dichtgrüne Blattwerk des Baumes<br />
strahlend weiß gepunktet.<br />
Nagetiere, wie die r<strong>und</strong>lichen, flinken „Cutias“,<br />
die wie doppelt so große Meerschw<strong>ein</strong>chen<br />
aussehen, kann man in jedem Park <strong>und</strong> auch da<br />
wo noch nicht alles überbaut ist, frei laufend<br />
antreffen. Auch die schrecklichen Riesenwürgeschlangen<br />
oder die gefährliche Klapperschlange<br />
kenne ich nur vom Hörensagen oder tot,<br />
anders als die w<strong>und</strong>erschönen hochb<strong>ein</strong>igen<br />
Echsen mit dem ewig langen Schwanz, den sie,<br />
Achtung, wirkungsvoll als Peitsche benutzt. Die<br />
meisten Arten leben hoch oben in den Bäumen,<br />
fressen Blattwerk <strong>und</strong> kommen nur selten auf den<br />
Boden runter. Denn der hautnahe Kontakt mit<br />
den Menschen birgt Risiken. Das Fleisch der<br />
Leguane ist begehrt, soll wie Hähnchen<br />
schmecken... .<br />
Geht man aufs Wasser, sieht man von den<br />
imponierend runzlig-höckrigen Krokodilen oder<br />
den kl<strong>ein</strong>eren Kaimanen nicht viel mehr als zwei<br />
unbewegte Augenpaare unter wulstig<br />
aufgeworfenen, ledrig-starren Augenbrauen. Tief<br />
<strong>ein</strong>gegrabene Nasenlöcher <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Stück<br />
Schnauze ragen wie <strong>ein</strong> Stück Holz aus dem<br />
Wasser. Nur die „Ribeirinhos“, die bitterarmen<br />
Flussbewohner, haben schon gehört, gar selbst<br />
gesehen oder wenigstens aus zuverlässiger<br />
Quelle erfahren, wie <strong>ein</strong>es dieser<br />
Schreckenstiere, vielleicht war es auch <strong>ein</strong>e<br />
Riesenschlange, <strong>ein</strong> Kind, <strong>ein</strong>en H<strong>und</strong>,<br />
verschlungen, zerdrückt hat. Schauerlich, konnte<br />
gerade noch oder leider, leider nicht mehr<br />
gerettet werden. Nur um die, für die Touristen<br />
normalerweise perfekt unsichtbaren, Jaguare<br />
<strong>und</strong> Pumas ranken sich noch mehr Mythen <strong>und</strong><br />
Aberglauben die von tiefem Respekt zeugen.<br />
Auch Wasserschildkröten kann man hie <strong>und</strong> da<br />
heute deutlich weniger als Haustiere gehalten,<br />
von weitem sehen. Bei der kl<strong>ein</strong>sten Bewegung<br />
gleiten sie blitzschnell von ihrem Sonnenplatz ins<br />
Wasser.<br />
Fasziniert bin ich von der Seekuh, <strong>ein</strong> gigantisch<br />
r<strong>und</strong>liches Säugetier in der Form <strong>ein</strong>es Fisches.<br />
Für Tiere, die wie sie in Gefahr sind auszusterben,<br />
gibt es interessante Studienprojekte - nur<br />
was man kennt, kann man schützen. Der bullige<br />
„Peixe-boi“, die Seekuh, lässt sich in unendlich<br />
langen Abständen in s<strong>ein</strong>em riesigen Tank<br />
sozusagen schwerelos an die Oberfläche treiben.<br />
Steckt dann s<strong>ein</strong> Bassetgesicht, allerdings ohne<br />
Hängeohren, aus dem Wasser, äst <strong>ein</strong> wenig vom<br />
großzügig ausgestreuten Wassergras <strong>und</strong> öffnet,<br />
ganz plötzlich <strong>und</strong> überraschend, in der wasserabstoßenden,<br />
grau glänzenden Schwarte zwei<br />
schwarze, abgr<strong>und</strong>tiefe Nasenlöcher! Atmet<br />
<strong>ein</strong>mal durch <strong>und</strong> verschließt sie sogleich wieder,<br />
so wasserdicht wie unsichtbar. Sinkt, mühelos,<br />
gemütlich dick <strong>und</strong> r<strong>und</strong> wieder ab, so als ob s<strong>ein</strong><br />
Riesenkörper gar k<strong>ein</strong> Gewicht hätte. Auch die<br />
Fische sind absolut faszinierend. Tot kann man<br />
sie auf jedem Fischmarkt sehen. Der riesige<br />
Pirarucú, der schauerliche Elektrische Aal, <strong>und</strong><br />
die Piranhas, nur ganz wenige Piranhas sind<br />
wirklich kannibalische Fleischfresser, werden hier<br />
ganz frisch verkauft. Die anderen, es gibt hier<br />
extrem dekorative Zierfische, es gibt hier <strong>ein</strong>en<br />
florierenden Handel, kann man sich eher in<br />
internationalen Aquarien ansehen.<br />
Die restlichen Tiere, Tapir, Ameisenbär, Puma,<br />
Panter <strong>und</strong> andere w<strong>und</strong>erschöne kl<strong>ein</strong>ere<br />
Wildkatzen wie die „Jaquaritica“ sind alle<br />
nachtaktiv <strong>und</strong> in der Wildnis nur sehr schwer<br />
auszumachen. Aber man kann sie gut im Zoo<br />
beobachten. In Manaus gibt es zwei sehr<br />
attraktive Zoos, die auch europäischen<br />
Maßstäben gerecht werden. Da werden<br />
<strong>ein</strong>heimische Tierarten in riesigen, artgerechten<br />
Käfigen gehalten. Die Affen leben auf eigenen<br />
Inseln <strong>und</strong> auch die hoch oben in den Ästen<br />
<strong>ein</strong>gerollte Riesenschlangen kann aus gebührend<br />
sicherer Distanz bew<strong>und</strong>ert werden.<br />
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Kriechen, summen <strong>und</strong> krabbeln<br />
Frisch geduscht – wie vergänglich, wie illusorisch<br />
ist hier die köstliche Frische <strong>ein</strong>es kalten Bades –<br />
bücke ich mich über m<strong>ein</strong>e Reisetasche <strong>und</strong><br />
mache ihre unerwartete Bekanntschaft. Sie<br />
inspizieren gerade m<strong>ein</strong> Gepäck! Es steht noch<br />
k<strong>ein</strong>e zehn Minuten hier <strong>und</strong> schon untersuchen<br />
sie es, Zoll für Zoll. Die Tasche könnte ja etwas<br />
Ess- oder sonst wie verwertbares enthalten. Es<br />
sind die kl<strong>ein</strong>sten Ameisen, die ich je gesehen<br />
habe, gelblich, fast transparent, winzig wie <strong>ein</strong><br />
Zuckerkorn.<br />
Außer den Menschen sch<strong>ein</strong>t das tropische Klima<br />
des Amazonas hier allen <strong>und</strong> allem gut zu<br />
bekommen. Die Luftfeuchtigkeit ist fast total, die<br />
Hitzen tropisch, in manchen Regionen gibt es <strong>ein</strong>,<br />
zwei, drei starke Regenfälle pro Tag. Das Wetter<br />
schlägt ständig <strong>und</strong> rasend schnell um. All das<br />
bietet <strong>ein</strong>en perfekten Brutkasten, <strong>ein</strong>e Ursuppe,<br />
<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigartigen Nährboden für die alles<br />
dominierende Natur, die daraus den <strong>ein</strong>zigartigen<br />
Kosmos <strong>Amazonien</strong> entwickelte.<br />
Am allerbesten bekommt das Klima wohl den<br />
Insekten. M<strong>ein</strong> Arm juckt. Kratze mich,<br />
unbewusst, automatisch. Dann schaue ich<br />
genauer hin. Der Übeltäter ist <strong>ein</strong> steifb<strong>ein</strong>iger<br />
Moskito. Ich schlucke zwei, dreimal leer.<br />
Gelbfieber, Malaria! Die wildesten Spekulationen<br />
jagen durch m<strong>ein</strong>en Kopf. Aber m<strong>ein</strong>e Gastgeber<br />
versichern mir s<strong>ein</strong>e Harmlosigkeit.<br />
Malaria infizierte Mücken gibt es hier in der Nähe<br />
schon lange nicht mehr. Trotzdem lehren mich die<br />
Moskitos das heilige Schaudern. Wie raffiniert <strong>und</strong><br />
spezialisiert sie sind! Später erklärt mir <strong>ein</strong><br />
Insektenforscher, das Phänomen „neues Blut“. Alle<br />
Touristen tappen in s<strong>ein</strong>e Falle. Genau wie den<br />
Vampiren, schmeckt den Moskitos nämlich neues<br />
Blut, Blut von Fremden, viel besser als das der<br />
Einheimischen. Die Einheimischen ihrerseits<br />
gewöhnen sich gezwungenermaßen an die<br />
Moskitostiche <strong>und</strong> reagieren viel weniger<br />
allergisch als <strong>ein</strong> dünnblütiges, dünnhäutiges<br />
Europäer-Bleichgesicht.<br />
Da gibt es zum Beispiel den Moskito mit dem<br />
transparenten Bauch. Darin <strong>ein</strong>gelagert, wie in<br />
<strong>ein</strong>em Minitank, das schon <strong>ein</strong>verleibte Blut. Ein<br />
lebender Minimessbecher zeigt den Pegelstand<br />
des Jagderfolgs. Ein anderer, winziger Moskito hat<br />
sich darauf spezialisiert, geduldige R<strong>und</strong>en ums<br />
Moskitonetz zu fliegen, bis <strong>ein</strong> Unglücklicher s<strong>ein</strong>e<br />
Hand oder <strong>ein</strong>en anderen unbedeckten Körperteil<br />
zu nahe ans Netz hält. Schwupps, s<strong>ein</strong> Spürsinn ist<br />
untrüglich, sticht er sofort zu. Gott sei Dank brennt<br />
s<strong>ein</strong> Stich nur kurz, dafür fürchterlich, schwillt<br />
dann aber rasch wieder ab.<br />
Manchmal werde ich, im Halbschlaf, doch noch<br />
von den fiebrigen Horrorvisionen heimgesucht.<br />
Malaria, Gelbfieber, Dengue. Siech <strong>und</strong> apathisch<br />
liege ich in <strong>ein</strong>er Hängematte, geschlagen mit<br />
irgend<strong>ein</strong>er dieser tückischen Tropenkrankheiten,<br />
dem sicheren Tod preisgegeben <strong>und</strong><br />
natürlich von <strong>ein</strong>er Mücke infiziert. N<strong>ein</strong>, fertig.<br />
Ich habe mich vor der Reise sehr genau<br />
informiert: Heutzutage braucht man k<strong>ein</strong>e<br />
Malariaprophylaxe mehr. Längst gibt es<br />
wirkungsvolle Medikamente, um die Krankheit zu<br />
heilen.<br />
Unter der Dusche, dem <strong>ein</strong>zigen mückensicheren<br />
Ort, kann ich mir die philosophische Frage nicht<br />
verkneifen: Wer hat sich hier wohl mit wem<br />
arrangiert? Die Insekten mit den Menschen oder<br />
die Menschen mit den Insekten? Die Toleranz<br />
jedenfalls sch<strong>ein</strong>t gegenseitig. Niemand macht<br />
sich die sinnlose <strong>und</strong> aussichtslose Mühe, die<br />
Plagegeister zum Beispiel vergiften zu wollen.<br />
Jeder behilft sich auf s<strong>ein</strong>e Art, entwickelt allerlei<br />
raffinierte Überlebenstricks, versucht den<br />
anderen zu überlisten, auszudribbeln: Die<br />
Menschenrasse bedient sich dabei der folgenden<br />
Strategien: Zucker, Honig, Kuchen, Früchte,<br />
<strong>ein</strong>fach alles, was lecker <strong>und</strong> süß schmeckt, wird<br />
im Kühlschrank aufbewahrt. In jedem Haus gibt<br />
es mehrere davon. Wird der Kuchen, aller<br />
Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, doch von den<br />
Ameisen <strong>ein</strong>genommen, wandert er <strong>ein</strong>fach für<br />
<strong>ein</strong>e halbe St<strong>und</strong>e ins Tiefkühlfach. Da sterben<br />
die Bestien mit dem unbetrügbaren Instinkt<br />
<strong>ein</strong>en grausamen Kältetod. Nachher werden sie<br />
abgeschüttelt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zeln herausgelesen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 235
Die Zuckerdose wird gr<strong>und</strong>sätzlich im Wasserbad<br />
serviert - Ameisen können bekanntlich nicht<br />
schwimmen.<br />
Als hätte das noch gefehlt, liefert mir <strong>ein</strong> achtlos<br />
auf den Boden getropfter Honigklecks <strong>ein</strong>en<br />
schlagkräftigen Beweis ihrer ständigen Sucht auf<br />
Süßes. In Windeseile verwandelt er sich in <strong>ein</strong><br />
wimmelndes Ameisenhäufchen. Verschwindet,<br />
hoch gebuckelt, Kristall um Kristall, blitzschnell in<br />
der nächsten Bodenritze. Andere, mehr oder<br />
weniger effektvolle Waffen sind der kalte Luftzug<br />
des Ventilators. Moskitos hassen Durchzug. Leise<br />
brummend tut der mit Vollgas laufende Ventilator<br />
doppelten Dienst, genauso wie <strong>ein</strong> banales<br />
Moskitonetz, sorgfältig an allen vier Ecken unter<br />
die Matratze gestopft, am Abend lange Hosen<br />
<strong>und</strong> Hemden mit langen Ärmeln. Denn gewonnen<br />
haben sie sowieso schon! Schlimmer sollen nur<br />
die winzigen Zecken s<strong>ein</strong>, von denen die erzählen,<br />
die sich bis zu den indigenen Stämmen vorwagen,<br />
oder in lauschige Waldseen, gar Dschungel<br />
marathons laufen, weit ab von der Zivilisation.<br />
Deren Stiche schwellen juckend an <strong>und</strong> heilen nur<br />
nach <strong>ein</strong>er Woche sie aus. So rächen sich die<br />
Tropen!<br />
welcher<br />
k<strong>ein</strong>e<br />
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Unsch<strong>ein</strong>bar unsichtbar<br />
Das ständige nervöse Kreuzen, die unzähligen<br />
disziplinierten <strong>und</strong> riskierten Überholmanöver<br />
gehen ohne den kl<strong>ein</strong>sten Stau oder gar lästige<br />
Verzögerungen vor sich. Der stetige Fluss stockt<br />
k<strong>ein</strong>e Sek<strong>und</strong>e. Emsig krabbelt <strong>und</strong> kribbelt es in<br />
alle Richtungen. Der Draht, eigentlich als<br />
Abschrankung <strong>und</strong> Hecke zwischen den<br />
Nachbarhäusern ausgespannt, dient<br />
verschiedenen Ameisenvölkern, sie leben hoch<br />
oben auf den Bäumen, als hochwillkommene<br />
Orientierung <strong>und</strong> viel befahrene Straße. Auch die<br />
Liane, die sich leicht gekurvt hinabsenkt, sich<br />
praktischerweise mit dem Draht kreuzt, fast bis<br />
auf den Boden reicht, ist geradezu überlastet,<br />
wird ständig emsig bekrabbelt, dient sozusagen<br />
als grüne Autobahn.<br />
Im brechenden Licht des Abends zeichnen sich<br />
tausend kl<strong>ein</strong>e, aufrechte Silhouetten gegen die<br />
bleich zuckerrosa Nachthimmel ab. Ob sie nie<br />
schlafen? Wahrsch<strong>ein</strong>lich gibt es ihrer zu viele.<br />
Manche, zum Beispiel die Blattschneiderameisen<br />
aus dem Gemüsebeet, überraschen mich jeden<br />
Tag aus neue mit dem nächtlichen Kahlschlag<br />
<strong>ein</strong>er andern Pflanze. Habe sie schon halbe<br />
Bäume nack tschlagen sehen. Die am Morgen<br />
noch herumliegenden, an den Rändern<br />
halbmondförmig angeknabberten Blätter zeugen<br />
von <strong>ein</strong>em Teamwork, das s<strong>ein</strong>esgleichen sucht.<br />
Ihr Werk, ihre Emsigkeit <strong>und</strong> ihre Effizienz sind<br />
bemerkenswert. Schneidet die Vorhut mit <strong>ein</strong>em<br />
<strong>ein</strong>zigen kräftigen Biss die Blattstiele durch,<br />
sodass die Blätter wie grüne, lautlose Segel <strong>ein</strong>s<br />
nach dem anderen als grüner Regen zu Boden<br />
sinken, wartet da schon die nächste Truppe,<br />
darauf spezialisiert, kl<strong>ein</strong>e, halbr<strong>und</strong>e Stücke aus<br />
den Blättern zu schneiden. Diese werden dann von<br />
äußerst emsigen Arbeiterinnen hochkant in den<br />
Stock getragen, gezerrt, gebuckelt, <strong>ein</strong>e<br />
Herkulesarbeit. Oft sind die Segel drei, viermal so<br />
groß wie die fingernagellangen Ameisen. Daselbst<br />
sind andere da, die sie in Pilzkulturen anlegen,<br />
verrotten lassen, was dann den Kreislauf schließt<br />
<strong>und</strong> den Nachwuchs ernährt.<br />
Blattschneiderameisen verachten auch Papier,<br />
Plastik, gar Silikon nicht. Was die Pilzkulturen<br />
allerdings damit anfangen, entzieht sich m<strong>ein</strong>er<br />
Kenntnis.<br />
Da auch die Luftfeuchtigkeit hier sehr hoch ist,<br />
finden auch kl<strong>ein</strong>e Pflanzen, <strong>ein</strong>e Art Bromelien,<br />
die sich normalerweise wie struppige Bärte in<br />
Bäume hängen, an den ausgespannten Drähten<br />
Gefallen. Irgendwie gelingt es denen, wohl vom<br />
Wind her gewehten Samen, sich am Draht<br />
festzukrallen, wo sie wachsen <strong>und</strong> gedeihen,<br />
ausgenommen asketisch, denn sie beziehen ihre<br />
Nahrung sozusagen aus der Luft. Mit der Zeit<br />
werden sie zu kl<strong>ein</strong>en, etwas unordentlich<br />
kugeligen Gebilden.<br />
Auch so putzige Tierchen wie die „Mucura“, wie<br />
die Beutelratte, das Opossum, hier genannt wird,<br />
rattenartig, aber fast katzengroß, nachtaktiv <strong>und</strong><br />
mit <strong>ein</strong>em elend langen, nackten Schwanz,<br />
zweckentfremden Drähte oder Telefonleitungen<br />
zu ihren Zwecken. Mit eigenen Augen konnte ich<br />
das Tierchen nach dem Einfallen der Nacht dabei<br />
beobachten, wie es zielsicher auf den nächsten<br />
Telegraphenmasten zulief, ihn gekonnt in<br />
Rekordzeit erklomm <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal oben<br />
angekommen wie <strong>ein</strong> schwereloser Seiltänzer auf<br />
dem Draht davonlief, immer weiter Richtung<br />
Stadtzentrum. All das mit solch <strong>ein</strong>er<br />
Selbstverständlichkeit, dass man hätte schwören<br />
können, dass sie das jeden Tag so mache, sehr<br />
genau wisse, wohin sie gelangen wolle.<br />
Auch im Strandhaus drin haben sich nette<br />
Tierchen angesiedelt. Sie sind zu dritt, allerdings<br />
von unterschiedlicher Größe. Als sozusagen<br />
perfekte Hausgenossen versorgen sie sich auch<br />
gleich selber. Rücke ich ihnen zu nahe auf die<br />
glänzende Pelle, weil ich ausgerechnet den Teller<br />
wegnehme, unter dem sie Zuflucht gesucht<br />
haben, verschieben sie sich geschickt seitlich<br />
unter das Abtropfgestell oder den Küchenherd,<br />
die ihnen wohl perfekt sch<strong>ein</strong>en, um ihre Haut<br />
immer angefeuchtet zu halten. Sie haben die<br />
Bromelien <strong>und</strong> Sümpfe gegen die nicht sehr gut<br />
ventilierte, schattige Küche des Hauses am<br />
Strand getauscht. Hier bieten unzählige<br />
feuchtwarme Nischen oder gar nasse Tücher,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 239
lieber nie liegen lassen, perfekte Verstecke.<br />
Wenn gar nichts mehr hilft, die Gefahr sozusagen<br />
lebensbedrängend wird, springen sie urplötzlich<br />
davon, w<strong>und</strong>erschöne, weite Saltos. Sch<strong>ein</strong>t es<br />
mir nur oder ist es wahr, dass ihnen dabei die<br />
halbr<strong>und</strong>en Glupschaugen noch etwas mehr aus<br />
vom Kopf heraus stehen? Sind sie größer,<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich eher <strong>ein</strong>e Kröte als <strong>ein</strong> Frosch,<br />
hüpfen sie oft nicht weg, wenn man ihnen zu<br />
sehr auf die warzige Pelle rückt. Sie drehen sich<br />
<strong>ein</strong>fach, sozusagen geniert, gegen die Wand.<br />
Vielleicht sind sie zu höflich, um zurück zu starren.<br />
Auch die leise raschelnden <strong>und</strong> f<strong>ein</strong> zirpenden,<br />
braunschwarzen Grillen, man sagt ihnen nach,<br />
dass sie Kleider <strong>und</strong> noch viel mehr fressen, sind<br />
sozusagen zusammen mit dem Haus angemietet.<br />
Sie geben scharrende Laute von sich <strong>und</strong> hassen<br />
es ganz besonders, wenn man ihre gemütlich<br />
dämmrige Behausung plötzlich mit Licht flutet.<br />
Zerstieben dann planlos in alle Richtungen.<br />
Tagsüber suchen sie in geschlossenen Schränken,<br />
unter der gefalteten Tischdecke oder <strong>ein</strong>em<br />
vergessenen Küchentuch Zuflucht.<br />
Da sind die Ameisen deutlich unbekümmerter,<br />
zielsicher. Sch<strong>ein</strong>en immer ganz genau zu wissen,<br />
wohin sie rennen, laufen, springen sollen <strong>und</strong><br />
welche komplexe Aufgabe als Nächstes von ihnen<br />
erwartet wird. Dass die nachtaktiven „Mucuras“<br />
sich auch in unserem Haus gut vermehren,<br />
können wir, den eiligen Schrittchen nach, nur<br />
vermuten. Manchmal haben wir auch das Gefühl,<br />
dass sie sich aus lauter Spielfreude über das flache<br />
Dach hinunterpurzeln lassen oder andere Fang<strong>und</strong><br />
Raufspiele spielen. Dass sie auch Früchte nicht<br />
verschmähen, sehen wir, als die draußen auf dem<br />
Esstisch vor sich hin reifende Mango plötzlich<br />
angebissen ist. Sie sch<strong>ein</strong>t heute den genau<br />
richtigen Reifegrad erreicht zu haben, denn<br />
irgendwelche Zähnchen haben sich in unserer<br />
Abwesenheit <strong>ein</strong> paar kräftige Happen<br />
herausgepickt oder gerissen.<br />
Ach übrigens, früher hielt man sich gegen die nicht<br />
sehr beliebten “Mucuras”, sie können, wenn sie<br />
angegriffen werden, <strong>ein</strong>e stinkende Flüssigkeit<br />
ausscheiden, <strong>und</strong> richten im Hühnerstall großen<br />
Schaden an, gegen Mäuse <strong>und</strong> Ratten im<br />
Dachstock ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e lokale Würgeschlange,<br />
die je nach Ernährungslage gut armdick<br />
werden konnte. Von den Schrecken <strong>ein</strong>flößenden<br />
Vogelspinnen allerdings befreite man sich ganz<br />
brutal mit offenem Feuer. Heute halten sich<br />
unsere Fre<strong>und</strong>e <strong>ein</strong>e gleich über der Tür als<br />
Hausgenossin <strong>und</strong> wir haben <strong>ein</strong>e Tarantel im<br />
Dach des Eingangstores. Sie streckt manchmal <strong>ein</strong><br />
paar ihrer zottigen B<strong>ein</strong>e aus ihrem Unterschlupf<br />
nach draußen.<br />
Ein Umdenken findet statt, denn die Spinnen sind,<br />
wie das Zwillingspaar w<strong>und</strong>erschön<br />
zusammengefalteter Fledermäuse, das sich<br />
versteckt unter den Dachgiebel gehängt hat,<br />
überaus nützlich: besonders die Fledermäuse,<br />
aber auch die Kröten lieben grell brennenden<br />
Glühbirnen oder Straßenlaternen, da die<br />
unendlich viele Mücken <strong>und</strong> andere Insekten<br />
anziehen, die sie dann in elegantem Flug<br />
zielsicher nur noch verschlingen müssen. Viele<br />
der Fledermäuse sind allerdings Pflanzenbestäuber<br />
oder helfen mit, die Arten zu<br />
versamen. Der Ingá zum Beispiel wird von<br />
Fruchtfressenden Fledermäusen verbreitet.<br />
S<strong>ein</strong>e langen Bohnen brechen in der Nacht auf.<br />
Legen die von leckerem Fruchtfleisch umhüllten<br />
Samen frei, die die Fledermäuse zusammen mit<br />
den Kernen sehr gerne verspeisen. Und irgendwo<br />
wird dann <strong>ein</strong> neuer Ingá sprießen, verdaut <strong>und</strong><br />
verbreitet von <strong>ein</strong>er unsch<strong>ein</strong>baren, fast<br />
unsichtbaren Fledermaus.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 240
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 241
Die Wespe<br />
Eine fremde Hand hält mich fürsorglich zurück.<br />
Weist aufgeregt auf m<strong>ein</strong>e Brust. Da prangt, am<br />
Rande m<strong>ein</strong>es Blickfeldes, <strong>ein</strong> geflügeltes<br />
Höllentier! Bin nicht irgendwo im Dschungel, n<strong>ein</strong>,<br />
bin mitten in Manaus. Geistesgegenwärtig<br />
bugsiere ich das W<strong>und</strong>erexemplar auf den allzeit<br />
bereiten Regenschirm. Wozu der nicht alles gut<br />
ist! Und rette es so vor dem sicheren Tod.<br />
Entsetzt sehen die Umstehende zu. Auf Armlänge<br />
weggehalten, lässt es sich gar fotografieren, bevor<br />
es sich schwupps, brumsend auf <strong>und</strong> davon<br />
macht.<br />
Das geklaute Bild, w<strong>und</strong>ersamerweise sogar<br />
scharf, erlaubt es mir, das exotische Insekt, ich<br />
halte es für <strong>ein</strong>en Schmetterling, immer wieder<br />
anzusehen. Die groß-länglichen Flügel, vom<br />
Ansatz bis zur Hälfte gelb, der Rest schwarz mit<br />
zwei gelben unregelmäßig konturierten<br />
Warnflecken, bilden <strong>ein</strong> perfektes<br />
gleichschenkliges Dreieck, das im spitz<br />
zulaufenden Kopf endet. Der zweigliedrige, türkis,<br />
gelb <strong>und</strong> seitlich rot gezeichnete Leib erinnert<br />
etwas an <strong>ein</strong>e Fliege. Also was denn nun?<br />
Vielleicht <strong>ein</strong>e Schmetterfliege?<br />
Fliege noch Schmetterling. Er tippt auf <strong>ein</strong>e<br />
Wespe. Wespen sch<strong>ein</strong>en sich, wie k<strong>ein</strong> anderes<br />
Insekt, aufs Handwerk des Imitierens, Kopierens<br />
<strong>und</strong> Täuschens zu verstehen. M<strong>ein</strong>e Wespe<br />
täuscht nun, mich <strong>und</strong> natürlich ihre F<strong>ein</strong>de,<br />
indem sie vorgibt, <strong>ein</strong> ungenießbares oder gar<br />
giftiges Insekt zu s<strong>ein</strong>.<br />
Was mich an der ganzen Lektion allerdings am<br />
meisten be<strong>ein</strong>druckt: Auch der Spezialist kennt<br />
sich nicht aus. Es gibt <strong>ein</strong>fach zu viele, zu viel<br />
ähnliche Insekten hier im Amazonas. Es soll die<br />
ungeheure Zahl von 60.000 schon beschriebenen<br />
<strong>und</strong> geschätzten 180.000 noch wissenschaftlich zu<br />
erfassenden noch zu „entdeckenden“ Arten<br />
geben. Jedes Jahr werden neue Arten, Unterarten<br />
usw. identifiziert <strong>und</strong> nicht von ungefähr heißt es,<br />
dass es die Insekten sind, die uns alle überflügeln,<br />
Pardon, überleben werden.<br />
Interessanterweise gelingt es auch <strong>ein</strong>em,<br />
Digitalfoto sei Dank, konsultierten<br />
Insektenspezialisten nicht, dem w<strong>und</strong>erschönen<br />
Flieger ohne detaillierte Nachforschungen <strong>ein</strong>en<br />
Namen zu geben. Allerdings ist das Insekt weder<br />
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S<strong>ein</strong>e Majestät, der Aasgeier<br />
Die meterlange Würgeschlange, sie liegt tot am<br />
Strand, ignorieren sie. Zwei, drei Tage lang lassen<br />
sie sie, vielleicht aus Vorsicht, zur Abschreckung?<br />
liegen, obwohl sie gleich daneben ihre<br />
Schlafbäume haben. Dann, am dritten oder<br />
vierten Morgen sind nur <strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>zelne<br />
knöcherne Ringe von ihr übrig. Die Aasgeier,<br />
“Urubu” genannt, hier im Amazonas so<br />
allgegenwärtig wie unbeliebt, haben mal wieder<br />
ganze Arbeit geleistet. Unelegant sind nur ihre<br />
Hopser, dann, wenn sie sich unentschieden in<br />
seitlichem Krebsgang entfernen. Sie wahren<br />
respektvolle Distanz. All zu nah soll man ihnen<br />
nicht kommen. Heben sie dann aber ab, ihre<br />
Schwingen, deren Spitzen an geschlossene Hände<br />
erinnern, mit dem trockenen Knall <strong>ein</strong>es sich<br />
öffnenden Fächers aufschlagen, werden sie zu<br />
ihrer Majestät, dem Aasgeier. Segeln mühelos<br />
dahin, st<strong>und</strong>enlang, hoch in der Luft in weit<br />
ausgreifenden Kreisen, im Blick schon die nächste<br />
Müllhalde, das nächste Aas. Übersicht ist alles.<br />
Vorsichtig lassen sie sich auf <strong>ein</strong>em Mast oder<br />
<strong>ein</strong>er Straßenlaterne nieder. Ist k<strong>ein</strong> Futter in<br />
Sicht, segeln, kurven, ziehen sie weiter über die<br />
Himmel. Selten sind sie all<strong>ein</strong>e anzutreffen. Ihr<br />
charakteristische flacher Kopf endet in der<br />
geraden Linie des starken Schnabels, der jeden<br />
Knochen des Kadavers bricht.<br />
Besonders appetitlich sind sie, wenn sie, wie in<br />
der zentralen Markthalle, vom Drahtgitter auf das<br />
offenliegende Fleisch <strong>und</strong> die Käufer<br />
Herunter stieren. Wen w<strong>und</strong>ert´s, dass sie laut<br />
Volksm<strong>und</strong> Unglück bringen sollen, schwarz wie<br />
sie sind. Komischerweise sind sie aber, frisch<br />
geschlüpft, geheimnisvoll weiß!<br />
Wenigen sch<strong>ein</strong>t klar zu s<strong>ein</strong>, wie wichtig ihre<br />
“Arbeit” für das ökologische Gleichgewicht ist.<br />
Einige haben sich längst, ihr Territorium wird<br />
immer mehr <strong>ein</strong>geschränkt, auf den immer<br />
verfügbaren Hausmüll spezialisiert. Nicht mal die<br />
ingeniöse Mülltonne aus sechs r<strong>und</strong>en,<br />
ausrangierten Ventilatorengittern zu <strong>ein</strong>er Art<br />
surrealem Würfel zusammengeb<strong>und</strong>en, hält sie<br />
davon ab, die leckersten Dinge in den Abfallsäcken<br />
aufzuspüren <strong>und</strong> sich sogleich <strong>ein</strong>zuverleiben. Ja,<br />
die Mülltonnen. Viele stellen aus purer<br />
Bequemlichkeit die schlecht zusammengeb<strong>und</strong>enen,<br />
windigen Einkaufstüten voller Abfälle<br />
<strong>ein</strong>fach daneben. Eine Einladung an <strong>ein</strong><br />
unfehlbares Team aus Straßenkötern, viele haben<br />
<strong>ein</strong>en Besitzer, <strong>und</strong> den Aasgeiern. Ist die Nase der<br />
H<strong>und</strong>e nicht schlecht, ist der Geruchssinn der<br />
Aasgeier wohl unvorstellbar, übertroffen nur vom<br />
wahrhaft standhaften Rossmagen. Denn wo es<br />
Müll gibt, stoßen sie unfehlbar in ihrem eleganten<br />
Flug herunter.<br />
Im hintersten Hinterland ist das Zusammenleben<br />
mit den schwarzen Vögeln noch intimer. In so<br />
manchem sandig trostlosen Hinterhof tummeln<br />
sich zwischen glücklich frei laufenden Hühnern<br />
<strong>und</strong> Enten auch <strong>ein</strong> paar besonders schwarze<br />
Exemplare. Mischen sich zwischen ihre<br />
domestizierten Artgenossen, teilen sich die paar<br />
Obstbäumen <strong>und</strong> die runtergefallenen<br />
Kokosnüsse.<br />
Besser wohl nur der „Urubu Malandro“, sowas<br />
wie <strong>ein</strong> cleverer Tunichtgut, den Dona Onete, die<br />
große alte Dame des Carimbós, mit dem ihr<br />
eigenen Humor besingt. Sie schildert musikalisch,<br />
wie der clevere Hans-Dampf-in-allen-Gassen sich<br />
die allzeit zu jedem Flirt bereite, „Garça Namoradeira“,<br />
die flitterhafte Reiherin anlacht. Und<br />
wie ihm das nie erlahmende, etwas ordinäre<br />
Gewühl des „Ver-o-peso“, des zentralen Markts<br />
in Belém auf <strong>ein</strong>mal auf den Geist geht. Er wietete<br />
s<strong>ein</strong>e Kreise <strong>und</strong> versucht s<strong>ein</strong> Glück auf der<br />
Insel Marajó. In kurzer Zeit aber bereut er s<strong>ein</strong>en<br />
Ausflug. Marajó ist ihm viel zu beschaulich, ohne<br />
Betrieb, Getümmel <strong>und</strong> Abwechslung <strong>und</strong> so<br />
kehrt er reumütig mitten ins den „Pitiu“, sowas<br />
wie <strong>ein</strong> stinkendes Getümmel zurück. Da<br />
erkämpft er sich immer <strong>ein</strong>en Happen.<br />
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Fischreichtum, praktisch unbekannt<br />
Auch die amazonischen Fische, <strong>ein</strong> Reichtum<br />
sondergleichen, sind so gut wie unsichtbar. Man<br />
kann sie, leider, leider, nur auf dem Fischmarkt<br />
bew<strong>und</strong>ern. Leider, leider schon tot. Was ihrer<br />
Schönheit <strong>ein</strong>igen Abbruch tut, denn unter<br />
Wasser kommen all die aufgestellten, komplexen<br />
Flossengebilde, <strong>ein</strong>ige leicht wie Spinnweben, die<br />
schillernden Schuppen, die w<strong>und</strong>ersamen<br />
Körperformen <strong>und</strong> die w<strong>und</strong>erbaren Zeichnungen<br />
noch viel besser zur Geltung. Dass die amazonischen<br />
Fische international optisch mithalten<br />
können, zeigt sich in vielen Aquarien auf der<br />
ganzen Welt. In denen schwimmen „Peixes<br />
ornamentais“, Zierfische aus dem Amazonas. Sie<br />
stellen ihre strahlenden Farben, die unterschiedlichsten<br />
Zebrastreifen, die bunten Augen<br />
<strong>und</strong> dekorativen Zeichnungen effektvoll zur<br />
Schau.<br />
Ansonsten aber weiß man noch erstaunlich<br />
wenig. Die Wissenschaft ist sich nicht mal über die<br />
Zahl der Arten <strong>ein</strong>ig. Sprechen die <strong>ein</strong>en von<br />
unvorstellbaren 2.000 bis 3.000 Arten, gehen<br />
andere von der Schätzung von 5.000 aus. Es sollen<br />
1/5 aller bekannten Fische in der Amazonasregion<br />
leben, die große Mehrheit ist wenig oder gar nicht<br />
erforscht. Man kennt eigentlich nur die<br />
sensationellen Fische wie die „Piranhas“ oder der<br />
Elektrische Aal. Erstere sind zu Unrecht<br />
verschrien, denn von den 35 Arten, 17 davon<br />
leben im Amazonas, sind gerade nur 3 gefährlich<br />
kannibalisch <strong>und</strong> auch das nur unter extremen<br />
Umständen mit <strong>ein</strong>em aus dem Gleichgewicht<br />
gebrachten Umfeld oder in <strong>ein</strong>em Tümpel<br />
<strong>ein</strong>gekesselt vom Niederwasserstand.<br />
Bekannt sind auch die Speisefische. Es gibt so viele<br />
verschiedene davon, dass schon der schweizer<br />
Naturforscher Luiz Rodolphe Agassiz, er bereiste<br />
Brasilien in den Jahren 1817-1820 feststellte, dass<br />
man hier mehrere Jahre hinter<strong>ein</strong>ander jeden Tag<br />
<strong>ein</strong>en anderen Fisch essen könnte, ohne sich so<br />
schnell zu wiederholen. Leider ist aber das<br />
Gegenteil der Fall <strong>und</strong> der Konsum von Fisch<br />
beschränkt sich auf <strong>ein</strong> paar wenige Arten, die<br />
deshalb zum Teil schon in Gefahr sind, die<br />
Bestände überfischt, wie der riesige „Pirarucu“<br />
oder der gigantische „Filhote“. Letzterer wird<br />
zärtlich „Söhnchen“ genannt, denn nur über 60 kg<br />
wird er zum „Piraíba”. Der überaus leckere <strong>und</strong><br />
beliebte “Pirarucu” wird teilweise schon in<br />
Fischfarmen gezüchtet, was s<strong>ein</strong>e Art wohl vor<br />
dem Aussterben retten wird, genauso wie der<br />
fette „Tambaqui“. Letzterer kommt nur noch<br />
selten aus freier Wildbahn auf den Markt.<br />
Die Fische aus den amazonischen Gewässern sind<br />
nicht nur schön, sondern haben auch äußerst<br />
interessante Gewohnheiten. Da gibt es den<br />
„Aruanã“, auch „Macaco d‘ água“, Affe des<br />
Wassers, genannt. Eine Art Urfisch, schnellt er<br />
s<strong>ein</strong>en stromlinienförmigen athletischen Körper<br />
mit den riesigen Schuppen <strong>und</strong> dem weiten Maul<br />
kraftvoll mehr als <strong>ein</strong>en Meter aus dem Wasser,<br />
um s<strong>ein</strong>e Beute, <strong>ein</strong> Insekt oder so direkt vom<br />
Zweig zu erhaschen. Kurioserweise beschützt der<br />
männliche Fisch s<strong>ein</strong>e Brut damit, dass er ihnen<br />
in s<strong>ein</strong>em Maul Zuflucht gibt. Andere Fische wie<br />
der „Tucunaré“ sind bei Sportfischern genauso<br />
beliebt wie auf dem Teller. Den Sportfischern gilt<br />
der w<strong>und</strong>erschön farbig gezeichnete „Tucunaré“<br />
als ebenbürtiger Gegner. Er ist nicht nur<br />
imstande rückwärts zu schwimmen, sondern<br />
auch <strong>ein</strong> unermüdlicher Kämpfer, der nicht so<br />
schnell aufgibt. Eine ganz anders Seite enthüllt<br />
er, wenn es um s<strong>ein</strong>e Jungen geht. Für die baut<br />
er zusammen mit s<strong>ein</strong>er Partnerin zwischen<br />
Wurzeln <strong>und</strong> Ästen <strong>ein</strong> Nest, wo er s<strong>ein</strong>en<br />
Nachwuchs drei Monate lang beschützt.<br />
Manche Fische nehmen riesenlange Migrationen<br />
auf sich, um sich genau da zu reproduzieren, wo<br />
sie selber geboren wurden <strong>und</strong> andere sind im<br />
Salzwasser der Meere genauso zu Hause wie im<br />
Süßwasser der amazonischen Flüsse. Andere sind<br />
schuppenlos, sogenannte „Peixes de Couro“,<br />
Fische mit Lederhaut, viele mit extrem schöner<br />
Zeichnung wie der „Surubim“. Auch sie könnten<br />
riesig werden, wie der „Filhote“, aber auch ihre<br />
Bestände sind überfischt. Andere, kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />
dekorativ, haben den Magen voller Sand, den sie<br />
fressen, um sich von den darin enthaltenen<br />
pflanzlichen Rückstände zu ernähren wie die<br />
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„Chaparema“ oder der „Papa terra“, der<br />
Sandfresser. Der „Tambaqui“, mit von den<br />
beliebtesten Speisefischen, legt sich s<strong>ein</strong>e<br />
Fettschicht zu, indem er sich ausschließlich von<br />
sehr fett- <strong>und</strong> ölhaltigen Samen <strong>und</strong> Palmfrüchten<br />
ernährt. Die zermalmt er mit s<strong>ein</strong>en potenten<br />
Kinnladen <strong>und</strong> trägt so viel zur Verbreitung allerlei<br />
Palmenarten bei.<br />
Gefürchtet ist der Stachel der Stachelrochen, die<br />
sich gerne im Sand <strong>ein</strong>graben <strong>und</strong> da, <strong>ein</strong>mal<br />
aufgeschreckt, den F<strong>ein</strong>d mit <strong>ein</strong>em giftigen<br />
Stachel voller Widerhaken stechen, <strong>ein</strong> klassischer<br />
Unfall an <strong>ein</strong>samen amazonischen Stränden. Dass<br />
sie aber w<strong>und</strong>erschön gezeichnet sind <strong>und</strong><br />
faszinierend, wenn sie sich wellenförmig davon<br />
machen, kann man nur im Aquarium sehen. Denn<br />
<strong>ein</strong>mal tot ist ihr Kadaver eher schauerlich. Er<br />
wird schon ohne den gefährlichen Schwanz<br />
angeliefert <strong>und</strong> sogleich zu Filets verarbeitet.<br />
Auch andere Fische, vor allem die großen, kann<br />
man nur mit Glück intakt sehen. Besonders Fische<br />
mit Lederhaut wie der „Jaú“ oder die „Pirarara“<br />
haben tonnenschwere Köpfe, die aus <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong>zigen Knochenplatte bestehen. Meist werden<br />
sie deshalb schon kopflos angeliefert. Exotischer<br />
wohl nur die Urfische, die statt Gräten <strong>ein</strong>en<br />
Knochenpanzer haben. Die „Cujuba“ oder der<br />
w<strong>und</strong>erschön farbig gestrohmte „Bacu“ zum<br />
Beispiel haben auf dem Rücken <strong>und</strong> an der Seiten<br />
messerscharfe Widerhaken zeigen <strong>und</strong> ihren<br />
Körper mit <strong>ein</strong>er Art Panzer aus Knochenscheiben<br />
schützen, die an die Rüstung mittelalterlicher<br />
Ritter erinnern. Auch die „Acari-Bodos“,<br />
w<strong>und</strong>erschön ornamentiert, sind gewöhnungsbedürftig.<br />
Sie verfügen über zwei Atmungssysteme<br />
<strong>und</strong> können mit ihren Lungen st<strong>und</strong>enlang<br />
außerhalb des Wassers überleben. Eine Taktik, die<br />
ihnen im Niederwasser zu Gute kommt oder dann,<br />
wenn sie sich von <strong>ein</strong>em austrocknenden Tümpel<br />
zum nächsten durch den Schlamm winden. Sie<br />
kommen in ganz Brasilien vor <strong>und</strong> ernähren sich<br />
von organischen Abfällen. Auch der kl<strong>ein</strong>e<br />
“Tamoata” erinnert an <strong>ein</strong>en tapferen Ritter. S<strong>ein</strong>e<br />
Knochenplatten sind im Fischgrätmuster<br />
angeordnet, was ihm <strong>ein</strong> vorsintflutliches<br />
Aussehen gibt. Die aalartige, schlüpfrig schleimige<br />
“Traira”, sie schmeckt ausgezeichnet, ist gar für<br />
<strong>ein</strong> Sprachbild gut. Eine Person, die “Traira” ist, ist<br />
so schlüpfrig <strong>und</strong> hinterhältig wie der Fisch. Denn<br />
es gelingt ihr, sich um sich selber zu drehen <strong>und</strong><br />
blitzschnell mit ihrem scharfen Gebiss zuzubeißen.<br />
Auch Krustentiere leben in den Süßwassern der<br />
hiesigen Flüsse. Da wo es Mangues gibt, leben<br />
leckere Krebse. Sie werden, zu langen Schnüren<br />
zusammen geb<strong>und</strong>en, von Kindern am<br />
Straßenrand feilgeboten, wobei sie hilflos<br />
verzweifelt die kräftigen Zangen hin <strong>und</strong> her<br />
bewegen, oder gar im Supermarkt<strong>ein</strong>kaufswagen,<br />
<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Gewimmel, von <strong>ein</strong>em abgerissenen<br />
Verkäufer auf dem samstäglichen Markt. Neben<br />
den Shrimps gibt es an zwei Stellen im Amazonas<br />
auch die wohl kl<strong>ein</strong>ste Krabbe der Welt. Ein nicht<br />
mehr als 8 Millimeter lange Winzling wird in<br />
ufernähen Zonen in riesigen Netzen aus dem<br />
Fluss gefischt. Er ist nur <strong>ein</strong> paar Monate pro Jahr<br />
erhältlich, dann tragen ihn die Strömungen<br />
wieder davon. Wirklich <strong>ein</strong>e faszinierende, kaum<br />
erforschte Wasserw<strong>und</strong>erwelt.<br />
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Am<br />
Strand <strong>Amazonien</strong>,<br />
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Am Strand<br />
Ein perfekter Sonntag 269/270<br />
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Ein perfekter Sonntag<br />
Die klaren, großen Himmel weiten sich endlos bis<br />
zum Horizont. Die tiefen Wolken driften, leicht<br />
<strong>und</strong> klar. Wirken wie hingepinselt, in weißen,<br />
panoramisch lang gezogenen Schlieren.<br />
Schweben, diffus <strong>und</strong> weichr<strong>und</strong>, <strong>ein</strong>e Handbreit<br />
über der Wasserlinie. Der unberührt sch<strong>ein</strong>ende<br />
Regenwald, in sich geschlossenes Grün, erhebt<br />
sich kaum sichtbar, <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, weit gezogene<br />
Ebene. Am Ende <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelner Hügel, abgeflacht,<br />
<strong>ein</strong> Vulkankegel. Die Sandbank hat die Form <strong>ein</strong>er<br />
Sichel; purer, weißer Zucker, <strong>ein</strong>er f<strong>ein</strong>en, sich in<br />
der Mitte verbreiternden, kristallenen Linie<br />
entlang hingestreut.<br />
Der Fluss Tapajós, zahmträger Strom, weit, fast<br />
<strong>ein</strong> Meer, spiegelt das Blau des Himmels um <strong>ein</strong><br />
paar Nuancen dunkler zurück. Dreißig, vierzig<br />
Schiffchen liegen wartend auf der Lauer,<br />
starkblaue <strong>und</strong> fröhliche Ruderboote mit<br />
sauberem, weißem Rand. Das starke Orange der<br />
Rettungswesten leuchtet. Der brennenden<br />
Tropensonne dieses überperfekten Sonntags ist<br />
es noch nicht gelungen, ihnen ihre Strahlkraft<br />
auszubleichen.<br />
Vom Hafen, nicht mehr als <strong>ein</strong>e betonierte<br />
Uferpromenade, die in vielen Stufen bis zur<br />
Wasserlinie abfällt, erklingen hell die spitzen,<br />
kicksenden Schreie der Mädchen in allen<br />
Altersstufen. Die knackig-mollige Haut in<br />
Karamelltönen von knappsten Shorts <strong>und</strong><br />
winzigsten Blüschen freizügig zur Schau gestellt,<br />
versuchen sie höchst animiert <strong>und</strong> fröhlich das<br />
Schaukeln der kl<strong>ein</strong>en Boote auszugleichen.<br />
Schwanken, die Rettungsweste ist hinderlich,<br />
erkämpft sich jede <strong>ein</strong>en passenden Sitzplatz. Alle<br />
noch vorsichtig etwas zurecht gerückt – die<br />
Überfahrt kostet nur <strong>ein</strong> paar wenige Reais. Die<br />
Haut der Ruderer, alle in weißen T-Shirts <strong>und</strong><br />
blauen Bermudas, <strong>ein</strong>zig die Schirmmützen<br />
setzten <strong>ein</strong>zelne Farbtupfer, hat die Sonne die<br />
Haut gebrannt. An den Wochentagen gehen sie<br />
anderen Beschäftigungen nach, sind Maurer,<br />
Elektriker oder Fischer, das sonntägliche Zubrot ist<br />
jedem Willkommen.<br />
Eine gute halbe St<strong>und</strong>e von Santarém entfernt<br />
liegt Alter do Chão mit jenem paradiesischen<br />
Strand, der Insel der Liebe heißt, „Ilha do Amor“.<br />
Noch ist der Weiler in der Hand der Einheimischen,<br />
<strong>ein</strong>iger ausländischer Späthippies <strong>und</strong><br />
immer mehr Aussteigern, die hier <strong>ein</strong> ruhigeres<br />
Leben suchen. Aber die Kreuzfahrtschiffe haben<br />
s<strong>ein</strong>e Schönheiten schon entdeckt. Sie ankern weit<br />
draußen. Spucken im Wochentackt ihre gelbe<br />
Schlauchboote aus, die ihre bleiche Touristenfracht<br />
am überdimen-sionalen Bootssteg<br />
ausschütten. Die überschwemmen dann für <strong>ein</strong>e<br />
halbe abenteuerliche <strong>und</strong> tropisch-heiße St<strong>und</strong>e<br />
den stillen Flecken. Die beste Jahreszeit ist im<br />
Januar, da sind die Wasser tief <strong>und</strong> die<br />
freigelegten Strände w<strong>und</strong>erbar weiß. Der zentrale<br />
Platz, nackt <strong>und</strong> zubetoniert, geziert von <strong>ein</strong> paar<br />
Palmen, verlängert sich zur Linken, täuscht <strong>ein</strong>en<br />
Uferspaziergang vor. In die mittlere Stufe ist <strong>ein</strong>e<br />
öffentliche Toilette <strong>ein</strong>gebaut. Fünfh<strong>und</strong>ert<br />
Meter weiter dem Strand entlang gibt es <strong>ein</strong><br />
überdimensioniertes, massives Deck, das ins<br />
Nichts geht, der Wasserstand ist zu tief. Ein<br />
typisches Mammutbauwerk aus öffentlichen<br />
Geldern, am Ende <strong>ein</strong>er Amtszeit hochgezogen<br />
<strong>und</strong> unter viel Pomp <strong>ein</strong>geweiht.<br />
Aber heute ist k<strong>ein</strong> Schiff angesagt <strong>und</strong> der<br />
Hauptplatz siedet vom sonntäglichen<br />
Lokaltourismus. Zwischen die Süßigkeitenverkäufer<br />
<strong>und</strong> die Stände mit „Tacacá“ <strong>und</strong> Eis<br />
mischen sich Hilux <strong>und</strong> andere geländegängige,<br />
hochrädrige Riesenschlitten. Die fahren die<br />
Einheimischen so gerne zur Schau, am liebsten<br />
fast bis in die Baracken <strong>und</strong> Restaurants hin<strong>ein</strong>.<br />
Das viele Bier <strong>und</strong> die lokalen Souvenirs stehen<br />
heute, es ist Sonntag, ganz den Lokalen zur<br />
Verfügung.<br />
Aber zuerst wollen alle übergesetzt werden.<br />
Steigen hinunter bis auf den Sand, nässen sich<br />
die Füße am Fuß der großen Treppe, die der tiefe<br />
Wasserstand freigelegt hat. Drüben wartet der<br />
ultraweiße Stand, die traditionellen,<br />
palmblättergedeckten Kioske, <strong>ein</strong>e Caipirinha,<br />
<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Mahl. Der lokale Fisch ist<br />
normalerweise frisch.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 269
Die Überfahrt , <strong>ein</strong> Sprung nur. – „Ich lasse sie an<br />
den hinteren Kiosken, die sind nicht so<br />
überlaufen.“ - Nur selten schwimmt <strong>ein</strong>er<br />
herüber. Der Sand glüht sich durch die bloßen<br />
Sohlen. Die Sonne dörrt kerzengerade vom<br />
Himmel, aber der Caipirinha ist gut <strong>und</strong> das Klima<br />
extrem familiär.<br />
Im Schatten des Kiosks schläft in der türkisfarbenen<br />
Hängematte mit der w<strong>und</strong>erschönen,<br />
breiten Häckelspitze unbehelligt <strong>ein</strong> dickliches,<br />
fast nacktes Kl<strong>ein</strong>kind. Die blutjunge Mutter<br />
genießt die paar ungestörten Minuten. Erzählt<br />
ihrer Mutter, das Handy verkürzt die Distanzen<br />
ungem<strong>ein</strong> <strong>und</strong> ist praktischerweise überall zur<br />
Hand, haarkl<strong>ein</strong> alles <strong>und</strong> noch mehr. Erzählt vom<br />
w<strong>und</strong>erschönen Haus. Ja, schon bald werde sie<br />
<strong>Foto</strong>s davon ins Netz stellen. - Nehme, ob ich will<br />
oder nicht, an den intimsten Details des vor mir<br />
ausgebreiteten Familienlebens teil, besonders<br />
weil die Musik erstaunlich leise ist <strong>und</strong> die<br />
Mehrheit der Gäste das schattige Dach des Kiosks<br />
verschmäht <strong>und</strong> sich lieber in der von den<br />
amazonasbank-grünen Sonnenschirmen nur<br />
teilweise abgehaltene Sonne brät, die alle ganz<br />
hart an der Wasserlinie stehen. Die Stühle <strong>und</strong><br />
Tische aus rotem oder weißem Plastik,<br />
brasilianisches Einheitsdesign, stehen zur Hälfte<br />
im Wasser. Es leckt den Gästen in lächerlich<br />
kl<strong>ein</strong>en, ständigen Wellchen die Füße.<br />
Schon kommt der Fisch, <strong>ein</strong>e Hälfte nur, vom Kopf<br />
her der Länge nach in zwei identische Hälften<br />
ausgeschnitten. Köstlich. Dazu viel Vinagrette, <strong>ein</strong><br />
klitzekl<strong>ein</strong> gehackter Salat. Nachspeise gibt es<br />
k<strong>ein</strong>e, n<strong>ein</strong>, leider.<br />
Es ist schon Nachmittag <strong>und</strong> da drüben erhebt sich<br />
der Patriarch. Der Strandaufenthalt ist zu Ende!<br />
Das verwöhnte Mädchen, das sich über alles<br />
beschwert <strong>und</strong> ununterbrochen die grellbunten,<br />
synthetischen Schleckereien, die die vorsorgliche<br />
Mutter mitgebracht hat, in sich hin<strong>ein</strong> stopft, tut<br />
k<strong>ein</strong>en Mucks. Unter ausufernden Symphathiebezeugungen<br />
verabschiedet sich die gehorsame<br />
Ehefrau von der neu gewonnenen Fre<strong>und</strong>in, mit<br />
der sie den ganzen Tag lang wertvolle Rezepte <strong>und</strong><br />
hochinteressante Informationen über andere<br />
schöne Orte teilte. Missgestimmt erwacht der<br />
kl<strong>ein</strong>e Junge in der Hängematte. Die junge Mutter<br />
versucht ihn, ohne nennenswerten Erfolg, zu<br />
beruhigen.<br />
Wie aus dem Boden gestampft steht plötzlich der<br />
andere, bis dahin unsichtbare Patriarch da, der das<br />
Oberhaupt des kl<strong>ein</strong>en Klans zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t.<br />
Wortlos, nur mit dem Wink des Kopfes befielt er<br />
den Aufbruch. Setzt ihn selber sogleich in die Tat<br />
um. Geht in Richtung der Boote. Stolz folgt ihm<br />
s<strong>ein</strong> ältester Sohn. Ohne die geringste Widerrede<br />
gehorchen die Frauen, machen sich emsig ans<br />
Aufräumen <strong>und</strong> Zusammentragen der verstreuten<br />
Habseligkeiten. Nehmen die beiden<br />
Hängematten ab, rollen sie ganz eng <strong>ein</strong>. Gott sei<br />
Dank habe ich der Versuchung widerstanden,<br />
mich darin zu Schaukeln. Dachte, die gehörten<br />
zum Kiosk.<br />
Halt! Die ganze Einrollerei nochmal von vorne.<br />
Noch fester <strong>und</strong> enger zusammengepresst, sonst<br />
passt sie nicht ins Futteral. Das Babygeschrei,<br />
bisher immer sofort erhört, stößt auf taube<br />
Ohren.<br />
Später brechen auch wir auf. Gehen <strong>ein</strong> langes<br />
Stück dem Strand entlang. Sehen das Verlangen<br />
im Blick des kl<strong>ein</strong>en Jungen. Er wirft <strong>ein</strong>en<br />
letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Pedalos,<br />
aufgeplusterte weiße Schwäne, die hoch<br />
aufgeschwungenen Hälse Lackschwarz <strong>und</strong> die<br />
Schnäbel rot. Diese Spazierfahrt muss er sich<br />
wohl für <strong>ein</strong>en anderen, nicht weniger<br />
strahlenden, nicht weniger perfekten Sonntag<br />
aufheben.<br />
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Zu<br />
Schiff<br />
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Zu Schiff<br />
Seefahrers erste Reise 289-291<br />
Fast im Paradies 299<br />
Am Kai 306-308<br />
Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die Glorie Gottes 311<br />
Der Kapitän 315/316<br />
Der Dolarsch<strong>ein</strong> 318<br />
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Seefahrers erste Reise<br />
Die “Lady Christina”, was für <strong>ein</strong> klangvoller<br />
Name, sticht aus dem Hafen. Langsam rückt die<br />
abgeflachte Silhouette von Manaus weg, auch auf<br />
Distanz nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e modern-hässliche<br />
Allerweltsgroßstadt. Wende mich praktischeren<br />
Dingen zu. - Gott, wie unpraktisch! – Erst jetzt<br />
frage ich mich, wie ich denn nun m<strong>ein</strong>e<br />
Hängematte zwischen die andern aushängen<br />
soll???? Es gibt hier ja gar k<strong>ein</strong>e Hacken!!!! M<strong>ein</strong>e<br />
erste Hängematte. Ich habe sie gestern erst<br />
gekauft <strong>und</strong> nicht gewusst, dass sie mit zwei<br />
starken Seilen hochgeknüpft werden muss!<br />
“Marinheiro de primeira viagem” – Seefahrers<br />
erste Reise, wie es so schön auf Portugiesisch<br />
heißt!<br />
Wieder <strong>ein</strong>mal kommt der ach so exotischen<br />
Ausländerin, zu allem noch all<strong>ein</strong> reisend, Gott sei<br />
Dank, <strong>ein</strong>e etwas privilegiertere Stellung zu.<br />
Wurde sie doch Dona Christina persönlich ans<br />
Herz gelegt, der Chefin/Besitzerin des Schiffes.<br />
Die beiden Christinas, beide Ladys, flößen Respekt<br />
<strong>ein</strong>. Dona Christina kommandiert ihr Schiff mit<br />
starker Hand <strong>und</strong> rauer Stimme. Steht gerade<br />
kl<strong>ein</strong>, drahtig, blondiert <strong>und</strong> sonnengebrannt vor<br />
mir. Einer ihrer Männer zaubert von irgendwoher<br />
<strong>ein</strong> paar starke Seile hervor, die m<strong>ein</strong> Gewicht<br />
wohl aushalten. Später sehe ich sie in allen<br />
Schiffszubehörläden an den Kais, in großen<br />
Bündeln prominent zur Schau gestellt: schon auf<br />
die richtige Länge zugeschnittene<br />
Hängemattenschnüre, lustig buntfarben.<br />
Aber noch bin ich im Hafen. Ziehe m<strong>ein</strong> Gepäck,<br />
<strong>ein</strong>e Art langer Schweif auf Rädchen, die endlose<br />
Rampe hoch. Unzählige bleichhäutige<br />
Kreuzfahrtpassagiere kommen mir entgegen.<br />
Potenzielle K<strong>und</strong>en für die MAKE UP YU U$D 8.00<br />
– <strong>ein</strong> Karrikaturist. Er hat s<strong>ein</strong>e Zelte gleich im<br />
Hafengebäude aufgeschlagen. Hoffentlich sind<br />
s<strong>ein</strong>e Zeichnungen besser als s<strong>ein</strong> Englisch. Eine<br />
zweite Welle Bleichschnäbel. Auch sie mustern<br />
mich ungläubig - sch<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>e von Ihnen zu s<strong>ein</strong>,<br />
oder doch nicht? Die schwimmt aber<br />
kurioserweise dem Strom entgegen! Mustere<br />
zurück: Sie tragen unisono, sowas trägt hier auch<br />
bei tropischen Regengüssen k<strong>ein</strong>er,<br />
Plastikregenjacken.<br />
Endlich habe ich mich zum Fahrkartenschalter<br />
durchgefragt. Ja, die Informationen von gestern<br />
decken sich fast, nur dass ich etwas zu früh an<br />
Bord bestellt wurde. Die Schiffe hier sind<br />
pünktlich, was man von den Passagieren nicht<br />
sagen kann. So bestellt man sie halt <strong>ein</strong>e St<strong>und</strong>e zu<br />
früh. Wo aber ist denn das verflixte Schiff? Der<br />
Hafen ist <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges unübersehbar chaotisches<br />
Gewimmel. Winde mich zwischen aufgestapelter<br />
Fracht <strong>und</strong> riesigen Lastwagen durch. Unzählige<br />
Riesenschiffe liegen vor Anker, das Kreuzfahrtschiff,<br />
prächtig, weiter links. Nach dreimaligem<br />
Fragen sehe ich die “Lady Christina” endlich<br />
vor mir.<br />
Aus der <strong>ein</strong>en St<strong>und</strong>e, die das Schiff später<br />
abfahren soll, werden dann schlussendlich zwei.<br />
Man habe mich am Fahrkartenschalter falsch<br />
informiert. Geduldiges Warten gehört zum<br />
Bootsfahren nun mal dazu. Was ist schon <strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>zige St<strong>und</strong>e, verglichen mit den 24 hin <strong>und</strong><br />
den 18 her, die noch vor mir liegen? Zwar flößt<br />
mir die Hängematte noch etwas Respekt <strong>ein</strong>.<br />
Aber “Camarote”, Kabine ist viel, vielleicht fünf<br />
Mal so teuer. Außerdem seien die Überlebenschancen<br />
in der Kabine sozusagen gleich<br />
Null, sollte es zu <strong>ein</strong>em Schiffsunglück<br />
kommen ….<br />
Später, St<strong>und</strong>en später kann ich auch jene Frau<br />
verstehen, die im Zentrum unschlüssig um <strong>ein</strong>e<br />
grell farbene, schrecklich warme <strong>und</strong> schrecklich<br />
synthetische Decke, Made in China, feilschte. Der<br />
Straßenhändler will von <strong>ein</strong>em Rabatt nichts<br />
wissen. Das alles bei über 35 Grad, die nachts<br />
höchstens auf 30 runterheizen. Das soll auf den<br />
Wassern anders s<strong>ein</strong>, haben sie mir prophezeit.<br />
Wie krass die Diskrepanz zwischen –Schondavon-gehört-haben-<br />
<strong>und</strong> -am-Eigenen-Leiberfrieren-<br />
ist, kann ich nun selbst bezeugen. Dass<br />
die Nächte hier im Amazonas auf dem Festland<br />
zwar tropisch üppig <strong>und</strong> feuchtheiß sind,<br />
bedeutet nicht, dass sie es auf den Wassern<br />
ebenso sind! Der Fahrtwind <strong>und</strong> das unendliche<br />
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Nass lassen die Temperaturen um empfindliche<br />
Grade sinken. Wer dann zwischen sich <strong>und</strong> der<br />
feuchtkalten Luft nur <strong>ein</strong>e Hängematte hat, ist um<br />
<strong>ein</strong>e wohlig-synthetisch-warme Decke mehr als<br />
froh. Schlimmer nur, wenn man nur noch <strong>ein</strong>en<br />
der letzten Plätze ganz außen, exponiert <strong>und</strong> ganz<br />
ungeschützt von anderen Körpern - Sehrfahreres<br />
erste Reise - erwischt hat.<br />
Also, Hängematte montiert, Gepäck darunter<br />
verstaut, Geld <strong>und</strong> Wertsachen sicher auf dem<br />
Köper versteckt – es wird viel geklaut auf dem<br />
Schiff - Fre<strong>und</strong>schaft mit den Belegern der<br />
Nebenhängematten geschlossen, gegen den Wind<br />
schon die Strickjacke übergezogen <strong>und</strong> dann<br />
endlich das Schiff erk<strong>und</strong>en! Den Schiffsh<strong>und</strong>, <strong>ein</strong><br />
falbfarbener, muskulös-magerer, misstrauischbissigen<br />
Straßenköter, kenne ich schon. Zwar ist<br />
er nur mittelgroß, macht aber s<strong>ein</strong>er Rolle als<br />
Wachth<strong>und</strong> alle Ehre. S<strong>ein</strong> Körbchen, eigentlich<br />
<strong>ein</strong> Plastikbecken, bequem mit <strong>ein</strong> paar Decken<br />
ausstaffiert, steht gleich unter dem<br />
Kommandotisch Dona Christinas. Auch er hat<br />
gegen den Zug <strong>und</strong> die Kühle der Nacht <strong>ein</strong><br />
Mäntelchen abgekriegt. Spät in der Nacht höre<br />
ich ihn immer wieder, tap, tap, tap, nach vorne<br />
zum Kapitän gehen, oder an Land, um da s<strong>ein</strong>e<br />
kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> großen Geschäfte zu erledigen. Auf<br />
dem Komandotisch steht <strong>ein</strong> billiger<br />
Taschenrechner, daneben liegt <strong>ein</strong> offiziell<br />
aussehendes Buch, wohl das Schiffsbuch, <strong>ein</strong>e<br />
unförmige Rolle Klebband, denen <strong>ein</strong><br />
ockerfarbener Porzelanbuddha Gesellschaft<br />
leistet. Das riesige Schiff sch<strong>ein</strong>t gut unterhalten<br />
<strong>und</strong> somit vertrauenswürdig. Wer sich unter das<br />
das <strong>ein</strong>fache Volk mischt, sich, statt zu fliegen,<br />
st<strong>und</strong>en, ja tagelang von riesigen Booten<br />
schaukeln lässt, sollte vorsorgen: Ortsk<strong>und</strong>ige<br />
empfehlen gerne <strong>ein</strong> sicheres Schiff. Leider kommt<br />
es hier immer wieder zu Bootsunfällen.<br />
Schauergeschichten, zwei, dreifach über die<br />
erlaubte Kapazität hinaus überladene Boote, die<br />
festfahren, gar Schiffbruch erleiden, Tod <strong>und</strong> Leid<br />
hinter sich lassen.<br />
Immer wieder werfe ich <strong>ein</strong> paar Blicken aufs<br />
endlose Wasser <strong>und</strong> die monoton<br />
vorbeigleitenden Ufer; <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger, endlos<br />
schmaler, grüner Strich. Zwischendrin vergnüge<br />
ich mich mit der Ladung, offen auf Deck<br />
aufgestapelt. Der Schiffsbauch quillt wohl schon<br />
über. Es gibt <strong>ein</strong> paar stattliche Autos. Nicht<br />
gerade die billigsten, gerne stellt man hier s<strong>ein</strong>en<br />
hochb<strong>ein</strong>igen Luxuslandrover zur Schau. Daneben<br />
aufgetürmt alles, was man in <strong>ein</strong>em gut<br />
ausgestatteten Supermarkt auch kaufen könnte.<br />
Insektenvertilgungsmittel, Waschpulver,<br />
Riesensäcke mit Mehl, Multikpackete Kaugummi,<br />
Fernseher, viereckige Rieseneierkartons randvoll<br />
mit Eiern, alles gleich im dreifachen Duzend, in<br />
starke Plastikumhüllungen <strong>ein</strong>geschweißt. Wohl<br />
nur Dona Christina <strong>und</strong> ihre Crew wissen, was<br />
welchem Empfänger zugedacht ist. Bodenfließen<br />
stehen neben Waschmaschinen, Milch im<br />
Tetrapack neben Wegwerfwindeln <strong>und</strong><br />
Erfrischungsgetränken - auf die Errungeschaften<br />
der Zivilisation will auch hier draußen k<strong>ein</strong>er<br />
verzichten. Nochmehr Ufer, monotone, schmal<br />
grüne Striche, ziehen vorbei, mal weiter, mal<br />
näher. Immer wieder hebt sich <strong>ein</strong> Baumriese<br />
aus den anderen hervor, <strong>ein</strong>e Art Merkpunkt im<br />
endlos grünen, tellerflachen Meer. Da! <strong>ein</strong>e der<br />
typischen Kirchen, hoch auf Stelzen gebaut. Im<br />
Jahresrhythmus steigen <strong>und</strong> fallen die Wasser,<br />
<strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er kann voraussehen, wie hoch sie<br />
dieses Jahr steigen werden. “Assembléia de<br />
Deus”, auch hier in den amazonischen Einöden<br />
ist man protestantisch-oder katholischf<strong>und</strong>amentalistisch<br />
geworden.<br />
Da, was ist das? Das trübe, schlammbraune<br />
Wasser sch<strong>ein</strong>t plötzlich flecking, immer mehr<br />
klarere Striemen, riesige bläulichere Tupfer<br />
tauchen auf. “Encontro das Águas” – hier treffen<br />
klarere Wasser auf die trüben des Amazonas. Wir<br />
verlassen den Amazonas, schiffen schon bald in<br />
anderen, blaueren Wassern. Noch treiben die<br />
beiden neben<strong>ein</strong>ader her, mischen sich nur<br />
partiell, kilometerweit, bis sich dann endlich die<br />
klare Farbe durchsetzt. Das selbe kann man von<br />
den Himmeln nicht sagen. Seit lägerer Zeit schon<br />
verschließen sie sich, rücken zusammen. Schon<br />
wischen graue Regenstreifen, gleichförmig<br />
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diagonale Striche, Land, Wasser, Himmel zu<br />
<strong>ein</strong>em monotonen Braungrau zusammen. Ohne<br />
Hast werden die seitlichen, starkblauen<br />
Plastikplachen heruntergelassen. Noch mehr<br />
Leute ziehen sich in ihre Hängematten zurück.<br />
Auch ich versuche zu schlafen, was erstaunlich gut<br />
geht, besonders als ich mich noch in <strong>ein</strong><br />
Stück Wachstuch <strong>ein</strong>wickle, das eigentlich als<br />
Tischtuch gekauft wurde. Ein Souvenir, das mich<br />
später auf dem Küchentisch immer an diese Reise<br />
erinnern wird.<br />
Das Essen, der “Rancho”, <strong>ein</strong> im Preis<br />
inbegriffener, sehr willkommener Unterbruch, ist<br />
etwas gewöhnungsbedürftig. Wie auf geheimes<br />
Kommando bilden sich zur Essenszeit geduldige<br />
Schlangen. Rücken äußerst langsam ins kl<strong>ein</strong>e<br />
Speisezimmerchen vor. Da werden randvoll<br />
gefüllte Teller ausgegeben. So randvoll, dass vom<br />
durchsichtig-braunen Glasteller fast nichts mehr<br />
zu sehen ist: Reis <strong>und</strong> Bohnen, dazu Nudeln <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong> paar Stücke Fleisch, lieblos obenauf die<br />
Nudeln geschmissen. Daneben, hart am<br />
Tellerrand, Mayonnaise. Die paar<br />
Gemüsestückchen drin sollen sie wohl zum Salat<br />
machen. Daneben starkgelbes Maismus. Auf<br />
geheimnisvollem Weg wird immer wieder<br />
unsichtbar aus dem Schiffsbauch Nachschub<br />
nachgehoben. Alle werden satt. Ein ganz anderes<br />
Erlebnis aber das Frühstück, total den örtlichen<br />
Gegebenheiten angepasst. Dreierlei Früchte: Zwei<br />
eher kümmerliche Orangenhälften, bis auf die<br />
weiße Haut herunter geschält, fertig zum<br />
Aussaugen. Winzige Bananen, die w<strong>und</strong>erbar<br />
schmecken <strong>und</strong> zwei kl<strong>ein</strong>e Scheiben<br />
Wassermelone. Dann tiefviolette Carás, <strong>ein</strong>e der<br />
vielen Knollen, deren Geschmack von weitem an<br />
Kartoffeln erinnern <strong>und</strong> köstlich orangefarbene<br />
“Pupunhas”, <strong>ein</strong>e lokale Palmfrucht, in Salzwasser<br />
weich gekocht, im Plastikbecher. Sie machen die<br />
Brötchen, labbrig, sicher tagelang in Plastiksäcken<br />
aufbewahrt, überflüssig. Dazu Kaffee <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Stück<br />
übersüßen Maniokkuchen. Den w<strong>und</strong>erbar<br />
verkochten “Munguzá”, <strong>ein</strong> Brei aus ganzen,<br />
weißen Maiskörnern, hebe ich mir zum Schluss<br />
auf. Köstlich!<br />
Die Reise ist <strong>ein</strong>tönig, langweilig <strong>und</strong> monoton.<br />
Irgendwie sch<strong>ein</strong>t sie sich ständig zu wiederholen.<br />
Irgendwie sch<strong>ein</strong>en wir nicht vom Fleck zu<br />
kommen oder fahren ständig durch die immer<br />
gleichen Wasser. Dazu gießt es ununterbrochen<br />
<strong>und</strong> die blauen Plachen lassen nur Streifen grauer<br />
Himmel sehen. Irgendwie habe ich schon alles<br />
gelesen, gesehen, kann nicht mehr liegen noch<br />
stehen. Aber halt! Plötzlich beginnt es überall zu<br />
rumoren. Hängematten werden aufgerollt, Gepäck<br />
herumgeschubst, die steilen Leitern<br />
hinuntergeschleift. Der grasgrüne Boden des<br />
Schiffes ist in kürzester Zeit wie sauber gefegt.<br />
Ansteckende Erwartung ergreift alle. Aha, wir<br />
nähern uns dem Ziel der Reise. Irgendwo aus<br />
dem Nirgendwo taucht dann auch promt <strong>ein</strong><br />
improvisierter Hafen auf. Unzählige Schiffe liegen<br />
vor Anker. Ein schwimmender Pier aus Eisen<br />
schiebt sich in die Wasser hinaus. K<strong>ein</strong>er hält es<br />
mehr aus an Bord. Kaum hat das Schiff auch nur<br />
behelfsmäßig angelegt, springen <strong>ein</strong> paar<br />
Wagemutige auf den Pier, gleichzeitig wuseln,<br />
schieben <strong>und</strong> drücken muskulöse Gepäckträger<br />
durch alle Löcher an Bord. Ein <strong>ein</strong>ziges Schieben,<br />
Heben <strong>und</strong> Drängen. Schwere Koffer werden<br />
über Bord gehievt bis dann endlich der Steg,<br />
nicht viel besser als <strong>ein</strong>e Hühnerleiter,<br />
festgemacht ist. Endlich ergießt sich, ungeordnet<br />
<strong>und</strong> chaotisch, die ganze Menschenfracht auf die<br />
Kais. Taxifahrer schreien, preisen ihre Dienste an,<br />
packen ungefragt das Gepäck, um das sich schon<br />
Gepäckträger balgen. Verwandte <strong>und</strong> Bekannte<br />
fallen sich in die Arme, Kinder werden hastig von<br />
<strong>ein</strong>er Hand zur nächsten weitergereicht. K<strong>ein</strong>s<br />
gibt auch nur <strong>ein</strong>en Ton von sich. Auch das<br />
unförmige Schlagzeug, das halbe Dutzend Besen,<br />
der Blumentopf werden sicher an Land gehievt.<br />
Was für die <strong>ein</strong>en Heimkommen ist, ist für mich<br />
der Beginn <strong>ein</strong>es neuen Abenteuers, die Hälfte<br />
m<strong>ein</strong>er ersten Reise auf See.<br />
Good bye, Lady Christina, bis zur Rückfahrt, Lady<br />
Christina! Hat sich gelohnt, Lady Christina!<br />
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Fast im Paradies<br />
Fast wähnt man sich im Paradies. Oder ist das hier<br />
<strong>ein</strong> Stück Europa mitten im Amazonas? Weiße,<br />
hochb<strong>ein</strong>ige Rinder, Nelore, <strong>ein</strong>e Mischung<br />
europäischer <strong>und</strong> indischer Rassen, grasen auf<br />
grünen Weiden. Dazwischen wie hingestreut <strong>ein</strong><br />
paar streng geometrische Holzhäuschen,<br />
winkende Menschen, magere, aber glückliche<br />
Mistkratzer, <strong>ein</strong> schwarzrosa Schw<strong>ein</strong>, zwei<br />
Straßenköter.<br />
Schau mal, <strong>ein</strong>e hölzerne Kirche! Wie viele Häuser<br />
hier ist sie auf Pfählen errichtet. Die Wasser<br />
steigen <strong>und</strong> fallen hier im Jahreszyklus <strong>und</strong> die<br />
Hochwasser können ihr schon mal den Boden<br />
lecken. Quadratisch, rustikal, so liebevoll roh aus<br />
Brettern zusammengefügt, dass sie mit ihrer<br />
vorgesetzten Fassade eher an <strong>ein</strong>e Theaterkulisse,<br />
<strong>ein</strong>en Schattenriss, gar an <strong>ein</strong> potemkinsches Dorf<br />
als <strong>ein</strong> Gotteshaus erinnert. Daneben <strong>ein</strong>ige<br />
Häuser, auch auf Pfählen, Kanus, lächerlich kl<strong>ein</strong>,<br />
manche aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Baumstamm<br />
geschnitzt <strong>und</strong> größere, bullige Schiffe mit<br />
flachem Kiel, am Ufer verankert. Der Fluss schiebt<br />
sich träge dahin, stattlich. Hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>e<br />
r<strong>ein</strong>weiße Landzunge, <strong>ein</strong>same Buchten mit<br />
blendenden Sandstränden. Wähne mich irgendwo<br />
in Europa, wenn, ja wenn, da nicht dieses Paar<br />
träger Augen wäre. Augendeckel nur, gelbgrüne<br />
beschattete Sterne, die sich lautlos durchs Wasser<br />
schieben – <strong>ein</strong> Krokodil! Wir sind mitten in <strong>ein</strong>em<br />
sehr schönen Stück Amazonas, auf dem Kanal<br />
„Jari“, der bei Santarém den Tapajós mit dem<br />
Amazonas verbindet. Die Jahreszeit sei die beste.<br />
Die endlosen Sandstrände der Flüsse liegen frei,<br />
später, in der Jahresmitte, werden sie alle unter<br />
dem ansteigenden Wasserspiegel verschwinden.<br />
Treffe diese Urkirchen immer wieder, zu Wasser<br />
oder zu Land. Sch<strong>ein</strong>en sich alle irgendwie<br />
verblüffend ähnlich. Wie <strong>ein</strong>e der anderen<br />
abgeschaut, von<strong>ein</strong>ander kopiert oder geklont, alle<br />
vom selben Baumeister gezeichnet <strong>und</strong><br />
hochgezogen. Wie wenn <strong>ein</strong>e zentrale<br />
Kirchenstelle für fast alle Kirchen des<br />
amazonischen Hinterlandes das selbe Muster, <strong>ein</strong>e<br />
identische Form festgelegt hätte. Wohl aber eher<br />
lokalen Handwerkern anvertraut, die in naiver<br />
Freiheit <strong>ein</strong>fach jenes Gotteshaus nachbauen, das<br />
sie aus ihren inneren Bildern kristallisieren. Die<br />
<strong>ein</strong>zelnen Kirchl<strong>ein</strong> sind sorgfältig <strong>und</strong><br />
demokratisch auf die unterschiedlichsten<br />
Abspaltungen katholischer <strong>und</strong> evangelischer<br />
Kirchen verteilt, jede entsprechend identifiziert.<br />
Berührend schön, schmucklos, oft gar flach. Die<br />
charakteristischen Kirchtürme oft nicht mehr als<br />
<strong>ein</strong>dimensionale Scherenschnitte, hoch aus der<br />
flachen Holzfassade herausgeschnitten, immer<br />
den Wassern zugewandt. Normalerweise zwei,<br />
manchmal gar drei Türme, immer von simpelsten<br />
Kreuzen überragt, <strong>ein</strong>fach vor <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>fachen<br />
Quader, das Kirchenschiff, gestellt. Ihr kalkiges<br />
Weiß oder ausgewaschenes Blau hebt sich klar von<br />
den hohen, weiten Himmeln ab, an denen schon<br />
die nächsten Gewitter drohen.<br />
Kinderzeichnungen, Scherenschnitten gleich sind<br />
sie auf die allertypischsten Elemente reduziert,<br />
verzichten auf Vorsprünge, Balustraden oder<br />
andere dekorative Elemente, die ihnen etwas<br />
Tiefe oder Dreidimensionalität verleihen würden.<br />
Ihre Einfachheit <strong>und</strong> Rustikalität erinnert an Exvotos,<br />
von rauen Händen gezimmert <strong>und</strong><br />
kunstvoll mit <strong>ein</strong> paar Resten Farbe bemalt.<br />
Plötzlich wie <strong>ein</strong> Theatervorhang fällt die Nacht<br />
her<strong>ein</strong>. Schon länger haben wir angelegt. Die<br />
Hitze allerdings hat noch k<strong>ein</strong> Grad nachgelassen,<br />
es ist gut möglich, dass sie die ganze Nacht durch<br />
anhält. Wer sagt denn, dass man im Paradies<br />
nicht schwitzen muss?<br />
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Am Kai<br />
Könnte wohl st<strong>und</strong>enlang an den Kais stehen <strong>und</strong><br />
dem Kommen <strong>und</strong> Gehen zusehen. Kilometerlang,<br />
<strong>ein</strong> hässlicher Betonstreifen, oben abgeflacht <strong>und</strong><br />
seitlich abgeschrägt, grenzt er die Hauptstraße<br />
gegen den Fluss Tapajós ab, wir sind in Santarém,<br />
etwa in der Hälfte zwischen Belém <strong>und</strong> Manaus.<br />
Weit draußen trifft das kobaltene Blau des<br />
Tapajós, nur um Nuancen dunkler als der Himmel,<br />
auf die ockerschlammfarbene Trübe des<br />
Amazonas, <strong>ein</strong> lehmiger Strich, weit dahinter <strong>ein</strong><br />
flacher Streifen Grün, <strong>ein</strong>es der vielen Ufer.<br />
Fließen noch kilometerweit neben<strong>ein</strong>ander her.<br />
Endlich gewinnt die Lehmfarbe Oberhand.<br />
In der Stadtmitte dominiert billigster Kommerz,<br />
der von <strong>ein</strong>er endlosen Reihe Geschäfte abgelöst.<br />
Die verkaufen all das, vom Bootszubehör über<br />
Fischernetze bis zum Badetuch, was man im<br />
weiten Hinterland nicht selber herstellen oder<br />
anbauen kann. Nahe beim Zentrum sind die Kais<br />
schicker, werden gar von <strong>ein</strong>em Geländer<br />
gesäumt. Bilden <strong>ein</strong>e Art bombastische<br />
Strandpromenade ohne den winzigsten Schatten.<br />
Nachts leuchten futuristische Straßenlaternen die<br />
Anlage grell aus. Dann trifft man sich, abends,<br />
wenn es kühler wird. Jugendliche mit ihren<br />
Motorrädern, Familien mit Kindern, ältere<br />
Matronen. Darunter mischen sich fliegende<br />
Händler, die aus ihren vollgestopften Rucksäcken<br />
die neuesten Filme, die DVDs natürlich<br />
raubkopiert, unter die Leute bringen. Die Kinder<br />
klettern auf die riesige Betonschildkröte oder<br />
purzeln auf dem bonbonfarbenen Zug herum,<br />
während die Eltern schwatzen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Eis essen.<br />
Noch im Zentrum, gleich schräg vor der<br />
türkisblauen, weiß abgesetzten Barockkirche <strong>und</strong><br />
dem Pavillon im selben Blaugrün, improvisieren<br />
die Hängematten- <strong>und</strong> Taschenverkäufer ihre<br />
Verkaufsstände, haben hier ihre festen<br />
Standplätze. Ihr Angebot ist vielfarbig, bunt <strong>und</strong><br />
grell, gar aus Nylon <strong>und</strong> tarnfarben bedruckt, die<br />
klassisch weißen will k<strong>ein</strong>er mehr. Noch modischer<br />
nur die Sonnenbrillen, in Reih <strong>und</strong> Glied durch <strong>ein</strong><br />
riesiges Styroporblatt gesteckt. Verspiegelt,<br />
verchromt oder tiefschwarz arrogant <strong>und</strong><br />
windkanalgestylt warten sie auf Käufer. Daneben<br />
allerlei Gürteln <strong>und</strong> Taschen, die pinkfarbenen mit<br />
den japanischen Comiczeichnungen oder Barbie<br />
sind wohl nicht nur für kl<strong>ein</strong>e Mädchen. Schatten<br />
spenden <strong>ein</strong> paar verknorzte, faszinierende<br />
Urwaldbäume, deren Astwerk, oder sind es<br />
Luftwurzeln? So über<strong>ein</strong>ander gewuchert ist, dass<br />
sie mich an freigelegte Nerven, Sehnen <strong>und</strong><br />
Blutstränge mager-muskulöser Riesenarme<br />
erinnern. Gegenüber liegen schon die ersten<br />
Schiffe vertäut, <strong>ein</strong>s hinter dem nächsten<br />
unterstehen sie alle diszipliniert <strong>ein</strong>er<br />
unsichtbaren Ordnung. Die Marine ist streng.<br />
Weiter vorne sind die Kais schmucklos, <strong>ein</strong> Wehr<br />
gegen die Wasser, die alle sechs Monate steigen<br />
<strong>und</strong> dann wieder fallen, im ewig<br />
gleichbleibenden, ständigen Zyklus,<br />
unberechenbar, gottgegeben. Sind die Wasser<br />
hoch, springen die Boote fast bis auf die<br />
Hauptstraße. Haben sie ihren Tiefstand erreicht,<br />
ankern sie weit draußen an den sandigen<br />
Bänken.<br />
Etwa in der Mitte befindet sich der ganz große<br />
Güterumschlagplatz. Fasziniert beobachte ich<br />
wie Lastwagenladungen hinter Lastwagenladungen<br />
in den Bäuchen <strong>und</strong> unter Deck<br />
verschwinden. Es ist <strong>ein</strong> Heben, Stemmen,<br />
Ziehen, Zirkeln <strong>und</strong> Verstauen. Verladen wird<br />
<strong>ein</strong>fach alles. Mehl, Margarine, hochb<strong>ein</strong>ige<br />
Motocross-Motorräder, Maschinenersatzteile,<br />
12er-Pakungen Limonade, deren Namen mir<br />
fremd sind, Gaspatronen, Fernseher <strong>und</strong> viele<br />
andere unverzichtbare Gr<strong>und</strong>versorgungsmittel<br />
balancieren starke Hafenarbeiter auf wackligen<br />
Hühnerstegen ins Schiffsinnere. Auf den <strong>ein</strong> oder<br />
zwei Oberdecken hängen schon <strong>ein</strong>zelne<br />
Hängematten, noch gibt es viel Platz für andere.<br />
Ganz an Ende, auf Stelzen in den Fluss hin<strong>ein</strong><br />
gebaut, der „Tablado“, <strong>ein</strong>er der Fischmärkte.<br />
Hier kann man den frischesten Fisch der Welt<br />
kaufen <strong>und</strong> gleich auch die für <strong>ein</strong>e Fischsuppe<br />
nötigen Zutaten. Kl<strong>ein</strong>kuglige Limetten, um den<br />
Fisch zu waschen <strong>und</strong> kl<strong>ein</strong>e, schäbige Tomaten<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 306
in gelben Netzen. Daneben „Cheiro verde“,<br />
Stangenzwiebeln, zusammen mit viel Koriander,<br />
etwas Basilikum <strong>und</strong> lokalem „Coentrão“, B<strong>und</strong><br />
für B<strong>und</strong> gleich da vor Ort zusammengeb<strong>und</strong>en.<br />
Vergessen Sie auch die allgegenwärtigen<br />
Pfefferschötchen, grünere, kugelig gelbe <strong>und</strong> rote,<br />
auch fixfertig <strong>ein</strong>gelegt, nicht.<br />
Die Fischverkäufer halten sich <strong>ein</strong> paar Delphine<br />
als Maskottchen. Die sind nur präsent, wenn die<br />
Wasser hoch sind. Gräulichrosa springen sie gleich<br />
neben <strong>und</strong> unter der Halle <strong>ein</strong>em, an <strong>ein</strong>er L<strong>ein</strong>e<br />
ausgeworfenen, Fisch nach. Deutlich kann man ihr<br />
schnabelartige Schnauze sehen, wenn sie das<br />
trübe Wasser durchpflügen <strong>und</strong> gleich unter<br />
<strong>ein</strong>em zu verspielten Sprüngen ansetzen.<br />
Mahnend warnt mich <strong>ein</strong>er der Fischverkäufer:<br />
Achtung, die verzaubern! Sind die Wasser niedrig,<br />
werden sie durch die „Garças“, weiße Reiher<br />
ersetzt, die gerne mal <strong>ein</strong> paar hingeworfene<br />
Fischkiemen verschlingen, unzerkaut. Man kann<br />
deren Weg die unendlich lange Kehle, den ganzen<br />
Hals runter Stück für Stück mitverfolgen.<br />
Aufgescheucht fliegen sie malerisch wieder<br />
davon.<br />
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt die<br />
Markthalle, hässlich <strong>und</strong> funktionell, die bis elf<br />
Uhr morgens rege besucht wird. Auch auf den<br />
Kais ist das Kommen <strong>und</strong> Gehen be<strong>ein</strong>druckend.<br />
Kommt gerade <strong>ein</strong> Schiff an, bilden sich<br />
Grüppchen, <strong>ein</strong> fliegender Händler verkauft aus<br />
s<strong>ein</strong>em Bauchladen selber gemachten, leckeren<br />
Brei, „Munguzá“, weißer Mais oder grüne<br />
Bananen. Auch die billigen, etwas armseligen<br />
Grillspießchen, nie Fisch, immer Huhn oder Rind,<br />
vor dem Servieren schnell in Farinha gewendet,<br />
verströmen schon früh ihren unverwechselbar<br />
leckeren Duft. Ein Mann trägt hoch aufgerichtet<br />
<strong>ein</strong>en riesigen Korb voller noch riesiger Fische auf<br />
dem Kopf, <strong>ein</strong> Arm sichert mühelos das<br />
Gleichgewicht. Vor ihm schiebt <strong>ein</strong> anderer s<strong>ein</strong>en<br />
neuen, noch unbemalt rohen Holzkahn aufgebockt<br />
auf <strong>ein</strong>em Zweirad vor sich her. Ein paar verlorene<br />
Ziegen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bulliges, schwarzes Schw<strong>ein</strong> warten<br />
in der brütenden Sonne, bevor sie zum Schlachten<br />
geführt werden.<br />
Schau, da legt soeben <strong>ein</strong>er von diesen<br />
Bananenbooten an, doppelstöckig schiebt es<br />
s<strong>ein</strong>en flachen Kiel immer näher auf das bisschen<br />
Sand am Ufer des Kais. Ein aus dem Nichts<br />
aufgetauchter Hilfsarbeiter in grellfarbenen<br />
Bermudas, sicher hat er das Schiff erwartet, greift<br />
nach dem hingeworfenen Seil, schlingt es um<br />
<strong>ein</strong>en eisernen Pflock, watet dann ins nicht sehr<br />
vertrauenswürdig aussehende Wasser voller Abfall<br />
<strong>und</strong> lotst das Boot, noch <strong>ein</strong>mal etwas<br />
zurückgesetzt <strong>und</strong> dann wieder vor, perfekt <strong>und</strong><br />
dicht neben das letzte der endlosen Reihe. Es sind<br />
40, 50 Boote, die alle neben<strong>ein</strong>ander auf Anker<br />
liegen. Viele haben riesige Satellitenschüsseln auf<br />
Deck, nicht nur für den Fernsehempfang,<br />
sondern auch für die Kommunikation mit dem<br />
Hafenmeister. Schon nimmt er die Hühnerleiter,<br />
hoch oben vom Schiff heruntergereicht, in<br />
Empfang. Legt sie, gefährlich schief, auf den<br />
Sand, kratzt <strong>ein</strong> paar St<strong>ein</strong>e weg, noch etwas<br />
Sand, prüft die Standfestigkeit. Steil, halb im<br />
Wasser, ist weder er noch die Schiffsbesatzung<br />
befriedigt. Da reicht ihm der Verantwortliche<br />
vom Schiff <strong>ein</strong>en zweiten Steg herunter, der wird<br />
nun über den anderen gelegt, was den Winkel<br />
etwas verbessert.<br />
Mich fasziniert die Seelenruhe, mit der alles vor<br />
sich geht. Amüsiert schauen <strong>ein</strong> paar junge<br />
Mädchen vom Oberdeck zu, wo auch noch<br />
verschiedene Hängematten im Wind schaukeln.<br />
Die Passagiere, die schon ungeduldig alle ihre<br />
Siebensachen zusammen gesucht haben, ihre<br />
Hängematte <strong>ein</strong>gerollt <strong>und</strong> nach vielen St<strong>und</strong>en<br />
auf dem Fluss nun nach festem Land unter den<br />
Füßen lechzen, können nun trockenen Fußes<br />
aussteigen. Nun springen, - Männer first - schon<br />
<strong>ein</strong> paar Kerle waghalsig heraus, benutzen ihr<br />
Gepäck in der <strong>ein</strong>en Hand als Gegenbalance,<br />
tänzelnd über die Hühnerleiter ans Ufer. Dann<br />
kommen <strong>ein</strong> paar Frauen, k<strong>ein</strong>er hilft ihnen bei<br />
Sack <strong>und</strong> Pack, die Plateauplastiksohlen sind<br />
sicher sehr hilfreich! <strong>und</strong> gleich darauf das<br />
Crossmotorrad. Heftig wackelnd <strong>und</strong><br />
tonnenschwer sehe ich es schon im Wasser, aber<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 307
n<strong>ein</strong>, langsam, das Hinterrad voraus, wird es über<br />
Bord gelassen, bedächtig, zirkelnd, nun den<br />
Lenker, den die Hilfskraft wie <strong>ein</strong>en Stier an den<br />
Hörnern packt <strong>und</strong> unendlich sorgfältig über den<br />
schmalen Steg hinunterzieht. Jetzt gilt es nur<br />
noch, das schwere Ding, schon sind sie zu dritt,<br />
die schieben, stemmen <strong>und</strong> ziehen, das steile<br />
Uferbord hinauf zu bekommen. Geschafft. Die<br />
letzten Passagiere, <strong>ein</strong>e ältere Frau mit <strong>ein</strong>er<br />
Madonna auf dem Shirt <strong>und</strong> Leggins, <strong>ein</strong> Mann<br />
steigen aus, ihr hält der Hilfsarbeiter gar helfend<br />
<strong>ein</strong>e Hand entgegen, als sie mit weit<br />
ausgebreiteten Armen das Stegchen<br />
hinunterzirkelt.<br />
wohl gerade, um irgenwo im Hinterland noch <strong>ein</strong><br />
Zimmerchen anzubauen. Schon verschwinden sie,<br />
roten Staub auf dem Asphalt hinterlassend, <strong>ein</strong>er<br />
nach dem anderen, in <strong>ein</strong>em der kl<strong>ein</strong>eren Boote.<br />
Ob ich wohl auch so auffällig weißhäutigausländisch<br />
aussehe, wie das ältere Ehepaar auf<br />
Landgang? Ihr Kreuzfahrtschiff liegt weit draußen.<br />
Sie tragen schwer an ihren Wasserflaschen <strong>und</strong><br />
sind sichtlich von der Hitze mitgenommen. Nur<br />
Ausländer wie ich wollen die ganzen Kilometer der<br />
Kais zu Fuß erk<strong>und</strong>en…. . Da, ziemlich erschlagen<br />
steigen sie in <strong>ein</strong>s der wartenden Taxis. Für das<br />
Mototaxi fehlt ihnen dann doch der Mut.<br />
Die Mototaxis allerdings sind immer da. Je nach<br />
Tageszeit, Rushhour ist der frühe Morgen <strong>und</strong> der<br />
späte Nachmittag, da sind sie alle unterwegs.<br />
Nach dem Mittagessen wird es deutlich ruhiger.<br />
Nachmittags, wenn die Hitze am stechensten ist,<br />
gibt es nur <strong>ein</strong> paar verlorene Passagiere. Auch<br />
die Träger haben ihre tischblattgroßen Ziehkarren<br />
beiseite gestellt. Mir bleibt nur noch das frei an<br />
der abfallenden Mauer hängende Fahrrad, n<strong>ein</strong><br />
halt, es ist ganz <strong>ein</strong>fach an <strong>ein</strong>en der vielen in der<br />
abfallenden Böschung <strong>ein</strong>gelassenen Schiffsringe<br />
gekettet, schwer mit <strong>ein</strong>em luftigen Korb <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>em recycelten Mehlsack bepackt, als <strong>Foto</strong>sujet.<br />
Faszinierend sind auch die herbei gekarrten, zu<br />
<strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Mauer aufgebauten Ziegelst<strong>ein</strong>e, die<br />
darauf warten, verschifft zu werden. Reichen<br />
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Zu Schiff oder Vom Heiligen Geist <strong>und</strong> für die Glorie Gottes<br />
“Tô abençoado“ – „Bin gesegnet“, lese ich zwar<br />
auf <strong>ein</strong>em Auto, aber wenn es davon abhinge,<br />
hätte ich reichlich Auswahl: Könnte mit der<br />
„Gottes Segen“, der „Glorie Gottes“ oder mit der<br />
„Geh mit Gott“ <strong>ein</strong> Stück den Amazonas hinauf<br />
schippern, wenn ich m<strong>ein</strong> Leben nicht lieber der<br />
„Jerusalem“, „Mit Dir Israel“, dem „Heiligen Herz<br />
Jesu“, den „Heiligen Petrus, Karl oder Benedikt“<br />
oder gar „Jesus auf dem Meer“ oder Josué<br />
Jeshuah“ persönlich anvertrauen möchte. Besser<br />
wohl nur mit solch <strong>ein</strong>em Schiff bis ins „Heilige<br />
Land“ zu schippern, denn so heißt <strong>ein</strong>es der<br />
angepriesenen Fahrziele.<br />
Schifffahrten mit den Linienschiffen dauern. „-Oh,<br />
das ist doch ganz nah, drei bis viert Tage mit dem<br />
Schiff!“- kann man von Einheimischen hören. Da<br />
gehört schon <strong>ein</strong>e Portion Geduld, viel Toleranz<br />
<strong>und</strong> Abenteuerlust dazu. Dafür stehen auch<br />
„Frieden <strong>und</strong> Liebe“, die „Allianz“, „Vertrauen“<br />
<strong>und</strong> der „Weiße Schwan“ zur Verfügung. Ich muss<br />
nur m<strong>ein</strong>e Hängematte unter h<strong>und</strong>ert anderen in<br />
ihrem Bauch aushängen. Nur nicht die<br />
exponierten Stellen wählen, nachts soll es da<br />
empfindlich kalt werden, <strong>und</strong> sich auch nicht<br />
w<strong>und</strong>ern, wenn die Dinger immer mal wieder<br />
gegen<strong>ein</strong>anderstoßen, denn unerklärlicherweise<br />
schaukelt jede in <strong>ein</strong>em eigenen Rhythmus. Ja,<br />
klar, es gibt auch Kabinen, “Camarote”, viel,<br />
vielleicht fünf Mal so teuer <strong>und</strong> zehnmal so<br />
stickig. Außerdem seien die Überlebenschancen in<br />
den Kabine sozusagen geich Null, sollte es zu<br />
<strong>ein</strong>em Schiffsunglück kommen.<br />
Wer es etwas intimer mag, heuert auf „M<strong>ein</strong>er<br />
Blume“, „Göttin m<strong>ein</strong>es Lebens“, „Geliebter“, der<br />
„Maria Vitória“ oder der „Erineuza“ an.<br />
„Prostituierte“ nennt sich, Gott sei Dank, nur <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>es Beiboot. Ob mir der Galgenhumor des<br />
„Thubarão“, des Haifischs, des „Schatten der<br />
Meere“, des „Tieres“, der „Verrücktheit des<br />
Meeres“, die „Meerjungfrau vom Tapajós“ oder<br />
der „Titania“ wohl maritime Abenteuer<br />
garantieren? Gut möglich, immer wieder kommt<br />
es zu den absurdesten Bootsunfällen, besonders<br />
schlimm, denn die Mehrzahl der Passagiere kann<br />
oft nicht schwimmen. Also vielleicht besser nicht<br />
die „Marinelson II“ oder der „Löwe III“? Wer weiß,<br />
was mit den ersten, respektive dem zweitem<br />
passiert ist!<br />
Wie auch immer, ob echt portugiesisch „Lusitana“,<br />
„Oliveira Junior“ oder „Teixeira Ramos“ oder<br />
indianisch, dem „Medizinmann Jarak“, fantasievoll<br />
wie „Julibel“ oder „Lady Lourdes“, gar mit der<br />
Schönheit „Tainá“ – ich sammle sie alle, die<br />
w<strong>und</strong>ersamen, w<strong>und</strong>erbaren Namen der Schiffe,<br />
<strong>ein</strong>s weißer geschrubbt als das andere, mit blauen<br />
<strong>und</strong> roten Details, liegen sie dickbauchig <strong>und</strong><br />
flachdachig hinter<strong>ein</strong>ander am schnurgeraden,<br />
schattenlosen Quai vor Anker, der übrigens so<br />
lange ist, dass es <strong>ein</strong>e Buslinie gibt, die ihn mit drei<br />
oder vier Stationen bedient. Volkstümlich<br />
werden sie als „Gaiolas“, Käfige bezeichnet, was<br />
wohl mit ihrer Form <strong>und</strong> den Abschrankungen,<br />
die die Stockwerke sichern, zu tun hat.<br />
M<strong>ein</strong> absoluter Favorit? „Nhengatu“, eigentlich<br />
<strong>ein</strong>e der verloren gegangenen, vom<br />
portugiesischen Minister <strong>und</strong> Erneuerer Marques<br />
de Pombal verbotenen lokalen Universalsprachen,<br />
Linguas francas, halb indianisches Tupi,<br />
halb Romanisch-Spanisch-Lat<strong>ein</strong>, in der sich hier<br />
im Amazonas das wilde Völkergemisch bis 1759<br />
unter<strong>ein</strong>ander verständigte.<br />
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Der Kapitän<br />
„Wissen Sie, dass ich auch Schauspieler bin? Sim,<br />
Senhora!” - Der Kapitän, der uns auf <strong>ein</strong>er<br />
Flussfahrt auf dem Rio Negro begleitet, hat<br />
tausend<strong>und</strong><strong>ein</strong>e Geschichte auf Lager. Man muss<br />
nur zuhören wollen.<br />
Das ziemlich hautnahe Zusammenleben mit den<br />
Caboclos ist sehr bereichernd. Sie sind geborene<br />
Geschichtenerzähler <strong>und</strong> ihr Humor ist<br />
unvergleichlich.Manuel de Souzas Pinto, s<strong>ein</strong><br />
Großvater, Nordestino, hatte ihm nicht nur die<br />
humorvolle, verschmitzte Art vererbt, sondern<br />
auch die deutlich arabischen Gesichtszüge. Aber<br />
es gibt k<strong>ein</strong>en, der sich auf den Flüssen des<br />
Amazonas mehr zu Hause fühlt als er. Abends, die<br />
fremdartige, unerwartete Gesellschaft ist im sehr<br />
willkommen, erzählt er s<strong>ein</strong>e Geschichten. Dreht<br />
hin <strong>und</strong> wieder am großen Steuerrad <strong>und</strong> spricht<br />
ohne Unterbruch. Da ist es k<strong>ein</strong> Problem, dass er<br />
m<strong>ein</strong> Portugiesisch mit deutschem Akzent nicht<br />
versteht.<br />
- „Die Globo, (die größte private Fernsehanstalt<br />
Brasiliens) wenn die <strong>ein</strong>e Novela aufnehmen, da<br />
ist doch alles künstlich, nicht wahr? Also ich habe<br />
es genauso gemacht! Für <strong>ein</strong>e japanische<br />
Fernsehanstalt war das, ja. Die bezahlten wirklich<br />
gut! Ich ließ zwei Malocas (typische R<strong>und</strong>häuser<br />
der Indios) bauen, stattete sie mit allem aus, was<br />
dazugehört: Maniokwurzeln, Kürbisse, <strong>ein</strong> paar<br />
Körbe, Pfeile <strong>und</strong> Speere. Dann rief ich die Indios.<br />
Sie waren alle nackt <strong>und</strong> ich befahl ihnen, sich zu<br />
bemalen. Als alle fertig war, konnten sie mit<br />
Filmen beginnen.<br />
Die kamen von weit her, aus Japan, <strong>ein</strong>mal kamen<br />
auch welche aus England, <strong>und</strong> es gefiel ihnen<br />
ausgezeichnet. Das kann ich Ihnen versichern! Am<br />
besten gefiel es ihnen aber, als ich zu<br />
schauspielern begann. Ich spielte <strong>ein</strong>en<br />
Portugiesen <strong>und</strong> befahl den Indianern, mit ihren<br />
Speeren auf mich zu zielen. Die haben alles ganz<br />
genau gefilmt. Alles. Ich habe sogar <strong>ein</strong>e<br />
Videokassette davon zu Hause. Wenn Sie wollen –<br />
kommen Sie doch mal vorbei <strong>und</strong> schauen Sie sich<br />
an!“<br />
„Die Indios? Die kenne ich gut. Ich spreche vier<br />
indianische Dialekte. Da gibt es <strong>ein</strong>ige Stämme,<br />
Mensch .... Wenn man da ankommt, ist weit <strong>und</strong><br />
breit k<strong>ein</strong>er in Sicht. Die haben sich alle im Urwald<br />
versteckt. Also k<strong>ein</strong> Indio weit <strong>und</strong> breit, aber ich<br />
weiß, dass sie da sind. Deshalb bleibe ich stehen<br />
<strong>und</strong> rufe, in ihrer Sprache natürlich: Kommt,<br />
Fre<strong>und</strong>e, kommt schon! Ich bin hungrig. Ich habe<br />
großen Hunger. Gibt es was zu essen? Ich sterbe<br />
vor Hunger. Kommt! Und dann – da musst du gut<br />
aufpassen, ja, dann stehen sie plötzlich alle um<br />
dich herum <strong>und</strong> richten ihre Speere auf dich. Ich<br />
sage: Ich bin <strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, ich bin <strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>. Habt<br />
ihr etwas zu tauschen? Dann muss ich sie alle<br />
umarmen, <strong>ein</strong>en nach dem anderen. Ich kenne sie<br />
nicht, aber ich sage: Mensch, was für Sehnsucht<br />
ich nach Euch hatte! Ich bin vor Sehnsucht fast<br />
gestorben! Zu der alten India sage ich: Minha<br />
Senhora, ich war so lange weg! Wie gut, Sie wieder<br />
zu sehen! Und ich umarme alle. Das dauert. Erst<br />
nachher frage ich wieder: Gibt es was zu essen?<br />
Ich sterbe vor Hunger. Gibt’s allerdings gebratene<br />
Schlange, puh, das esse ich nicht. Das schmeckt<br />
schauerlich. Ich sage: M<strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, ich bin schon<br />
so satt, ganz satt m<strong>ein</strong> Fre<strong>und</strong>, besten Dank!“ Aber<br />
Gürteltier, ja das schmeckt ausgezeichnet,<br />
besonders gegrillt. Nur die Guaribas, die Brüllaffen<br />
sind etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist fast <strong>ein</strong><br />
wenig, wie wenn man <strong>ein</strong> Kind essen würde.”<br />
Erzählte uns nicht nur von den Indios, sondern<br />
auch von den Jaguaren <strong>und</strong> den Riesenschlangen.<br />
„Die Riesenschlangen sind sehr gefährlich. Sie<br />
schnellen aus dem Wasser <strong>und</strong> verschlingen<br />
umherstreunende H<strong>und</strong>e. Ja, <strong>und</strong> manchmal auch<br />
kl<strong>ein</strong>e Kinder! Erst kürzlich habe ich von <strong>ein</strong>em<br />
gehört, das am Ufer des Flusses spielte, als die<br />
Schlange zuschnappte. Als die Mutter auf s<strong>ein</strong><br />
Geschrei reagierte, hatte sie es schon fast bis zu<br />
den Hüften verschlungen!“ Er malte uns die realen<br />
<strong>und</strong> irrealen Gefahren in den tropischten Farben<br />
aus, die hier überall auf uns lauern. „Der Rio<br />
Negro? S<strong>ein</strong> Wasser erinnert an schwarzen Tee,<br />
nicht wahr? Also im Rio Negro gibt es nicht viele<br />
Fische.“ Und Moskitos? Zu unserem Glück hat es<br />
auch praktisch k<strong>ein</strong>e. Das Wasser ist zu sauer. „Der<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 315
Rio Madeira?“ „Der ist reich an Fischen.“ S<strong>ein</strong><br />
Wasser soll schlammig s<strong>ein</strong>, braun, wie die Erde,<br />
die er mitführt. „Wenn du dieses Wasser trinken<br />
willst, musst du es <strong>ein</strong>e Woche stehen lassen, ja.<br />
Aber zum Baden <strong>und</strong> Duschen ist es okay…“<br />
Aber hören wir dem Kapitän zu: „Der Rio Madeira,<br />
der ist wirklich gefährlich. Der führt immer viel<br />
Erde <strong>und</strong> Schlamm mit. Und schwer zu beschiffen<br />
ist der! S<strong>ein</strong> Bett verändert sich ständig. Da gibt es<br />
viele Sandbänke. Manchmal unterspült die<br />
Strömung <strong>ein</strong>e Sandbank, was <strong>ein</strong>e riesige<br />
Flutwelle auslöst. Da muss man schon Bescheid<br />
wissen, ja. - „M<strong>ein</strong> Bruder – Nossa Senhora! –<br />
m<strong>ein</strong> Bruder wachte <strong>ein</strong>es schönen Morgens auf<br />
<strong>und</strong> traute s<strong>ein</strong>en Augen nicht: S<strong>ein</strong> Boot lag auf<br />
dem Trockenen – der Fluss hatte über Nacht s<strong>ein</strong><br />
Bett gewechselt!“<br />
Schlimmer wohl nur, dass er ganz <strong>ein</strong>fach die<br />
Wahrheit erzählt. Nichts ist übertrieben, alles<br />
ganz realistisch. Die brutale Kehrseite des<br />
Sehnsuchtsortes Amazonas.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 316
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 317
Der Dolarsch<strong>ein</strong><br />
Der winzige <strong>und</strong> stickig-enge Krämerladen ist bis<br />
unters Dach vollgestopft. M<strong>ein</strong>e Einkäufe türmen<br />
sich schon auf der wacklig-improvisierten Theke<br />
gleich neben der Kühltruhe <strong>und</strong> der Kasse, als<br />
mich die Hand des Besitzers bannt. Sie hält <strong>ein</strong>en<br />
seltsam unbekannten Geldsch<strong>ein</strong>, reibt ihn<br />
zwischen den Fingern, streicht ihn unentschieden<br />
glatt, hält ihn prüfend weit von sich, dreht <strong>und</strong><br />
wendet ihn, um sich schließlich fragend an<br />
m<strong>ein</strong>en Begleiter zu wenden. – „Ist der echt?“ -<br />
Ja, doch, bei diesem Dollarsch<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t es sich<br />
nicht um <strong>ein</strong>e Fälschung zu handeln.<br />
Es dauert, bis wir endlich merken, dass die<br />
Banknote entscheidender Teil <strong>ein</strong>es komplizierten<br />
Handels ist. Schon wieder haut der Ladenbesitzer<br />
<strong>ein</strong> paar Zahlen in s<strong>ein</strong>en Taschenrechner. Hält<br />
ihn umgehend <strong>ein</strong>em großen, stämmigen<br />
Brasilianer japanischer Herkunft unter die Nase.<br />
Schlägt <strong>ein</strong> paar andere Ziffern r<strong>ein</strong>, die er<br />
lautstark auf Portugiesisch bekräftigt. Aha, es geht<br />
um <strong>ein</strong> Paar blumige Havaianas. Ein letzter<br />
Austausch von Zahlen via Digitalanzeige des<br />
Taschenrechners, von flinken Gesten<br />
unterstrichen, <strong>und</strong> der Handel sch<strong>ein</strong>t, vom<br />
Käufer zustimmend benickt, abgeschlossen.<br />
Schon im Weggehen, in der Hand die<br />
Plastiksandalen <strong>und</strong> sichtlich zufrieden mit <strong>ein</strong>em<br />
erfolgreichen Geschäft, bemerkt der<br />
verm<strong>ein</strong>tliche Japaner unsere fragenden Blicke<br />
<strong>und</strong> wiederholt das portugiesische Wort:<br />
“Tripulação”, Bordbesatzung, wozu er bestätigend<br />
mit dem Kopf nickt, zu dem, was uns schon der<br />
Ladenbesitzer zuraunte. Der Mann, den wir<br />
versehentlich als Brasilianer japanischer<br />
Abstammung <strong>ein</strong>schätzten, ist <strong>ein</strong> Mitglied der<br />
Besatzung des Kreuzfahrtschiffes da draußen.<br />
Entpuppt sich beim näher Hinsehen wohl eher als<br />
<strong>ein</strong> cleverer Chinese oder geschäftstüchtiger<br />
Koreaner. Fast ganz ohne Portugiesisch ist es ihm<br />
gelungen, für s<strong>ein</strong>en sauer verdienten Dollar <strong>ein</strong>en<br />
vorteilhafteren Wechselkurs herauszuschinden.<br />
Auf dem Schiff <strong>und</strong> auch hier auf Landgang sind<br />
reiche, ortsunk<strong>und</strong>ige Touristen nun mal dazu da,<br />
ausgenommen zu werden. Besonders wenn sie<br />
sich <strong>ein</strong>en Trip in die amazonische Karibik, nach<br />
Alter-do-Chão leisten können.<br />
S<strong>ein</strong> Riesenkreuzfahrtschiff ankert, wie viele<br />
andere vor <strong>und</strong> nach ihm, weit draußen. Spuckt<br />
hin <strong>und</strong> wieder gelbe Schlauchboote aus, die ihre<br />
bleiche Touristenfracht am überdimensionalen<br />
Bootssteg ausschütten, von wo aus sie dann für<br />
<strong>ein</strong>e halbe abenteuerliche <strong>und</strong> tropisch-heiße<br />
St<strong>und</strong>e den stillen Flecken überschwemmen. So<br />
wie dieser bleichschnäblige Australier im<br />
kakifarbenen Tropenanzug <strong>und</strong> –hut, der fasziniert<br />
die reichen blumigen Kaskaden <strong>ein</strong>er<br />
Bougainvillea, <strong>ein</strong>e ach so amazonische<br />
Pflanzenart (!) fotografiert. Wie sollte er auch<br />
wissen, dass auch hier die Leute für ihre Vorgärten<br />
nichts lieber mögen als exotisch importierte<br />
Blüher, am besten in den strahlensten Farben.<br />
Blüten gibt es im immergrünen Dschungel halt<br />
fast k<strong>ein</strong>e. M<strong>ein</strong> Begleiter versucht dieses<br />
etwas schiefe Bild insofern zurechtzurücken,<br />
indem er ihn auf den wirklich original<br />
amazonischen Urucumstrauch voller reifer<br />
Samenkapseln aufmerksam macht. Der steht<br />
gleich auf der anderen Straßenseite. Ist allerdings<br />
viel weniger farbenprächtig, respektive fotogen.<br />
Leider fehlt ihm die Courage, es den lokalen<br />
Touristenführer nachzumachen. Die zerreiben<br />
<strong>ein</strong> paar Samen zwischen den Fingern <strong>und</strong> malen<br />
den erstaunt-entzückten Touristen gewagt<br />
tiefrote Farbstreifen auf die welken, rosa<br />
angehauchten Wangen. Dazu ist Urucum nämlich<br />
unter anderem da.<br />
Und so wird der Lauf der Welt wohl bald auch<br />
den Amazonas <strong>ein</strong>geholt haben: <strong>ein</strong> echter<br />
Dollar, <strong>ein</strong> gefälschter Amazonas - <strong>und</strong> da soll es<br />
noch Leute geben, die das bedauern.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 318
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 319
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 320
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 321
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 322
Letzte Grenzen<br />
Caboclos Universum<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 323
Caboclos Universum<br />
Letzte Grenzen<br />
Indigenes – die ewige Faszination 328<br />
Negiertes Erbe 335-337<br />
Vom Kolonisiert-Werden 339-342<br />
Ein Platz an der Sonne 347/348<br />
Fremde unter sich / Zo’é 352<br />
Von den Quilombolas, den Nachfahren geflüchteter Sklaven 355/356<br />
Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos 366/367<br />
Arigó – oder im Land der Blinden ist der Einäugige König 369/370<br />
Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name 371<br />
Caboclos Haus 377<br />
Die Mutter der Wasser 380/381<br />
Von Schönheit leben 383/384<br />
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Indigenes – die ewige Faszination<br />
Mitten auf dem Dorfplatz, in <strong>ein</strong>er Ecke <strong>ein</strong><br />
richtiger Auflauf. Touristen formen <strong>ein</strong>e animierte<br />
Schlange. Stehen an, um sich ihr Tattoo malen zu<br />
lassen. Die Indigena ist extrem geschickt. Ihre<br />
Zeichnungen sind be<strong>ein</strong>druckend, symmetrisch,<br />
traditionell. Man sieht, dass sie viel Übung hat<br />
<strong>und</strong> geschickte Hände. Wieder steckt sie das<br />
Stäbchen in den schwarzblauen Jenipaposaft.<br />
Drückt noch <strong>ein</strong>e exakte Linie auf <strong>ein</strong>en bleichen<br />
Arm im exakt genauen Abstand zur letzten. Ganz<br />
Wagemutige halten gar das Gesicht hin. Die<br />
indigene Bemalung hebt sich w<strong>und</strong>erbar ab von<br />
den Tattoos, tendenziell ordinär, die die Touristen<br />
schon mitbringen. Die Kommunikation mit der<br />
geschickten Indigenen ist nur per Zeichen<br />
möglich. Sie spricht nur die Sprache ihres<br />
Stammes. Aber alle sind zufrieden.<br />
Andere, fremde Kulturen <strong>und</strong> Völker, auch wenn<br />
sie mitten aus Brasilien kommen, faszinieren.<br />
Etwas über sie zu lernen erweitert den Horizont,<br />
bereichert. Verändert sich die Welt, werden<br />
<strong>ein</strong>zelne Aspekte <strong>ein</strong>er Kultur, früher geächtet<br />
oder verachtet, heute neu bewertet. Das selbe<br />
passiert gerade mit den indigenen Kulturen<br />
Brasiliens. Plötzlich ist es „cult“, sich vergängliche<br />
indigene Muster aus dem traditionellen Saft des<br />
Jenipapos auf s<strong>ein</strong>e bleiche Haut, gar <strong>ein</strong>e blaue<br />
Linie, vom Augenwinkel bis zum Haaransatz <strong>und</strong><br />
von der Unterlippe übers Kinn zum Beispiel ins<br />
Gesicht malen zu lassen. Tattoos sind sowieso in<br />
Mode <strong>und</strong> die hier halten mal gute zwei Wochen.<br />
In indigenen Gesellschaften wird den Körper, der<br />
Ästhetik <strong>und</strong> der Haut im besonderen viel Wert<br />
zugemessen, der schon im Kindesalter beginnt.<br />
Die Körperbemalung variiert von Stamm zu Stamm<br />
<strong>und</strong> hat somit den Status <strong>ein</strong>er nicht verbalen<br />
Sprache. Körperbemalung zeigt den Status <strong>ein</strong>er<br />
Person in der Gruppe. Ihre Bedeutung ist sehr weit<br />
definiert. Geht von r<strong>ein</strong>er Ästhetik bis zur<br />
Vorbereitung auf <strong>ein</strong>en Krieg oder kann auch<br />
Dämonen fern halten, ist vitaler Teil von<br />
Zeremonien, Übergangsriten <strong>und</strong> anderen<br />
Ritualen. Die Bemalung wird zur zweiten Haut. Die<br />
Haut, Limit zwischen Körper <strong>und</strong> Umwelt, wird<br />
<strong>ein</strong>e Schlüsselfunktion zugeschrieben. Ein<br />
bemalter Körper ist <strong>ein</strong> ges<strong>und</strong>er Körper. Zudem<br />
schützt die Bemalung vor Sonnenstrahlen <strong>und</strong><br />
Insektenstichen.<br />
Die indigenen Völker bemalen ihre Haut mit<br />
Jenipapo, Urucum, Kohle <strong>und</strong> Kalk <strong>und</strong> färben sich<br />
auch die Haare damit. Sie mischen die Farben mit<br />
den unterschiedlichsten Palmölen, Tucum, Inajá<br />
oder mit Pequi, Copaíba, Andiroba. Ein<br />
überliefertes, gefährdetes Wissen. In Gefahr, für<br />
immer verloren zu gehen. Überrollt von der<br />
Moderne. Es handelt sich hier vermutlich um das,<br />
was die lokalen Intellektuellen als “Ethnozid”<br />
anprangern.<br />
Das Kinderfest findet <strong>ein</strong>mal pro Jahr statt. Eine<br />
<strong>ein</strong>zelne oder Gruppen von Gönnerinnen<br />
veranstalten <strong>ein</strong> Fest für all die, die es nicht so<br />
<strong>ein</strong>fach haben. Laden die Unterprivilegierten,<br />
oder besser ihre Kinder zu all dem <strong>ein</strong>, was man<br />
hier s<strong>ein</strong>en eigenen Kindern zum Geburtstag<br />
anbietet. Und alle kommen. Die meisten<br />
Indigene. Die paar blonden, plötzlich extrem<br />
weißhäutigen Kinder <strong>ein</strong> paar Intellektuelle<br />
stechen exotisch heraus. Als dann das<br />
Puppenspielerpaar aus São Paulo beim<br />
Her<strong>ein</strong>fallen der Nacht alle demokratisch um sich<br />
versammelt, sehe ich mich, leider, leider,<br />
gezwungen, mich zurück zu ziehen. Ihre traurige<br />
Geschichte erzählt von <strong>ein</strong>em der “Navios<br />
Negreiros”, den Schiffen, die die schwarzen<br />
Sklaven übers Meer brachten.<br />
Sitze gut <strong>ein</strong>gequetscht auf den <strong>ein</strong>fachen<br />
Tribünen des Sairódromos. Gleich werden die<br />
zwei “Botos”, die Delphine, der Rosa Delphin <strong>und</strong><br />
der Tucuxí, der Graue, gegen <strong>ein</strong>ander kämpfen.<br />
Es ist schon spät, aber irgendwann wird es schon<br />
losgehen. Wie <strong>ein</strong> Schlag trifft mich die<br />
Erkenntnis, dass ich von den wenigen<br />
Außenstehenden bin. Bin sehr bleich, exotisch<br />
bleich, <strong>und</strong> dazu noch Ausländerin! R<strong>und</strong> um<br />
mich herum nur Indigene. Kann mir die<br />
ungeheure Frage nicht verkneifen: Woher<br />
kommen die nur alle? Wo leben die nur alle? Im<br />
Alltag jedenfalls sind sie so gut wie unsichtbar.<br />
Ein paar nur kenne ich als Touristenführer.<br />
Am 7. September, bei der paramilitärischen<br />
Parade sind sie auch alle wieder da. Manche gar<br />
als portugiesische Eroberer verkleidet. Wie war<br />
das gleich mit dem Ethnozid? .....<br />
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Negiertes Erbe<br />
Sie erzählen, dass wenn <strong>ein</strong> Indiobaby zur Welt<br />
komme, s<strong>ein</strong>e Nabelschnur mit <strong>ein</strong>em gut<br />
geschärften Stück Bambus durchtrennt werde.<br />
Die Nabelschnur vergrabe man anschließend<br />
hinter dem höchsten Baum des Waldes, was<br />
erkläre, wie stark <strong>und</strong> unlösbar der Indio mit der<br />
Natur verb<strong>und</strong>en sei. Eine griffig-schönes, sicher<br />
wahres Bild, wenn auch ziemlich romantisch <strong>und</strong><br />
romantisiert, die perfekte Gegenwelt/Gegenthese<br />
zur ach so verdorbenen, schauerlichen Zivilisation,<br />
der wir angehören. Zweifellos, nur <strong>ein</strong> Indio<br />
bewegt sich so frei im ursprünglichen,<br />
unheimlichen amazonischen Dschungel, kennt alle<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Tiere, manchmal gar besser als die<br />
Wissenschaftler. Nur die Indios leben mit der<br />
Natur in <strong>ein</strong>em gottgeschaffenen Gleichgewicht.<br />
Eine griffig-schönes, sicher wahres Bild, wenn<br />
auch ziemlich romantisch <strong>und</strong> romantisiert.<br />
Die sozusagen reale amazonische Realität<br />
relativiert es deutlich, ist nackter, brutaler,<br />
erbarmungsloser. Die Indios unterstehen <strong>ein</strong>em<br />
Sondergesetz <strong>und</strong> haben <strong>ein</strong>en staatlichen<br />
Beschützer/Tutor, die Funai. Wird heute <strong>ein</strong> noch<br />
unbekannter Stamm Indigener lokalisiert, man<br />
basiert dabei auf von Menschen im Dschungel<br />
hinterlassenen Spuren, mündlichen Erzählungen<br />
nachbarlicher Stämme <strong>und</strong> Luftaufnahmen, die<br />
von Menschenhand geschlagene Lichtungen<br />
zeigen, beschränkt man sich heute darauf, den<br />
Aufenthaltsort des Stammes festzustellen. Es soll<br />
mindestens 46 bis heute zwar „bekannter“, aber<br />
sogenannt „isoliert lebender“ Stämme geben. Man<br />
setzt voraus, dass diese Stämme bis heute k<strong>ein</strong>en<br />
Kontakt mit der „weißen Welt“ aufnehmen<br />
wollten <strong>und</strong> so wird k<strong>ein</strong> direkter Kontakt<br />
hergestellt, <strong>und</strong> es kann <strong>und</strong> darf ihnen niemand<br />
die „W<strong>und</strong>er der Zivilisation“ bringen. Einmal<br />
geografisch lokalisiert soll es besser möglich s<strong>ein</strong>,<br />
sie effizient vor eben dieser Welt, die der<br />
Missionare, Goldgräber, Abenteurer, Wilderer <strong>und</strong><br />
Drogenschmuggler, zu schützen. Wünschten sie<br />
selbst Kontakt, werden sie von der Funai, der<br />
Indianerbehörde, abgeschirmt. Die Funai erlaubt<br />
nur sehr sporadischen <strong>und</strong> sehr kontrollierten<br />
Besuch von „Indigenistas“, Anthropologen, die ihre<br />
Sprache <strong>und</strong> Lebensweise studieren oder von<br />
Ärzteteams, die <strong>ein</strong>e rudimentäre Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />
gewährleisten.<br />
All das spiegelt die aktuelle, hart erkämpft Politik<br />
der indigenen Bevölkerung gegenüber.<br />
Auch in ihre zum Teil auch sehr grausamen Regeln<br />
<strong>und</strong> Riten, ihre Traditionen wird nicht <strong>ein</strong>gegriffen.<br />
Bei manchen Stämmen werden neugeborene<br />
Zwillinge der Natur zurückgegeben <strong>und</strong> auch<br />
behinderte Kinder werden nach der Geburt sofort<br />
getötet. Sie wären nicht überlebensfähig. Somit ist<br />
es alles andere als <strong>ein</strong>fach, <strong>ein</strong> Indiodorf, <strong>ein</strong>e<br />
„Aldeia“, zu besuchen. Nichts darf mitgebracht<br />
<strong>und</strong> nichts mitgenommen werden. Das Einzige, das<br />
sie aus „unserer Welt“ erhalten, ist <strong>ein</strong> Messer pro<br />
Person. Mit oder ohne Bewilligung der Funai -<br />
nicht jeder verfügt über die Mittel oder die<br />
körperlichen Voraussetzungen, <strong>ein</strong> Privatflugzeug<br />
zu chartern <strong>und</strong> dann noch tagelange<br />
Fußmärsche durch den Dschungel auf sich zu<br />
nehmen. Und so dominieren leider noch immer<br />
die sensationslüsternen Dokumentarfilme, voller<br />
Abenteuerromantik <strong>und</strong> Exotismus, die sich auf<br />
<strong>ein</strong>zelne, medienwirksame Rituale <strong>und</strong> fotogene<br />
Tänze der Indios konzentrieren. Auch <strong>ein</strong>zelne<br />
Stämme wie die Xingus werden so zu wirklichen<br />
Medienlieblingen. Aber auch die NOGs oder gar<br />
die missionarischen Kirchen sind sich oft nicht<br />
darüber <strong>ein</strong>ig, was nun das Beste für „ihre<br />
Indios“ sei.<br />
Wird die heile Welt der indigenen Bevölkerung<br />
als Antithese zu unserer, sich selbst<br />
zerstörenden Zivilisation gehandelt, fallen<br />
akkulturierte Indigene sozusagen zwischen Stuhl<br />
<strong>und</strong> Bank. Sie haben freiwillig oder gezwungenermaßen<br />
ihre Kultur verloren <strong>und</strong><br />
widersprechen somit dem idealisierten Bild <strong>ein</strong>es<br />
freien Indios. Werden dann sehr schnell <strong>und</strong><br />
pauschal zusammen mit Goldgräbern,<br />
Holzhändlern <strong>und</strong> anderen Regenwaldzerstören<br />
in denselben Topf geworfen.<br />
Verblüffend, wie sich die Geschichte wiederholt,<br />
auch wenn die nötigen Korrekturen gerade<br />
vorgenommen werden. In den ersten, heute<br />
335
verfügbaren, schriftlichen Aufzeichnungen über<br />
Brasiliens Norden, zwar oft als unberührt <strong>und</strong><br />
somit <strong>ein</strong>e Art Garten Eden oder exotisches<br />
Paradies beschrieben, spricht der spanische<br />
Seefahrer Vicente Yañez Pinzón, von ganz<br />
anderem. S<strong>ein</strong>e Logbücher, die aus dem Jahr 1500<br />
datieren, zeugen vom Gegenteil,<br />
beschreiben große „Aldeias“, Indiodörfern, dicht<br />
besiedelt <strong>und</strong> nah bei<strong>ein</strong>anderliegend, gut<br />
strukturiert <strong>und</strong> von mächtigen lokalen Chefs<br />
kontrolliert! Als erster Ausländer, der des Deltas<br />
des Amazonas ansichtig wurde, Teil <strong>ein</strong>es<br />
faszinierend riesigen, neu entdeckten Stück Erde,<br />
wurden s<strong>ein</strong>e Aufzeichnungen bis vor Kurzem als<br />
zu fantastisch <strong>und</strong> fantasievoll abgetan. Außer<br />
unzähligen „Sambaquis“, große, künstliche <strong>und</strong><br />
über Jahre aus Muscheln aufgeschüttete Hügel,<br />
<strong>ein</strong>e überaus reiche Keramik voller Geheimnisse,<br />
riesige Begräbnisurnen, töpferne, stilisierte<br />
Puppen <strong>und</strong> Figuren, Höhlenzeichnungen <strong>und</strong><br />
noch viel mehr, was auf Ur<strong>ein</strong>wohner mit <strong>ein</strong>er<br />
komplexen Kultur schließen lässt, gab es wenig,<br />
das von dieser Zeit erzählen könnte.<br />
Die Geschichte dieser vorcabralischen Indios,<br />
geschätzte Zahlen sprechen von mehr als 300<br />
unterschiedlichen Indiostämmen, die nicht nur<br />
alle ihre eigene Sprache sprachen, sonder sich<br />
unter<strong>ein</strong>ander bekämpften <strong>und</strong> abwechslungsweise<br />
mit den Eroberern gegen andere Allianzen<br />
<strong>ein</strong>gingen, muss noch geschrieben werden.<br />
Revolutionäre neuere Ausgrabungen <strong>und</strong><br />
Luftaufnahmen versprechen überraschende<br />
Rückschlüsse, die alles, was man bisher zu wissen<br />
glaubte, auf den Kopf stellen sollen.<br />
Die während der letzten Jahrzehnten entdeckten<br />
Knochen, Fischgräten <strong>und</strong> Muschelschalen,<br />
Keramikfragmente <strong>und</strong> Höhlenzeichnungen <strong>und</strong><br />
andere archäologische F<strong>und</strong>e beweisen,<br />
zusammen mit neuer Forschungen, dass der<br />
amazonische Regenwald alles andere als <strong>ein</strong><br />
unbewohnt jungfräuliches Paradies war <strong>und</strong> ist.<br />
S<strong>ein</strong>e Entjungferung muss vor sehr langer Zeit<br />
stattgef<strong>und</strong>en haben. Es wird vermutet, dass<br />
präkolumbianische Völker von den Anden<br />
herunterstiegen <strong>und</strong> das Delta des Amazonas<br />
erreichten. Noch vor kurzer Zeit glaubte man, dass<br />
sie kaum Spuren hinterlassen hätten. Heute kann<br />
man beweisen, dass diese Gem<strong>ein</strong>schaften in die<br />
Fauna des Tropenwaldes <strong>ein</strong>griffen, sie<br />
veränderten. Diesen Völkern gelang es 8.000<br />
Jahre vor Christus Pflanzen, die ihnen von Nutzen<br />
waren, zu domestizieren. Analysen zeigen, dass sie<br />
85 Arten von Pflanzen, unter ihnen die Paranuss<br />
<strong>und</strong> den Kakao, anpflanzten, so dass diese<br />
Pflanzenarten r<strong>und</strong> um archäologische F<strong>und</strong>stellen<br />
herum gehäuft auftreten. Was nichts anderes<br />
bedeutet, dass hier Menschen gerodet, angebaut,<br />
Nutzpflanzen verbessert <strong>und</strong> als Spuren die<br />
berühmte «Terra Preta», Schwarze, sehr<br />
fruchtbare Erde, <strong>ein</strong>e Art Kompost<br />
zurückgelassen haben <strong>und</strong> natürlich viel<br />
Sambaquis, Muschel- oder Fischgrätberge.<br />
Seltsamerweise sch<strong>ein</strong>t diese Tatsache nicht so<br />
gut ins Bild zu passen, das sich <strong>ein</strong>e breite<br />
Öffentlichkeit <strong>und</strong> auch <strong>ein</strong> Teil der<br />
Umweltbewegung vom unberührten Amazonas<br />
macht. Nicht nur Hinterwäldler, die Cabocolos<br />
wohnen schon viel länger hier als erwartet, es<br />
gibt gar Städte <strong>und</strong> überhaupt viele, sehr viele<br />
noch ungelesene Spuren.<br />
Das Verhältnis zur indigenen Bevölkerung<br />
Brasiliens ist bis heute gebrochen. Zwar werden<br />
sie nicht mehr als Ausstellungsgut missbraucht,<br />
sozusagen lebende Souvenirs, Zeugen, die man<br />
anfassen kann, wie die 1820 von den<br />
Naturforschern Spix <strong>und</strong> von Martius nach<br />
Europa mitgenommenen vier Indiokinder oder<br />
das Indiopaar vom Stamm der Botokuden, das<br />
neben zahlreichen Tieren, 1835 im Wiener<br />
„Brasilianum“ des anderen Naturforschers<br />
Johann Natter riesige Erfolge verbuchte. Sie<br />
überlebten das Exil nicht lange. Auch wenn es<br />
uns heute missfällt, kann man in den<br />
Aufzeichnungen fast all dieser Naturforscher<br />
laut, deutlich <strong>und</strong> politisch unkorrektesten <strong>und</strong><br />
nachlesen, was sie von den Indianern oder Indios<br />
hielten. Sie erforschten die Exoten zwar<br />
<strong>ein</strong>gehend, brachten viele Kultgegenstände <strong>und</strong><br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 336
Federschmuck nach Europa mit, bis heute in den<br />
Sammlungen unterschiedlichsten Völkerk<strong>und</strong>emuseen,<br />
fanden sie <strong>und</strong> ihre Kultur zwar<br />
hochinteressant, stuften sie aber unisono als<br />
unterentwickelte, primitive Wilde <strong>ein</strong>.<br />
Das ist <strong>ein</strong>e harte Bürde. Indigener im Amazons<br />
zu s<strong>ein</strong> ist alles anderes als leicht. Sieht man den<br />
Amazonas als <strong>ein</strong>e letzte Grenze der Zivilisation,<br />
als <strong>ein</strong>e der letzten Gegenden, die sich an die<br />
Modernität anpassen müssen, trifft man hier<br />
immer noch auf <strong>ein</strong>e sehr unflexible soziale<br />
Hierarchie. Die Schichten in der sozialen Pyramide<br />
sind extrem ungerecht verteilt <strong>und</strong> werden von<br />
den Minderbemittelten selber selten oder nie<br />
infrage gestellt. Wie das restliche Brasilien leidet<br />
der Norden besonders darunter, dass sich der<br />
Besitz <strong>und</strong> die Macht in den Händen <strong>ein</strong>iger<br />
weniger Privilegierter konzentrieren, die in k<strong>ein</strong>er<br />
Art <strong>und</strong> Weise Willens sind, auch nur <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es<br />
Stück vom lukrativen Kuchen abzugeben.<br />
Einer der Hinterlassenschaften <strong>ein</strong>er Gesellschaft,<br />
die sich in Klassen aufteilte, sich gar auf Sklaverei<br />
gründete, ist das Beispiel, dass harte <strong>und</strong><br />
körperliche Arbeit k<strong>ein</strong>erlei Wertschätzung<br />
erfährt. Das Ausgrenzen von ganzen Bevölkerungsgruppen<br />
hat <strong>ein</strong>e lange Tradition <strong>und</strong><br />
besonders die Indigene Bevölkerung wird bis<br />
heute als <strong>ein</strong>e Art Unterklasse, als Bürger zweiter<br />
Kategorie angesehen.<br />
Schon der Soziologe <strong>und</strong> Ethnologe Levi Strauss,<br />
s<strong>ein</strong> Buch über die brasilianischen Indigenen<br />
„Traurige Tropen“ basiert auf den Reisen in<br />
brasilianische Hinterländer, die zwischen 1935 <strong>und</strong><br />
1938 stattfanden, sagt schon im Titel, welche<br />
Schlüsse er daraus zog. Auch die Gebrüder Villas<br />
Bôas, Orlando, Cláudio e Leonardo, drei<br />
abenteuerlustige Paulistas, die sich gegen Ende<br />
1930 für den von Präsident Getúlio Vargas vorgeschlagenen<br />
Marsch gegen Osten <strong>ein</strong>schrieben,<br />
dabei vorgeben mussten, Analphabeten zu s<strong>ein</strong>,<br />
machten sehr viele traurige Erfahrungen. Die erste<br />
Expedition, genannt Roncador-Xingu, gab ihren<br />
Leben <strong>ein</strong>e ganz neue, nicht voraussehbare<br />
Richtung. Orlando, der älteste, wurde zum großen,<br />
weitsichtigen Anführer. Nachdem sie erleben<br />
mussten, wie die Indigenen von Grippewellen<br />
dahin gerafft wurden, machten sie sich für die<br />
ersten indigenen Schutzgebiete am Xingu stark<br />
<strong>und</strong> arbeiteten bis an ihr Lebensende als<br />
renommierte “Indigenistas” <strong>und</strong> “Sertanistas”. Sie<br />
waren die Pioniere <strong>ein</strong>es neuen Verhältnisses <strong>und</strong><br />
Verständnisses, das Brasilien s<strong>ein</strong>er indigenen<br />
Bevölkerung entgegenbringt.<br />
Leider, leider fehlt noch viel. Aber Brasilien sch<strong>ein</strong>t<br />
erwacht. Und vor allem auch die Indigenen haben<br />
verstanden, dass nur sie sich selbst retten können.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 337
In der lokalen Schule, die nach dem indigenen Stamm der Boraris benannt ist, lernen die Kinder der<br />
Unterschicht so nützliche Dinge wie Nheengatu. Nheengatu, <strong>ein</strong>st Lingua franca, <strong>ein</strong>e Art “Generelle<br />
Sprache”, wurde von den Kolonisatoren <strong>und</strong> den Jesuiten im Schulunterricht <strong>und</strong> in der Katechese<br />
verwendet. Sie wird heute aber als ethnische Affirmation indigener Bevölkerungsteile, die ihre<br />
Muttersprache verloren haben, an verschiedenen öffentlichen Schulen unterrichtet.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 338
Vom Kolonisiert-Werden<br />
„Nascer português era obrigação de morrer<br />
peregrino“, so schrieb es <strong>ein</strong>er der berühmtesten<br />
Jesuiten, der bis heute für s<strong>ein</strong>e „Sermões“ hoch<br />
gerühmte Antônio Vieira. „Wer als Portugiese<br />
geboren wird, ist dazu bestimmt als Pilger zu<br />
sterben.“ Ob er damit wohl die Mission der<br />
Jesuiten (<strong>und</strong> anderer religiöser Orden) <strong>und</strong>/oder<br />
den Amazonas gem<strong>ein</strong>t hat, den er selber sehr<br />
gut kannte? S<strong>ein</strong> Orden schickte ihn, den<br />
geschickten Politiker, den mächtigen Vertrauten<br />
<strong>und</strong> intimen Berater des portugiesischen Königs<br />
zwischen 1653 <strong>und</strong> 1661 auf <strong>ein</strong>e Mission den<br />
Amazonas hoch. Im s<strong>ein</strong>en unvergleichlich<br />
bildhaften „Sermões“, Predigttexte <strong>und</strong> Briefe,<br />
beschreibt er den Amazonas s<strong>ein</strong>er Zeit als <strong>ein</strong>e<br />
Art Turmbau zu Babel. Auf s<strong>ein</strong>en Reisen stieß er<br />
auf so viele verschiedene indigenen Sprachen,<br />
dass er dafür den biblischen Vergleich schuf. Der<br />
wiederum zeigt uns, dass der Amazonas schon zu<br />
dieser Zeit k<strong>ein</strong>esfalls <strong>ein</strong> unbewohntes Paradies<br />
war.<br />
Wen überrascht´s? Mitten im Amazonas versteckt<br />
sich <strong>ein</strong> hochkomplexer Teil Weltgeschichte. Noch<br />
versteckt <strong>und</strong> nur zögerlich stoßen die neuesten<br />
Forschungen <strong>und</strong> mit ihnen die unterschiedlichsten<br />
Neubewertungen der amazonischen<br />
Geschichte der Zeit vor <strong>und</strong> während der<br />
Besetzung durch die Portugiesen bis zu <strong>ein</strong>em<br />
breiteren Publikum vor. Auch hier im Amazonas<br />
wird, wie auf der ganzen Welt, die Geschichte der<br />
Kolonisation ganz neu bewertet. Manche Forscher<br />
sprechen, je nach politischer Couleur <strong>ein</strong>e sehr<br />
anklägerische Sprache, sehen in der Ausrottung<br />
der Indigenen Bevölkerung <strong>ein</strong>en der größten<br />
Genozids oder Ethnozids der Geschichte. Auch die<br />
Betroffenen melden sich immer mehr <strong>und</strong> immer<br />
artikulierter zu Wort. Längst haben sie sich im<br />
Ausland potentere Partner zugelegt als hier in<br />
Brasilien, wo der Frage der Indios noch immer <strong>ein</strong>e<br />
gute Lobby fehlt.<br />
Wie die neuesten Forschungen beweisen, soll es<br />
laut Schätzungen bei der Ankunft der Portugiesen<br />
in Brasilien zwischen drei <strong>und</strong> fünf Millionen<br />
Indigene gegeben haben. Die teilten sich in<br />
ungezählte Stämme mit eigener Sprache <strong>und</strong><br />
Kultur auf. Die Aufzeichnungen der ersten<br />
Chronisten aus dem 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert, die<br />
die Flüsse Solimões <strong>und</strong> Amazonas bereisten,<br />
sprechen von unzähligen indigenen Nationen, die<br />
entlang der Flussufer siedelten. Sie wiesen<br />
besonders auf das reiche Angebot an Nahrungsmittel<br />
hin, über das die lokale Bevölkerung<br />
verfügte.<br />
Arm in Arm mit den Kolonisatoren, den ersten<br />
Portugiesen, kamen die unterschiedlichsten<br />
katholischen Orden, ausgeschickt von der<br />
allmächtigen katholischen Kirche in den Amazonas.<br />
Sie fanden, <strong>und</strong> finden hier, heute sind es<br />
besonders die evangelikalen Kirchen, ihre letzten<br />
Grenzen, um missionarisch tätig zu werden. Es<br />
gilt in der Zwischenzeit als bewiesen, dass es<br />
Portugal vor 500 Jahren wohl ohne die tatkräftige<br />
Hilfe, der, zu dieser Zeit bis zum Hals in die<br />
Gegenrevolution verstrickte, katholische Kirche<br />
nicht gelungen wäre, sich Brasilien, besonders<br />
den Amazonas, so erfolgreich untertan zu<br />
machen. Schon 1587 war <strong>ein</strong> Teil der<br />
Indiobevölkerung, in eigenen Indiodörfern<br />
ansiedelt, direkt den Orden unterstellt, der sie<br />
erziehen, zivilisieren <strong>und</strong> damit christianisieren<br />
sollte.<br />
Die Katholische Kirche ging systematisch vor.<br />
Allen voran wurden die allerbesten Kräfte, die<br />
Jesuiten, straffstens organisiert <strong>und</strong> mit ihrer<br />
eigenen, glasklaren, komplett globalisierte Vision<br />
<strong>ein</strong>es weltumspannenden religiösen Imperiums<br />
von Brasilien bis Japan, in die Wildnis geschickt.<br />
Wo sie sich den Seelen genauso annahmen wie<br />
dem Kommerz mit dem Mutterland Portugal.<br />
Parallel dazu wurde in Europa, besonders in<br />
Spanien <strong>und</strong> Rom, komplexe Weltpolitik<br />
betrieben. Die war für die amazonischen<br />
Indigenen von entscheidender Bedeutung. Im<br />
Jahre 1452 gestattete <strong>ein</strong>e päpstliche Bule das<br />
Versklaven von Sarazenen, Heiden <strong>und</strong> anderen<br />
Ungläubigen. Damit war die Sklaverei offiziell<br />
etabliert. Viele Jahre später aber wuchs unter<br />
der Federführung des Dominikaners Bartolomé<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 339
de Las Casas <strong>ein</strong>e moralische <strong>und</strong> humanistische<br />
Diskussion, die in der päpstlichen Bule Sublimis<br />
Deus vom Papst Paul III im Jahre 1537 sanktioniert,<br />
gipfelte. Sie hatte das Ziel, die indigene<br />
Bevölkerung der neu entdeckten Welten von der<br />
Versklavung auszunehmen. Die selbe hatte der<br />
spanische König Karl V. schon 1530 in s<strong>ein</strong>en<br />
Kolonien verboten.<br />
Einen wichtigen Anteil daran hatte der<br />
Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der damit<br />
eigene Erlebnisse in Mexiko aufarbeitete <strong>und</strong><br />
dadurch zum Fürsprecher der Indigene<br />
Bevölkerung konvertierte. In dem als “Disput von<br />
Valladolid” in die Geschichte <strong>ein</strong>gegangene<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzung zwischen dem Dominikaner<br />
Bartolomé de Las Casas <strong>und</strong> dem Humanisten<br />
Juan Gunés de Sepúlveda, abgehalten in der Stadt<br />
mit dem selben Namen, disputierten die beiden<br />
1550/51 über die Legitimität der Versklavung der<br />
Amerindianer. Die Sklaverei wurde in den neu<br />
entdeckten Ländern als ökonomische Notwendigkeit<br />
angesehen.<br />
In der Aus<strong>ein</strong>andersetzung standen sich zwei<br />
entgegengesetzte Weltbilder gegenüber. Die Pro-<br />
Sklaverei argumentierten damit, dass die indigene<br />
Bevölkerung Barbaren seien, gar Tiere, direkt vom<br />
Teufel inspiriert, die im Fall <strong>ein</strong>er Notwendigkeit<br />
deshalb Versklavung <strong>und</strong> Krieg unterworfen<br />
werden könnten. Die andere Seite proklamierte,<br />
dass die Indigenen <strong>ein</strong>e Seele hätten, damit<br />
Menschen <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>e Tiere seien <strong>und</strong> ihnen <strong>ein</strong>e<br />
Reihe von Gr<strong>und</strong>rechten wie Freiheit <strong>und</strong><br />
Eigentum zugestanden werden müsse. Als Wegzoll<br />
solle ihnen allerdings das Evangelium beigebracht<br />
werden. Menschen mit Seelen mussten also<br />
gerettet werden, was wiederum die religiösen<br />
Orden übernahmen. Sie verwandelten die<br />
Eingeborenen in wahre Menschen <strong>und</strong> legitimen<br />
Untertanen der Kolonisatoren.<br />
Auf welcher Seite man auch immer stehen mag,<br />
soweit man weiß, waren es zuerst die hochgebildeten,<br />
immer mehrsprachigen Jesuiten, die sich<br />
die indigenen Sprachen aneigneten. Der Tatsache<br />
gewiss, dass <strong>ein</strong>e effiziente Bekehrung nur möglich<br />
war, wenn sie die Sprache, Sitten <strong>und</strong> Gebräuche<br />
der Indios kennen lernten. Sie gingen sehr systematisch<br />
vor, erarbeiteten die ersten Wörterbücher<br />
<strong>und</strong> Grammatiken Tupí-Portugiesisch <strong>und</strong><br />
übersetzten dann den Katechismus in die<br />
verschiedenen Indiosprachen. Um sich im<br />
herrschenden Sprachensalat verständigen zu<br />
können, etablieren sich auch verschiedene<br />
„Generalsprachen“, unter ihnen Nhengatu, die<br />
bald überall gesprochen werden.<br />
Neben diesen Oasen aber bleibt der Amazonas<br />
wild, unzivilisiert, <strong>ein</strong>e Art Wilder Norden. Nicht<br />
von ungefähr nennen die Peruaner ihren Teil des<br />
Amazonas bis heute offiziell <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> simpel “A<br />
Selva”, die Wildnis. Immer wieder kommen der<br />
portugiesischen Kolonialverwaltung<br />
Aufzeichnungen von Missbrauch der Autoritäten<br />
gegenüber der Bevölkerung, Versklavung von<br />
Indigenen unter die Augen. Weit weg von<br />
Portugal, dem selbst ernannten Zentrum dieser<br />
Welt, sch<strong>ein</strong>t alles möglich, Gutes <strong>und</strong> Schauerliches.<br />
Es herrscht Pragmatismus, anders<br />
ausgelegt wohl auch der Gleichgültigkeit, so<br />
typisch für die Haltung, mit der Portugal der<br />
Kolonie gegenüber steht, nur an der ökonomischen<br />
Ausbeutung interessiert. Immer wieder<br />
flackern lokal kl<strong>ein</strong>e Revolutionen auf – nicht alle<br />
indigenen Stämme lassen sich widerstandslos<br />
kolonisieren. Sie gehören aber seit Anfang an zu<br />
den Verlierern <strong>und</strong> werden immer mehr hinter<br />
die letzten Grenzen zurückgedrängt, irgendwo<br />
noch tiefer in den Tropenwald hin<strong>ein</strong>.<br />
Geschichte, die sich immer wiederholt <strong>und</strong> die<br />
erst noch aufgearbeitet werden muss.<br />
Erst der portugiesische Minister Marques de<br />
Pombal setzt 1758 den „Generellen Sprachen“<br />
<strong>ein</strong> Ende, lässt alle Wörterbücher Tupí-<br />
Portugiesisch verbrennen, Portugiesisch wird zur<br />
offiziellen Landessprache. Er bricht das Monopol<br />
der Jesuiten im Schulwesen <strong>und</strong> schickt so<br />
Brasilien auf <strong>ein</strong>en aufgeklärteren, wechselhaften<br />
Weg in die Zukunft. Für die indigene<br />
Bevölkerung aber ändert sich wenig. Der Verlust<br />
der eigenen Kultur ist unaufhaltsam. Vom<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 340
Zusammenleben profitieren beide Seiten, wenn<br />
auch unter ungleichen Bedingungen. Die<br />
vergleichsweise bequeme Leben in den Dörfern<br />
<strong>und</strong> Städten zog <strong>und</strong> zieht die Indigenen, wie<br />
heute noch, magisch an. In allen Aufzeichnungen<br />
der verschiedensten Naturalisten kann man<br />
nachlesen, dass es wahrsch<strong>ein</strong>lich am Rande von<br />
allen amazonischen Dörfern <strong>und</strong> Städten <strong>ein</strong> paar<br />
eher behelfsmäßige Behausungen mit <strong>und</strong> von<br />
Indios <strong>und</strong> Schwarzen gab, die Vorläufer der<br />
heutigen Favelas. Die der Indios erinnerten mit<br />
ihren Strohdächern wohl eher an <strong>ein</strong>en nach allen<br />
Seiten offenen Lagerraum, in den <strong>ein</strong> paar<br />
Hängematten aufgespannt waren. Zur<br />
Gesellschaft gehören sie offiziell nicht. Den<br />
pragmatischen Portugiesen gelingt es anderseits,<br />
sehr viel von den lokalen Gewohnheiten, dem<br />
Essen, dem Ackerbau zu assimilieren <strong>und</strong> damit in<br />
den Tropen zu überleben. Und auch die indigenen<br />
Frauen verachten sie nicht.<br />
Zwar kreiert im Jahr 1857 José de Alencar in<br />
s<strong>ein</strong>em Fortsetzungsroman den idealen, edlen<br />
Indio aus „O Guarani“, später von Carlos Gomes<br />
als Oper idealisiert, <strong>und</strong> danach die unglückliche<br />
Häuptlingstochter „Iracema“, aber erst 1922<br />
besinnt sich Mário de Andrade mit dem höchst<br />
unmoralisch cleveren „Macunaíma“, <strong>ein</strong> Held<br />
ohne Charakter, auf urbrasilianische Wurzeln -<br />
Brasilien beginnt sich endlich vom erdrückenden<br />
europäischen Einfluss zu lösen <strong>und</strong> sucht <strong>ein</strong>e<br />
eigene Identität.<br />
Zur selben Zeit stellt sich auch Cândido Mariano da<br />
Silva Rondon, der sich in <strong>ein</strong>er heroischen Leistung<br />
mit s<strong>ein</strong>en Soldaten, die Mehrheit zwangsverpflichtet,<br />
<strong>ein</strong>ige haben Frauen <strong>und</strong> Kinder mit<br />
dabei, im Malaria verseuchten Tropenfeuchtwald<br />
den Weg für s<strong>ein</strong>e Telegrafenleitung frei schlägt,<br />
nach vielen Begegnungen mit den Indios auf deren<br />
Seite. Wird aus „humanistisch-religiösen“ Gründen<br />
zu deren paternalistischem Beschützer. Einer der<br />
neueren Amazonasstaaten, Rondônia, ist nach ihm<br />
benannt.<br />
Aber zurück zum Anfang. Laut Schätzungen soll es<br />
bei der Ankunft der Portugiesen zwischen drei<br />
<strong>und</strong> fünf Millionen Indigene Einwohner gegeben<br />
haben. Denen stehen heute ca. 180 indigene<br />
Völker entgegen, deren Bevölkerung 208 Millionen<br />
Individuen zählt. Von denen über 70 % im<br />
Amazonas leben. Dass die Zahlen wieder zunehmen,<br />
gibt nicht nur der indigenen Bevölkerung<br />
Hoffnung. Wie es sch<strong>ein</strong>t, wird die Geschichte <strong>und</strong><br />
die Zukunft jener Völker, die mit der Ankunft der<br />
Portugiesen jäh <strong>und</strong> brutal unterbrochen wurde,<br />
etwas weniger dunkel s<strong>ein</strong>. Waren die religiösen<br />
Orden mit all ihrem kulturellen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
ihrer Weltgewandtheit nicht in der Lage, den gut<br />
entwickelten lokalen Kulturen den ihnen<br />
zustehenden Wert beizumessen, so sch<strong>ein</strong>t sich<br />
das Blatt doch ganz langsam zu wenden.<br />
Zwar sind die indigenen Bevölkerung, <strong>ein</strong>e Folge<br />
der Versklavung, Christianisierung <strong>und</strong> des<br />
Ethnozides seit 1850 nicht mehr in der Mehrzahl.<br />
Dazu trug auch die brutale Unterdrückung der<br />
Revolution der „Cabanagem“ in der ersten Hälfte<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts das ihre bei. Sie hatte<br />
großen Zuspruch der indigenen Bevölkerung, <strong>und</strong><br />
die Mehrheit sah sich gezwungen, sich der<br />
Verfolgung dadurch zu entziehen, indem sie sich<br />
hinter die letzten Grenzen zurückzogen. Aber<br />
auch hier wurden sie später von der Zivilisation<br />
<strong>ein</strong>geholt. Der Boom des Kautschuks brachte<br />
viele Verzweifelte dazu, sich immer weiter in den<br />
Dschungel vorzuwagen. Der Luxus der<br />
Kautschukbarone forderte <strong>ein</strong>en hohen Preis an<br />
Menschenleben.<br />
Mit der Integrationspolitik des Amazonas in den<br />
Jahren 1960 bis 70 gingen die Massaker an der<br />
indigenen Bevölkerung weiter. Im Namen des<br />
Fortschrittes wurden Schneisen, die zu Straßen<br />
wurden in die unendlichen Wälder geschlagen.<br />
Es entstanden die Transamazônica <strong>und</strong> die Belém<br />
Brasilia, BR 364, 174 <strong>und</strong> die Perimetral Norte.<br />
Viele indigene Stämme verloren ihre Gebiete,<br />
wurden von ihren Ländern verjagt oder <strong>ein</strong>fach<br />
ausgetilgt. Aber die 1970 Jahre stehen auch für<br />
<strong>ein</strong>e Kehrtwende in der indigenen Resistenz.<br />
Besonders die Kirche, vertreten vom Conselho<br />
Indigenista Missionário (Cimi), half der indigenen<br />
Bevölkerung sich besser zu organisieren <strong>und</strong> ihre<br />
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Probleme in übergreifenden Versammlungen zu<br />
diskutieren. Mit Hilfe der Medien begannen sie,<br />
die fortschrittsgläubigen Megaprojekt der<br />
Militärdiktatur anzuprangern, die aus dem Ziel die<br />
Indios auszurotten k<strong>ein</strong>en Hehl machte.<br />
Mit der Konstitution von 1998 gelang es der<br />
indigenen Bevölkerung dann, historische Rechte<br />
geltend zu machen <strong>und</strong> als soziale Gruppe<br />
akzeptiert zu werden. Damit wendete sich das<br />
Blatt endgültig. Die indigene Bevölkerung rief zum<br />
Widerstand auf. Im Jahre 2000 an der “Marcha e<br />
Conferência Indígena 2000” machte <strong>ein</strong><br />
Spruchband darauf aufmerksam: "Reduzidos sim,<br />
vencidos nunca“ – Reduziert ja, besiegt nie. Heute<br />
gibt es, wie schon zur Zeit der “Cabanagem”,<br />
interethnische Allianzen, zusammen mit anderen<br />
Minderheiten <strong>und</strong> Randgruppen. Und auch die<br />
ersten indigenen Universitätsabsolventen kehren<br />
schon zu ihren Stämmen zurück. Mit <strong>und</strong> ohne<br />
Hilfe des Auslandes beginnt die indigene<br />
Bevölkerung sich zu organisieren, zu mobilisieren<br />
<strong>und</strong> nimmt auch die Selbstbestimmung <strong>und</strong><br />
Selbstbehauptung immer ernster. Stämme, die<br />
ihre Identität verdeckten <strong>und</strong> versteckten,<br />
nehmen sie öffentlich für sich in Anspruch, auch<br />
wenn man hinter vorgehaltener Hand noch<br />
immer hört, dass sie hier nur zu Indios werden,<br />
wenn man etwas dafür bekommt. Die wohl<br />
größte Kehrwende ist die Anerkennung indigener<br />
Bevölkerungsgruppen in den Städten.<br />
Aber es ist noch viel zu tun. Minderheiten zu<br />
hören hat k<strong>ein</strong>e Tradition im Amazonas. Das<br />
neueste Beispiel ist der Staudamm für das<br />
Kraftwerk Belo Monte, das während der<br />
Regierungszeit Dilma Ruseffs in Betrieb<br />
genommen wurde <strong>und</strong> das Erden unter Wasser<br />
setzte, die der lokalen indigenen Bevölkerung als<br />
heilige Territorien gelten.<br />
Persönlich stehe ich, wie man auf Portugiesisch<br />
sagt, “em cima do mur”, auf der Mauer drauf,<br />
ohne mich auf <strong>ein</strong>e der Seiten zu schlagen. Denn<br />
immer, wenn ich an <strong>ein</strong>em populären Volksfest,<br />
<strong>ein</strong>em Aufmarsch zu <strong>ein</strong>em Nationalfeiertag hier<br />
um mich schaue, sind sie alle da, r<strong>und</strong> um mich<br />
herum, alles Indigene, ihre Züge streiten ihre<br />
lokale Herkunft nicht ab. Nur ihre Kultur haben sie<br />
verloren, die meisten aber freiwillig, leider.<br />
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Ein Platz an der Sonne<br />
Als mir die Ehre zuteilwird, gebe ich gerne zu,<br />
dass ich nun wirklich nicht so genau weiß, ob ich<br />
denn nun, oder nicht, starren nicht, aber diskret<br />
vielleicht schon, hinschauen dürfte, sollte. Mitten<br />
im armseligen, lokalen Supermarkt steht er,<br />
sozusagen Auge in Auge mit den Gestellen mit<br />
Eingebüchstem, als wirklicher, echter Indigener<br />
vor mir, der dekorativ in die Unterlippe<br />
<strong>ein</strong>gelassene, nicht gerade diskrete, flache Teller<br />
lässt k<strong>ein</strong>en Zweifel daran. Heute weiß ich, dass<br />
dieser Pflock ihn als Mitglied der Caiapós<br />
ausweist, so wie andere Stämme sich mit <strong>ein</strong>em<br />
Keil im Kinn schmücken oder mit vier Stöckchen,<br />
stilisierte Schnauzhaare, <strong>und</strong> sich damit als<br />
Jaguare nachschöpfen. Weiß auch, dass er s<strong>ein</strong>e<br />
Blößen nur hier in der Gesellschaft bedeckt.<br />
Hier im Norden Brasiliens sind die Indios mit ihren<br />
hohen Wangenknochen <strong>und</strong> den geschlitzten<br />
Augen, den flachen Nasen, breit <strong>und</strong> fleischig<br />
Nasenflügeln, dem pechschwarzen <strong>und</strong><br />
schnurgerade wie <strong>ein</strong> Wasserfall fallenden Haar<br />
<strong>und</strong> der olivfarbenen Haut klar in der Überzahl.<br />
Man begegnet ihnen überall. Leider ist ihnen ihre,<br />
von uns so hochstilisierte, Kultur irgendwo auf<br />
dem langen Weg abhandengekommen. Wie<br />
könnte es auch anders s<strong>ein</strong>. S<strong>ein</strong>e Codes, s<strong>ein</strong>e<br />
Verhaltensweisen, s<strong>ein</strong> Wissen haben im urbanen<br />
Kontext k<strong>ein</strong>en Wert, verlieren ihre Funktion.<br />
Werden, wenn überhaupt, noch in irgendwelchen<br />
Nischen praktiziert <strong>und</strong> werden bis heute hinter<br />
vorgehaltener Hand als minderwertig, rückständig<br />
<strong>und</strong> abergläubisch angesehen. Wer sie praktiziert,<br />
gehört tendenziell zur Unterschicht <strong>und</strong> ist schon<br />
damit abgestempelt <strong>und</strong> diskriminiert. Er ist zum<br />
Leben am Rande der Städte verbannt, in jenen<br />
Favelas, die hier aus Stelzen in die vielen Wasser<br />
hin<strong>ein</strong> gebaut werden. Auch dass die Indios<br />
pudelnackt herumlaufen, was Brasilianer nie tun<br />
würden, hilft nicht, sie uns anzunähern.<br />
Auch das Gegenteil passiert oft. Viele verbergen<br />
ihre kindliche Faszination nicht, bemitleiden die<br />
Indigenen oder verniedlichen ihre Bew<strong>und</strong>erung<br />
für alles was Indigen ist. Wie in <strong>ein</strong>em kulturellen<br />
Selbstbedienungsladen, meist von purem<br />
Unwissen genährt, bemächtigen sie sich<br />
bestimmter Rituale oder Weltansichten ohne sie in<br />
<strong>ein</strong>em größeren Zusammenhang zu sehen.<br />
Bezeichnen Sie deshalb k<strong>ein</strong>en, auch wenn ihm<br />
das Indioblut ins Gesicht geschrieben steht, als<br />
Indio! Indios leben, fast nackt, im Urwald, bemalen<br />
sich st<strong>und</strong>enlang den Körper <strong>und</strong> tanzen. Sie<br />
überlassen es ihren Frauen, Maniok zu pflanzen,<br />
während sie sich in endlosen „Nhanhanhas“,<br />
weitschweifigen Gesprächen, die zu nichts führen,<br />
verlieren oder sich in sinnlose Kriege verstricken,<br />
wenn sie nicht schon längst dem Alkohol oder der<br />
Prostitution verfallen sind. Hinter vorgehaltener<br />
Hand oder in Gesprächen auf Stammtisch oder<br />
Taxifahrerniveau werden sie gar als nicht viel mehr<br />
als Tiere bezeichnet.<br />
Auch lokale Intellektuelle, für mich ganz klar<br />
indianischer Abstammung, sch<strong>ein</strong>en blinde<br />
Spiegel zu haben. Dieselben Intellektuellen,<br />
denen man mit böser brasilianischer Zunge<br />
nachsagt, dass sie k<strong>ein</strong>e lieberen Studienobjekte<br />
hätten als Armut <strong>und</strong> Misere, sehen nicht die<br />
geringste Notwendigkeit, diese Facette ihres<br />
S<strong>ein</strong>s auch nur anzuerkennen. So bleibt den<br />
indigenen Völkern ihre komplizierte Nische<br />
vorbehalten, in der Anthropologen alle 10 Jahre<br />
ihre Ansichten wechseln, sich unter<strong>ein</strong>ander<br />
bef<strong>ein</strong>den, „ihre“ Indios retten wollen oder nicht,<br />
folkloristisch verbrämt, <strong>ein</strong> mystischer Halbschatten.<br />
Bew<strong>und</strong>ert/bedauert unterstehen sie, nicht von<br />
ungefähr, <strong>ein</strong>em Sonderstatus, haben mit der<br />
Funai <strong>ein</strong>e Art Tutor oder Fürsprech gegenüber<br />
dem/n restlichen Brasilien/Brasilianern <strong>und</strong><br />
besiedeln nicht immer respektierte Reservate,<br />
wenn sie sich nicht längst unter das Volk<br />
gemischt haben, denn der Frage der Rassenmischungen<br />
steht man seit der Kolonisierung<br />
opportunistisch gegenüber. Früher <strong>ein</strong>e<br />
willkommene Variante, <strong>ein</strong> Land zu kolonisieren,<br />
nicht von oben, aber von unten hatten weder die<br />
Portugiesen, noch die katholischen Padres, die<br />
ersten, die mit den Indios in Kontakt traten, viele<br />
Vorurteile oder Skrupel gegenüber den Indios<br />
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oder besser Indias, besonders da es an weißen<br />
Frauen fehlte. Noch <strong>ein</strong>er dieser typisch<br />
brasilianischen Widersprüche.<br />
Die Neuzeit, in der selbst der Ex-Präsident<br />
Fernando Henrique Cardoso damit kokettierte,<br />
<strong>ein</strong>en Fuß in der Küche zu haben, <strong>ein</strong>en Tropfen<br />
Negerblut in s<strong>ein</strong>en Adern, gilt <strong>ein</strong> Indio immer<br />
noch als <strong>ein</strong>e Art Außerirdischer, Außerzivilisierter.<br />
Anders als die in der brasilianischen<br />
Kultur überaus präsenten, verehrten, geehrten,<br />
dokumentierten Schwarzen, als Beispiel nur der<br />
bis heute heiß geliebte Pelé. Der Karneval wäre<br />
<strong>und</strong>enkbar ohne die Mulattinnen <strong>und</strong> die<br />
obligatorischerweise schwarzen „Puxadores do<br />
Samba“. Jeden, der über Brasilien liest, oder gar<br />
hierherkommt, faszinieren die synkretistisch<br />
assimilierten afrikanischen Religionen, ist heute<br />
der „Schwarze Teil“ Brasiliens Teil des nationalen<br />
Selbstbewussts<strong>ein</strong>s, was auf der anderen Seite<br />
nicht ausschließt, den <strong>ein</strong>zelnen Schwarzen zu<br />
diskriminieren. Ob <strong>und</strong> wie sich der Indio in den<br />
Nationalstolz <strong>ein</strong>schließen lasse, wenn überhaupt,<br />
ist <strong>ein</strong>e Frage, auf die ich noch k<strong>ein</strong>e<br />
zufriedenstellende Antwort gef<strong>und</strong>en habe.<br />
Denn irgendwie existieren die Indigenen nicht,<br />
bilden <strong>ein</strong> sozusagen negiertes Erbe, unterschlagen,<br />
versteckt, inexistent, hervorgeholt<br />
sozusagen nur am Alibitag, dem 19. April, der<br />
offiziell ihnen gewidmet ist. Ansonsten lokalisiert<br />
sie die Gesellschaft in <strong>ein</strong>er Grauzone. M<strong>ein</strong>e<br />
Privattheorie beweist mir, dass viele<br />
Gewohnheiten <strong>und</strong> Bräuche, ihre Mythen <strong>und</strong> ihr<br />
S<strong>ein</strong>, die ganze Kulinaria, besonders hier im<br />
Norden, genauso tiefe Spuren in der brasilianischen<br />
Kultur hinterlassen haben, wie die der<br />
Schwarzen.<br />
Aber das Erbe der Indios ist weit davon entfernt<br />
entdeckt, wertgeschätzt oder gar glamourisiert,<br />
verehrt zu werden. Zwar lernen immer mehr<br />
Indios neben ihrer eigenen Sprache <strong>und</strong> Kultur<br />
auch Portugiesisch, lernen Schreiben, konstruieren<br />
<strong>ein</strong>e eigene Lobby, beginnen, sich offiziell <strong>und</strong><br />
politisch wirksam in Szene zu setzen, besuchen<br />
Universitäten, aber noch beschränkt sich das, was<br />
man von ihnen sieht <strong>und</strong> weitergibt, auf <strong>ein</strong> paar<br />
w<strong>und</strong>erschöne Mythen aus dem gefürchtet<br />
mystifizierten Regenwald oder werden zur<br />
urbanen Legende oder Fabel wie dieser: Der<br />
namenlose Indigene, von <strong>ein</strong>er NGO nach Europa<br />
mitgenommen, um da für s<strong>ein</strong>e Rechte zu<br />
kämpfen, brachte das Erlebte so auf den Punkt: -<br />
Nach s<strong>ein</strong>er Europareise könne er nun wirklich<br />
nicht mehr verstehen, warum ausgerechnet er<br />
s<strong>ein</strong>en Regenwald nicht abholzen dürfe. Sei ihm<br />
hier im Dschungel doch immer gepredigt worden,<br />
dass er <strong>und</strong> s<strong>ein</strong> Stamm, wenn sie s<strong>ein</strong>en Wald<br />
abholzten, Hunger leiden würden <strong>und</strong> alles andere<br />
aus dem Gleichgewicht gerate. Aber da in Europa,<br />
wo der ganze Wald schon so lange weggeholzt<br />
worden sei, habe er nur Leute gesehen, die gut<br />
lebten, genug zu Essen hätten, viele hätten gar <strong>ein</strong><br />
schönes, komfortables Haus.... .<br />
Wie auch immer - Brasilien ist Weltmeister im<br />
„Vergessen“: Kaum <strong>ein</strong>er k<strong>ein</strong>er kennt die<br />
Herkunft s<strong>ein</strong>e Vorfahren, geschweige dann deren<br />
Hautfarbe, welche praktischerweise, wie von<br />
Zauberhand über die Generationen immer weißer<br />
wurde. Verständlich, denn wer will schon von den<br />
Verlierern der Geschichte abstammen?<br />
Auf der anderen Seite, echte Brasilianer, lernen<br />
die Indios sehr schnell. Holen auf, sorgen gar an<br />
der Seite von Popstar Sting für kontroverse<br />
Schlagzeilen. Anders ausgedrückt: Sie sind unter<br />
uns, immerzu, menschlich, gut oder schlecht,<br />
geschäftstüchtig oder Banditen, bis sie allerdings<br />
selbstverständlicher Teil des Nationalstolzes s<strong>ein</strong><br />
werden, dieser Platz an der Sonne, der liegt noch<br />
<strong>ein</strong> schönes, hochkomplexes Stück Weg vor ihnen.<br />
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Fremde unter sich<br />
Will gerade <strong>ein</strong>kaufen, hier im Dorf, im lokalen<br />
Wir-haben-fast-alles-Supermarkt, als er mich<br />
anhält. Ein Mann wie viele hier, in Bermudas, Flipflops,<br />
indigene Züge, in der Hand <strong>ein</strong>en großen<br />
Beutel.<br />
- „N<strong>ein</strong>, Marcelo?“ - Durchsuche m<strong>ein</strong>e<br />
Namenslisten im Hinterkopf, vergeblich, vern<strong>ein</strong>e<br />
schulterzuckend. Tut mir leid. N<strong>ein</strong>, den kenne ich<br />
nicht.<br />
Der Dialog war kurz, rudimentär. Trotzdem – er<br />
reicht aus, mich stutzig zu machen. Irgendwie ist<br />
s<strong>ein</strong> Portugiesisch ungewohnt. Nicht, dass er, wie<br />
ich, mit Akzent spricht, n<strong>ein</strong>, es ist etwas Anderes,<br />
Unbekanntes. Es hat mehr mit der Stellung der<br />
Wörter im Satz zu tun…<br />
Schon klärt sich das Mysterium selber auf. Er<br />
suche jenen Marcelo, weil er ihm s<strong>ein</strong><br />
Kunsthandwerk verkaufen wolle. Er sei<br />
M<strong>und</strong>urucu. Marcelo kaufe ihm immer s<strong>ein</strong>e<br />
Waren ab. Portugiesisch ist nicht s<strong>ein</strong>e<br />
Muttersprache.<br />
Kann mich fast nicht zurückhalten, selber <strong>ein</strong>en<br />
Blick auf s<strong>ein</strong> sicher w<strong>und</strong>erschönes Kunsthandwerk<br />
zu werfen. Die M<strong>und</strong>urucus, Zo‘é,<br />
Waiwai sind <strong>ein</strong>er der indigenen Stämme die hier<br />
<strong>ein</strong>e Tagreise oder zwei oder drei hinter <strong>ein</strong>er der<br />
letzten Grenzen leben. Ihr Kunsthandwerk ist<br />
w<strong>und</strong>erschön, f<strong>ein</strong> ziseliert, in unendlicher<br />
Geduldsarbeit erschaffen. Es gibt Leute, die<br />
finden, ich hätte schon <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Museum zu<br />
Hause. So lasse ich ihn also ziehen.<br />
Wir verabschieden uns. Er zückt s<strong>ein</strong> Handy,<br />
spricht hin<strong>ein</strong>. Ich bleibe mit jenem schalen<br />
Nachgeschmack zurück.<br />
Wer von uns beiden ist nun der Fremde, der<br />
Ausländer? Ich, die Ausländerin, oder er, der<br />
Portugiesisch als zweite Sprache spricht <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e<br />
Kunst als Kunsthandwerk an Touristen verkaufen<br />
muss?<br />
Zo’é<br />
Wieder entscheide ich mich dagegen. Habe k<strong>ein</strong>e<br />
Strategie, wie ich ihnen entgegentreten soll.<br />
Verzichte darauf, zwei Mitgliedern der Zo’és,<br />
Mitglieder <strong>ein</strong>er der sozusagen erst gestern<br />
entdeckten Stämme, direkt in die Augen zu<br />
schauen. Nur von Weitem durch den Gartenzaun<br />
betrachte ich ihren langen Keil, den sie, die Frau<br />
<strong>und</strong> der Mann, als Zeichen ihrer Stammeszugehörigkeit<br />
unübersehbar mitten im Kinn tragen.<br />
Der erste Kontakt der Zo’és mit dem Rest der Welt<br />
datiert aus dem Jahr 1987. Die Zo’és gaben dem<br />
Drängen amerikanischer Missionare nach, mit<br />
ihnen in Kontakt zu treten. Die ersten Kontakte<br />
waren fatal. Mitgebrachte Krankheiten<br />
dezimierten den Stamm brutal. 1991 gelang es der<br />
Funai, die Missionare zu entfernen <strong>und</strong> die Zo’és<br />
unter ihren Schutz zu stellen. Bis 2011 wurden sie<br />
komplett abgeschirmt. Heute werden, <strong>ein</strong> Wechsel<br />
der Doktrin, punktuelle Kontakte mit der<br />
Zivilisation unterstützt. Heute wächst der Stamm<br />
wieder <strong>und</strong> hat im Moment fast 250 Mitglieder.<br />
Zwei sind nun also hier, begleitet von <strong>ein</strong>em<br />
Verantwortlichen der Funai, der auch ihre<br />
Sprache radebrecht, um selbstgewählte Kontakte<br />
mit der Zivilisation aufzunehmen. Sie wollten<br />
Kunsthandwerk verkaufen <strong>und</strong> anderes.<br />
Irgendwann vielleicht wird <strong>ein</strong>er ihrer Mitglieder<br />
an der hiesigen Universität studieren. Für alle<br />
Beteiligten <strong>ein</strong>e riesige, fast übermenschliche<br />
Aufgabe. Sie pendelt zwischen Mitleid, Empathie<br />
<strong>und</strong> Weltenretten wollen hin <strong>und</strong> her. Wie auch<br />
immer, von Seiten des brasilianischen Staates gilt<br />
<strong>ein</strong>e riesige, historische Schuld zu tilgen. Der<br />
Prozess nimmt s<strong>ein</strong>en Gang, unaufhaltsam.<br />
Rette mich in <strong>ein</strong> Zitat der großen Bertha K.<br />
Becker, Geografin: Die amazonischen Indígenen<br />
sind sehr clever. Sie lernen sehr schnell. Sie<br />
bewahren nicht nur ihre Kultur, sondern nehmen<br />
auch zahlenmäßig viel schneller zu als der<br />
Durchschnitt der brasilianischen Bevölkerung. Sie<br />
sind international sehr gut vernetzt <strong>und</strong> sehr<br />
wohl imstande, sich selber zu helfen.<br />
Oder wie man hier zu sagen pflegt: Ihr Wort in<br />
Gottes Ohr!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 352
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 353
Gr<strong>und</strong>schule der Qu ilombolas<br />
Ich bin k<strong>ein</strong> Nachfahre von Sklaven. Ich stamme<br />
von menschlichen Wesen ab, die versklavt wurden<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 354
Von den Quilombolas, den Nachfahren geflüchteter Sklaven<br />
Die Lage der Schule direkt über dem Wasser ist<br />
w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> gleichzeitig praktisch. Die<br />
Schulschiffe, sie bringen die kl<strong>ein</strong>en Schüler zum<br />
Unterricht, liegen <strong>ein</strong>s neben dem anderen<br />
aufgereiht vor Anker. Den Haupt<strong>ein</strong>gang der<br />
Schule schmückt <strong>ein</strong> buntes Plakat: „Não sou<br />
descendente de escravos. Eu descendo de seres<br />
humanos que foram escravizados.“ – „Ich bin k<strong>ein</strong><br />
Nachfahre von Sklaven. Ich stamme von<br />
menschlichen Wesen ab, die versklavt wurden.“ –<br />
Wortklauberei oder hat das Politisch-Korrekt-S<strong>ein</strong><br />
auch hier hinter den letzten Grenzen Einzug<br />
gehalten? Die Schule jedenfalls ist nur <strong>ein</strong>e<br />
Gr<strong>und</strong>schule, 1.-4. Klasse. Weiterführende Stufen<br />
gibt es nur in der mehr als <strong>ein</strong>e Bootsst<strong>und</strong>e<br />
entfernten Stadt, in Oriximiná. Für viele<br />
Quilombolas ist das allerdings zu weit, zu teuer<br />
<strong>und</strong> überhaupt zu kompliziert. So absolvieren<br />
viele nur die Gr<strong>und</strong>stufe. Wohl die Regel hier in<br />
der weiten Region Oriximinás, in <strong>ein</strong>em der<br />
hintersten Hinterländer des Amazonas.<br />
Hier befinden sich auch ungefähr 60 Comunidades“,<br />
Gem<strong>ein</strong>schaft von „Quilombolas“,<br />
direkten Nachfahren entflohener Sklaven, die mit<br />
ihren Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen das komplexe Puzzle<br />
des amazonischen Schmelztiegels vervollständigen.<br />
Die hiesigen Quilombolas allerdings haben<br />
Pionier- <strong>und</strong> Vorzeigestatus. Es gelang ihnen 1989<br />
<strong>ein</strong>e Assoziation zu gründen, die ARQMO,<br />
(Associação das Comunidades Remanescentes de<br />
Quilombos do Município de Oriximiná), die sie<br />
repräsentiert. Ein Herkulesunternehmen, das nur<br />
sehr wenigen Hinterwäldlern <strong>und</strong> Indigen gelingt,<br />
zu tief verankert das ständige Misstrauen s<strong>ein</strong>en<br />
Mitmenschen gegenüber. Dank der Assoziation<br />
<strong>und</strong> mit Hilfe der immer stärker werdenden Pro-<br />
Schwarzen-Bewegung Brasiliens gelang es, den<br />
ständigen Invasionen <strong>und</strong> auch den Mächtigen,<br />
unter anderen der Mineração Rio do Norte,<br />
gem<strong>ein</strong>sam entgegenzutreten. Und das mit Erfolg.<br />
Der selben Assoziation ist es zu verdanken, dass es<br />
ihnen 1995 nach jahrelangem, mühsamem Kampf<br />
<strong>und</strong> Gang durch die endlose Bürokratie gelang, das<br />
Besitzrecht jene Ländereien zu erlangen, auf<br />
denen sie seit Menschengedenken leben <strong>und</strong><br />
deren Besitz ihnen durch die Konstitution von<br />
1988 garantiert ist.<br />
Auf der Fahrt über die spiegelglatten Wasser<br />
treffen wir auch die großen Schleppschiffe. Bauxit<br />
heißt das Zauberwort, Segen für die <strong>ein</strong>en, Fluch<br />
für die anderen. Die Stadt Oriximiná ist so reich<br />
wie hässlich, unterscheidet sich damit deutlich von<br />
anderen Städten im selben amazonischen<br />
Hinterland. Verantwortlich dafür ist die<br />
„Mineradora“, Mineração Rio do Norte, die hier<br />
seit 1976 Bauxit abbaut, weiterverarbeitet <strong>und</strong> gar<br />
ihren eigenen Bahntransport hat, der die<br />
Mineralien direkt bis zu den Ladeschiffen bringt.<br />
Der Bauxitabbau Oriximinás gilt als <strong>ein</strong>e der<br />
größten der Welt, ist die größte Brasiliens <strong>und</strong><br />
leider überlappen sich ihre Abbaugebiete mit den<br />
Ländereien der Quilombolas.<br />
Gigantisch sind somit auch die Kontraste. Die<br />
Quilombolas sind bis heute Selbstversorger,<br />
mehrheitlich Kl<strong>ein</strong>bauern, Farinhaproduzenten<br />
<strong>und</strong> Paranusssammler. Wenn sie nicht ihre<br />
Felder bestellen, buckeln in mühevollster,<br />
schweißtreibenster, extrativistischer Arbeit die<br />
Paranüsse <strong>und</strong> viele andere Produkte wie<br />
Copaiba <strong>und</strong> Andiroba aus <strong>ein</strong>em mehrheitlich<br />
noch intakten Tropenwald, von den malerischen<br />
Mäandern des Flusses Trombetas durchzogen.<br />
Die Produkte verkaufen sie an „Atravessadores“,<br />
Wiederverkäufer, die beim Weiterverkaufen<br />
derselben den Löwenanteil des Gewinns<br />
<strong>ein</strong>streichen. Das war schon immer so <strong>und</strong> nur<br />
dem Kampf dieser <strong>ein</strong>fachen Leute ist es zu<br />
verdanken, dass es wohl in Zukunft besser<br />
werden wird. Interessanterweise sch<strong>ein</strong>t auch<br />
bei den NGO-lern <strong>und</strong> anderen Hilfsorganisationen<br />
<strong>ein</strong> Umdenken in Gang. Sie versuchen<br />
denen, denen sie helfen wollen, nun sogar auf<br />
Augenhöhe entgegenzutreten <strong>und</strong> nicht mehr<br />
wie noch vor kurzer Zeit ihnen großspurig <strong>und</strong><br />
autoritär das aufzuoktroyieren, was sie für<br />
Verbesserungen halten. Der brasilianische Staat<br />
<strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esländer allerdings halten es noch<br />
mit dem Althergebrachten, gehorchen lieber den<br />
Mächtigen <strong>und</strong> regieren per autoritärem Dekret.<br />
Und so ist die Geschichte wohl noch <strong>ein</strong>e Weile<br />
dazu verdammt, sich in <strong>ein</strong>er endlosen Spirale<br />
immer wieder zu wiederholen. Zu weit weg jene<br />
Erden, mitten im unwirtlichen Dschungel, auf die<br />
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sich menschliche Wesen nur deshalb<br />
zurückzogen, weil sie wie die Indigenen <strong>und</strong> die<br />
geflohenen Sklaven k<strong>ein</strong>e andere Wahl hatten.<br />
Nur dort hatten sie <strong>ein</strong>e gewisse Garantie, ihren<br />
unmenschlichen Herren genauso zu entkommen<br />
wie der blutigen Revolution der Cabanagem. Eine<br />
Revolution, zu ihren <strong>und</strong> den Gunsten anderer<br />
Unterdrückter angezettelt, vom herrschenden<br />
Regime aber blutig unterdrückt wurde.<br />
Die meisten Schwarzen hier wurden ab dem 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert aus dem Kongo <strong>und</strong> Angola in den<br />
Amazonas verschleppt. Sie sollen in der Mehrheit<br />
zum Stamme der Bantus gehören. Sie waren dazu<br />
verdammt, auf Vieh- <strong>und</strong> Kakaofarmen der Region<br />
zu arbeiten. Bald gelang den ersten die Flucht <strong>und</strong><br />
schon in Aufzeichnungen aus dem Jahr 1812 wird<br />
<strong>ein</strong>e Expedition geschildert, die das Ziel hatte, die<br />
Quilombos der Region zu zerstören.<br />
Später, <strong>ein</strong>e Bootsviertelst<strong>und</strong>e weiter den Fluss<br />
Trombetas hinauf, schon beim Mittagessen bei<br />
<strong>ein</strong>er der kl<strong>ein</strong>en Gem<strong>ein</strong>schaften, hören wir den<br />
alarmierenden Schrei <strong>ein</strong>es Vogels, begleitet von<br />
<strong>ein</strong> paar kurzen, heftigen Schlägen ins Wasser.<br />
Auch das Krokodil hat Hunger. Ein unvorsichtiger<br />
Vogel deckt ihm den Tisch. Sie erzählen, dass<br />
gestern das unachtsame Hausschw<strong>ein</strong> nur knapp<br />
<strong>und</strong> mit verletztem B<strong>ein</strong> sozusagen aus den<br />
Zähnen <strong>ein</strong>es anderen Krokodils gerettet<br />
werden konnte. Spare mir die Nachfrage über<br />
s<strong>ein</strong>en Zustand.<br />
Hier im Quilombo sch<strong>ein</strong>t die Zeit still zu stehen,<br />
<strong>ein</strong>e Art Zeitreise. Im Hausgarten gibt es hoch<br />
aufgeschossenes Zuckerrohr <strong>und</strong> r<strong>und</strong> ums Haus<br />
wachsen wild Baumwollsträucher. Vergessene<br />
Nutzpflanzen, die noch vom Selbstversorgen<br />
zeugen, aber natürlich längst mit dem Plastikgeschirr<br />
aus China <strong>und</strong> überall verstreutem<br />
Plastikmüll koexistieren. An der Hauswand hängt<br />
<strong>ein</strong>e Rispe primitiven Maises, die winzigen Körner<br />
w<strong>und</strong>erschön gesprenkelt. Es ist Hochwasser <strong>und</strong><br />
um die Farinhaproduktion zu sehen, werden wir in<br />
<strong>ein</strong>em Winzboot, s<strong>ein</strong> Rand schaukelt weniger als<br />
<strong>ein</strong>e Handbreit über dem Wasserspiegel, zum<br />
nahen Ufer übergesetzt. Das andere Boot, <strong>ein</strong>e Art<br />
bessere Nussschale, bietet gerade <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen<br />
Person Platz.<br />
Die Mobilität der Bewohner, sie pflegen wie<br />
überall hier <strong>ein</strong>e weitverzweigte Verwandtschaft,<br />
ist groß <strong>und</strong> wird durch Heiraten, Scheidungen<br />
<strong>und</strong> manch nachbarlichen Streit, dem man <strong>ein</strong>fach<br />
durch Wegziehen ausweicht, noch verstärkt. In<br />
den Häusern gibt es weder fließendes Wasser<br />
noch Sickergruben. Manche verfügen über<br />
Elektrizität, die von dieselbetriebenen<br />
Generatoren erzeugt wird. Alle paar Jahre wird<br />
dem Dschungel <strong>ein</strong> neues Feld für die<br />
Maniokpflanzung abgerungen. Durch Brandroden<br />
natürlich, manchmal auch als Puxirum,<br />
Gem<strong>ein</strong>schaftsarbeit, organisiert. Dabei geht<br />
neben dem gerodeten Feld oft auch <strong>ein</strong> weiteres<br />
Stück intakten Tropenwaldes in Flammen auf.<br />
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Die Helden <strong>Amazonien</strong>s, die Ribeirinhos <strong>und</strong> Caboclos<br />
Sie sind wohl die ersten die kommen, gleichzeitig<br />
Vorhut <strong>und</strong> Nachzügler, <strong>und</strong> die letzten die<br />
aufgeben: die Ribeirinhos. Sie sind <strong>ein</strong>e Art<br />
Helden des amazonischen Alltags. K<strong>ein</strong>er, außer<br />
vielleicht <strong>ein</strong>e Handvoll Missionare, viele von<br />
sogenannten Freikirchen, wagt sich so weit die<br />
Flussarme hoch wie sie. Sie bilden, zwei oder drei<br />
Häuser, <strong>ein</strong>e Schule <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Kirche zusammen,<br />
gar <strong>ein</strong>e „Comunidade“. Ein Wort, das hier noch<br />
k<strong>ein</strong>en kriminellen Beigeschmack hat. Ihre<br />
Rassenmischung, dieser Frage steht man seit der<br />
Kolonisierung opportunistisch gegenüber,<br />
verraten ihr Indioblut oder das des „Arigós“, des<br />
Nordestinos, interbrasilianische Migrationen, die<br />
in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren des letzten<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts ihren Höhepunkt erreichten, die<br />
sich die neu konstruierten Straßen, die den<br />
Tropenwald durchschneiden, zunutze machten.<br />
Heute gesellen sich immer mehr Gauchos,<br />
Südbrasilianer dazu. Die Migration war so stark,<br />
dass in <strong>ein</strong>er bedeutenden Zahl amazonischer<br />
Gem<strong>ein</strong>den mehr als 50 Prozent der Bevölkerung<br />
aus Migranten besteht. Wenige Abenteuerlustige<br />
migrieren aus Spaß. Migration bedeutet, dass<br />
man s<strong>ein</strong>e Kultur hinter sich lässt <strong>und</strong> sich auf<br />
etwas ganz Neues, Unbekanntes, erschreckend<br />
Fremdes <strong>ein</strong>lassen muss. Normalerweise<br />
migrieren die weniger Instruierten, wie man hier<br />
sagt, die Minderbemittelten.<br />
All diese ungekannten Massen suchen sich in<br />
ihrem neuen Leben irgendwie <strong>ein</strong>zupassen.<br />
Wohnen sie irgendwo im Landesinnern, werden<br />
sie auch „Caboclos“ genannt, oder „Colonos“,<br />
Hinterwäldler, <strong>ein</strong>e Art Bauern, arm, ungebildet.<br />
Teil all derer, die sich tagtäglich irgendwie<br />
arrangieren, leben, überleben, mit oder gegen die<br />
Natur, tagtäglich die endlosen Wasserstraßen<br />
hinauf- <strong>und</strong> hinunterfahren. Vielleicht gehören sie<br />
auch zu den Goldgräbern <strong>und</strong> anderen,<br />
moderneren Schatzsucher, die Bodenschätze sind<br />
unvorstellbar reich, sind Farmer, Jäger, Freibeuter,<br />
Minenarbeiter oder Prostituierte, denn der<br />
Amazonas ist so riesig, so unendlich weit, dass er<br />
in vielen Teilen <strong>ein</strong>em sehr wilden, brasilianischen<br />
Westen gleicht, um nicht zu sagen <strong>ein</strong>em wie <strong>ein</strong><br />
riesiges Armenhaus vorkommt. Ein Schmelztiegel,<br />
<strong>ein</strong> komplexes soziokulturelles Mosaik der<br />
unterschiedlichsten Rassen, Kulturen <strong>und</strong> Werten,<br />
die sich auch oft entgegengesetzt gegenüber<br />
stehen <strong>und</strong> gar versuchen, ihre Konflikte mit<br />
Waffengewalt zu lösen. Dem Staat gelingt es nicht,<br />
will es nicht gelingen, bis dahin vorzustoßen.<br />
Ihr hartes Leben gehorcht dem Ansteigen <strong>und</strong><br />
Fallen der Wasser, den Regen, den Dürren, die die<br />
Klimaveränderungen auch hier spürbar machen.<br />
Die Ribeirinhos leiden, Gottes Geiseln, an<br />
Falschernährung, Tropenkrankheiten <strong>und</strong> im Fisch,<br />
der tagtäglich auf den Tisch kommt, gibt es zu viel<br />
Quecksilber. Ein Teil, der von bösen Goldgräbern<br />
ausgewaschen wird, das Problem sch<strong>ein</strong>t nur<br />
teilweise unter Kontrolle. Schlimmer - das<br />
Quecksilber kommt aus natürlichen Vorkommen,<br />
gelangt ins Wasser <strong>und</strong> damit in die Fische. Nur<br />
Hunger leiden sie hier nicht. Hier am Fluss gibt es<br />
fast immer <strong>ein</strong>en Fang. Auch Jagdbeute kommt<br />
gerne auf den Tisch. Als Sonntagsfestbraten gar<br />
<strong>ein</strong> paar illegale Schildkröten oder je nach<br />
Jahreszeit auch deren leckere Eier, deren Inhalt<br />
zwar als „sandig“ aber überaus wohlschmeckend<br />
beschrieben werden. Für die <strong>ein</strong>heimische<br />
Bevölkerung gibt es Sonderregeln, was die Jagd<br />
<strong>und</strong> den Verzehr der sonst so streng geschützten<br />
lokalen Fauna betrifft. Dazu etwas Farinha, auch<br />
im Frühstückskaffee, wenn es gerade k<strong>ein</strong>e<br />
Maniok, Cará, Pupunha oder andere Knollen gibt.<br />
Das Heute lösen, denn morgen ist immer <strong>ein</strong><br />
anderer, neuer Tag, <strong>und</strong> Gott, oder die<br />
evangelische Sekte, wird´s schon richten. Der<br />
Nachbar macht´s doch auch nicht anders <strong>und</strong> die,<br />
die arbeiten wollen, oder <strong>ein</strong>e gute Schulbildung,<br />
wandern sowieso in die Städte ab. Die sind hier<br />
noch Magnete. Sie bieten alles, für den der<br />
weiter kommen will im Leben oder vom ewigen<br />
Tropenwald genug hat. Denn auch hier wollen<br />
sich viele den Wald vom Hals halten. So <strong>ein</strong> tolles<br />
Shopping ist doch viel attraktiver, zivilisierter, die<br />
Temperaturen auf Antartikaniveau reduziert <strong>und</strong><br />
die Regen ausgesperrt.<br />
Die Zahlen sprechen für sich. Heute lebt schon<br />
die Mehrheit der Einwohner <strong>Amazonien</strong>s in<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 366
Städten. Einige davon gehören zu den<br />
Desillusionierten. Sie sind in den Favelas gelandet,<br />
in denen auf Stelzen mit den wackligen Stegen<br />
ohne Geländer, wo sie wirklich Hunger leiden,<br />
ohne Papiere, k<strong>ein</strong>en Geburtssch<strong>ein</strong> <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>en<br />
Wahlausweis haben. Optimisten sagen, es sei alles<br />
<strong>ein</strong>e Frage der Zeit. Die Internetgeneration oder<br />
<strong>ein</strong>e nächsten werde das Paradigma schon<br />
brechen.<br />
Nestlé jedenfalls hat das Potenzial schon erkannt.<br />
- Nestlé an Bord - Nestlé bis hin zu Ihnen! -<br />
strahlend blau mit knallbunten Produkten<br />
garniert, liegt es für <strong>ein</strong> paar Tage im Hafen, das<br />
brandneue Supermarktschiff, das natürlich nur<br />
Nestléprodukte verkauft. Noch strahlend lichten<br />
sich ganze Familien gegenseitig davor ab, bevor es<br />
weiter den Amazonas hoch tuckert, um auch<br />
jenen kl<strong>ein</strong>en Jungen mit den deutlich indigenen<br />
Zügen, dessen affenartig lange Zehen mich sehr<br />
be<strong>ein</strong>druckten, von der Kaufkraft des Geldes zu<br />
überzeugen. Wies er doch cool die paar Münzen<br />
zurück, gegen die wir s<strong>ein</strong>e Bananen tauschen<br />
wollten. – Hier könne er mit so was gar nichts<br />
anfangen!<br />
halbem Weg entnervt auf. Zu kompliziert die<br />
Bürokratie, zu langsam oder unmöglich die<br />
verlangen Auflagen, Bestimmungen, <strong>ein</strong> wahrer<br />
Dschungel, die vielen Instanzen, manche wollen<br />
gar ganz unverhohlen Bestechungsgelder, jedes<br />
mal zu entrichten, wenn wieder <strong>ein</strong> paar h<strong>und</strong>ert<br />
Tiere freigegeben werden. Die obersten Instanzen<br />
sind noch weiter weg, weit weg in Brasilia.<br />
Ministerien arbeiten hier immer noch im<br />
Elfenb<strong>ein</strong>turm, halten <strong>ein</strong>e ureigene Maschine mit<br />
sehr vielen, sehr wortgewaltigen Vorschriften,<br />
Gesetzen, Verordnungen in Gang, die mit der<br />
hiesigen Realität nicht sehr viel zu tun hat. Zudem<br />
- kommt die Moral nicht von oben.....<br />
M<strong>ein</strong>e erste <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zige Schildkröte hat übrigens<br />
gar nicht besonders gut geschmeckt. Was für <strong>ein</strong>e<br />
Enttäuschung. Ob sie nur so lecker sch<strong>ein</strong>en, weil<br />
sie verboten sind?<br />
Zu den Schildkröten <strong>ein</strong> Nachtrag. Das lokale<br />
B<strong>und</strong>esland hier macht es bis heute kafkaesk<br />
unmöglich, legal Schildkröten zu züchten wie es<br />
schon in anderen Staaten möglich ist. Farmen, die<br />
ihre Tiere legalisiert verkaufen wollen, geben auf<br />
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Der Arigó<br />
ist starrköpfig<br />
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Arigó – oder im Land der Blinden ist der Einäugige König<br />
Fast alle Witze, die sie erzählten, begannen mit: -<br />
Als der „Arigó“ nach Brasilien kam…… . –<br />
Enthüllten damit <strong>ein</strong>e so überraschende, wie<br />
unerwartete Weltsicht. Wer die Witze erzählt,<br />
willkommene Auflockerung <strong>ein</strong>es Workshops zur<br />
Qualifikation lokaler Produktion, ganz im Zeichen<br />
von „Empowering“ der lokalen Bevölkerung, lebt<br />
irgendwo, weit weg im amazonischen Hinterland.<br />
Um die ganze Ironie <strong>und</strong> die extrem lokale<br />
Weltsicht, für die lokale Bevölkerung ist Brasilien<br />
da, wo sie wohnen, ihre Heimat, zu verstehen,<br />
muss man allerdings ziemlich weit ausholen.<br />
An die Arigós erinnern heute nur noch <strong>ein</strong>zelne<br />
Namen, besonders in den großen<br />
Geschäftszentren, denn vom Handel verstehen sie<br />
viel. Und auch vom Humor. Den haben sich auch<br />
die Nachkommen der Arigós, leicht an ihren<br />
bleichen Zügen zu erkennen, bewahrt. Die Arigós<br />
kamen aus dem brasilianischen Nordosten.<br />
Bezeichneten sich oder wurden als Arigó<br />
bezeichnet, bis heute <strong>ein</strong> mehr oder weniger<br />
diskriminierendes oder wenigstens ausschließendes<br />
Wort, <strong>ein</strong>e Art lokalen Synonyms für<br />
Fremder.<br />
Die Arigós vervollständigen das bunte Puzzle des<br />
amazonischen Schmelztiegels. Sie sind<br />
interbrasilianische Immigranten, hergebracht aus<br />
Brasiliens bitterarmem Nordosten, flohen in<br />
großen Wellen aus unhaltbaren Zuständen, auf<br />
der Suche nach <strong>ein</strong>em menschenwürdigeren<br />
Leben, viele noch zur Zeit der Hochblüte des<br />
Kautschuks. In jenen gloriosen Zeiten, Ende des<br />
19., Anfang 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, als der Norden<br />
Brasiliens als <strong>ein</strong>e der aufstrebensten,<br />
fortschrittlichsten Regionen Brasiliens galt. Der<br />
Nordosten aber, besonders der Staat Ceará, wurde<br />
von extremen, immer wiederkehrenden<br />
Dürreperioden heimgesucht, die s<strong>ein</strong>e Landbevölkerung<br />
in bitterster Armut in <strong>ein</strong>er Art<br />
Halbwüste zurückließ. Für viele, wie immer die<br />
Ärmsten der Armen, die meisten Analphabeten,<br />
war die Migration der <strong>ein</strong>zige Ausweg. Leichte<br />
Beute für die skrupellosen Vermittler voller<br />
falscher Versprechen , die den Amazonas als <strong>ein</strong>e<br />
"Terra da Fartura", <strong>ein</strong>e Erde des Überflusses,<br />
anpriesen. Gummizapfen im wilden Dschungel als<br />
Ausweg aus der Ausweglosigkeit. Schiffsladungen<br />
über Schiffsladungen wurden sie als billigste,<br />
willigste Arbeitskraft in den Amazonas geholt,<br />
gelangten nach wochenlanger Reise an <strong>ein</strong><br />
fragwürdiges Ziel.<br />
- „Wie viele Arigós, (Nordestinos) kannst du<br />
gebrauchen?“ – wiedergegeben von s<strong>ein</strong>em<br />
Nachkommen, klingt die Frage des Kapitäns <strong>ein</strong>es<br />
Schiffes voller brasilinterner Emigranten an die<br />
lokalen Herren des Amazonas, glaubwürdig. S<strong>ein</strong><br />
Schiff <strong>und</strong> viele ähnliche spuckte so nach <strong>und</strong> nach<br />
immer weiter flussaufwärts all jene armen<br />
namenlosen H<strong>und</strong>e aus, Nordestinos, alle als<br />
extrem genügsam <strong>und</strong> fleißige Arbeiter bekannt.<br />
Es muss <strong>ein</strong> Kulturschock sondergleichen<br />
gewesen s<strong>ein</strong>, von <strong>ein</strong>er Halbwüste in die<br />
monotonen grünen Dschungel katapultiert zu<br />
werden. Schlimmer wohl nur die raffinierte<br />
Ausbeutung, die hier auf sie wartete. Sie wurden<br />
zu nicht viel mehr als modernen Sklaven.<br />
Wer will, kann viele grausame Geschichten lesen<br />
<strong>und</strong> hören. So wie die jenes Mordes aus Rache:<br />
Als s<strong>ein</strong> Vater auf Befehl des Gummiplantagenbesitzers<br />
umgebracht wurde, war er noch <strong>ein</strong><br />
Kind. Schon erwachsen, Jahre später, erfuhr er<br />
zufällig, dass der Auftraggeber des Mordes im<br />
selben Hotel wie er abgestiegen war. Zweifelte<br />
k<strong>ein</strong>e Sek<strong>und</strong>e, lud den immer bereiten Revolver<br />
<strong>und</strong> rächte den Tod s<strong>ein</strong>es Vaters so spät wie<br />
blutig.<br />
Nach dem Zusammenbruch des Kautschukbooms<br />
brachte <strong>ein</strong>e zweite Migrationswelle, diesmal<br />
vom brasilianischen Staat organisiert, geschätzte<br />
60.000 Arbeitskräfte, wieder aus dem<br />
Nordosten, wieder Arigós, in den Amazonas. Die<br />
sogenannten Soldaten des Kautuschuks,<br />
„Soldados da borracha“ wurden während des<br />
Zweiten Weltkriegs hierher gebracht. Die Hälfte<br />
der Männer soll das Ende des Krieges nicht<br />
erlebt haben. Das von Getúlio Vargas im Jahr<br />
1942 ins Leben gerufene staatliche Programm<br />
sollte der vor sich hin serbelnden<br />
Kautschukproduktion wieder Auftrieb geben. Es<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 369
galt, den amerikanischen Truppen um jeden Preis<br />
den kriegswichtigen Rohstoff Kautschuk zu<br />
liefern. Denn nach Pearl Harbor waren die USA<br />
von Kautschuklieferungen aus Südostasien<br />
abgeschnitten. Zudem hatte Präsident Franklin D.<br />
Roosevelt s<strong>ein</strong>em Amtskollegen hohe Kredite <strong>und</strong><br />
Militärtechnologie zugesichert. Auch dazu kann<br />
man Zeitzeugen hören. – Wie viele Traktoren<br />
brauchst du? 10? Bewilligt. Wer sich auskannte,<br />
die richtigen Beziehungen hatte, war <strong>ein</strong><br />
gemachter Mann.<br />
Einmal hier im Amazonas angekommen, wiederholte<br />
sich die Geschichte für die Emigranten.<br />
Wieder viele leere Versprechen, skrupellos<br />
ausgebeutete Seringueiros, Kautschuk-Zapfer,<br />
wenige Landbesitzer, die reich <strong>und</strong> reicher<br />
wurden. Wer von den Kautschuksoldaten<br />
überlebte, blieb oft viel länger als die versprochenen<br />
fünf Jahre. Und viele von denen, die<br />
sich hier niederließen, fanden ihr Motto im<br />
Sprichwort: «Im Land der Blinden ist der<br />
Einäugige König.» Sie profitierten von ihrem<br />
ausgeprägten Geschäftssinn <strong>und</strong> viele von ihnen<br />
wurden «Regatão» oder «Caixeiro viajante»,<br />
Handelsreisende, wochenlang zu Boot unterwegs.<br />
Als die Geschäfte dann florierten, investierten sie<br />
in Läden <strong>und</strong> es heißt, dass der Kommerz von<br />
Manaus bis heute zu 90 Prozent in den Händen<br />
von Nachkommen von «Nordestinos» sei. Der<br />
Erfolg s<strong>ein</strong>erseits zog ihnen aber auch den Neid<br />
Der Zurückgebliebenen, der ewigen Verlierer zu<br />
<strong>und</strong> den Spitznamen «Arigó».<br />
Aber zurück zum Witz vom Beginn der Geschichte.<br />
Der Wechsel der Perspektive ist radikal. In den<br />
Augen <strong>ein</strong>es Einheimischen, in die hintersten<br />
Ecken des amazonischen Hinterlandes verdrängt,<br />
da wo Brasilien liegt, ist der «Arigó», der zu ihnen<br />
in ihr Brasilien kam, nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />
aufgezwungener Eindringling. Er ist fast so bleich<br />
wie der Gummisaft, den er da anzapfen sollt <strong>und</strong><br />
mit dem Lokal so wenig vertraut wie die<br />
fremdesten Fremden.<br />
Kurz <strong>und</strong> gut, <strong>ein</strong> «Arigó» ist so fremd <strong>und</strong> so weit<br />
gereist, dass er sicher von <strong>ein</strong>em anderen Planeten<br />
stammen muss. K<strong>ein</strong>esfalls kann er aus Brasilien<br />
kommen. Hinterwäldler sind sich wohl auf der<br />
ganzen Welt gleich.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 370
Kaffee ist m<strong>ein</strong> Name<br />
Beim Nachbarn, <strong>ein</strong> sehr alternatives Paar, sie<br />
Professorin <strong>und</strong> er Musiker, bewegt <strong>ein</strong> junger<br />
Mann gerade in brachialer Arbeit <strong>ein</strong> paar<br />
Erdhügel. Bessert mit der abgehobenen Erde die<br />
Naturstraße aus, in die der Tropenregen<br />
regelrechte Krater gefressen hat.<br />
- „Kaffee“, kannst Du nachher noch hier etwas<br />
abtragen?“ - bittet der Hausherr. - „Kaffee“, wie<br />
hieß nun gleich wieder jene Musik?“ - fragt ihn<br />
der Sohn. – Kaffee - ? Nur ich stolpere darüber.<br />
Besonders wenn ich s<strong>ein</strong>e um Nuancen dunklere<br />
Hautfarbe, nur etwas dunkler als die des<br />
Hausherrn, mit s<strong>ein</strong>em Namen in Verbindung<br />
bringe. Später, viel später allerdings werde ich<br />
<strong>ein</strong>es Besseren belehrt. Kaffee, Café geschrieben<br />
ist <strong>ein</strong> ganz normaler Name. Es gab in den Jahren<br />
1954/55 gar <strong>ein</strong>en brasilianischen Präsidenten,<br />
Café Filho mit diesem Namen. Apropos, auch am<br />
Namen “Branco”, Weißer, hat k<strong>ein</strong>er etwas<br />
auszusetzen... .<br />
Morgen ist Samstag, da gehe ich immer hier auf<br />
den lächerlich kl<strong>ein</strong>en lokalen Markt. Kaufe beim<br />
„Baixinho“ das, was gerade frisch <strong>und</strong> appetitlich<br />
ist <strong>und</strong> in m<strong>ein</strong>en Speiseplan passt. Kann auch mal<br />
<strong>ein</strong> elend teures Freilaufhuhn s<strong>ein</strong>. Schmeckt<br />
<strong>ein</strong>fach unvergleichlich viel besser. Jedes mal<br />
wenn jemand s<strong>ein</strong>en Namen ausspricht,<br />
„Baixinho“ bedeutet sowas wie der Niedrige, groß<br />
ist er wirklich nicht, widerstehe ich der<br />
Versuchung <strong>ein</strong>er Korrektur. Kontrolliere mich.<br />
Hier findet k<strong>ein</strong>er solche Übernamen respektlos,<br />
politisch unkorrekt, verabscheuungswürdig, am<br />
wenigsten die, die ihn tragen… .<br />
Die lokale Musikgruppe, die tollen Carimbó singt<br />
<strong>und</strong> nicht nur bei religiösen Anlässen auftritt, zeigt<br />
den lokalen Humor <strong>und</strong> den Geist, in welchem<br />
solche Namen entstehen <strong>und</strong> verstanden werden<br />
wollen. Sie nennt sich „Espanta cão“ –<br />
„Erschreck/vertreib den H<strong>und</strong>“…..<br />
hier?<br />
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Caboclos Haus<br />
Zuerst sehe ich nur den Wasserturm. Gleich<br />
neben den Anlegeplatz auf hohen Stelzen in den<br />
Schatten <strong>ein</strong>es riesigen Mangobaums gestellt.<br />
Parallel zum breiten Weg der Steg. Drei Bretter<br />
breit führt er gleich zum zurückgesetzten Haus. Es<br />
ist, wie alle hier, die Kirche, die Schule, das<br />
Gem<strong>ein</strong>schaftshaus, auf Stelzen gebaut,<br />
amazonische Pfahlbauten. Zu den Häusern führen<br />
Holztreppen, hohe Stege, zwei, drei Bretter breit,<br />
ganz ohne Geländer, lose hingelegt. Auch jetzt,<br />
wo die Wasser noch tief sind. Aber schon steigen<br />
sie, jeden Tag etwas mehr. Setzen langsam alles<br />
unter Wasser, auch da, wo jetzt angepflanzt ist,<br />
Maniok, die Stängel so dick wie m<strong>ein</strong> Handgelenk,<br />
Bananen, Papayas. Die Fluten, trübe <strong>und</strong> reich an<br />
Sedimenten, überschwemmen das Land hier in<br />
den „Várzeas“ den flachen Flussufern im Jahreszyklus.<br />
Wenn sie sich wieder zurückziehen, lassen<br />
sie extrem fruchtbare Erde zurück. Exotisch nur<br />
für den, der nicht daran gewöhnt <strong>und</strong> darauf<br />
<strong>ein</strong>gestellt ist.<br />
Die Holzhäuser sind farbig, türkis, himmlisches<br />
Blau, starkes Pink. Alle haben sie <strong>ein</strong>en<br />
Küchengarten, Kräuter, Stängelkohl, <strong>ein</strong> Strauch<br />
mit den obligaten Pfefferschötchen, klar, auch auf<br />
Stelzen. Die Dächer der Häuser sind flach <strong>und</strong> kurz<br />
<strong>und</strong> die Fenster quadratische Höhlen, fast wie<br />
Augen. Nachts werden sie mit hölzernen Läden<br />
verbarrikadiert. Die <strong>ein</strong>zelnen Zimmer, die<br />
Gem<strong>ein</strong>schaftsräume, die Toilette, oft etwas<br />
verwirrend angeordnet, sind durch Holzwände<br />
von<strong>ein</strong>ander abgeteilt. Dreiviertel hoch nur, so<br />
kann oben die tropische Luft ungehindert<br />
zirkulieren. Man sieht sich nicht, teilt aber jeden<br />
Seufzer oder Furz.<br />
Das Leben spielt sich auf den Varanden ab. Hier<br />
weht immer <strong>ein</strong> frischer Wind. Die Häuser, etwas<br />
zurückgesetzt ans Ufer des Flusses gebaut, sind<br />
von den wenigen Bauten hier im Amazonas, die<br />
perfekt ans Klima angepasst sind. Der kl<strong>ein</strong>ste<br />
Luftzug, <strong>ein</strong> etwas weniger heißer Schatten<br />
ersetzen die Klimaanlage. Die spartanischen<br />
Küchen, gut ventiliert auch sie, meist nicht viel<br />
mehr <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, langgezogene Arbeitsfläche,<br />
ergänzt von <strong>ein</strong>em Tisch als Abstellmöglichkeit,<br />
überblicken die Wasser oder die frei laufenden<br />
Hühner. Speisereste <strong>und</strong> anderes werden so<br />
gleich schwungvoll dem Kreislauf zurückgegeben.<br />
Auch mit den immer gegenwärtigen Wassern weiß<br />
man umzugehen. Manche Bewohner haben als<br />
Alternative <strong>ein</strong> zweites Haus, Verwandte, die auf<br />
der „Terra firme“, auf der sozusagen „Festen Erde“<br />
leben. Farinha <strong>und</strong> andere Dinge werden<br />
normalerweise auch nicht hier hergestellt. Steigen<br />
die Wasser, noch <strong>ein</strong> wenig, <strong>und</strong> noch etwas,<br />
unvorhersehbar, ständig, die Klimaveränderungen<br />
machen sich auch hier bemerkbar, zieht man als<br />
letzte Maßnahme <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>en zusätzlichen,<br />
provisorischen Boden <strong>ein</strong>, höher <strong>und</strong> noch etwas<br />
höher als der ursprüngliche. Stellt die Möbel hoch,<br />
noch höher. Jeden Tag reagiert auf das, was<br />
gerade kommt <strong>und</strong> wartet, bis die Wasser wieder<br />
fallen. Auch das Vieh wird auf immer höhere<br />
Landstriche getrieben, zum Schluss gar auf<br />
<strong>ein</strong>gezäunte Holzplattformen, auch sie auf<br />
Pfählen gebaut. Fallen die Wasser wieder,<br />
entledigt man sich der doppelten <strong>und</strong> dreifachen<br />
Böden. Man bessert die Treppen <strong>und</strong> Leitern aus,<br />
die nun bis zu den Wassern runter reichen <strong>und</strong><br />
beginnt <strong>ein</strong>en neuen, fruchtbaren Zyklus.<br />
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Die Mutter der Wasser<br />
Wer hier zuhören will, bekommt die<br />
unvorstellbarsten Geschichten vorgesetzt. So ganz<br />
anders als der Sehnsuchtsort Amazonas, ist das<br />
Hinterland des Amazonas nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>zige, riesige Favela, <strong>ein</strong>e Art riesiges<br />
Armenhaus, <strong>ein</strong>e letzte Grenze, irgendwo von der<br />
Weltgeschichte vergessen, aber der Humor, die<br />
Menschlichkeit <strong>und</strong> die Schlitzohrigkeit der Leute<br />
kompensieren!<br />
Glauben, Aberglauben, Überlieferungen der<br />
Indios <strong>und</strong> der katholische <strong>und</strong> heute oft auch die<br />
evangelikalische Doktrin bestehen hier im<br />
Amazonas <strong>ein</strong>trächtig neben<strong>ein</strong>ander, je<br />
intensiver, desto weiter weg man von der<br />
„Zivilisation“ der Städte kommt. Dass der Glaube<br />
hier vielleicht k<strong>ein</strong>e Berge, aber <strong>ein</strong> Haus versetzt,<br />
geht so:<br />
Die weit ausgedehnten Ländereien, irgendwo im<br />
Nirgendwo hatte er nur überflogen, bevor er den<br />
Kaufvertrag unterschrieb <strong>und</strong> das Geld überwies.<br />
Nun wollte er wissen, ob er, wie man auf<br />
Portugiesisch sagt, statt <strong>ein</strong>es Kaninchens,<br />
versteckt vom Sack, wohl <strong>ein</strong>e Katze angedreht<br />
bekommen hatte. Heuerte sich Männer an, die<br />
k<strong>ein</strong>e Angst vor dem Dschungel hatten <strong>und</strong> vor<br />
allem sich darin auch zurechtfanden, <strong>und</strong> machte<br />
sich, zusammen mit ihnen auf. Ein schwerer<br />
Rucksack blieb übrig. K<strong>ein</strong>er wollte ihn buckeln,<br />
aber ausgerechnet der musste mit. Es war <strong>ein</strong>e<br />
Heiligenstatue, die er, wenn s<strong>ein</strong>e Mission<br />
beendet war, da, mitten im Dschungel aufstellen<br />
wollte, dann wenn es ihm wirklich gelungen war,<br />
s<strong>ein</strong>en Besitz in Besitz zu nehmen. Würde der<br />
Heiligen gar <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Kapelle bauen lassen, als<br />
Dank, Einlösen <strong>ein</strong>es Gelübdes, das er in ihrem<br />
Namen abgelegt hatte.<br />
Das Eindringen erwies sich als gar nicht so<br />
schwierig. Die brasilianische Erdölcompagnie hatte<br />
in diesem Teil schon nach Erdöl gebohrt, war aber<br />
nicht fündig geworden. So <strong>ein</strong>e Suche hinterlässt<br />
alle paar Kilometer <strong>ein</strong>e Art Schneise, die zwar<br />
wieder zuwächst, aber doch <strong>ein</strong>facher wieder zu<br />
öffnen ist, als wirklicher Ur-Wald. Unter Strapazen<br />
gelang es der kl<strong>ein</strong>en Kolonne bis zum<br />
bezeichneten Gr<strong>und</strong>stück vorzudringen. Einmal<br />
angekommen, mussten sie feststellen, dass sie<br />
nicht die Ersten waren, die dieselbe Idee hatten.<br />
Der Jungfrau oder der Beredsamkeit des aktuellen<br />
Besitzers gelang es aber, die Leute, Caboclos <strong>und</strong><br />
arme Hungerleider, von der Rechtsgültigkeit<br />
s<strong>ein</strong>es Besitzes zu überzeugen, <strong>und</strong> sie,<br />
w<strong>und</strong>ersamerweise ohne ernste Gegenwehr oder<br />
gar <strong>ein</strong>em blutig ausgetragenen Streit, zu<br />
vertreiben. Und so kam die Jungfrau, oben, etwas<br />
vom Ufer des Flusses zurückversetzt, ihre Kapelle<br />
<strong>und</strong> die Statue ihren definitiven Platz.<br />
Wie es nun aber der Brauch will, <strong>ein</strong>mal in Besitz<br />
genommen, galt es nun anderen Übergriffen <strong>und</strong><br />
wilden Invasionen vorzubeugen. Es musste also<br />
<strong>ein</strong> währschafter, standfester Caboclo her, der<br />
hier ständig wohnen würde. Bald schon hatte die<br />
kl<strong>ein</strong>e Mannschaft <strong>ein</strong> Palmblätter gedecktes<br />
Haus hingestellt, <strong>und</strong> auch der Caboclo,<br />
zusammen mit Frau <strong>und</strong> Kind war schon<br />
gef<strong>und</strong>en. Nur schien ihn irgendetwas zu<br />
bedrücken. Irgendwie sollte der Deal nicht zu<br />
Stande kommen. Endlich konnte ihn <strong>ein</strong>er<br />
überreden, mit dem Gr<strong>und</strong> heraus zu rücken. Es<br />
war das Haus. Es stand viel zu nahe am Fluss.<br />
Und er hatte vor nichts mehr Respekt, als vor der<br />
„Mãe d‘ água“, der Mutter der Wasser. Die<br />
wohnt, wissen Sie das nicht? In allen Gewässern.<br />
Sie würde ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Familie das Leben zur<br />
Hölle machen, besonders wenn er zu nah am<br />
Fluss wohnen <strong>und</strong> schlafen würde.<br />
Der arme Mann hatte aber nicht mir der guten<br />
Gottesmutter gerechnet <strong>und</strong> der<br />
Überzeugungskraft s<strong>ein</strong>es Patrãos. Diesem<br />
gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass er Mãe<br />
d‘água hin oder her, Aberglauben oder nicht, vor<br />
letzterer sicher sei, wenn er der Jungfrau jede<br />
Nacht <strong>ein</strong>e Kerze anzünde. Die lasse er dann die<br />
ganze Nacht brennen <strong>und</strong> sei so vor allen Übeln<br />
geschützt.<br />
Gesagt, getan, geglaubt. Es funktionierte <strong>ein</strong> paar<br />
Monate lang perfekt. Aber <strong>ein</strong>es schönen Tages<br />
allerdings kam <strong>ein</strong> aufgelöster Caboclo in die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 380
Stadt <strong>und</strong> war fast nicht mehr dazu zu bewegen,<br />
wieder in die Wildnis zurückzugehen. Er war,<br />
s<strong>ein</strong>e Frau hatte unter <strong>und</strong>efinierbaren<br />
Schmerzen gelitten, st<strong>und</strong>enlang bis in die Stadt<br />
gelaufen, um <strong>ein</strong>e Medizin zu kaufen.<br />
Unglücklicherweise musste er in der Stadt<br />
übernachten. Konnte somit logischerweise der<br />
Jungfau k<strong>ein</strong>e Kerze anzünden.<br />
Und ausgerechnet in jener, lichtlosen,<br />
stockdunklen Nacht passierte das Unfassbare. Ein<br />
Gewittersturm brach aus, mitten im Tropenwald,<br />
wild, mächtig <strong>und</strong> unheimlich ungestüm. So<br />
ungestüm, so wild <strong>und</strong> so mächtig, dass die<br />
Mutter der Wasser die ihr dienstbaren Wasser<br />
hoch, sehr hoch, hoch bis zur Kapelle geschickt<br />
hatte. Erzürnt oder entzückt über die fehlende<br />
Kerzen, die die Macht der Jungfrau brach <strong>und</strong> ihr<br />
die ihrige zurück gab!<br />
Die <strong>ein</strong>zig mögliche Lösung? Das Wohnhaus<br />
musste nun endlich weiter vom Ufer, vom Wasser<br />
weg neu gebaut werden. Gesagt <strong>und</strong> getan. Und<br />
wenn sie nicht gestorben sind, so lebt die ganz<br />
Familie bis heute unbehelligt irgendwo im<br />
Nirgendwo, ganz ohne Angst vor der ach so<br />
rachsüchtigen, nassen Mutter der Wasser.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 381
Entwicklungszusammenarbeit auf<br />
amazonisch: Ein fix fertiges Haus, um<br />
Obst zu verarbeiten, ganz ohne<br />
Früchte. Eine Station, die darauf wartet,<br />
Jungfische zu züchten – auch Helfen<br />
will nicht nur gelernt s<strong>ein</strong>, sonder muss<br />
auch erwünscht s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> angenommen<br />
werden... .<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 382
Von Schönheit leben<br />
Der Mann mittleren Alters nähert sich uns, den<br />
Bootstouristen, für <strong>ein</strong>en, beiden Seiten<br />
willkommenen, Schwatz. Wir fragen ihn, was er<br />
denn von Beruf sei oder wovon er denn lebe? Die<br />
Antwort ist so kurz wie ironisch: – Von der<br />
eigenen Schönheit! – Den schmalbrüstigen<br />
Oberkörper entblößt, am Arm <strong>ein</strong>e dicke<br />
Armbanduhr <strong>und</strong> im Gesicht deutlich indigene<br />
Züge, sch<strong>ein</strong>t er gerade damit nicht sonderlich<br />
gesegnet.<br />
Und das Haus da drüben? Der noch intakten, fast<br />
frischen Bemalung nach wohl erst kürzlich<br />
hingestellt, in dem man, wie man lesen kann, hier<br />
in Urucurea Früchte verarbeite, welche da denn<br />
verarbeitet würden? - Oh, gar k<strong>ein</strong>e. Hier gäbe es<br />
gar k<strong>ein</strong>e Früchte, n<strong>ein</strong>. Das habe noch gar nie<br />
funktioniert. Ob der Ford Fo<strong>und</strong>ation <strong>und</strong> der<br />
Konrad Adenauer Stiftung, die zusammen mit<br />
brasilianischen Institutionen stolz ihre<br />
Partnerschaft auf den Wänden verewigt haben,<br />
wohl schon zu Ohren gekommen ist, dass hier<br />
nicht mal die Samen für <strong>ein</strong>en Obstgarten zu<br />
existieren sch<strong>ein</strong>en? Ja, Weltverbessern, helfen<br />
wollen ist nicht <strong>ein</strong>fach.<br />
Die Szene wiederholt sich an anderen Orten mit<br />
anderen Projekten <strong>und</strong> Gebäuden. Gähnende<br />
Leere <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erschöne Prospekte mit<br />
w<strong>und</strong>erbaren Worthülsen von erfolgreichen<br />
Kooperativen erzählen, die dem Augensch<strong>ein</strong><br />
nicht standhalten. Komischerweise sind die von<br />
außen aufgezwungenen Verbesserungen oft<br />
defekt, funktionsuntüchtig, auf Gr<strong>und</strong> gelaufen,<br />
die Pumpe verrostet. Auch wenn man das wie<br />
immer fehlende Ersatzteil herbeischaffen würde,<br />
könnte sowieso k<strong>ein</strong>er die Maschine reparieren.<br />
Der Anspruch auf Gleichberechtigung <strong>und</strong><br />
Nachhaltigkeit, der die moderne Entwicklungszusammenarbeit<br />
predigt, sch<strong>ein</strong>t hier noch nicht<br />
angekommen zu s<strong>ein</strong>. Hier ist man, wie mir<br />
sch<strong>ein</strong>t, noch in der Entwicklungshilfe verfangen,<br />
nicht nur im Diskurs. Bilaterale Projekte,<br />
kurzfristige Lösungen, die die Leute, wenn das<br />
„Projekt“ abgewickelt ist, all<strong>ein</strong>e lassen.<br />
Mangos <strong>und</strong> viele andere Früchte werden hier<br />
auch bei denen zu modrig stinkendem Schlamm,<br />
die sehr wenig haben, oder wie man in m<strong>ein</strong>em<br />
Land sagt, zu wenig zum Leben <strong>und</strong> zu viel zum<br />
Sterben. Die Leute hier seien halt mit sehr wenig<br />
zufrieden. Oder mit dem, für das sich nun die<br />
verschiedenen lokalen <strong>und</strong> nationalen<br />
Regierungen Stimmen kaufen, im Tausch gegen<br />
alle Arten von „Bolsas“, Stipendien, für Familien,<br />
Kinder, Landarbeiter oder Fischer. Denn das ist der<br />
Beruf unseres Gesprächspartners, nur dass er halt<br />
während der Schonzeit <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Gehalt dafür<br />
bekommt, dass er die gefährdeten Fischstände<br />
nicht noch weiter dezimiert. Wie die bösen Zungen<br />
der Erfolgreicheren lästern: dass die Leute, die<br />
ebendiese monatliche Zuwendung der Regierung<br />
bekämen, nun nicht mal mehr Açaí ernten<br />
würden oder Kastanien, k<strong>ein</strong> Kunsthandwerk<br />
mehr herstellten, mit dem sie sich früher ihre<br />
<strong>ein</strong>fache Existenz sicherten. Dona Eva, Besitzerin<br />
<strong>ein</strong>er Metzgerei <strong>und</strong> <strong>ein</strong>es Großhandels bringt es<br />
w<strong>und</strong>erbar neoliberal auf den Punkt: Sogar die<br />
Küchenkräuter, die früher jeder hinter dem Haus<br />
im kl<strong>ein</strong>en Hochbeet aussäte, würden sie nun in<br />
der Stadt kaufen!<br />
Monatsanfang. Wie immer bilden sich vor den<br />
Lotterieverkaufstellen endlos lange Schlangen<br />
Die Regierung hat soeben den monatlichen<br />
Zustupf ausgezahlt. Der wird sofort in<br />
Gr<strong>und</strong>lebensmittel umgetauscht, Reis, Bohnen,<br />
Milchpulver, Pasta. Es ist wohl <strong>ein</strong>facher, über<br />
Nacht reich zu werden, als im zu protestantischen<br />
Schweiße s<strong>ein</strong>es Angesichts.<br />
Die Leier ist endlos, sch<strong>ein</strong>bar unlösbar. Leer<br />
stehende Verkaufsbaracken, von lokalen<br />
Politikern geschenkt, an denen es nur an der<br />
<strong>ein</strong>en oder anderen hin <strong>und</strong> wieder was zu<br />
verkaufen gibt. Ob an der Geschichte des<br />
faschistischen, aber für s<strong>ein</strong>e Volksnähe heiß<br />
geliebten Gouverneurs <strong>Barata</strong>, von der Diktatur<br />
Getulio Vargas als Verwalter in Pará <strong>ein</strong>gesetzt,<br />
etwas Wahres ist? Als wohl <strong>ein</strong>er der ersten<br />
Lokalpolitiker, <strong>ein</strong> echter „Caudilho“, <strong>ein</strong><br />
militärisch-politischer Leader, reiste er weit bis<br />
ins Landesinnere <strong>und</strong> kam deshalb auf <strong>ein</strong>er<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 383
s<strong>ein</strong>er Reisen in <strong>ein</strong> jener abgelegenen<br />
Kl<strong>ein</strong>städte. Hielt, wie es der Brauch war, auf dem<br />
zentralen Platz vom hohen Podest herunter, <strong>ein</strong>e<br />
s<strong>ein</strong>er populären Reden. Versprach den<br />
staunenden Zuhörern, von tosendem Applaus<br />
unterbrochen, nicht nur Asphalt für die staubige<br />
Dorfstraße, <strong>ein</strong> properes Schulhaus, in dem alle<br />
ihre wurmbäuchigen Kinder lesen <strong>und</strong> schreiben<br />
lernen würden. Mahlte ihnen das neue<br />
Gem<strong>ein</strong>dehaus in den schönsten Farben aus, <strong>und</strong><br />
noch viel mehr. Brachte den anhaltenden Beifall<br />
mit <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Geste, <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Satz<br />
dann aber jäh zum Verstummen. Stolz verwies er<br />
auf den soeben her gekarrten Lastwagen hin: -<br />
Seht her, m<strong>ein</strong>e lieben Mitbürger! Für jeden die<br />
passende Schaufel, <strong>ein</strong> Pickel! Hier findet jeder<br />
das passende Werkzeug, um selbst mit Hand<br />
anzulegen! Zusammen werden wir unsere<br />
glanzvolle Zukunft errichten! – Die Menge soll sich<br />
in Minutenschnelle verdrückt haben.<br />
zwanzig Jahren k<strong>ein</strong>er mehr ernten will? K<strong>ein</strong>er<br />
hat ihnen gelehrt, dass man s<strong>ein</strong> Schicksal in die<br />
eigenen Hände nehmen könnte. Schwer, den<br />
Argumenten unseres Mannes etwas Konkretes<br />
<strong>und</strong> vor allem Reales entgegenzusetzen.<br />
Und so leben sie weiterhin all<strong>ein</strong> von ihrer<br />
Schönheit, nicht unzufrieden, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Leben. Es<br />
gibt gar Intellektuelle, die in diesem Sich-<br />
Entziehen, in der Verweigerung <strong>ein</strong>e Art späte<br />
oder infame Rache der Einheimischen sehen….. .<br />
Persönlich kann ich es ihnen, dem Mann, der von<br />
Schönheit lebt, <strong>und</strong> anderen, nicht mal verargen.<br />
Zu lange, Generation nach Generation wurden sie<br />
in absoluter Abhängigkeit belassen,<br />
Analphabeten, ständig ihren reichen paternalen<br />
Chefs <strong>und</strong> Zwischenhändlern Geld schuldig. Wieso<br />
nur sollen sie plötzlich Hand anlegen, gar<br />
unternehmerisch denken, sparsam s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>teilen,<br />
alles anders machen, als ihre Vorfahren? Gar<br />
Obstgärten pflanzen, die dann in zehn oder<br />
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Amazonischer<br />
Alltag<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 387
Amazonischer Alltag<br />
Reale Realitäten 400-402<br />
Das ist halt so….. 404<br />
Globalisierung auf amazonisch 406<br />
Die Bibliothek 408-411<br />
Der Portraitkult 417<br />
Paternal 419/420<br />
Abends auf dem Kirchplatz 426<br />
Glaubensbekenntnisse 430/431<br />
Noch mehr Glaubenssachen 432<br />
Der Ur-Zaun 433<br />
Bettwäsche / Sehr erfreut, Kakerlake 436<br />
Von allerlei Krankheiten 438-441<br />
Das geografische Tier 442<br />
Allerlei Verkehrsmittel 443-456<br />
Vom Transportieren 457-474<br />
Allerlei Verkehrsmittel II 475-477<br />
Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? 479<br />
N.T. <strong>und</strong> i9 481<br />
Chic caboclo 484/485<br />
Ekel, ganz privat 490-493<br />
So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn! 498/499<br />
Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit 502/503<br />
Überliefertes 504<br />
Vom Anpreisen 513/514<br />
Der König der schwarzen Cocada 518/519<br />
Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann 521<br />
Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier, verehrte K<strong>und</strong>in! 526/527<br />
Deutscher Brandtw<strong>ein</strong> / Späte <strong>und</strong> andere Ein- <strong>und</strong> Ansichten /<br />
Tierisches 528<br />
Im Kreuzfeuer 530<br />
Hinter Gittern 537/538<br />
Art-Cabocla 542<br />
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Traditionelle Küchenutensilien, Ruder, Tipitis <strong>und</strong> Siebe für die Farinhaherstellung, Heilpflanzen, Fächer.<br />
Trichter, Schirme <strong>und</strong> Taschen aus China.<br />
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Hotel Tropical, heute Barrudada, Santarém, PA<br />
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Reale Realitäten<br />
Es ist drei Uhr morgens. Das Flugzeug ist soeben<br />
gelandet. Noch denke ich, es sei ironisch<br />
aufbauend gem<strong>ein</strong>t, wenn mir die Flugzeugbesatzung<br />
<strong>ein</strong> fre<strong>und</strong>liches „Guten Tag“<br />
hinterherschickt. Zu m<strong>ein</strong>er totalen Überraschung<br />
ist der Winzflughafen belebt wie kaum Untertags.<br />
Die Taxisten reißen sich um die frühen K<strong>und</strong>en.<br />
Auch der Taxifahrer wünscht strahlend „Guten<br />
Tag!“. Es sind schließlich schon frühstmorgentliche<br />
drei Uhr dreißig. Wenigstens die Stadt<br />
schläft. Nur die taghell erleuchteten<br />
Plastikschwimmbecken grüßen von Ferne<br />
kühlblau in allen Formen <strong>und</strong> Größen. Ob er doch<br />
bitte die Klimaanlage etwas weniger kalt<br />
<strong>ein</strong>stellen könne. In São Paulo waren die<br />
Temperaturen um die Null Grad. Als sich dann die<br />
gläserne Tür des enormen Hotelkastens aus den<br />
50er Jahren, s<strong>ein</strong>erzeit verschwenderisch mit<br />
Regierungsgeldern hochgezogen, hinter mir<br />
geschlossen <strong>und</strong> mir noch <strong>ein</strong> fre<strong>und</strong>lich waches<br />
„Guten Tag“ entgegenschallt, gebe ich mich<br />
geschlagen.<br />
Auch das Frühstück, nach dem Bad im<br />
hollywoodverdächtigen Pool, so unwirklich türkis<br />
wie die Fertigschwimmbecken, konfrontiert mich<br />
mit noch <strong>ein</strong>er der realen Realität <strong>Amazonien</strong>s.<br />
Einer privilegierten Realität. Die muss der<br />
überwältigenden Natur <strong>ein</strong>en Hotelkomplex<br />
entgegenstellen, <strong>ein</strong>en überwältigenden Koloss,<br />
von Menschenhand erschaffen. S<strong>ein</strong>e meterhoch<br />
geschwungenen Rampe, die sich weit zum<br />
Eingang hoch schwingt, erinnert eher an <strong>ein</strong><br />
Fußballstadion, denn an <strong>ein</strong>e Herberge. Hier fährt<br />
man vor, möglichst im hochstelzigen<br />
Geländewagen, damit man sich <strong>ein</strong> bisschen<br />
weniger winzig vorkommt.<br />
Das Hotel, irgendwie wie von <strong>ein</strong>em anderen<br />
Stern, wird seit kurzem von <strong>ein</strong>er lokalen<br />
Hotelkette betrieben. Die lässt die vergangenen<br />
Glorien wieder aufleben. Ziemlich viel schriller<br />
<strong>und</strong> bunter, dafür aber immer gut ausgebucht.<br />
Während der Militärdiktatur war das Hotel Teil der<br />
gigantischen Regierungsprojekte für den<br />
Amazonas. Hier übernachteten die Angestellten<br />
der SUDAM (Superintendência do Desenvolvimento<br />
da Amazônia, 1966 geschaffen <strong>und</strong> später<br />
wegen Korruption in Misskredit geraten). Solche<br />
Forschungsanstalten hatten bis in die Mitte der<br />
1980er Jahre hin<strong>ein</strong> das Ziel, mit ihren<br />
Forschungen den größtmöglichen Profit aus dem<br />
Regenwald zu ziehen. Man kann hier immer<br />
wieder Leute treffen, die diesen goldenen Zeiten<br />
nachtrauern.<br />
Die Hotellobby ist so groß, leer <strong>und</strong> kühl,<br />
Klimaanlage sei Dank, wie <strong>ein</strong> mittlerer<br />
europäischer Bahnhofwartesaal im Winter. In der<br />
Mitte führt <strong>ein</strong>e breite Treppe in <strong>ein</strong>e Art<br />
Zwischenstock. Durch die riesige Glasfront erblickt<br />
man den blaugekachelten Pool. Die immensen<br />
Zimmer, gar mit Balkon, entschädigen für die<br />
Distanz zur auch nicht gerade interessanten<br />
Stadt. Beim Frühstück, überschattet vom immer<br />
<strong>ein</strong>geschalteten, überdimensioniert rechteckigen<br />
Bildschirm, noch mehr reale Realitäten. Hier trifft<br />
man auf den ganzen gehobenen amazonischen<br />
Mikrokosmos: Da gibt es die lässig in Bermudas,<br />
Havaianas <strong>und</strong> ärmellose Hemden gekleideten<br />
jungen Männer, die alle obligatorischerweise<br />
schon zum Frühstück ihre Baseballmützen<br />
aufhaben. Sie kommunizieren mehr mit ihren<br />
Laptops als unter<strong>ein</strong>ander <strong>und</strong> bedienen sich<br />
großzügig von den kalten Pizzavierteln,<br />
übriggeblieben vom gestrigen Nachtessen. Sicher<br />
gehören sie zu den Angestellten irgendwelcher<br />
Bergbaufirmen. Hier im weiteren Umkreis<br />
werden Aluminium, Eisen, Gold <strong>und</strong> viele andere<br />
Mineralien abgebaut. Ständig wird nach neuen<br />
Abbauorte sondiert. Diese Aufgabe ist den schon<br />
etwas gestanderen, gewichtigeren, aber nur um<br />
Nuncen formeller gekleideten Geologen zugeordnet.<br />
Sie sind die Pioniere <strong>und</strong> ziehen den doch<br />
schon etwas angejahrten Kolonialstil ihrer<br />
Jugend den Bermudas vor. Man kann sie hier in<br />
den abgelegensten, hintersten Ecken des<br />
Amazonas antreffen.<br />
Die Spiegeleier sind, wie überall hier, beidseitig<br />
<strong>und</strong> gut durchgebraten. Tee? Man fülle <strong>ein</strong>fach<br />
<strong>ein</strong>e der Tassen da, sie tragen noch den goldenen<br />
Schriftzug des ehemaligen Regierungshotels, mit<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 400
lauwarmem Wasser aus dem Wasserspender,<br />
stelle die Tasse dann in die Mikrowelle <strong>und</strong> warte<br />
<strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb Minuten. Dann nur noch den<br />
Teebeutel im nicht gerade kochend heißen<br />
Wasser baden. Upps. Apropos heißes Wasser:<br />
Nach dem dritten Bad bemerke ich endlich, dass<br />
die Armaturen der Dusche seitenvertauscht sind:<br />
Drehe ich das verm<strong>ein</strong>tlich kalte Wasser auf,<br />
strömt heißes heraus <strong>und</strong> umgekehrt. Der, wie<br />
alles überaus <strong>und</strong> ungewöhnlich großzügig<br />
bemessene, Wasserstrahl allerdings versöhnt<br />
mich mit solch <strong>ein</strong>em nebensächlichen Detail.<br />
Am Nebentisch frühstücken gerade in friedlicher<br />
Koexistenz, die um es etwas locker auszudrücken,<br />
Gegenspieler der Geologen, die NOG-ler, im Blick<br />
Abenteuerlust <strong>und</strong> Idealismus. Ihre beschrifteten<br />
T-Shirts (Amazon Project) verkünden, dass sie,<br />
zumindest in der Theorie, gleich den ganzen<br />
Tropenregenwald retten wollen. Weltgewandt<br />
mischen sie unter ihr Portugiesisch englische<br />
Brocken. Entblößen sich aber bald mit ihren<br />
Fragen nach der lokalen Flora <strong>und</strong> Fauna als<br />
absolute <strong>Amazonien</strong> Greenhorns. Denken, wie die<br />
Mehrheit der Leute von außen, dass es hier<br />
sozusagen nur Natur <strong>und</strong> Tiere, Tiere <strong>und</strong> Natur<br />
gebe. Entzückt sehen sie dem, sicher<br />
ausgesetzten, Kaninchenpaar zu, das am Abend<br />
um den Pool hopst <strong>und</strong> sich nicht sonderlich um<br />
die anderen Gäste in s<strong>ein</strong>em Reich kümmert. Da<br />
sind die so mager wie hochb<strong>ein</strong>igen<br />
panther-artigen Hauskatzen schon viel scheuer.<br />
Gott sei Dank hat niemand die ansehnliche Kröte,<br />
sicher so gutherzig wie hässlich, <strong>und</strong> den winzigen<br />
Frosch gesehen, den ich gestern aus dem Pool<br />
befreite, oder den Leguan, den ich auf m<strong>ein</strong>er<br />
abenteuerlichen <strong>Foto</strong>tour in die Umgebung<br />
aufschreckte. Er suchte sogleich auf langen<br />
Drachenb<strong>ein</strong>en das Weite.<br />
Vielleicht bereiten sich die NGO-ler, der blondhellhäutige<br />
Amerikaner sch<strong>ein</strong>t der Chef zu s<strong>ein</strong>,<br />
auf die öffentliche Audienz vor, die die mächtige,<br />
nordamerikanische Firma Cargill hier abhalten<br />
muss. Ihr übermächtiger Greifarm mitten im Hafen<br />
mahnt überdeutlich daran, dass sie aus der ganzen<br />
Region Soja in die weite Welt exportiert. Noch<br />
mehr Soja soll nun über die endlich fahrtüchtige<br />
BR Santarém Cuiabá her gekarrt werden. Die<br />
Zukunft des Hafens, der ganzen Stadt steht auf<br />
dem Spiel <strong>und</strong> viele komplexe Interessen dazu.<br />
Und das, welch W<strong>und</strong>er, dass mir bis jetzt noch<br />
k<strong>ein</strong>e chinesische Delegation begegnet ist, die sich<br />
hier im Amazonas emsig <strong>und</strong> mit ernsten<br />
Kaufabsichten umsehen.<br />
Während der Woche füllen sich die Tische immer<br />
mehr. R<strong>und</strong> um <strong>ein</strong>en der riesigen Tische trifft sich<br />
gerade die Equipe der „Globo“, mächtigste<br />
Fernsehanstalt Brasiliens. Sie drehen soeben hier<br />
in der Gegend „Tainá III“ - die rührselige<br />
Geschichte <strong>ein</strong>es Indiomädchens, das nun<br />
s<strong>ein</strong>erseits, schon in der dritten Folge, ebenfalls<br />
den Regenwald rettet. Erfahre, dass die kl<strong>ein</strong>e<br />
India, die die Tainá, oder besser ihre Tochter<br />
spielt, in <strong>ein</strong>em richtigen Indiostamm lebt, fünf<br />
Jahre zählt <strong>und</strong> bis zu Beginn der Dreharbeiten<br />
k<strong>ein</strong> Portugiesisch sprach, nur die Sprache ihres<br />
Stammes. Auch, dass das Mädchen nur mit<br />
Bewilligung der Funai, der Indioschutzbehörde<br />
unter Vertrag genommen werden durfte. Einer<br />
der Taxifahrer erzählt, dass sie <strong>ein</strong>e „richtige“<br />
„Maloca“ aufgebaut hätten, <strong>und</strong> dass auch<br />
„richtige“ Indios, nicht verstädterte wie er,<br />
mitspielen würden. Die hielten sich immer<br />
misstrauisch Abseits, mischten sich nicht mal<br />
beim Essen mit den anderen Schauspielern <strong>und</strong><br />
Statisten.<br />
Die wohl <strong>ein</strong>zigen, wirklichen Touristen kommen<br />
soeben vom fantastischen Festival in Parantins<br />
zurück, <strong>ein</strong>e Art amazonischem Karneval, der die<br />
Lende vom „Boi“, von den Nordestinos in den<br />
Amazonas gebracht mit amazonischer Folklore<br />
mischt. Die beiden „Bois“, Garantido, s<strong>ein</strong>e Farbe<br />
ist rot <strong>und</strong> Caprichoso, er ist blau, treten im<br />
Bumbódrom gegen<strong>ein</strong>ander an, das Platz für<br />
35.000 Personen bietet. Alle Zuschauer erküren<br />
schon vor dem Wettbewerb ihren Boi.<br />
Identifizieren sich mit Rot mit dem Boi Garantido<br />
oder ziehen blau für den Caprichoso über <strong>und</strong><br />
tanzen, jedes Mal wenn er auf die Bühne kommt,<br />
extra für ihn <strong>ein</strong>e komplexe, schon vorher<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 401
<strong>ein</strong>studierte Choreografie. Einer der beiden Bois<br />
wird dann nach übervollen drei Tagen Show von<br />
<strong>ein</strong>er Jury zum Gewinner auserkoren. Die<br />
Touristen kommen aus dem Süden Brasiliens <strong>und</strong><br />
wollen die lokalen Schönheiten von Alter do Chão,<br />
bis jetzt nur <strong>ein</strong> paar Kreuzfahrtschiff- <strong>und</strong><br />
Rucksacktouristen bekannt, nicht verpassen. K<strong>ein</strong><br />
Problem, dass zu dieser Jahreszeit Dreiviertel der<br />
berühmten Insel unter Wasser ist.<br />
Am nächsten Tisch sprechen die Professoren der<br />
neuen staatlichen Universität schon beim<br />
Frühstück über nichts anderes als ihre Projekte<br />
<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Bürokratie. Heute<br />
beginnt auch der regionale Kongress der<br />
Gr<strong>und</strong>schullehrer. Die Teilnehmer sind in der<br />
Mehrzahl deutlich <strong>ein</strong>facher Herkunft, ach, hier ist<br />
ja auch die Nonne in vollem Ornat, die gerade drei<br />
St<strong>und</strong>en mit dem selben Boot hierhergefahren ist.<br />
Alle, Frauen <strong>und</strong> Männer, unterstreichen<br />
wortstark mit jeder Geste ihren pädagogischen<br />
guten Willen.<br />
Während sie an der Rezeption verzweifelt den<br />
Schlüssel unseres neuen Zimmers suchen, er wird<br />
magischerweise erst am nächsten Tag<br />
auftauchen, w<strong>und</strong>ere ich mich über die<br />
überdimensionierte <strong>und</strong> kitschig Dekoration im<br />
Stil grob behauener Baumstrünke, die als<br />
Sofatische dienen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er modisch<br />
karnevalesken Interpretation lokaler Klischees.<br />
Hinter der Empfangstheke die in viele Hotels<br />
üblichen vier Uhren auf knallorangem Gr<strong>und</strong>, die<br />
neue Hotelfarbe. Entblößen <strong>ein</strong>e überaus<br />
interessante Sicht der Welt, zeigen sie doch die<br />
Uhrzeiten von Santarém, Brasília, New York <strong>und</strong><br />
Madrid an.<br />
Wieder beim Frühstück holt mich der Kellner in die<br />
reale Realität zurück. Nennt mich „Querida“, m<strong>ein</strong><br />
Liebling, was ich nicht gerade passend finde.<br />
Später setzt er sich, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Pause ist fällig, zu<br />
s<strong>ein</strong>em Kollegen an die Bar, um sich von der<br />
Rennerei etwas auszuruhen. K<strong>ein</strong>en stört es, dass<br />
s<strong>ein</strong>e Kollegin beim Servieren Kaugummi kaut.<br />
Aber auch die Gäste mögen es informell. Fragt<br />
doch <strong>ein</strong>er im Gang unverblümt das Zimmermädchen,<br />
ob sie ihm nicht jemand empfehlen<br />
könne, der ihm <strong>ein</strong> paar Shirts wasche, was gerne<br />
bejaht wird. Der Waschservice des Hotels ist ihm<br />
wohl zu teuer.<br />
Tatendurstig will ich nun aber endlich die reale<br />
Realität kennenlernen. Falls ich k<strong>ein</strong> Taxi möchte,<br />
könnte ich in der Bruthitze st<strong>und</strong>enlang auf den<br />
lokalen Bus warten, oder, <strong>ein</strong> ganz alternatives<br />
Programm, <strong>ein</strong>fach zwei, drei Kilometer zu Fuß<br />
gehen, Hut <strong>und</strong> Sonnenschutz nicht vergessen!<br />
Oder –aber halt - das ist schon zu alternativ,<br />
ironisch <strong>und</strong> vielleicht gar etwas gefährlich,<br />
<strong>ein</strong>fach die andere Seite der autobahnartigen<br />
Rampe vor dem Hotel hinunterrollen <strong>und</strong> m<strong>ein</strong><br />
blaues W<strong>und</strong>er erleben, sozusagen in die Realität<br />
fallen, „caír na real“, wie man so schön auf<br />
Portugiesisch sagt. Gleich am Fuß der Rampe<br />
beginnt nämlich der wirkliche Amazonas. Aber<br />
die „Realidade“, giftgrün angestrichen, hat leider<br />
so früh noch nicht geöffnet - Realidade ist der<br />
stilvolle Name <strong>ein</strong>er etwas eruntergekommenen<br />
Bar!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 402
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 403
Das ist halt so…..<br />
Fassungslos, bin absolut fassungslos, aufgelöst,<br />
geschockt <strong>und</strong> verzweifelt. Mit dem ersten der<br />
tropisch-heftigen Regenfälle entpuppt sich das<br />
Dach m<strong>ein</strong>er Wohnstätte, ansonsten ziemlich<br />
tropentauglich, als <strong>ein</strong>e Art Sieb. Weder Eimer,<br />
Schüsseln, Becken noch Lappen reichen aus, das<br />
Tropfen, Fließen, die Bäche, Wasserfälle <strong>und</strong><br />
Sintfluten aufzufangen, geschweige ihnen <strong>ein</strong>e<br />
dezente Bestimmung zu geben! Rette sich, wer<br />
kann! Versuche tief durchzuatmen, weder in<br />
Panik zu geraten noch in Tränen auszubrechen.<br />
Denn ich muss mir <strong>ein</strong>gestehen, dass all m<strong>ein</strong>e<br />
Versuche wohl fruchtlos bleiben werden! Auch<br />
das Naheliegendste, alles irgendwie zu retten,<br />
sozusagen ins Trockene zu bringen, ist für die<br />
Katz. Es gibt kaum <strong>ein</strong> trockenes Eckchen. Schau<br />
mal! Da fließt das Wasser <strong>ein</strong>fach die Wände<br />
runter, <strong>und</strong> das mitten im Wohnzimmer…. .<br />
Die Tür geht auf <strong>und</strong> unser Mann für alle<br />
Umstände kommt her<strong>ein</strong>. M<strong>ein</strong>er offensichtlichen<br />
Verzweiflung ansichtig, zuckt er nur mit den<br />
Schultern. Und es kommt jener unvorstellbare<br />
Satz über s<strong>ein</strong>e Lippen, für den ich ihn schlicht<br />
ohrfeigen oder umbringen könnte: „Dona Susan, é<br />
assim mesmo.“ – „M<strong>ein</strong>e liebe Frau Susan, das ist<br />
halt leider <strong>ein</strong>mal so!!!!“<br />
„É assim mesmo“ - kaum <strong>ein</strong> anderer Satz hat<br />
mich mehr über die Menschen hier gelehrt. Er<br />
kondensiert all das passive Hinnehmen, das sich<br />
<strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> widerstandslos ins Schicksal fügen, das<br />
Gott-Gegebene, Gott-Gewollte all jener, die<br />
schon lange aufgehört haben, sich dagegen<br />
aufzulehnen, wissen, dass sie k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Chance<br />
haben gegen die anderen, die Mächtigen, die, die<br />
hier den Ton angeben <strong>und</strong> die Puppen tanzen<br />
lassen. Fehlt nur, sich neben <strong>ein</strong>en der stetigen<br />
Tropen zu setzten <strong>und</strong> die Hände stoisch im Schoß<br />
zu verschränken <strong>und</strong> warten, bis die Regenzeit zu<br />
Ende geht. Eine Handvoll Intellektueller<br />
interpretiert dieses so typische sich ins<br />
Unabänderliche schicken auch als <strong>ein</strong>e Art passiver<br />
Racheakt, <strong>ein</strong>e Art von lokalem Widerstand... .<br />
Viele der hiesigen NGOs üben sich gerade im<br />
„Empowering“ der Einheimischen, die dann<br />
allerdings mit jener nigelnagelneuen Macht<br />
ausgestattet, oft ziemlich weit übers Ziel<br />
hinausschießen.<br />
M<strong>ein</strong>e Rache ist anderer Art. Genau zwei Tage<br />
später sieht man vom Sofa aus den nicht gerade<br />
strahlend blauen Himmel. Fünf Männer<br />
sind gerade dabei, <strong>ein</strong>e silbergraue Isoliermatte<br />
über die <strong>ein</strong>fache Dachstruktur zu ziehen. Decken<br />
noch <strong>ein</strong>en Meter ab <strong>und</strong> nageln auch da das<br />
Silber fest. Decken dann wieder die Ziegel darüber<br />
<strong>und</strong> ich habe <strong>ein</strong> nigelnagelneues, fast<br />
wasser<strong>und</strong>urchlässiges Dach, das das<br />
Wohnzimmer überspannt. Es ist, <strong>ein</strong>e<br />
willkommene Zugabe, erst noch um <strong>ein</strong> paar<br />
Grade kühler. Die nächsten absolut tropischen<br />
Sintfluten, sie können ganze Nächte runter<br />
gießen, herrlich monoton <strong>und</strong> <strong>ein</strong>förmig, werden<br />
nun nur noch von kl<strong>ein</strong>en, gut lokalisierbaren<br />
Tropfgesängen unterbrochen. Da<br />
Schafft <strong>ein</strong> Becken oder <strong>ein</strong> Topf Abhilfe. Gegen<br />
das stetige Tropfen hilft <strong>ein</strong> weicher Lappen.<br />
„É assim mesmo“ aber begleitet mich fortan<br />
durch den Amazonas. Diese wertvolle Lektion<br />
habe ich gelernt!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 404
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 405
Globalisierung auf amazonisch<br />
Das kl<strong>ein</strong>e Mädchen geht mit der Mode. Trägt<br />
<strong>ein</strong>en kurzen Jeansminirock <strong>und</strong> auf dem Rücken<br />
schlenkert <strong>ein</strong> Plüschtier, das wohl <strong>ein</strong> Rucksack<br />
s<strong>ein</strong> soll. - Bin mal wieder die Einzige, der auffällt,<br />
dass die eitle Mode kl<strong>ein</strong>er, shoppingverrückter<br />
Mädchen nun auch schon hier im amazonischen<br />
Hinterland, in Óbidos, angekommen ist. Und das<br />
auch noch schade findet. Globalisierung nennt<br />
man das wohl.<br />
Dass sich hier alle gegen die kühle Frische, die<br />
nachts auf den Booten, auch ganz ohne<br />
Klimaanlage, herrscht, in chinesisch grellbunte<br />
Plüschdecken hüllen, wusste ich schon. Die<br />
grellen Farben <strong>und</strong> die wilden, fotografisch<br />
realistischen Drucke kommen hier besonders gut<br />
an. Auch aufs Handy verzichtet hier k<strong>ein</strong>er. Zwar<br />
gibt es in manchen abgelegenen Weilern noch<br />
k<strong>ein</strong>e Funktürme oder es hat riesige Funklöcher.<br />
Wer sagt denn, dass man mit dem Handy nur<br />
telefonieren kann?<br />
Eigentlich hätte es mir schon auf der Herfahrt<br />
auffallen müssen. Drei St<strong>und</strong>en <strong>ein</strong>gepfercht in<br />
<strong>ein</strong>e “Lancha”. Das sehr effiziente, voll<br />
klimatisierte Schiff, <strong>ein</strong>e Art schwimmender<br />
Plastikbüchse, flach <strong>und</strong> stromlinienförmig,<br />
verkürzt die Reise ungem<strong>ein</strong>. Die Bootsgesellschaft<br />
wird ja auch von <strong>ein</strong>em “Gaucho”, <strong>ein</strong>em<br />
Südbrasilianer geführt. Die Sitze sind fast so<br />
bequem wie im Kino <strong>und</strong> draußen gießt es<br />
sowieso in Strömen. Wasser von unten, Wasser<br />
von oben, Wasser überall. Aber drinnen<br />
ist es kühl <strong>und</strong> trocken. Da vorne, breitl<strong>ein</strong>wandig,<br />
k<strong>ein</strong>er entkommt ihm, der Film. Hätte nicht mir<br />
mehr Fingerspitzengefühl ausgesucht worden s<strong>ein</strong>.<br />
Fühle mich wie auf <strong>ein</strong>em intergalaktischen<br />
Treffen zweier Favelas, <strong>ein</strong>er indischen, der Film<br />
heißt ausgerechnet “Slumdog Millionaire”!!! <strong>und</strong><br />
der amazonischen. Wie sich die Welten gleichen!<br />
Bald, sehr bald schon werden wir uns alle gleich<br />
anziehen, uniform, Mode der Globalisierung,<br />
globalisierte Mode <strong>und</strong> gleich zudecken. Die<br />
gleichen Filme konsumieren wir schon. Und die<br />
ewiggleichen Hamburger <strong>und</strong> Pizzas muss man<br />
auch hier nicht verzichten. Sie sind nur noch etwas<br />
süßlicher, genauso wie die Fantas, der absolute<br />
Gipfel ist “Fanta Uva”, Fanta mit Traubengeschmack,<br />
dunkellila, oder noch schlimmeres, die<br />
wir dazu trinken. Da muss man vor dem neuen<br />
Shopping, in der nächsten großen Stadt, nur drei<br />
Bootsst<strong>und</strong>en weg, eigentlich den Hut ziehen. Es<br />
heißt, wie unverblümt ehrlich, - Paradies! <strong>ein</strong><br />
klimatisiertes natürlich.<br />
Aber dann beschert mit ausgerechnet Batman<br />
<strong>ein</strong>en unerwarteten Schimmer Hoffnung. Der<br />
kl<strong>ein</strong>e Junge, erklärter Batmanfan, trägt nichts<br />
lieber als die heldenhafte, schon arg<br />
mitgenommene, synthetische Batmanuniform.<br />
Noch passt das schwarze Cape <strong>und</strong> der goldene<br />
Gürtel, aber schon bald ist er daraus<br />
herausgewachsen. Darin batmant er jeden Tag<br />
auf s<strong>ein</strong>er Playstation rum. Geduldig lädt ihm die<br />
Großmutter das Programm immer wieder hoch.<br />
Bald wird er es selber machen. Vergnügt<br />
verkniffen schildert er mir zwischen zwei<br />
missglückten Drückern: Schau mal, <strong>und</strong> jetzt<br />
verwandelt er sich in <strong>ein</strong>en “Macaco arranha”,<br />
<strong>ein</strong>en Spinnen- oder Klammeraffen.” Er” ist das<br />
Ungeheuer, gegen das sich Batman, wild um sich<br />
schlagend, verteidigen muss.<br />
Ich gebe zu, dass ich im schauerlich verzerrten,<br />
metallfarbenen Monster k<strong>ein</strong>en Schimmer von<br />
<strong>ein</strong>em Klammeraffen ausmachen kann. Was mich<br />
aber unheimlich tröstet, ist die unglaubliche<br />
Fähigkeit <strong>und</strong> Unbekümmertheit des Jungen,<br />
etwas global Vorgegebenes, <strong>ein</strong> schauerliches<br />
Spiel mit noch schauerlicherer Ästhetik in s<strong>ein</strong>e<br />
ureigene, amazonische Umwelt <strong>ein</strong>zubeziehen.<br />
Batman zu integrieren, zu veramazonieren, ist<br />
wohl der <strong>ein</strong>zig logische Weg, der noch offen<br />
bleibt, auch mir, Ewiggestriger.<br />
So sei’s denn: Hoch lebe Batmans Spinnenaffe!<br />
Der sieht übrigens mit s<strong>ein</strong>en überlange, dick<br />
behaarten B<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>er grauslich<br />
überdimensionierten Spinne ziemlich ähnlich.<br />
Passt sicher gut zu Batmans Fledermaus!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 406
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 407
Die Bibliothek<br />
Vage nur die Erinnerung an das alte Haus. Es lag<br />
gleich um die Ecke des größten Shopping-Centers<br />
der Stadt. Das starke Türkis von den Regen<br />
ausgelaugt, verblichen, hätte es dringend <strong>ein</strong> paar<br />
Reperaturen gebraucht. Links <strong>ein</strong> Podest auf<br />
Straßenhöhe, der Käfer, postautogelb, nun schon<br />
mehr als zehn Jahre außer Verkehr.<br />
Ein seltsamer Bau, direkt über <strong>ein</strong>en Kanal<br />
gebaut. Man musste <strong>ein</strong> paar Stufen zum Haus<br />
hinuntersteigen, unterhalb das Niveau der Straße.<br />
Wie fast alle Häuser hier war es dunkel. Die<br />
weißen Fensterläden, der intensiv begangen <strong>und</strong><br />
befahrenen Straße zugewandt, blieben immer<br />
geschlossen. Es galt die Hitzen auszusperren. Das<br />
machte es feucht, was nur der überaus üppigen<br />
Tajá wirklich gefiel. In <strong>ein</strong>en enormen Topf direkt<br />
neben der Eingangstür gepflanzt, hob sich ihr<br />
dichtes Grün/Weiß w<strong>und</strong>erbar üppig vom Türkis<br />
der Hauswand <strong>und</strong> dem traditionellen Blutrot des<br />
Eingangs ab. Die Riesenblätter tiefgrün, das<br />
Blattinnere in unregelmäßigen Blattern dekorativ<br />
zwischen den weit verästelten weißen<br />
Blattnerven aufgeworfen. Der glatte Boden aus<br />
unregelmäßigen Kachelscherben, <strong>ein</strong> Stich<br />
Bohème, war <strong>ein</strong>gefasst mit <strong>ein</strong>em passenden<br />
Band schmalerer Kacheln. Zwei antike Korbstühle,<br />
<strong>ein</strong>er neben den anderen gestellt, luden zu <strong>ein</strong>em<br />
Schwatz mit Vorbeigehenden oder den Nachbarn<br />
<strong>ein</strong>. Letztere waren längst weggezogen, schon<br />
länger hatten die Straßenhändler sie abgelöst,<br />
angelockt als der Fortschritt Konsum hier um die<br />
Ecke Einzug hielt.<br />
Neben der Tür das Schild, leise vor sich hin alternd.<br />
Portugiesischunterricht . Hoch über der<br />
Eingangstür die billige Lithografie <strong>ein</strong>er Heiligen.<br />
Das Halbdunkel des Hauses durchdrungen vom<br />
Geruch nach Papier, nach Feuchtigkeit <strong>und</strong><br />
Schimmel, gut durchmischt mit Kollektionen gut<br />
genährter Schimmelpilze. Der Kanal, der unter<br />
dem Haus durchführte, machte sich besonders bei<br />
starken Wasserfällen bemerkbar. Dann brodelten<br />
<strong>und</strong> kochten die Wassermassen, rebellierten<br />
gegen ihre Gefangenschaft, suchten sich zu<br />
befreien. Schäumten schauerlich in den Toiletten,<br />
drückten das Wasser hoch, rumorten <strong>und</strong> ächzten<br />
im alten Geröhr. Gaben dem Haus <strong>ein</strong> tropisch<br />
unkontrollierbares Eigenleben.<br />
Portugiesisch, Sprachen überhaupt, waren s<strong>ein</strong>e<br />
Leidenschaft <strong>und</strong> Freude. Ein schmächtiger Mann,<br />
dürr, mit bräunlicher Haut, <strong>ein</strong> Caboclo. Jener<br />
Mischrasse, was er selber aber k<strong>ein</strong>em<br />
zugestanden hätte. Die hohen Backenknochen, die<br />
schmal-schlitzigen, dunklen Augen <strong>und</strong> die nur<br />
leicht krausen Haare, deren Schwarz k<strong>ein</strong> weißer<br />
Faden trübte, ließen k<strong>ein</strong>en Zweifel übrig. Von<br />
<strong>ein</strong>er guten Stelle in <strong>ein</strong>em Ministerium<br />
pensioniert, hatte er sich nie zum Heiraten<br />
durchgerungen. Lebte mit zweien s<strong>ein</strong>er<br />
Schwestern, beide so dünn wie religiös, auch sie<br />
unverheiratet. Eine ureigene, symbiotischen<br />
Welt, besonders seit sie, zum Hass <strong>und</strong> bösem<br />
Klatsch der ganzen restlichen Familie, die Tochter<br />
<strong>ein</strong>er ehemaligen Zugehefrau <strong>und</strong> inzwischen<br />
deren ganzer Clan adoptiert hatten. Die junge<br />
Frau war <strong>ein</strong>e wilde Mischung aus Ersatzkind,<br />
Pflegerin, Almosenempfängerin <strong>und</strong> Mädchen für<br />
alles. Beklagten sich alle drei abwechselnd <strong>und</strong><br />
immer hinter dem Rücken der anderen, über<br />
wechselnde Krankheiten <strong>und</strong> darüber, von der<br />
Familie vergessen worden zu s<strong>ein</strong>. Stöhnten über<br />
die Frechheiten, die sich die aufgehalste Familie<br />
herausnahm, um dann aber, gegen die Wand<br />
gestellt, sofort deren Partei zu ergreifen <strong>und</strong> alles<br />
abzustreiten.<br />
Die legendären hysterischen Krisen des Onkels, –<br />
die Nerven – wahre Delirien aus blinder Wut, mit<br />
denen er, starrköpfig wie er war, alles erreichte,<br />
was er wollte, durch die er s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Welt<br />
all<strong>ein</strong> um sich kreisen ließ, allen s<strong>ein</strong>en Willen<br />
aufzwang, habe ich nie erlebt. Vielleicht hatte<br />
das Alter s<strong>ein</strong>e Kräfte, <strong>und</strong> die Wut gleich dazu,<br />
unterminiert <strong>und</strong> ausgehöhlt, so dass ihr heute<br />
die explosive Kraft von ehemals fehlte.<br />
Gab es Besuch, buhlte er, der Onkel, den Bart<br />
ungemacht, auf dem Hemd <strong>ein</strong> paar Tropfen des<br />
im Mixer zerkl<strong>ein</strong>erten Mittagessens, trotz des<br />
fortgeschrittenen Alters ohne große<br />
Ges<strong>und</strong>heitsprobleme, sah man vom allergischen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 408
Husten <strong>und</strong> Schnupfen ab, dessen ständigen<br />
Katarr er immer wieder hochzog oder auf der<br />
Straße eklig <strong>und</strong> unter starken Geräuschen<br />
ausspuckte, mit der Schwester, <strong>ein</strong> ebenso starker<br />
<strong>und</strong> dominierenden Charakter, um dessen<br />
un<strong>ein</strong>geschränkte Aufmerksamkeit. Schimpfte vor<br />
sich hin, beklagte sich, wärmte immer wieder aufs<br />
Neue kl<strong>ein</strong>e Alltagsprobleme auf. Die dritte<br />
Schwester, so unwichtig, ausgedörrt <strong>und</strong><br />
weichherzig wie <strong>ein</strong> Vögelchen, piepste nur hie<br />
<strong>und</strong> da <strong>ein</strong> Wörtchen. Sie litt an den Spätfolgen<br />
<strong>ein</strong>er schlecht verheilten Tuberkulose, an der<br />
auch andere Geschwister, über die man nie<br />
sprach, in jungen Jahren gestorben waren.<br />
Die Likörflaschen, an die sich nur s<strong>ein</strong> Neffe<br />
erinnerte, f<strong>ein</strong>ster „Marie Brizard“, waren längst<br />
vom Beistelltischchen verschw<strong>und</strong>en. Dem Onkel,<br />
<strong>ein</strong>em vorbildlichen Beamten der staatlichen<br />
Steuerbehörde, als Anerkennung oder fre<strong>und</strong>liche<br />
Bestechungsversuche geschenkt, staubten sie vor<br />
sich hin. Noch heute könne er den exquisiten<br />
Geschmack der Liköre auf der Zunge spüren.<br />
Besonders das Viererpack hatte es ihm angetan.<br />
Es war <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Flasche, die gleich vier<br />
verschiedene Liköre in vier ganz unterschiedlichen<br />
Farben in ihrem Glasbauch hütete. Cassis oder<br />
Groselha, Amaretto, Cacau <strong>und</strong> vielleicht Sirope<br />
de Menthe? So genau konnte er sich nicht mehr<br />
erinnern. Nur daran, wie er sich, alle drei hatten<br />
sich in die Hängematten zur mittäglichen Siesta<br />
zurück gezogen, <strong>ein</strong> Glas Likör <strong>ein</strong>goss <strong>und</strong> es<br />
zusammen mit <strong>ein</strong>em auch geschenkten Whiskey<br />
genüsslich schlürfte.<br />
Der Whiskey selber wurde zum Familiengag,<br />
immer wieder gern erzählt. Eines Tages drang <strong>ein</strong><br />
Dieb ins stille Haus <strong>ein</strong>. Unter den Schrecken der<br />
Bewohner mischte sich die Empörung des Onkels.<br />
Wie konnte es dem Dieb <strong>ein</strong>fallen, s<strong>ein</strong>en ganzen<br />
geschmuggelten <strong>und</strong> als Bestechungsversuch<br />
geschenkten Whiskey zu klauen, aber k<strong>ein</strong>es der<br />
ach so wertvollen Bücher aus der Bibliothek!<br />
Damit könne man doch so viel mehr anfangen!<br />
Intellektueller der Familie, war ihm die ganz von<br />
innen heraus kommende Faszination für Sprachen<br />
bis ins hohe Alter geblieben, im Speziellen für<br />
Esperanto, dessen Universum s<strong>ein</strong>e große<br />
Leidenschaft gehörte. Stolz verwies er darauf, in<br />
Brasilien <strong>ein</strong>er der Pioniere dieser Kunstsprache<br />
gewesen zu s<strong>ein</strong>! Entfaltete mit trockener Hand,<br />
die Nägel schlecht geschnittenen, <strong>ein</strong> angegilbtes<br />
Folletim: Hier waren alle s<strong>ein</strong>e Fre<strong>und</strong>e vom Club<br />
des Esperantos! Intellektuelle, auf der ganzen Welt<br />
verstreut, <strong>ein</strong> Pole, <strong>ein</strong> Peruaner, <strong>ein</strong>e Russin, die<br />
ihn aber, wie er immer <strong>und</strong> immer wieder<br />
betonte, alle mit offenen Armen empfangen<br />
würden, gleich morgen schon, falls es ihm<br />
<strong>ein</strong>fallen würde, sie zu besuchen. Zwar seien sie<br />
geografisch weit entfernt, sich aber im Geiste sehr<br />
nah, <strong>ein</strong>e verschworene Gesellschaft, ver<strong>ein</strong>t<br />
durch <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige universelle Sprache.<br />
Zudem sammelte er Wörterbücher, die er<br />
ausgiebig mit dem Ziel studierte, herauszufinden,<br />
was die Struktur der <strong>ein</strong>zelnen Sprachen<br />
mit<strong>ein</strong>ander verbinde. Ordentlich in Zettelkästen<br />
katalogisiert, legte er sich viele Karteikarten an,<br />
auf denen er die Logik der <strong>ein</strong>zelnen Sprachen<br />
mit<strong>ein</strong>ander verglich, im voll gestellten<br />
Studierzimmer im Erdgeschoß, der geliebten<br />
Bibliothek vorbehalten.<br />
Der Dicionère de Français stand gleich neben<br />
<strong>ein</strong>em deutschen Wörterbuch, <strong>ein</strong>em<br />
Lat<strong>ein</strong>ischen, <strong>ein</strong> Aurélio für Portugiesisch,<br />
Enzyklopädien, Regale <strong>und</strong> noch mehr Regale.<br />
Unzählige papierene Buchzeichen <strong>und</strong><br />
Merkzettel mahnten an frühere Entdeckungen<br />
<strong>und</strong> produktivere St<strong>und</strong>en. Dazu viel Literatur,<br />
auch <strong>ein</strong> Goethe, Notizen <strong>und</strong> immer wieder<br />
s<strong>ein</strong>e eigenen Recherchen, die zu veröffentlichen<br />
er k<strong>ein</strong>erlei Anstrengungen oder Mühen<br />
unternommen hatte. Alles hier versammelt,<br />
aufgetürmt, aufgestapelt, gelesen <strong>und</strong> wieder<br />
gelesen, voller Flecken, gealtert, von der Zeit<br />
vergilbt, irgendwie <strong>ein</strong>e Art riesiges, schlecht<br />
organisiertes Buchantiquariat. Ein <strong>ein</strong>samer<br />
Privatgelehrter, wovon auch die schwarze Brille,<br />
die er fast nie mehr aufsetzte, zeugte. Wenn es<br />
ihm endlich gelungen war, die Aufmerksamkeit<br />
des Besuchers auf sich zu lenken, trat sie in<br />
Aktion. Den mageren Rücken steil im Stuhl<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 409
aufgerichtet, schlug er <strong>ein</strong> knochiges Knie über<br />
das andere <strong>und</strong> nahm die Brille zur Hand. Klappte<br />
<strong>ein</strong> Brillenb<strong>ein</strong> sorgsam über das andere <strong>und</strong> legte<br />
sie sorgfältig vor sich auf den Tisch, bevor er zu<br />
<strong>ein</strong>em professoralen Monolog ansetzte. Da blieb<br />
sie aber nie länger als zwei Sätze liegen. Benutzte<br />
sie im ersten aufflackernden Feuer als<br />
Dirigentenstab, die sehnigen Hand ergriff sie,<br />
zusammengelegt, um s<strong>ein</strong>en Monolog zu<br />
verstärken, unterstrich da <strong>ein</strong> Wort, setzte da<br />
<strong>ein</strong>en Akzent. Sprach stolz <strong>und</strong> selbstsicher von<br />
s<strong>ein</strong>em Wörterbuch. Eine universelle Grammatik,<br />
die verschiedene Sprachen mit<strong>ein</strong>ander verglich,<br />
lebende <strong>und</strong> tote, an dem er gerade schrieb.<br />
Vom überladenen Beistelltischchen lud<br />
aufgedeckt die total veraltete Schreibmaschine<br />
zum Schreiben <strong>ein</strong>. Im geheimen aber hatte ihn,<br />
hochgebildeter Eremit, das vorgerückte Alter<br />
schon von allen weiterführenderen Ansprüchen<br />
befreit. Vielleicht hatte es gar nie wirklich in<br />
s<strong>ein</strong>em Interesse gelegen, anderen mitzuteilen,<br />
was er bei s<strong>ein</strong>en Recherchen herausgef<strong>und</strong>en<br />
hatte. Von ihm selber zwar immer vern<strong>ein</strong>t:<br />
Morgen schon werde er alles niederschreiben, die<br />
Veröffentlichung an die Hand nehmen, <strong>ein</strong>e<br />
Bestätigung für s<strong>ein</strong> Lebenswerk erhalten, jenes<br />
Wort nochmals nachsehen. An Ideen fehlte es<br />
nicht. Er litt aber an jener unentschiedenen<br />
Unternehmenslosigkeit, die <strong>ein</strong>em verführt, alles<br />
auf morgen zu schieben. K<strong>ein</strong> Chef, k<strong>ein</strong>e Familie<br />
oder Kollegen saßen voller Erwartung da, <strong>und</strong> so<br />
verschob er das Verschieben, verschob es auf<br />
später.<br />
S<strong>ein</strong>e trockene Hand voller heraus wuchernder<br />
Adern strich liebkosend immer wieder über s<strong>ein</strong><br />
Knie, wie wenn er <strong>ein</strong>er längst vergessenen<br />
Zärtlichkeit auf der Spur wäre. Die Geschichte vom<br />
unehelichen Sohn, den er gehabt haben wollte,<br />
glich eher <strong>ein</strong>em schlecht verhüllten, eher<br />
unwahrsch<strong>ein</strong>lichen Familienphantom.<br />
Geheimnisvoll irreal wie die Frauen, die er, die<br />
äußerst mysteriöse Aura verriet ihn, all<strong>ein</strong> zu dem<br />
Zweck erfand, die Aufmerksamkeit der Zuhörer<br />
un<strong>ein</strong>geschränkt an sich zu fesseln. Impertinent<br />
klatschten die Schwestern <strong>und</strong> die Fasttochter<br />
hinter s<strong>ein</strong>em Rücken. Schon sei wieder mehr als<br />
Dreiviertel der monatlich überwiesenen Pension<br />
<strong>ein</strong>fach verschw<strong>und</strong>en, direkt von s<strong>ein</strong>em Konto!<br />
K<strong>ein</strong>er konnte es sich erklären, weder dieses noch<br />
die anderen früheren Male, k<strong>ein</strong>er traf irgendwelche<br />
Maßregeln dagegen.<br />
Die ganze Familie weigerte sich, niemand wollte<br />
<strong>ein</strong>e der gefürchteten Nervenkrisen<br />
heraufbeschwören, in irgend<strong>ein</strong>er Weise darüber<br />
zu sprechen, das es mit Tod, Testament oder gar<br />
<strong>ein</strong>em letzten Willen oder Vermächtnis in<br />
Verbindung gebracht werden konnte. Das Thema<br />
berühren, hieß den Tod selber herbeizurufen.<br />
Starrköpfigkeit, die es vereitelte, <strong>ein</strong>e Schenkung<br />
der Bibliothek <strong>und</strong> ihres ganzen Inhaltes zu<br />
Lebzeiten vorzubereiten. Morgen schon<br />
wünschte er, süße Illusion, kl<strong>ein</strong>e Selbstbetrügerei,<br />
genau jenes Buch zu konsultieren,<br />
welches ja dann nicht mehr gleich zur Hand<br />
wäre. Schon seit sehr langer Zeit hatte er k<strong>ein</strong>s<br />
davon mehr angerührt, lebte vollständig<br />
zurückgezogen in s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Privatwelt, in der<br />
er ganz <strong>ein</strong>fach nichts verändert haben wollte.<br />
Nach s<strong>ein</strong>em plötzlichen, schmerzlosen Tod<br />
begann die Bibliothek, s<strong>ein</strong> Nachlass, <strong>ein</strong>e<br />
komplizierte <strong>und</strong> fast nicht enden wollende<br />
Reise.<br />
Eines Umzugs wegen, das Haus unter dubiosen<br />
Umständen verkauft, wurde sie ohne viel<br />
Umstände <strong>und</strong> Sorgfalt in Kartonschachteln<br />
verpackt <strong>und</strong> ausgelagert, dem Schimmel<br />
ausgeliefert, den „Traças“ <strong>und</strong> anderen kl<strong>ein</strong>en<br />
papierfressenden Tierchen, <strong>und</strong> der immer<br />
präsenten Feuchtigkeit - fehlte nur, dass die<br />
immer heftiger brodelnden Wasser sie<br />
davongetragen hätten. Lernte auf ihrer Odysee<br />
die unterschiedlichsten Aufbewahrungsplätze,<br />
<strong>ein</strong>er prekärer als der andere, kennen, wo sie,<br />
Maximum der Aufmerksamkeit, auf Druck <strong>ein</strong>es<br />
der Neffen hin <strong>und</strong> wieder mit Insektizid<br />
besprayt wurde. Die nicht wenigen Versuche, sie<br />
<strong>ein</strong>er öffentlichen Institution zu schenken,<br />
verliefen im Sande, besser in den<br />
unergründlichen Tiefen lokalen Bürokratie. Mal<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 410
war es fehlender Platz oder Mittel oder andere<br />
fre<strong>und</strong>liche Ausreden, die aber auch <strong>ein</strong>fach als<br />
fehlendes Interesse interpretiert werden<br />
könnten. Je schlechter der Zustand er Bücher,<br />
desto kräftiger die Argumente fehlender<br />
Fachkräfte, die sich mit der Restauration alter<br />
Bücher auskennen. Um <strong>ein</strong> Haar nur wäre sie<br />
aufgelöst worden, die <strong>ein</strong>zelnen Bücher an<br />
Buchantiquariate verkauft worden.<br />
Es ist der Sensibilität <strong>ein</strong>er Professorin aus São<br />
Paulo zu verdanken, sie absolvierte im Norden <strong>ein</strong><br />
Praktikum, dass die Bibliothek schlussendlich<br />
geschlossen in öffentliche Hände überging. Da<br />
wird sie, wer weiß, vielleicht <strong>ein</strong>es Tages gar<br />
entstaubt, aus ihrem Eremitendas<strong>ein</strong> befreit,<br />
restauriert werden, um von Neuem von jungen<br />
Leuten als Nachschlagewerk benutzt zu werden,<br />
auch in der Zeit des Internets! Sie gäbe dann der<br />
lokalen Gesellschaft <strong>ein</strong> Stück Vergangenheit<br />
zurück, was es erlaubte, auch die Zukunft besser<br />
zu verstehen.<br />
Als Nachtrag sozusagen, von <strong>ein</strong>em entfernten,<br />
angeheirateten Verwandten im Amtsanzeiger<br />
entdeckt, verheiratete die fast Adoptivtochter<br />
posthum den kl<strong>ein</strong>en, alten Mann mit ihrer<br />
Schwester. Die kam so, wie die Jungfrau zum Kind,<br />
zu <strong>ein</strong>er lebenslangen Pension. Wie die<br />
Familiensage geht, wollte k<strong>ein</strong>er gegen sie klagen.<br />
Und die bösen Zungen berichten, dass sich die<br />
zwei Schwestern entzweit hätten, <strong>und</strong> die falsche<br />
Geliebte des alten Onkels nun ganz all<strong>ein</strong> das<br />
sichere Geld durchbringe.<br />
kl<strong>ein</strong>er<br />
Partenon<br />
der Tempel der Erziehung<br />
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Der Portraitkult<br />
Ungezählte Augenpaare blitzen mir gleich beim<br />
Aus<strong>ein</strong>anderfalten der frischen, sozusagen<br />
jungfräuliche Lokalzeitung Beléms aus dem<br />
Kulturteil zu. Es ist Schul- <strong>und</strong> Uniabschlusszeit!<br />
Diplome, Auszeichnungen, <strong>Foto</strong>s, unendlich viele<br />
<strong>Foto</strong>s! Nach amerikanischem Vorbild ist es sich<br />
hier schon der simpelste Hauptschulabschluss<br />
wert, Zeitungsseite um Zeitungsseite mit endlos<br />
hinter<strong>ein</strong>ander gereihten Porträts zu schmücken.<br />
Seite um Seite voller fast identischer, identisch<br />
gestellten, zahnreihenentblößenden,<br />
zahnspangengeschmückten Lächeln, auch die<br />
Frisuren, besonders der Jungen, variieren kaum.<br />
Hintergründe, Kleidung <strong>und</strong> die verschnörkelten<br />
Rahmen wirken antiquiert, fast alle Abgebildeten<br />
haben die hohen Backenknochen, die leicht<br />
geschlitzten Augen <strong>und</strong> die seidig offenen<br />
Schnittlauchhaare der lokalen Bevölkerung. Alles<br />
was Rang <strong>und</strong> Namen hat, respektive Diplom<br />
erreicht, erobert oder erkauft hat, wird<br />
abgelichtet <strong>und</strong> vollfarbig gedruckt. Richtig<br />
aufwendig wird es, wenn die teuren lokalen<br />
Privatuniversitäten all ihre prunkvoll inszenierten<br />
Register ziehen <strong>und</strong> die Schüler neben dem<br />
öffentlichen Auftritt in der Zeitung auch<br />
prachtvolle Erinnerungsalben erhalten.<br />
Im mageren redaktionellen Teil der Zeitung<br />
andere Porträts. Vielleicht etwas weniger<br />
glänzend, aber genauso buntfarben <strong>und</strong><br />
aufmerksamkeit-heischend aufgenommen <strong>und</strong><br />
platziert, allerdings sozusagen unter gegenteiligen<br />
Vorzeichen. Der Lokalteil trieft von Blut. Erschöpft<br />
sich in Unfällen <strong>und</strong> Verbrechen. Es handelt sich<br />
k<strong>ein</strong>eswegs um <strong>ein</strong> unbekanntes Reißerblättchen.<br />
Ich lese die renommierteste Zeitung vor Ort!!<br />
Das zur Probe gekaufte Konkurrenzblatt gleicht<br />
ihm leider wie <strong>ein</strong> Ei dem anderen. Überall <strong>Foto</strong>s<br />
im schlimmsten, schreienden, sensationslüsternen<br />
Polizeireporterstil. Die Perspektiven sind<br />
abstoßend, vollfarbig, übelkeiterregend,<br />
ignorieren jegliche persönlichen Rechte, gehen<br />
<strong>ein</strong>deutig über die Schamgrenzen hinaus. Schon<br />
auf dem Titelblatt <strong>ein</strong> gestern Gemeuchelter. Die<br />
verdrehten Augen gaffend offen, hingestreckt in<br />
<strong>ein</strong>er schlammigen Wasserlache. Neben dem<br />
reglosen Körper dümpelt nutzlos <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zelne<br />
Plastiksandale. Die Nahaufnahme <strong>ein</strong>es<br />
Erstochenen, blutüberströmt, im Tod über die<br />
Ruinen <strong>ein</strong>er niederen Mauer gefallen. Ein<br />
Erschossener auf der nächsten Seite. Das Hemd<br />
<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger blutiger Brei, im eigenen, schon<br />
nachgedunkelten Blut zusammengebrochen. Dass<br />
es für sowas <strong>ein</strong> Publikum geben muss, dass Elend<br />
die Auflage erhöht, ist sicher, aber das hier bewegt<br />
sich unter der Schamgrenze.<br />
Beim nächsten Bild, das auch k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Detail<br />
beschönt, kommt, wohl des effektvollen<br />
Bildwinkels wegen, die dicht stehende Mauer<br />
Schaulustiger mit auf <strong>Foto</strong>. So <strong>ein</strong> richtig<br />
unglückliches Unglück, <strong>ein</strong> brutales Verbrechen,<br />
das <strong>ein</strong>em schauerliche Schauer das Rückgrat<br />
hinunterjagt, lässt sich halt k<strong>ein</strong>er, weder<br />
<strong>ein</strong>facher Gaffer noch gebildeter Zeitungsleser<br />
entgehen. Der Gesprächsstoff, auf tiefstem<br />
Stammtischniveau, ist damit für heute gesichert,<br />
denn wen würde das Elend <strong>und</strong> Leid der anderen<br />
nicht mit wohligen Schaudern anstacheln.<br />
Auf <strong>ein</strong>en anderen Porträtkult stoße ich im<br />
ehemaligen Rathaus, heute Lokalmuseum.<br />
Galerien mit endlosen Reihen Porträts, die<br />
ältesten in Öl, die ersten <strong>Foto</strong>grafien sorgfältig<br />
retuschierte <strong>und</strong> kolorierte Schwarz-Weißaufnahmen,<br />
Dreiviertelansichten, frontale Porträts<br />
wechseln sich ab. Es ist die Galerie der lokalen<br />
Bürgermeister, auch andere lokale Elite ist<br />
vorhanden, <strong>ein</strong> Baron, <strong>ein</strong> Gouverneur. In andern<br />
öffentlichen Gebäuden andere endlose Galerien:<br />
Generationen <strong>und</strong> Generationen der lokalen<br />
Elite, Bürgermeister, Gouverneure, Doktoren,<br />
Professoren, Studenten, Lehrer <strong>und</strong> komplette<br />
Schulklassen. Jahr für Jahr werden die soeben<br />
Diplomierten reproduziert, multipliziert,<br />
wiederholt, uniformiert hinten angefügt -<br />
Referenz, Erinnerung, Hommage, auf geduldiges<br />
<strong>Foto</strong>papier kristallisiert, verewigt. Goldene,<br />
feierlich gewichtige Rahmen betonen den<br />
bemerkenswerten Anlass.<br />
Schulabschlussporträt oder Gemeuchelter, ihre<br />
Porträts sind sich im Gr<strong>und</strong>e erschreckend<br />
ähnlich. Das allen zugängliche Medium <strong>Foto</strong><br />
erlaubt es, <strong>ein</strong>en besonderen Augenblick für die<br />
Ewigkeit <strong>ein</strong>zufangen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>zufrieren mit dem<br />
Ziel, Status zu demonstrieren oder Schaudern,<br />
für <strong>ein</strong>en Tag nur oder für die Ewigkeit, ihre<br />
Porträts sind im Leben oder im Tod erschreckend<br />
menschlich, erschreckend identisch.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 417
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 418
Paternal<br />
Komme aus <strong>ein</strong>em der wohl demokratisten<br />
Länder der Welt. Schlucke puncto Demokratie<br />
hier in Brasilien manche Kröten herunter, wie<br />
man auf Portugiesisch zu sagen pflegt. Die<br />
brasilianische Demokratie ist noch sehr jung. Was<br />
besonders hier im Norden vorherrscht, ist<br />
autoritärer Paternalismus. Wer mehr Macht,<br />
Geld, Einfluss oder <strong>ein</strong>e bessere soziale Stellung<br />
hat, bestimmt, was gut für alle anderen ist. Da<br />
finden wenige etwas dabei. Oder nur wenn es<br />
nicht sie selber betrifft. Auch der Zusammenhalt<br />
<strong>und</strong> das Vertrauen zu Personen, die nicht zur<br />
Familie gehören, ist sehr fragil.<br />
Besonders brisant wird es, wenn es um kl<strong>ein</strong>e<br />
Alltäglichkeiten geht. Denn die große Politik kann<br />
man sowieso nur von ferne mitverfolgen <strong>und</strong> je<br />
nach Gutdünken lamentieren. Die wird nach wie<br />
vor diktatorisch <strong>und</strong> zentralistisch von ganz oben<br />
gemacht. Welche Farbe die Regierung auch haben<br />
mag, sie wird den Leidtragenden <strong>ein</strong>fach<br />
aufgezwungen. Als Gegenleistung kommt der<br />
gute alte Assistenzialismus zum Zug. Der tauscht,<br />
mehr oder weniger verschleiert, Unterstützung,<br />
Geld, Privilegien gegen Wählerstimmen. Die<br />
neoliberale Mär vom nachhaltigen, wirklichen<br />
Fortschritt, der Arbeitsplätze bringt, ist noch nicht<br />
bis hierher oder da oben durchgedrungen.<br />
Vor <strong>ein</strong>er Weile konnte ich hautnah am eigenen<br />
Leib miterleben, was man hier unter Demokratie<br />
versteht. Nach <strong>ein</strong> paar Raubüberfällen hier im<br />
Touristenort schlossen sich verschiedene<br />
Instanzen zusammen <strong>und</strong> protestierten lautstark<br />
in den sozialen Medien für mehr Polizeischutz.<br />
Zeitgleich erhöhte die lokale Busgesellschaft den<br />
Fahrpreis. Wie sich die zwei Vorkommnisse dann<br />
in <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges, wirres Knäuel verstrickten, entzieht<br />
sich m<strong>ein</strong>er Kenntnis. Denn die Ideen <strong>und</strong><br />
Ansichten der beteiligten Parteien sind unver<strong>ein</strong>bar,<br />
stehen sich wie zwei Pole gegenüber. Auf<br />
der <strong>ein</strong>en Seite die, die für mehr Sicherheit<br />
kämpfen. Es sind die Hotelbesitzer, Seite an Seite<br />
mit Universitätsprofessoren <strong>und</strong> Zweithausbesitzern.<br />
Eine sozial priviligierte Klasse, die sich<br />
nur im absoluten Notfall, in <strong>ein</strong>er absoluten<br />
Notlage zu <strong>ein</strong>er Fahrt mit dem unklimatisierten<br />
Bus antut. Wer mit dem Bus fährt, sind die<br />
Hausangestellten, die Schulkinder, die<br />
Minderbemittelten <strong>und</strong> die ausländischen<br />
Aussteiger, die hier <strong>ein</strong> privilegiertes<br />
Althippieleben leben.<br />
Wie auch immer, der anfangs friedliche<br />
Bürgerprotest gipfelte in <strong>ein</strong>er Straßensperre.<br />
Gesperrt wurde praktischerweise die <strong>ein</strong>zige<br />
direkte Zufahrtsstraße zu unserem Touristenort.<br />
Verfolge die höchst emotional geführten<br />
Diskussionen in den modernen Kommunikationsmitteln.<br />
Hotelbesitzer/innen, Universitätsprofessor/innen,<br />
Mittelständer sind alle<br />
unisono Feuer <strong>und</strong> Flamme für die Blockade.<br />
Jeder behilft sich auf s<strong>ein</strong>e Weise. Die<br />
Universitätsprofessoren/innen erlassen ihren<br />
Studenten die Vorlesung. Die Straße ist ja<br />
gesperrt. Die meisten der Übrigen fahren zwar,<br />
mit dem eigenen Auto natürlich, gar bis zur<br />
Blockade, denn die Busse wenden <strong>ein</strong>, zwei<br />
Kilometer vor der Barrikade, <strong>und</strong> holen da ihre<br />
Hausangestellten ab, die natürlich mit dem Bus<br />
kommen <strong>und</strong> die Blockade dann zu Fuß<br />
umgehen. Man kann ihnen aber nicht zumuten,<br />
die Kilometer bis zum Dorf zu Fuß zu gehen. Nur<br />
<strong>ein</strong> paar ganz überzeugte legen die weite Strecke<br />
wirklich zu Fuß zurück, <strong>ein</strong>ige gar mit Gepäck.<br />
Alle sprechen den da versammelten streikenden<br />
argentinischen Hippies ihre totale Unterstützung<br />
aus. Wer unbedingt in die Stadt muss, die Kinder<br />
müssen in die Privatschule, nimmt <strong>ein</strong>en riesigen<br />
Umweg in Kauf oder bezahlt <strong>ein</strong> Taxi, oder besser<br />
zwei, <strong>ein</strong>s bis zur Blockade, das andere hinter der<br />
Blockade. Die Angst, dass <strong>ein</strong> Bus angezündet<br />
werden könnte, ist zu groß. Die Straßensperre<br />
dauert. Im kl<strong>ein</strong>en Weiler gibt‘s bald k<strong>ein</strong> frisches<br />
Gemüse mehr. Die Straße bleibt zwei, drei Tage<br />
gesperrt <strong>und</strong> auch nachts campen die<br />
Streikenden <strong>und</strong> lassen k<strong>ein</strong>en durchs Nadelöhr.<br />
Die Wogen gehen hoch, schlagen höher. Immer<br />
neue, immer polemischere Nachrichten kommen<br />
übers Handy. Sie werden die Straße nur öffnen,<br />
wenn der Bürgermeister persönlich mit ihnen<br />
spreche. Und der ziert sich, weicht dem<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 419
Kräftemessen aus, <strong>ein</strong> Machtspiel. Die<br />
Hotelbesitzerin bangt nun schon um ihre<br />
Feriengäste, die ihre Reservierungen stornieren.<br />
Bis mir dann <strong>ein</strong>e banale Frage im Hand den Kopf<br />
vollends durch<strong>ein</strong>ander bringt. Jemand schreibt:<br />
„Wer wird denn nun eigentlich mit dem<br />
Bürgermeister sprechen, wenn er schlussendlich<br />
kommt?“ Die prompte Antwort ist kurz <strong>und</strong><br />
bündig: „As lideranças“. Die Leader. Upps. Da<br />
zieht sich der Knopf in m<strong>ein</strong>em Kopf noch mehr<br />
zu. Zuerst verbieten sie mir, zu kommen <strong>und</strong><br />
gehen wie ich will. Und nun gibt‘s gar Leader?<br />
Namenlose, gesichtslose Leader! Gehören sie zu<br />
<strong>ein</strong>er Partei? Welche Ideale haben sie? Wofür<br />
stehen <strong>und</strong> kämpfen sie? K<strong>ein</strong>er versteht m<strong>ein</strong>en<br />
Knopf im Kopf.<br />
Der Satz, <strong>ein</strong> zufällig hingeworfener Satz, fällt am<br />
nächsten Tag. Es ist <strong>ein</strong>e Gesprächsr<strong>und</strong>e mit den<br />
unterschiedlichsten Personen. –“Ja, später muss<br />
ich noch weg. Die „Liderança“, die mit dem Schiff<br />
kommt, ist verspätet.“ – Der Knopf im Kopf wird<br />
noch größer. Noch <strong>ein</strong>e namenlose, kopflose,<br />
identitätslose „liderança“. M<strong>ein</strong> Gesprächspartner<br />
kennt sie nicht, weiß nur, dass <strong>ein</strong> Leader<br />
unterwegs ist, von weit her, von den letzten<br />
indigenen Stämmen, die hier mithilfe verschiedener<br />
NGO um ihre Rechte kämpfen. Der selbe<br />
Gesprächspartner ist Ausländer. Arbeitet hier im<br />
Prol der Indigenen, finanziert mit <strong>ein</strong>em<br />
Stipendium der Nacional Geografic Society.<br />
Zum Schluss ist es <strong>ein</strong> gescheiter Anthropologe,<br />
der mir auf die Sprünge hilft. Wozu <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fache<br />
Preiserhöhung <strong>ein</strong>er Buspassage doch gut ist….<br />
Hier s<strong>ein</strong>e Erklärung: Einzelnen Gruppen der<br />
indigenen Bevölkerung ist das Konzept der<br />
Leadership, <strong>ein</strong>es Leaders, <strong>ein</strong>es Chefs, fremd.<br />
Indigenen Gruppen haben k<strong>ein</strong>en Chef im Sinne,<br />
wie wir es verstehen. Je nach Situation wird aus<br />
dem Moment heraus <strong>ein</strong> Leader bestimmt. Im<br />
Kontakt mit den „Weißen“ zum Beispiel, kann es<br />
jemand s<strong>ein</strong>, der ihre Sprache spricht <strong>und</strong> versteht<br />
wie die ticken. Zudem gibt es noch das<br />
Sicherheitsrisiko. Zu viele Leaders, allen voran<br />
Chico Mendes <strong>und</strong> Irmão Dorothy Stang wurden<br />
hier gleich um die Ecke meuchelmörderisch<br />
gemordet. Das sitzt tief <strong>und</strong> viele ziehen deshalb<br />
die Anonymität vor. Es gibt auch geteilte<br />
Leadership, je nach Erfordernissen der Situation.<br />
Was hier nun teilweise zutrifft. Vielleicht ist es<br />
aber auch <strong>ein</strong>e clevere <strong>und</strong> freie Neuinterpretation,<br />
die die ganze komplexe Vergangenheit<br />
mit<strong>ein</strong>bezieht.<br />
Eine andere Facette m<strong>ein</strong>es Problems beleuchtet<br />
<strong>ein</strong> Artikel, der über das Phänomen spricht, dass<br />
die Brasilianer generell schlecht über ihre zivilen<br />
Rechte <strong>und</strong> Pflichten informiert sind. Es sch<strong>ein</strong>t<br />
mir glaubhaft, dass Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> Politik<br />
verwechselt werden, verständlich in <strong>ein</strong>em Staat,<br />
der <strong>ein</strong>e sehr junge Demokratie hat. Aus bitterer,<br />
erlebter Erfahrung misstraut man hier dem Staat<br />
von Gr<strong>und</strong> auf. Bis die Idee, dass Brasilien <strong>ein</strong>e<br />
Demokratie ist, auch in den hintersten Winkel<br />
des Landes gedrungen ist, dauert es wohl noch<br />
etwas. Inzwischen bedient man sich bewährter,<br />
alter Strukturen.<br />
Ach, der Buspreis wurde nur <strong>ein</strong> wenig erhöht.<br />
Die Straße ist wieder frei <strong>und</strong> die Raubüberfälle<br />
konzentrieren sich nun auf den Linienbus oder<br />
das Postamt. Die guten alten Zeiten, wo alle ihre<br />
Haustüre Tag <strong>und</strong> Nacht offen ließen sind wohl<br />
auch hier gezählt. Die Gewaltspirale hat nun, wie<br />
zu erwarten, auch das Ende der Welt erreicht.<br />
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Abends auf dem Kirchplatz<br />
Schon dunkelt die Nacht. Fällt schnell wie <strong>ein</strong><br />
Vorhang, wir sind nah beim Äquator. Die Hitze<br />
heizt weiter. Verschnaufpausen sind nicht<br />
<strong>ein</strong>geplant. Trotzdem beginnt sich das <strong>ein</strong>fach<br />
gezimmerte, überlange Holzbänkchen vor der<br />
Kirche zu füllen. Bedächtig schaut noch <strong>ein</strong>er auf<br />
<strong>ein</strong>en Schwatz vorbei. Die bloßen Füße in<br />
Zehensandalen, Bermudas <strong>und</strong> T-Shirts so weiß<br />
wie das schlohfarbene Haar.<br />
Es sind gutnachbarliche Dorfgespräche, an denen<br />
auch viele Kinder teil nehmen. Auch im<br />
Halbdunkel markiert die Kirche Präsenz, stark <strong>und</strong><br />
fest, auch wenn sie mit ihrer flachen, rechteckig<br />
schmucklosen Fassade mehr an <strong>ein</strong>e Theaterkulisse<br />
erinnert, oder <strong>ein</strong> Potemkinsches<br />
Gotteshaus. Einzig die beiden streng<br />
quadratischen Türme, die von zwei kl<strong>ein</strong>en<br />
Kuppeln mit je <strong>ein</strong>em Kreuz abgeschlossen<br />
werden, brechen die Eindimensionalität. In sie<br />
sind hoch oben vier kl<strong>ein</strong>e R<strong>und</strong>bogen<br />
geschnitten, die sich am Fuß derselben, hier<br />
allerdings mit Fensterläden, wiederholen. Sie sind,<br />
wie das Mittelportal mit den blauen Türblättern,<br />
das die strenge Fassade dominiert, blau<br />
<strong>ein</strong>gefasst. Das blaue Band läuft um die ganze<br />
Kontur der Kirche, hoch bis zu den Türmen, teilt<br />
das Fries zwischen den Türmen mit <strong>ein</strong>er<br />
waagrechten Linie ab. Zu besonderen Feiertagen<br />
zeichnen Lichterketten die simple Silhouette nach<br />
oder bunte Fähnchenreihen fächern sich<br />
<strong>ein</strong>ladend von ihrem Eingang her auf. Der Fuß der<br />
Kirche ist <strong>ein</strong>en halben Meter hoch blau<br />
gebändert, <strong>ein</strong> schöner Kontrast gegen den<br />
weißen Kalk der Mauern. Einfachheit <strong>und</strong> rustikale<br />
Eleganz, welche klar maurischen Einfluss verraten,<br />
in ihrer Zweidimensionalität an <strong>ein</strong>en Scherenschnitt<br />
erinnern. Zu schwer, zu wenig beflügelt<br />
<strong>und</strong> aufgekratzt, um sich in die Kategorie der<br />
brasilianischen Barrockkirchen <strong>ein</strong>zureihen.<br />
Zwischen den Türmen, über der blauen Linie, <strong>ein</strong><br />
spitz zulaufendes, abger<strong>und</strong>etes Fries. Es läuft<br />
leicht gewellt in <strong>ein</strong>er flachen Spitze aus, auf dem<br />
<strong>ein</strong> weiteres Kreuz thront. Wie <strong>ein</strong> großer,<br />
hochschmaler M<strong>und</strong> dominiert das majestätische<br />
Eingangsportal die Fassade, hier von <strong>ein</strong>em<br />
halbr<strong>und</strong>en Bogen überspannt. Rechts <strong>und</strong> links,<br />
schon in den Ecktürmen, noch zwei Fensterlöcher,<br />
fast über das Eingangstor geklebt, zwei blicklose<br />
Augen, noch zwei blinde Fensterchen.<br />
Die Strenge der Linien wird durch die Schlichtheit<br />
des Dorfplatzes, auf den sie ohne Formalitäten<br />
gestellt wurde, noch unterstrichen. K<strong>ein</strong> Grün,<br />
k<strong>ein</strong>e Palmen, k<strong>ein</strong> Schmiedeeisen verschwendet,<br />
um ihr etwas Herrschaftlichkeit zu verleihen. Nur<br />
<strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>fache Treppenstufen führen ins<br />
Gotteshaus hinauf.<br />
Ursprünglich <strong>und</strong> bodenständig ist sie, so wie das<br />
Bänkchen, nächtliches Zentrum <strong>und</strong> Treffpunkt der<br />
Einwohner, an <strong>ein</strong>em jener ungezählten Tage in<br />
<strong>ein</strong>em jener abgelegenen, amazonischen Dörfer,<br />
von der Moderne noch fast unberührt -<br />
paradiesisch, bis <strong>ein</strong>em das Handy, das<br />
Fernsehprogramm oder der Computer wieder in<br />
die Realität zurückholen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 426
Zu Ostern “Malhar o Judas”,<br />
<strong>ein</strong>en Judas zum Verprügeln<br />
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Glaubensbekenntnisse<br />
Lese, lese noch <strong>ein</strong>mal, <strong>ein</strong> drittes Mal, ohne zu<br />
verstehen. „100 ele 100 chance“. Aha, da fällt der<br />
Groschen: die Aussprache der Zahl h<strong>und</strong>ert ist<br />
identisch mit ohne. Also: „Ohne ihn, ohne<br />
Chance!“ Gott, oder wenigstens s<strong>ein</strong> Name, ist,<br />
nicht nur hier im Norden, in aller M<strong>und</strong>e. Und das<br />
nicht nur, weil das Land ursprünglich<br />
hochkatholisch war. Faszinierend, dass <strong>und</strong> wie<br />
man das jederzeit <strong>und</strong> jedem K<strong>und</strong> tun muss... .<br />
Seien Sie also nicht erstaunt, wenn Ihnen beim<br />
Abschied <strong>ein</strong> – „So Gott will!“ – (Se Deus quiser)<br />
gewünscht wird. – „Um der Liebe Gottes / Gottes<br />
Liebe wegen“ – (Pelo amor de Deus) - „Gott<br />
befreie mich (davon)“ (Deus me livre) – „Gott ist<br />
gerecht/groß“ – (Deus é justo/grande) <strong>und</strong> viele<br />
andere Aussprüche mit Ausrufezeichen sind nicht<br />
nur den evangelikalen, gottesfürchtigen<br />
Gottessöhnen so geläufig, wie sich gegenseitig<br />
Schwester <strong>und</strong> Bruder im Glauben zu nennen.<br />
N<strong>ein</strong>, sie verstopfen sich gegenseitig <strong>und</strong> oft auch<br />
den anderen die Mailbox mit süßlichen Gebeten<br />
<strong>und</strong> Botschaften. Auch in der katholischen Kirche<br />
empfängt man heute den Segen modernerweise<br />
mit ausgestrecktem Arm. Nach den Messen, auch<br />
der katholischen, umarmen sie die Umstehenden,<br />
schließen Wildfremde, die sie nie mehr<br />
sehen werden, warm in den Arm. Alle sind durch<br />
den Kult zu Mitbrüdern <strong>und</strong> Mitschwestern<br />
geworden, Mitchristen. - W<strong>und</strong>erschön, wenn<br />
sich diese Ideen auch wirklich im Alltag<br />
durchsetzen würden, nicht leere Worthülsen oder<br />
schale Umarmungen blieben, sondern von Taten<br />
begleitet würden.<br />
Dass die Tage der allgegenwärtigen katholischen<br />
Kirche gezählt sind, wird jedem, der nicht<br />
wegschaut, bald klar. Gab es früher im<br />
hochkatholischen Brasilien viele Spiritisten, so<br />
sch<strong>ein</strong>t es nun, als ob mächtige evangelische<br />
Wellen das Land überrollten. Wie Pilze schießen<br />
die verschiedensten evangelikalischen<br />
Sektenkirchen aus dem sch<strong>ein</strong>bar überaus<br />
fruchtbaren Boden. Die religiöse Mobilität ist<br />
be<strong>ein</strong>druckend. Heute sind drei von 10<br />
Brasilianern Anhänger <strong>ein</strong>er evangelischen<br />
Strömung. Nicht nur, dass Gott nach der<br />
alttestamentlichen Auffassung vieler Sekten s<strong>ein</strong>e<br />
Anhänger mit materiellem Wohlstand segnet.<br />
Praktischerweise gibt es auch im verlassensten<br />
Dorf am hintersten Flusslauf <strong>ein</strong>en passenden<br />
Tempel mit regelmäßigen Gottesdiensten, alle<br />
natürlich, wie von allen evangelikalen Kirchen<br />
praktiziert, vom Zehnten Teil des Einkommens der<br />
Gläubigen errichtet. Dazu wird gesungen, der<br />
Teufel ausgetrieben <strong>und</strong> manche Leute fallen in<br />
Trance.<br />
Eine der evangelikalischen Kirchen, hier im Norden<br />
besonders stark <strong>und</strong> prominent vertreten, ist die<br />
„Assembleia de Deus“. Sie wurde 1911 von zwei<br />
schwedischen Missionaren, Gunnar Vingren <strong>und</strong><br />
Daniel Berg in Belém, Pará, gegründet. Ehemalige<br />
Mitglieder der Baptistenkirche, waren sie<br />
Anhänger <strong>ein</strong>er Doktrin, der es eigen war, währen<br />
des Gottesdienstes “in Zungen” zu sprechen. Im<br />
hochemotionellen Brasilien kommen solche<br />
mythischen, transzendentalen Vorstellungen gut<br />
an. Die mächtige, heute weltweit verzweigte<br />
„Assembleia de Deus“, oder besser ihre<br />
Anhänger, verfügen derzeit auch über <strong>ein</strong>e<br />
starke Lobby in der brasilianischen Politik.<br />
Stellten <strong>und</strong> stellen gar die von der ganzen<br />
brasilianischen Mittelklasse als Alternative<br />
umjubelte Präsidentschaftskandidatin Marina<br />
Silva.<br />
Und so sammle ich weiter. Vor allem in weniger<br />
begüterten Vierteln stößt man an jeder Ecke auf<br />
<strong>ein</strong>en aus Spendengeldern, beileibe nicht nur der<br />
Zehnte wird abgeliefert, hochgezogen Tempel: -<br />
Gottes Versammlung - Der Göttliche Garten - <strong>ein</strong><br />
religiöser Kindergarten - die Spirituelle<br />
Kongregation Jesu - das Projekt der<br />
Evangelisierung zu Gottes Glorie - die<br />
Missionarische Promotion für Leben <strong>und</strong> Frieden<br />
- sind nur <strong>ein</strong>ige, schlecht übersetzte Namen von<br />
Kirchen, oder besser Sekte+n, die mir vor die<br />
<strong>Foto</strong>linse gekommen sind. Verwischen,<br />
vertuschen, echt brasilianisch tolerant, auch die<br />
religiösen Grenzen <strong>und</strong> Dogmen. Lassen mich gar<br />
im Zweifel. Glauben sie nicht alle an <strong>ein</strong> <strong>und</strong> den<br />
selben gütigen Gott?<br />
Der religiöse Ladenbesitzer jedenfalls verkündet<br />
jedem, der es lesen will: - „Beim Her<strong>ein</strong>kommen<br />
wird Gott dich beschützen, beim Weggehen wird<br />
Gott dich begleiten.“ Der Besitzer des Bootes<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 430
schreibt es gleich doppelt an den mächtigen Kiel:<br />
- „Glaube an Gott I“ – <strong>ein</strong> paar Schiffe weiter, in<br />
blauen Großbuchstaben r<strong>und</strong> ums Oberdeck<br />
gepinselt: - „Dank Dessen, der mich stärkt, ist alles<br />
möglich“ -. Auch das mächtige Linienschiff kündet<br />
verkaufsträchtig, dass Christus s<strong>ein</strong> General sei.<br />
Der kl<strong>ein</strong>e Marktstand, heute geschlossen,<br />
bestätigt in dicken schwarzen Lettern auf<br />
goldgelbem Gr<strong>und</strong>: - „Er lebt“ – „Wer glaubt, wird<br />
Gottes Glorie sehen - Kaufe <strong>und</strong> verkaufe<br />
Handys.“ Ähnliche Sprüche künden von vielen<br />
Autos, Taxis <strong>und</strong> Motorrädern. Die bedürfen<br />
Gottes Schutz ganz besonders. Frontscheiben<br />
zitieren: Will es der Herrgott so, macht er es auch.<br />
Der gläubige Motorradfahrer verlässt sich gar auf<br />
Jesus Energie, von zwei Batterien gespendet.<br />
Leicht surreal nur die unerwartete Kombination<br />
auf der Heckscheibe: – „Jesus, das Geheimnis<br />
m<strong>ein</strong>es Erfolges! – Zu verkaufen“- , womit<br />
natürlich nur da Auto gem<strong>ein</strong>t ist. Auch für den<br />
Besitzer der immer voll ausgebuchten<br />
Autowaschanlage, praktischerweise da an den<br />
Kais in <strong>ein</strong>er Bretterbude auf den Fluss hinaus<br />
gebaut, ist Christus die <strong>ein</strong>zige Hoffnung. Sie<br />
lechzen nach <strong>ein</strong>em kühlen Wasser? Da drüben,<br />
gleich neben dem Markt, ist die Neue Bar -<br />
Glauben an Gott -.<br />
Leider beschränken <strong>und</strong> erschöpfen sich auch<br />
diese Sekten, so weit ich es beurteilen kann, allzu<br />
oft im f<strong>und</strong>amentalistischen Ab- <strong>und</strong> Ausgrenzen.<br />
Schließen all jene aus, die Nicht-wie-sie-glauben.<br />
Lassen all die Draußen-Gebliebenen, die nicht<br />
Auserwählte direkt in die hölligste Hölle fahren,<br />
auf ewig verdammt. Gottes Reich, voller<br />
Wohlstand, ist leider, leider, wie gerecht <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>zigartig, nur den Rechtgläubigen vorbehalten.<br />
Wer ihren Kulten mit laut schreienden, in Trance<br />
verfallenden, vom Teufel befreiten Massen in Tag<br />
<strong>und</strong> Nacht anhaltenden Litaneien verkündet <strong>und</strong><br />
via Radio <strong>und</strong> Fernsehen mediengerecht ins Haus<br />
geliefert, erwartet nur das Allerschlimmste.<br />
Wage in k<strong>ein</strong>er Weise zu bezweifeln, dass Ex-<br />
Voten <strong>und</strong> bezahlte Versprechen, die in der<br />
katholischen Kirche bis heute ihren Platz haben,<br />
den Gläubigen wirkliche Hilfe bringen. Zu viel<br />
echten Glauben <strong>und</strong> Schilderungen von erfahrener<br />
<strong>und</strong> durch Banner k<strong>und</strong> getaner Erleichterung<br />
oder Hilfe habe ich gesehen. Geht es allerdings<br />
ums Gem<strong>ein</strong>wohl, um echten Dienst am Nächsten,<br />
so sind es interessanterweise auch in diesen<br />
Kirchen die anderen, die Regierung, der Staat, die<br />
die großen, die wirklichen <strong>und</strong> weltlichen Problem<br />
lösen sollen. Die anderen, die löst jeder, mit<br />
Gottes Hilfe natürlich, nur für sich <strong>und</strong> für s<strong>ein</strong>e<br />
Familie.<br />
Da, an der Ecke, ist das <strong>ein</strong>e neue Diskothek? N<strong>ein</strong>,<br />
die verm<strong>ein</strong>tliche Diskokugel ist die Welt, die von<br />
schützenden Händen umspannt wird. Noch <strong>ein</strong><br />
Tempel. Vielleicht liegt gerade in dieser<br />
Konsumierbarkeit, diesem religiösen<br />
Selbstbedienungsladen, der für jeden etwas<br />
schillernd Farbiges bereit hat, der<br />
flächendeckende Erfolg dieser Heilsbringer, die<br />
besonders in den bedürftigen Schichten viele <strong>und</strong><br />
noch mehr Anhänger finden. Austauschbarkeit<br />
spricht auch aus den billigen Plastikanhängetaschen,<br />
in denen die Jungen ihre<br />
Sportsachen mittragen. Auf der <strong>ein</strong>en, der roten<br />
steht: - Jesus Christus gestern heute <strong>und</strong> für<br />
immer – gleich daneben hängt das selbe Modell in<br />
Schwarz. Die Aufschrift? Playboy.....<br />
Die Frau mit dem schneeweißen Haar jedenfalls,<br />
sie ist soeben nach <strong>ein</strong>er längeren Schiffsreise aus<br />
dem Hinterland angekommen <strong>und</strong> lässt sich vom<br />
jungen Mann mit dem muskulösen Oberkörper im<br />
schrillen, ärmellosen Shirt über den Hühnersteg<br />
aus dem Schiff lotsen, trägt zwar noch die Jungfrau<br />
Maria gleich auf dem Herzen <strong>und</strong> überlebensgroß<br />
auf ihrem langen Oberteil, aber vielleicht ist auch<br />
sie schon zu ihnen übergelaufen. Oder ganz<br />
brasilianisch – huldigt allen, den katholischen, den<br />
protestantischen <strong>und</strong> den vielen anderen Göttern<br />
<strong>ein</strong> wenig.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 431
Noch mehr Glaubenssachen<br />
Der Bus von 9h00 ist sehr gut besetzt. Ergattere<br />
den allerletzten Sitzplatz. Sonst hätte ich mich<br />
wohl die nächsten dreiviertel St<strong>und</strong>en im Stehen<br />
durchschaukeln lassen müssen.<br />
Statt <strong>ein</strong>zunicken, bew<strong>und</strong>ere ich gerade die<br />
lokale Mode. Lese auf dem vollsynthetischen Shirt<br />
der Frau vor mir im Bus, fast sitzt sie mir auf dem<br />
Schoß: «Die Vergangenheit wieder aufleben zu<br />
lassen ist unsere Zukunft«. Das Motto von<br />
indigenen Grafismen <strong>und</strong> Sätzen in <strong>ein</strong>er der<br />
indigenen Sprachen unterstrichen.<br />
Gerade ist <strong>ein</strong>e Frau in geblumt-gestreift<br />
assortiertem, auf den Körper geklebten<br />
Zweiteiler, Bluse <strong>und</strong> Leggins, <strong>ein</strong>gestiegen, als<br />
sich die Türen wieder schließen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Mann sich<br />
im Mittelgang aufbaut. Als er s<strong>ein</strong>e Stimme<br />
erhebt, <strong>und</strong> uns alle anspricht, bin ich sicher, dass<br />
die Reihe nun an mir ist. Auch mich muss es ja<br />
irgendwann erwischen. Ein Überfall. Wie gut, dass<br />
ich m<strong>ein</strong>en Computer vorsorglich in <strong>ein</strong>e<br />
unauffällig recycelte Mehlsacktasche steckte. Und<br />
das Glas m<strong>ein</strong>es Handys ist auch zerbrochen.<br />
Zu m<strong>ein</strong>er Überraschung überfällt er aber nur<br />
unsere Seelen. In jeden zweiten Satz lässt er das<br />
Wort Jesu <strong>ein</strong>fließen. Verspricht, dass alle unsere<br />
Sünden, <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>gestanden, im ewigen Meer<br />
des Vergessens versinken werden, gnädig von<br />
Ihm, dem Allergütigsten vergeben. Dazwischen<br />
bittet er alle, die ihm mehr oder weniger freiwillig<br />
zuhören, um beifallendes Klatschen, was auch<br />
sogleich von drei oder vier Passagieren gezollt<br />
wird. Einer wird dabei fast zu Boden gerissen. Der<br />
Bus fährt gerade schwungvoll in <strong>ein</strong>e Kurve. Gott<br />
sei Dank kleben die Passagiere so eng auf<strong>ein</strong>ander,<br />
dass ihm nichts passiert. Vielleicht hat er aber<br />
auch s<strong>ein</strong> Leben vorsorglich in Gottes Hand<br />
gelegt…. . Noch <strong>ein</strong>e Glaubenssache halt.<br />
Bei der Kirche vom <strong>Foto</strong> unten, die „Kirche<br />
der weltweiten Kraft Gottes“ oder so,<br />
findet gerade <strong>ein</strong> Groß-R<strong>ein</strong>emachen<br />
statt, inklusive Gummischlauch <strong>und</strong> sehr<br />
viel Wasser <strong>und</strong> Seife.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 432
Der Ur-Zaun<br />
Primitiv, <strong>ein</strong>e Art Ur-Zaun, die dicht an dicht<br />
gefügten Hölzer gefährlich schieflastig, von<br />
tausend Sonnen bis aufs Mark getrocknet <strong>und</strong><br />
durchgelaugt, von ebenso vielen Regen<br />
silberaschgrau sauber <strong>und</strong> glänzendglatt bis aufs<br />
Essenzielle runter gewaschen, bis zur Seele des<br />
Steckens gedörrt <strong>und</strong> vom Alter schief <strong>und</strong><br />
brüchig, bilden sie, <strong>ein</strong>s endlos hinter das nächste<br />
gereiht, Pfahl folgt Pfahl, Ast schmiegt sich an Ast,<br />
alle <strong>ein</strong>e Handbreit in die arme, sandige Erde<br />
getrieben, <strong>ein</strong>e Art Vorhang, <strong>ein</strong>e improvisierte,<br />
behelfsmäßige Holzmauer r<strong>und</strong> um den Besitz.<br />
Still vor sich hin rottend, vergessen, von<br />
tausenden Flechten <strong>und</strong> Pilzen bewohnt,<br />
überleben irgendwo auf im Hinterland noch<br />
<strong>ein</strong>ige von ihnen, alle in der so antiken Technik<br />
zusammengefügt. Stock für Stock mehr oder<br />
weniger zwei Finger dick, Ast neben Ast, Stamm<br />
an Stamm grob auf Überarmlänge<br />
zurechtgehackt, dickere <strong>und</strong> f<strong>ein</strong>ere, <strong>ein</strong>er wie<br />
der andere schlecht entbastet <strong>und</strong> entrindet,<br />
voller seitlich herausstechender Stümpfe, Knoten,<br />
Verzweigungen, aus wiederverwertetem Unter<strong>und</strong><br />
Abfallholz, aus allem, was so herumliegt, sich<br />
<strong>ein</strong>igermaßen zurechtschneiden <strong>und</strong> brechen<br />
lässt, zusammengefügt. Kompakt <strong>und</strong><br />
<strong>und</strong>urchlässig lassen sie weder Blick noch Tier<br />
hin<strong>ein</strong> oder hinaus. Da, da vorne, unterbricht <strong>ein</strong><br />
Eingangstor, auf die selbe, elementar <strong>ein</strong>fache<br />
Weise zusammengeschustert, endlich, die<br />
Klausur, das Abgeschottet-, das<br />
Ganz-für-sich-s<strong>ein</strong>. Zum Öffnen oder Schließen<br />
muss man etwas nachhelfen, das <strong>ein</strong>e Ende etwas<br />
hochheben, hier etwas anstoßen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
zu sich her ziehen, immer gut festhalten <strong>und</strong> schon<br />
ist der Weg frei. Nach dem Zurückschwingen nur<br />
noch den improvisierten Drahtring über den<br />
stämmigen Eckpfahl ziehen.<br />
Seitenwechsel. Man ist nun drinnen, beschützt,<br />
oder draußen, ausgegrenzt, ganz wie es <strong>ein</strong>em<br />
beliebt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 433
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 434
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 435
Bettwäsche<br />
Sie heißt Marinette <strong>und</strong> ist überaus effizient. Sie<br />
kommt morgens mit dem Fahrrad <strong>und</strong> hat schon<br />
wieder <strong>ein</strong> neues Handy. Viel mehr weiß ich nicht<br />
von ihr. Trägt, wie fast alle hier, den ganzen Tag,<br />
auch zur Arbeit, knappste Shorts <strong>und</strong> <strong>ein</strong> eng<br />
aufgeklebtes Miniblüschen. Auch dass sie die eher<br />
leichte, aber dem Klima angepasste Bekleidung<br />
schon <strong>ein</strong>en Job gekostet hat, bringt sie nicht<br />
davon ab: Die neu zugewanderte Professorenfrau<br />
konnte den Augen ihres liebenden Ehemannes<br />
soviel Freizügigkeit nicht zumuten.<br />
Schon nach ihrem ersten Arbeitstag sehe ich, dass<br />
sie sehr gut arbeitet. Hat m<strong>ein</strong> Bett, die hier<br />
übliche Hängematte verschmähe ich, toll<br />
hingekriegt! Bettwäsche <strong>und</strong> Moskitonetz -<br />
warum nur gibt es k<strong>ein</strong>e weißen, nur rosafarbene,<br />
hellgrüne <strong>und</strong> babyblaue? – sind zusammen straff<br />
unter die dünne Schaumgummimatratze<br />
gesteckt! Bemerke nur beim Zubettgehen, wie<br />
clever sie die sch<strong>ein</strong>bar eher ungewohnte<br />
Aufgabe gemeistert hat: Beide Bettlaken, Ober<strong>und</strong><br />
Unterlaken sind, <strong>ein</strong>s über das andere gelegt,<br />
r<strong>und</strong>um fest unter das Maträtzchen gestoßen. Da<br />
das obere Laken <strong>ein</strong>en Spitzensaum hat, hat sie<br />
ihn kunstvoll hoch gefaltet. Er bildet, am Fußende,<br />
(!) <strong>ein</strong> dekoratives Band – sicher hat sie ihr ganzes<br />
Leben lang, wie jeder hier, arm oder reich, immer<br />
in <strong>ein</strong>er Hängematte geschlafen.<br />
Als ich die fast trockene Wäsche vor dem<br />
nächsten Regen rette, lerne ich von Marinette,<br />
wie man auch fast ohne Wäscheklammern<br />
unseren riesigen Berg frisch gewaschener Wäsche<br />
zum Trocknen aushängen kann: Man nimmt die<br />
Wäschel<strong>ein</strong>e doppelt, verdreht die beiden Seile<br />
vor dem Aushängen eng in<strong>ein</strong>ander. Gehen <strong>ein</strong>em<br />
dann die wenigen Wäscheklammern aus, öffnet<br />
man mit spitzem Fingernagel oder sonst welchem<br />
Geschick <strong>und</strong> etwas Kraftaufwand <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />
Öffnung in den eng verdrehten Seilen. Steckt flink,<br />
bevor sie sich automatisch wieder schließt,<br />
geschickt <strong>ein</strong> Eckchen der zu trocknenden Wäsche<br />
dazwischen, das, streckt sich das Seil wieder,<br />
sicher <strong>ein</strong>geklemmt fest sitzt. Somit sind wir<br />
sozusagen quitt.<br />
Später treffe ich die kreativsten Wäschel<strong>ein</strong>en der<br />
Welt. Gerne wird die Wäsche <strong>ein</strong>fach auf dem<br />
Zaun getrocknet <strong>und</strong> Wäscheklammern gibt’s<br />
sowieso nie.<br />
Sehr erfreut, Kakerlake!<br />
„Nomen ist Omen“! Hier in Brasilien lerne ich zwei<br />
neue Nuancen des Sprichwortes kennen.<br />
Drei gestandene Herren treffen sich. Darf ich mich<br />
vorstellen? <strong>Barata</strong> (Kakerlake). Freut mich, Aranha<br />
(Spinne). Sehr erfreut, Sucuri (Riesenschlange /<br />
Anakonda). Fehlt nur, dass ihnen der Herr Leitão<br />
(Spanferkel), der Herr Coelho (Kaninchen), die<br />
Frau Ganso (Gans) oder der Herr Raposa oder<br />
Fuchs Gesellschaft leisten. Die drei ersten Herren<br />
jedenfalls konnten <strong>ein</strong> Lachen nicht unterdrücken,<br />
auch wenn ihre Namen in unterschiedlichen<br />
Regionen des Landes viel Gewicht haben <strong>und</strong> nie<br />
lächerlich gemacht werden.<br />
Auch in der Botanik kann es zu überraschenden<br />
Treffen kommen, dann nämlich, wenn sich<br />
Junqueira, (<strong>ein</strong>e Palmenart) Carvalho, (Eiche) <strong>und</strong><br />
Pinheiro (Tanne) treffen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 436
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 437
Von allerlei Krankheiten<br />
Der Anruf kam höchst unerwartet. Die Tochter<br />
<strong>ein</strong>er Bekannten war in Not, hier am<br />
amazonischen Ende der Welt! Sie war auf die<br />
spleenige Idee verfallen, den ganzen Riesenfluss<br />
Amazonas hoch bis zur peruanischen Grenze zu<br />
schippern, <strong>und</strong> das im normalen Linienboot! Eine<br />
Reise, die wohl grob geschätzt, um die 40 <strong>ein</strong>tönig<br />
vor sich hin plätschernde Tage dauert. Fast<br />
tauchte sie im emsig wimmelnden Ameisenhaufen,<br />
Passagiere aller Altersklassen, Fernseher<br />
<strong>und</strong> Motorräder, hochbegehrt, immer die<br />
neuesten Modelle, Tiere, andere Waren, unter.<br />
Knüpfte ihre Hängematte zwischen unzählige<br />
andere, gar zweistöckig, malerisch, farbig <strong>und</strong><br />
nicht gerade leise. Privatsphäre war ihr nicht so<br />
wichtig. Auch der lokale So<strong>und</strong>, von strategisch<br />
platzierten Lautsprecher ausgespien, nahm sie<br />
leicht hin. Schipperte, döste, ruhte sich aus,<br />
schlief <strong>ein</strong> bisschen, las noch <strong>ein</strong> Kapitel <strong>und</strong> ließ<br />
das Leben vorbeiziehen. Blendete das unablässige<br />
Geplauder, die unerwartete Kühle der Nacht aus.<br />
Überhörte das Schnarchen, die Seufzer oder die<br />
Albträume der Mitreisenden, schon seit Tagen an<br />
das Murren des Motors oder die pünktlich <strong>und</strong><br />
sintflutartig niederprasselnden Regenmassen<br />
gewöhnt.<br />
Nur das B<strong>ein</strong> ließ ihr k<strong>ein</strong>e Ruhe. Das rechte B<strong>ein</strong>,<br />
auch hoch gelagert, war unheimlich angeschwollen,<br />
monströs <strong>und</strong> beunruhigend. Es<br />
schwoll immer mehr an, jeder Tag <strong>ein</strong> bisschen<br />
mehr auf dem riesigen Strom, eher <strong>ein</strong><br />
Süßwassermeer, flussaufwärts. So sah sie sich<br />
gezwungen, das Schiff im nächsten Hafen zu<br />
verlassen.<br />
Sie wurde unverzüglich sogleich ins beste<br />
Krankenhaus des Ortes <strong>ein</strong>geliefert. Ihre Mutter in<br />
São Paulo hatte schon per Notruf um drei Ecken<br />
herum lokale Bekannte von Bekannten mobilisiert.<br />
Die besuchten sie umgehend am Krankenbett.<br />
Stellten mit ihren Nachfragen nochmals sicher,<br />
dass alle nötigen Vorkehrungen <strong>und</strong> Untersuchungen<br />
vorgenommen worden waren. Trotz all<br />
der Fürsorge kam von allen Seiten <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Rat:<br />
Die allerbeste Medizin für das B<strong>ein</strong> sei der<br />
Flughafen, der nächste Flug nach São Paulo!<br />
Beileibe k<strong>ein</strong> schlechter lokaler Witz - mit<br />
tropischen Krankheiten spielt man nicht!<br />
Besonders Touristen sollten dem schlechten Witz<br />
mit dem nächsten Flugzeug deshalb, falls möglich,<br />
Folge leisten. Krankenhäuser im Norden des<br />
Landes haben, trotz oder vielleicht wegen des<br />
kostenlosen, öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitssystems, das<br />
allen, ohne <strong>ein</strong>en Pfennig zu bezahlen,<br />
Behandlung <strong>und</strong> Versorgung im Krankheitsfall<br />
garantiert, k<strong>ein</strong>en guten Ruf. Nichts ist dem<br />
Heilungsprozess abdinglicher, als wenn man die<br />
Sprache nicht spricht, die lokalen Gewohnheiten<br />
nicht kennt <strong>und</strong> schon <strong>ein</strong> ungewohntes Essen<br />
unliebsame Folgen haben kann.<br />
Noch wichtiger ist Vorsorgen. Gegen Gelbfieber<br />
gibt es <strong>ein</strong>e Impfung, Malaria ist heute heilbar.<br />
Erschwerend kommt dazu, dass fiebrige<br />
Tropenkrankheiten nicht immer sofort <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>deutig zu diagnostizieren sind. Die Symptome<br />
des Gelbfiebers, der Malaria <strong>und</strong> von Dengue<br />
sch<strong>ein</strong>en sich ziemlich zu gleichen, werden<br />
zudem im Anfangsstadium oft als <strong>ein</strong>fache<br />
Grippe abgetan.<br />
Viele berühmte <strong>und</strong> unendlich viele andere<br />
unbekannte Tropenreisende erfuhren das früher<br />
bitter am eigenen Leib. Als nämlich zu Beginn des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts in Europa <strong>ein</strong>e wahre Übersee-<br />
Euphorie ausbrach, die brasilianischen Grenzen<br />
wurden für befre<strong>und</strong>ete Länder geöffnet,<br />
schickte der bayrische König Maximilian I. 1817,<br />
zusammen mit anderen Gelehrten <strong>und</strong><br />
Naturforschern Johann Baptist Spix <strong>und</strong> Carl<br />
Friedrich Philipp von Martius, nach Brasilien,<br />
auch in den Amazonas. Sie befanden sich im<br />
Gefolge der Erzherzogin Leopoldina von<br />
Österreich - sie war dem späteren brasilianischen<br />
Kaiser Dom Pedro I, per Brief angeheiratet<br />
worden <strong>und</strong> reiste nun zu ihm in die Tropen.<br />
Dem Reisebericht von Spix <strong>und</strong> von Martius<br />
zufolge erkrankten die beiden in Maranhão<br />
schwer, wurden, in dauerndem Fieber <strong>und</strong><br />
Fantasien liegend, von Schwarzen in die nächste<br />
Stadt getragen. Wieder genesen, vertrauten sie<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 438
sich später, schon tief im Amazonas, gegenseitig<br />
<strong>ein</strong>en Letzten Willen an, bevor sich ihre Wege<br />
trennten. Sich in unbekannte Tropen vorzuwagen,<br />
war <strong>ein</strong> lebensgefährliches Abenteuer, das <strong>ein</strong>em<br />
in St<strong>und</strong>en oder Tagen problemlos das Leben<br />
kosten konnte. Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren<br />
die Zustände in den großen brasilianischen<br />
Hafenstädten so unges<strong>und</strong>, dass viele<br />
ausländische Schiffe hier gar nicht anlegten.<br />
Brasilien war als das „Grab der Ausländer“<br />
verschrien.<br />
Auch Rio de Janeiro, um 1900 Brasiliens<br />
Hauptstadt, galt als hochriskanter, todbringender<br />
Aufenthaltsort <strong>und</strong> bis zum Zweiten Weltkrieg<br />
zum Beispiel war es gar nicht so <strong>ein</strong>fach,<br />
kompetente Forscher in den Amazonas zu locken.<br />
Zu groß war die Angst, wie viele andere, in den<br />
ersten paar Tagen von <strong>ein</strong>er heimtückischen<br />
Tropenkrankheit dahingerafft zu werden, denen<br />
besonders weiße Europäer wie die Fliegen zum<br />
Opfer zu fallen schienen. Zwar hatte Louis Pasteur<br />
schon 1850 die Bakterien entdeckt, aber erst im<br />
Jahre 1900 wurden in Kuba die ersten Tests<br />
durchgeführt, die die bis dahin unvorstellbare<br />
Idee bewiesen, dass es weder schlechte Gerüche<br />
noch fehlende Hygiene waren, sondern <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>facher Moskito, der das tödliche Gelbfieber<br />
<strong>und</strong> die gefürchtete Malaria übertrug.<br />
Als 1902 Rodrigo Alves zum Präsidenten der<br />
brasilianischen Republik ernannt wurde, setzte er<br />
sich zum Ziel, die Situation radikal zu ändern.<br />
Schon <strong>ein</strong> Jahr später ernannte er Oswaldo Cruz,<br />
<strong>ein</strong>en jungen Arzt mit geradezu revolutionären<br />
Ideen, er hatte bei Pasteur in Paris studiert, zum<br />
Direktor des öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens.<br />
Oswaldo Cruz gelang es 1906 mit <strong>ein</strong>er<br />
spektakulären Antimoskitoaktion Rio de Janeiro<br />
von s<strong>ein</strong>en ständig wiederkehrenden<br />
mörderischen Gelbfieberepidemien zu befreien.<br />
Dass die Aktion sehr autoritär vor sich ging, die<br />
Moskitobekämpfer verschafften sich mit allen<br />
Mitteln, auch mit Gewalt, Zugang zu den Häusern,<br />
führte zu vielen Protesten. Seit 1937 stand dann<br />
<strong>ein</strong>e Impfung gegen die tödliche Krankheit zur<br />
Verfügung.<br />
Nur am Rande sei erwähnt, dass nicht nur die<br />
Weißen in ihrer Europazentriertheit litten. Als<br />
besonders infame Kolonialisierungstechnik, <strong>ein</strong>e<br />
raffinierte Art der biologischen Kriegsführung,<br />
wurden simple Grippe <strong>und</strong> Pockenviren, aus<br />
Europa importiert, <strong>ein</strong>gesetzt. Es reichte, mit dem<br />
Flugzeug <strong>ein</strong> paar infizierte Kleidungsstücke über<br />
<strong>ein</strong>em Indiodorf abzuwerfen. Die Bakterien <strong>und</strong><br />
Viren, gegen die die Einheimischen k<strong>ein</strong>e<br />
Antikörper hatten, dezimierten <strong>und</strong> dezimieren<br />
noch heute ganze wehrlose Stämme indigener<br />
Bevölkerung. Sie starben, <strong>ein</strong>mal angesteckt, wie<br />
die Fliegen.<br />
Viele Tropenkrankheiten unterliegen komplexen<br />
Zyklen, brauchen zur Übertragung <strong>ein</strong>en<br />
Zwischenwirt, oft lästige, winzige, aber gerade<br />
deshalb niemals zu unterschätzende Insekten.<br />
Infizierte Moskitos, Sandfliegen, Flöhe <strong>und</strong><br />
Zecken übertragen mit ihrem blutsaugenden<br />
Stich oder Biss jene Bakterien, Parasiten,<br />
Einzeller, Wechseltierchen oder Viren, die uns<br />
ganz schnell stilllegen können, oder gar<br />
umbringen. Mit der Entdeckung des Penicillins<br />
1928 durch Alexander Fleming <strong>und</strong> den heutigen<br />
Antibiotika gibt es zwar heute wirksame Waffen<br />
gegen die Bakterien. Doch gegen Viren existiert<br />
bis heute nichts Vergleichbares.<br />
Neben den sozusagen gängigen<br />
Tropenkrankheiten trifft man nicht nur in<br />
Brasiliens Norden bis heute auf uralte Leiden,<br />
wirkliche Geiseln der Menschheit: Tuberkulose,<br />
leider wieder auf dem Vormarsch, alle Typen von<br />
Hepatitis <strong>und</strong> die schreckliche Hansenasia, Lepra.<br />
Auf unvorsichtig unglückliche Abenteuertouristen<br />
lauern auch die typischen tropischen<br />
Krankheiten Leishmaniose, Schistosomiasis <strong>und</strong><br />
die Doença de Chagas. Armeleute-Krankheiten,<br />
bis heute wenig erforscht – wie soll man auch<br />
mit den Armen die in die Medikamentenforschung<br />
investierten Milliarden wieder her<strong>ein</strong><br />
verdienen. Zudem werden solche Arme-Leute-<br />
Krankheiten bei Touristen oft nicht oder nur sehr<br />
spät diagnostiziert. K<strong>ein</strong> Arzt vermutet sie<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 439
in solch privilegiertem Umfeld. Wer aber<br />
Anhänger von Radikalsportarten ist,<br />
Abenteuertourismus, Trekking, Rafting <strong>und</strong><br />
Rivering wagt, sich dabei als unschuldiger<br />
Abenteuertourist des Nervenkitzels oder<br />
Naturerlebnisses wegen mitten in den Dschungel<br />
begiebt, setzt sich unerwarteten Risiken aus - <strong>ein</strong><br />
Insektenstich beim Wildcampen <strong>und</strong> Schlafen<br />
ohne Moskitonetz genügt. Eher ungewöhnlich sei<br />
es dagegen, von <strong>ein</strong>er Schlange oder <strong>ein</strong>em<br />
Skorpion gebissen zu werden. Auch Spinnen, nicht<br />
nur die fürchterlichen Taranteln, beißen.<br />
Es war der Biss <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Spinnen, der<br />
schließlich bei unserer Patientin vom Anfang der<br />
Geschichte diagnostiziert wurde. Solche Bisse<br />
können schreckliche allergische Reaktionen,<br />
Atembeschwerden usw. auslösen, bleiben aber<br />
zuerst oft unbemerkt. Denn manchmal wird<br />
zusammen mit dem Biss <strong>ein</strong> Betäubungsmittel<br />
<strong>ein</strong>spritzt. So macht sich der Stich erst nach<br />
St<strong>und</strong>en scherzhaft bemerkbar, dann wenn die<br />
Wirkung des Mittels abklingt <strong>und</strong> die Spinne<br />
längst über alle Berge ist. Die lokale Bevölkerung<br />
schüttelt deshalb alle Kleider vor dem Anziehen<br />
gründlich aus <strong>und</strong> klopft geschlossenes<br />
Schuhwerk vor dem Anziehen kräftig auf den<br />
Boden. Auch w<strong>und</strong>erschön grellfarbene Raupen<br />
oder solche mit pelzigen Haaren sollte man nie<br />
berühren. Streift man sie, auch ohne es zu<br />
bemerken, können deren Nesselhaare ziemlich<br />
unangenehme Hautverbrennungen auslösen.<br />
Nehmen Sie sich auch vor Tausendfüßlern <strong>und</strong> den<br />
tropischen Ameisen in acht! Manche Indiostämme<br />
benutzen die 24-St<strong>und</strong>en-Ameise, so lange soll ihr<br />
Stich oder Schnitt schmerzen, in ihren unzimperlichen<br />
Initiationsritualen.<br />
Auch tropische Gewässer sind nicht über alle<br />
Zweifel erhaben. Fragen Sie besser die<br />
Einheimischen. Tritt man auf den imponierenden<br />
Stachelrochen, wehrt er sich äußerst schmerzhaft<br />
<strong>und</strong> ziemlich traumatisch. Pärchenegel übertragen<br />
den Schistosomiasiserreger <strong>und</strong> die vielen<br />
Insektenstiche, kl<strong>ein</strong>e Schnittw<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> bringen dabei ihr Gift in den Blutkreislauf.<br />
Schürfungen heilen in ständigem Kontakt mit<br />
Wasser oder Schweiß schlecht ab. Können so zu<br />
bösen Infektionen oder allergischen Reaktionen<br />
führen.<br />
Weniger dramatisch, aber dafür besonders eklig<br />
sind jene Parasiten, die sich unter der Haut<br />
<strong>ein</strong>nisten. Das „Bicho do Pé“, das Fußtierchen legt<br />
man sich am Strand oder auf dem Land zu. Ein<br />
kl<strong>ein</strong>er, schwarzer Punkt nur, der sich am liebsten<br />
zwischen den Zehen <strong>ein</strong>nistet <strong>und</strong> schrecklich<br />
juckt. Auch „Bernes“, halbmondförmige, bleiche,<br />
wenig appetitlichen Larven bestimmter<br />
Riesenfliegen gibt es überall. Einmal unter der<br />
Haut, bohren sie sich bis zur Fettschicht vor, wo sie<br />
sich bis zum Ausschlüpfen ernähren. Schlimmer<br />
wohl nur die „Mosca Varejeira“, <strong>ein</strong>e Fliege, die<br />
ihre Eier mit Vorliebe in kl<strong>ein</strong>e, schon<br />
bestehende W<strong>und</strong>en legt, wo sie sich in<br />
kürzester Zeit in unzählige, wimmelnde Larven<br />
verwandeln, die sich dann von ihrem Wirt<br />
ernähren. Seien Sie auch bei <strong>ein</strong>em neuen<br />
Leberfleck misstrauisch – hat er vielleicht beim<br />
sehr genau Hinsehen winzige B<strong>ein</strong>chen? –<br />
Verdammte Zecke! Man holt sie sich am<br />
sichersten auf Kuhweiden oder von Pferden oder<br />
ganz <strong>ein</strong>fach im Regenwald. Beten Sie, dass es<br />
nur tagelang juckt, denn er hätte ja auch mit<br />
„Febre Maculosa“, <strong>ein</strong> heimtückisches Fieber,<br />
das wie <strong>ein</strong>e normale Grippe beginnt <strong>und</strong> nicht<br />
diagnostiziert, gar tödlich enden kann, infiziert<br />
s<strong>ein</strong> können. Zwei lokale W<strong>und</strong>ermittel gibt es<br />
gegen kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>en auf jedem Markt zu<br />
kaufen: Andirobaöl heilt Insektenstiche <strong>und</strong><br />
Copaibaharz <strong>und</strong> Jucá vollbringt wahre W<strong>und</strong>er<br />
bei der W<strong>und</strong>heilung. Beide werden hier im<br />
Amazonas seit Jahrh<strong>und</strong>erten angewendet.<br />
Auch in den Häusern drin lauern unbekannte<br />
Gefahren. Die „Doença de Chagas“ wird von<br />
<strong>ein</strong>em Käfer übertragen, der Raubwanze, hier in<br />
Brasilien „Barbeiro“ genannt, der menschliches<br />
Blut mag <strong>und</strong> sich gerne in mit <strong>ein</strong>fachen<br />
Materialien gebauten Häusern <strong>ein</strong>nistet. Ein<br />
wenig erfreuliches Szenarium, besonders falls<br />
man naturnah <strong>und</strong> billig reisen möchte. Das<br />
obligate Moskitonetz - zum Schlafen immer unter<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 440
die Matratze stecken! – gibt es auch für<br />
Hängematten, im Regenwald lohnt es sich, trotz<br />
der Hitze lange Hosen, lange Ärmel <strong>und</strong><br />
festgeschnürte, geschlossene Schuhe zu tragen.<br />
Andere Parasiten wie Amöben, Wechseltierchen<br />
<strong>und</strong> die unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten Wurmeier, auch<br />
<strong>ein</strong>ige Auslöser der Hepatitis, nimmt man mit<br />
infiziertem Wasser zu sich, im Salat oder in<br />
schlecht gewaschenen Früchten, wohl das<br />
populärste Horrorszenarium. Folgen Sie dem Rat<br />
der Engländer: -„Peel it, boil it, or forget it!“ - <strong>und</strong><br />
auch ges<strong>und</strong>er Menschenverstand empfiehlt sich.<br />
Wen es doch erwischt: Durchfall wird hier in<br />
Brasilien in leichten Fällen mit Kokoswasser,<br />
Knoblauchpillen <strong>und</strong> anderen Hausmitteln <strong>und</strong><br />
hausgemachtem oder fertig gekauftem „Soro“,<br />
<strong>ein</strong>er Elektrolytlösung abgeholfen, in schwereren<br />
Fällen gehen die Leute aber meist gleich ins<br />
Krankenhaus. Da bekommen Sie den selben<br />
„Soro“ intravenös, da hier, besonders bei Babys<br />
<strong>und</strong> alten Leuten der Hitze wegen sehr schnell die<br />
Gefahr des Austrocknens besteht.<br />
Falls Sie es bis hierher geschafft haben, will ich<br />
Ihnen auch die neuesten Horrorszenarien nicht<br />
vorenthalten. Der amazonische Regenwald, auf<br />
der <strong>ein</strong>en Seite als unerschöpfliche Quelle für die<br />
unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten, noch zu entdeckenden <strong>und</strong><br />
entwickelnden Medikamente hochgelobt, kann<br />
auf der anderen Seite zur tödlichen Falle werden.<br />
Ein harmloser Mückenstich, der sich entzündet<br />
<strong>und</strong> dann mit <strong>ein</strong>em unbekannten Bazillus infiziert,<br />
gar <strong>ein</strong>em Pilz, <strong>ein</strong>em Virus, oder solche<br />
zusammen mit schlecht durch gegartem Essen zu<br />
sich genommen, können den sicheren Tod oder<br />
den Auslöser für <strong>ein</strong>e neue Geißel der Menschheit<br />
oder Seuchen bedeuten. Der amazonische<br />
Tropenwald hält, besonders da wo er noch so gut<br />
wie unberührt ist, unvorstellbare Risiken bereit,<br />
die nur dann freigesetzt werden, wenn ihm die<br />
Menschen auf die Pelle rücken, ihn roden, ihn sich<br />
untertan machen wollen. In den wilden Wäldern<br />
<strong>und</strong> s<strong>ein</strong>en Wassern lauern neue, unbekannte<br />
Viren, die bis heute k<strong>ein</strong>en Kontakt mit Menschen<br />
<strong>und</strong> deren Zivilisation hatten. Die Viren Ebola <strong>und</strong><br />
Aids stammen, soviel weiß man heute, von<br />
kranken Tieren, die auf irgend<strong>ein</strong>e Weise,<br />
vielleicht als schlecht gekochte Jagdbeute, mit<br />
Menschen in Kontakt traten, <strong>und</strong> sich dann an<br />
unseren Organismus anpassten.<br />
Bleiben Sie deshalb im Zweifel auf ausgelatschten<br />
Touristenpfaden. Sie brauchen allerdings nicht so<br />
weit zu gehen, wie die ältere Japanerin,<br />
Teilnehmerin <strong>ein</strong>er Kreuzfahrt auf dem<br />
Amazonas, von der sie mir erzählten. Sie verließ<br />
das Schiff für die wenigen, begleiteten <strong>und</strong><br />
bestens organisierten Landausflüge nur in <strong>ein</strong>er<br />
Art Uniform, die mit ihrem Schleier <strong>und</strong> den<br />
Handschuhen wohl eher an <strong>ein</strong>en Bienenzüchter<br />
erinnerte. Die Arme wird wohl ziemlich gelitten<br />
haben – in ihrem Fall ist wohl die tropische Hitze<br />
zum nicht zu unterschätzenden F<strong>ein</strong>d geworden.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 441
Das geografische Tier<br />
Solch <strong>ein</strong>en Hautausschlag hatte ich noch nie! Wie<br />
der juckt! Der juckt so schauerlich, juckt so<br />
grauslich! Bin fast am Verzweifeln. Alle bewährten<br />
Hausmittel helfen nur für <strong>ein</strong> paar Minuten. Am<br />
Unterarm kriege ich ihn irgendwann unter<br />
Kontrolle. Am linken Fuß aber werde ich das<br />
Gefühl nicht los, dass sich der Juckreiz verlagert.<br />
Sich sozusagen unter der Haut weiter bewegt,<br />
auch unter der Sohle. Es juckt immer an <strong>ein</strong>er<br />
neuen Stelle, ist etwas rot, es gibt k<strong>ein</strong>e offene<br />
W<strong>und</strong>e, k<strong>ein</strong>e Schwellung, nur der unerträgliche<br />
Juckreiz.<br />
Lade nur erklärte Fans von «Parasitas Assassinas»,<br />
«Tödliche Parasiten», Danke Discovery! oder «Ein<br />
rätselhafter Patient» <strong>ein</strong>, weiter zu lesen. Der<br />
Juckreiz begleitet mich so <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Weile. Bis<br />
Tage später <strong>ein</strong>e unserer Fre<strong>und</strong>innen mit ihrer<br />
kl<strong>ein</strong>en Tochter zu Besuch kommt. Das kl<strong>ein</strong>e,<br />
süße Mädchen steht sofort im Brennpunkt aller<br />
Interessen. Denn der süße Tropf hat da, an der<br />
winzig blütenbleichen Hand, <strong>ein</strong>en schauerlich<br />
juckenden Ausschlag! Von allen gebührend<br />
bew<strong>und</strong>ert erfahre ich, dass das Schauerding gar<br />
<strong>ein</strong>en Namen hat. Es handelt sich um <strong>ein</strong><br />
sogenanntes «Bicho geográfico», <strong>ein</strong><br />
«Geografisches Tier»!<br />
Dieses Tier, oder besser s<strong>ein</strong> Zerstörungswerk<br />
sieht genau so aus, wie die kl<strong>ein</strong>en Irrwege auf<br />
m<strong>ein</strong>er Haut! Die, die so schauerlich jucken!!!!<br />
Nach der Eigendiagnose ziehe ich weitergehenden<br />
Nutzen aus dem folgenden fre<strong>und</strong>schaftlichen<br />
Gespräch, das sich darum dreht, wie man das Tier<br />
denn nun wieder loswerden könne. Es gäbe<br />
Medikamente oder Salben, die das Tier töten<br />
würden, aber die Leber des Patienten könne etwas<br />
in Mitleidenschaft gezogen werden. Das gelte es in<br />
Kauf zu nehmen. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen<br />
allerdings erinnert sich, dass sie schon<br />
gehört habe, dass man es mit Eis versuchen könne.<br />
Ich bin fasziniert. Es soll ja Leute geben, die<br />
ertränken ihre Würmer in Alkohol. Aber sozusagen<br />
tiefgefrieren, unter der Haut, sowas von genial!<br />
Kann es kaum erwarten, bis sich die Gesellschaft<br />
verabschiedet <strong>und</strong> kühle dann das Tier, das<br />
wirklich unter m<strong>ein</strong>er Haut kl<strong>ein</strong>e Labyrinthe baut,<br />
so lange <strong>und</strong> so ausgiebig aus, bis es den Kältetod<br />
stirbt. Und? Funktioniert perfekt, Erfolg garantiert!<br />
Nach zwei, drei Sitzungen bin ich diesen<br />
schauerlichen geografischen Alptraum wieder los!<br />
Fazit? Habe damit, was ich theoretisch schon<br />
wusste, am eigenen Leib erfahren, dass in den<br />
Tropfen unsch<strong>ein</strong>bare Parasiten oft viel lästiger<br />
s<strong>ein</strong> können als die großen, ach so gefährlichen<br />
Raubtiere, denen man nur mit sehr, sehr viel Glück<br />
begegnet.<br />
passende<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 442
allerlei<br />
Verkehrsmittel<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 455
Ver- <strong>und</strong> geboten<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 456
Vom<br />
Transportieren<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 472
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 473
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 474
Allerlei Verkehrsmittel II<br />
- „Mensch, jetzt hupt der schon wieder! Was<br />
mache ich denn falsch? Worauf will der mich<br />
denn aufmerksam machen? Ist <strong>ein</strong>e Tür nicht ganz<br />
geschlossen oder <strong>ein</strong> Rad locker?“ - St<strong>und</strong>en<br />
später, oder gar am nächsten Tag fällt der<br />
Groschen. Das Hupen galt gar nicht mir! Es war<br />
<strong>ein</strong> Mototaxi auf K<strong>und</strong>ensuche! Das Hupen<br />
machte potenzielle K<strong>und</strong>en auf das gerade vorbei<br />
schleichende, alternative Taxi aufmerksam!<br />
Will oder muss man sich im amazonischen<br />
Hinterland vorwärts bewegen, so diktiert die<br />
lokale Ökonomie <strong>und</strong> die ungeheuren Distanzen<br />
nicht nur den Rhythmus, sondern auch das<br />
Verkehrsmittel. Vom Ochsenkarren über das<br />
Pferd <strong>und</strong> das Fahrrad oder den zum Bus<br />
umfunktionierte Kombi gibt es alles. Geht es um<br />
das beste Preis-Leistungsverhältnis, so ist das<br />
Motorrad natürlich unschlagbar. Alle jungen<br />
Männer können es kaum erwarten, aus dem<br />
übervollen Bus ohne Klimaanlage auf so <strong>ein</strong><br />
stromlinienförmiges Crossmotorrad umzusteigen.<br />
Sie erinnern mit ihren hoch aufgerichteten<br />
Hinterteilen die in spitze Stacheln auslaufen an<br />
hochb<strong>ein</strong>ige Hornissen, sch<strong>ein</strong>en direkt <strong>ein</strong>em<br />
japanischen Mangacomic zu stammen. Mit so<br />
<strong>ein</strong>em Ding steigt das soziale Prestige zusammen<br />
mit dem Unfallrisiko drastisch.<br />
Die Mototaxis sind allgegenwärtig. „Mototaxis,<br />
Mototaxi! Mototaxi gefällig?“ – winkt,<br />
gestikuliert oder hupt es <strong>ein</strong>em entgegen. Wo man<br />
auch ankommt oder besser anlegt, je weiter ins<br />
Landesinnere man will, desto <strong>ein</strong>facher ist es mit<br />
dem Schiff, stehen sie schon laut gestikulierend,<br />
um K<strong>und</strong>en werbend, <strong>ein</strong>er mit dem anderen<br />
konkurrierend, am Hafen bereit. Ja, klar, es gibt<br />
auch normale Taxis, in allen möglichen Stadien der<br />
Konservierung, <strong>ein</strong>ige kurz vor dem Aus<strong>ein</strong>anderfallen.<br />
Und natürlich auch mit weniger<br />
Komfort, sprich Klimaanlage, je weiter entfernt von<br />
den urbanisierten Zentren.<br />
Wer es aber preiswerter <strong>und</strong> je nach Geschmack<br />
wohl auch authentischer haben möchte, sozusagen<br />
mit dem Fahrtwind als Kühlung <strong>und</strong> dem<br />
Straßenzustand als Nervenkitzel, schwingt sich auf<br />
den Beifahrersitz <strong>ein</strong>es Mototaxi. K<strong>ein</strong>e unnötigen<br />
Bedenken. Die Fahrer sind uniformiert, organisiert,<br />
registriert. Man kann sie auch anrufen, bestellen<br />
oder gar im Monatsabo buchen. Ruft man immer<br />
den selben, kann man auch auf s<strong>ein</strong>en Fahrstil<br />
gebührend Einfluss nehmen. Der Helm wird<br />
übrigens fre<strong>und</strong>licherweise mit ausgeliehen. Bleibt<br />
nur noch <strong>ein</strong> paar letzte Fragen: Wie geht man mit<br />
der ungewohnten Intimität um? Ist ja nicht<br />
jedermanns Sache, <strong>ein</strong>en wildfremden um den<br />
Bauch zu fassen. Genauso wenig, was man macht,<br />
wenn es regnet oder man viel Gepäck dabei hat?<br />
Hier gibt es für alles <strong>ein</strong>e Lösung. Ein Kind mehr<br />
oder <strong>ein</strong>e sperrige Schachtel, gar <strong>ein</strong>e Ladung<br />
Kehrbesen finden auf jedem Moto Platz.<br />
Wer also <strong>ein</strong>em Sonnenstich oder Hitzschlag, den<br />
holt man sich, geht man zu Fuß, der absolute<br />
Geheimtipp ist <strong>ein</strong> Regen- Pardon,<br />
Sonnenschirm, aus dem Weg geht, benutzt diese<br />
vielfältigen Zweiräder. Je weiter weg man vom<br />
Zentrum ist, desto elastischer interpretiert man<br />
leider auch die Helmtragepflicht <strong>und</strong> die maximal<br />
erlaubte Nutzlast. Das schmale Mädchen wird<br />
zwischen den Vater <strong>und</strong> den Lenker geklemmt,<br />
die Mutter kommt mit dem kl<strong>ein</strong>en Sohn auf den<br />
Rücksitz. Auch Fahrräder transportieren, was für<br />
Waden!, ganze Familien inklusive Kl<strong>ein</strong>kind im<br />
Arm der Mutter, die im Damensitz auf dem<br />
Gepäckträger thront.<br />
Im privilegierten, hochb<strong>ein</strong>igen Wagen mit<br />
Vierradantrieb unterwegs, weiß ich allerdings<br />
nicht, was wohl schlimmer ist. Denn wenn ich<br />
mich nicht irgendwo in <strong>ein</strong>en klimatisierten<br />
Elfenb<strong>ein</strong>turm zurückziehen will, muss ich alle<br />
m<strong>ein</strong>e europäischen Vorstellungen von<br />
Verkehrssicherheit irgendwo ganz tief hinten in<br />
m<strong>ein</strong>em Kopf archivieren, vergraben. Und das,<br />
obwohl ich noch nie in irgend<strong>ein</strong>er<br />
Extremsituation war: Im Flugzeug droht mich der<br />
endlose Regenwald zu verschlingen, im Winzboot<br />
fühle ich mich den unendlichen Wassermassen<br />
ausgeliefert, im Taxi den rücksichtslosen Fahrern<br />
<strong>und</strong> hier ist es die Straße von Santarém ins<br />
Landesinnere, <strong>ein</strong>e wichtige Verbindungsstraße,<br />
die mich erschreckt, mir eher wie <strong>ein</strong>e<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 475
Motocrossstrecke, <strong>ein</strong> Schlammloch ersch<strong>ein</strong>t.<br />
Nicht mal die allgegenwärtigen Motorräder<br />
kommen hier zurecht.<br />
Woher nur dieser Morast kommt, auf dem sie alle<br />
herumrutschen? Es hat doch seit Tagen nicht<br />
geregnet? – Ach, schuld ist die Bürgermeisterin.<br />
Das Auto rutsch, schleudert, zieht nach rechts,<br />
rutsch nach links, tastet sich schliddernd, trotz<br />
Vierradantrieb, vorwärts. Halte sich, wer kann!<br />
Die Bürgermeisterin wolle die Straße! – neu<br />
asphaltieren <strong>und</strong> habe deshalb erst mal das alte<br />
Pflaster weggemacht. Vor Monaten schon. Der<br />
dichte Verkehr, die vielen Laster haben dann vom<br />
brachliegenden Boden soviel Staub aufgewirbelt,<br />
dass die Bewohner, deren Häuser sich rechts <strong>und</strong><br />
links der Straße ansammeln, protestiert hätten.<br />
Resultat: Ein Tankwagen wässert nun die Strecke.<br />
Verwandelt die Straße in <strong>ein</strong> Schlammmeer! Ein<br />
bisschen weniger Staub also, <strong>ein</strong>e Übergangslösung,<br />
denn irgendwann habe die Frau<br />
Bürgermeister vielleicht das nötige Geld <strong>und</strong> die<br />
Maschinen, alles zur selben Zeit, zusammen um<br />
zu asphaltieren. Ja irgendwann. Schulterzucken.<br />
Allerdings komme ja jetzt erst mal die Regenzeit.<br />
Längst haben wir die Stadt hinter uns gelassen,<br />
aber noch immer gibt es längs der Staubpiste<br />
kahle Häuser, <strong>ein</strong> paar <strong>ein</strong>same Mangobäume,<br />
keilförmige Jámbozeiros. R<strong>und</strong> um die Häuser nur<br />
Staub, grau, sauber getretene Erde, k<strong>ein</strong><br />
Hälmchen, k<strong>ein</strong> Grün. Sicher würden sie den<br />
Vorgarten gerne zubetonieren, wenn sie das Geld<br />
dazu hätten! So könne man die Schlangen besser<br />
sehen <strong>und</strong> Insekten gäbe es auch weniger! Aha.<br />
Bretterhütten, wellblechgedeckt, perfekter könnte<br />
die Sauna nicht installiert s<strong>ein</strong>. Klar, ich verstehe,<br />
auch hier will man modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> praktisch.<br />
Wofür gibt es denn Ventilatoren? Nur die Indios,<br />
die Hinterwäldler der Hinterwäldler, würden noch<br />
die traditionellen Palmblattdächer benutzen, mit<br />
den mobilen Fensterläden aus demselben<br />
Material, die auch Schatten spenden.<br />
Zwischen den Holzhäusern improvisierte Bars, <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er Laden. Eine der „Lanchonettes”, <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>facher Schnellimbiss, nennt sich ironisch stolz<br />
„McDonalds”. Ah, prustend hält <strong>ein</strong> staubiger<br />
Überlandbus. Er versorgt dieses gesichtslose<br />
Hinterland, wohl im St<strong>und</strong>en oder Zweist<strong>und</strong>entakt.<br />
Wer Waden hat <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Fahrrad, nimmt<br />
deshalb auch mal die schweißtreibende Arbeit des<br />
Pedaletretens in Kauf.<br />
Wir ergänzen unseren Trinkwasservorrat. Vor dem<br />
Winzladen <strong>ein</strong> paar lottrige Fahrräder <strong>und</strong><br />
daneben bullig, aber geduldig, <strong>ein</strong> am Nasenring<br />
angeb<strong>und</strong>ener, weißer Zebustier, vor <strong>ein</strong>en<br />
<strong>ein</strong>fachen Wagen gespannt – <strong>ein</strong>e der ländlichen<br />
Varianten lokaler Verkehrsmittel. Geduldig wartet<br />
er, lässt die tief angesetzten Ohren hitzeresistente<br />
Fliegen <strong>und</strong> Mücken weg scheuchen.<br />
Be<strong>ein</strong>druckender wohl nur die Wasserbüffel,<br />
dunkelbraun, fast schwarz, mit imponierenden<br />
Hörnern, denen man auf der Insel Marajó vor<br />
Belém begegnen kann. Hin <strong>und</strong> wieder reitet in<br />
kurzem Galopp <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Junge, <strong>ein</strong> Mann,<br />
meist ohne Sattel, auf <strong>ein</strong>em dieser Riesentiere<br />
vorbei. Auch Touristen können sie reiten,<br />
allerdings nur so zum Spaß.<br />
Wieder unterwegs stechen mir die vielen<br />
Sägereien links <strong>und</strong> rechts ins Auge. Noch mehr<br />
Sägereien, <strong>ein</strong>e nach der anderen. Ach, dahin<br />
fahren die riesigen Holztransporter! Ihre<br />
Ladeflächen sind voll gerammelt mit<br />
Riesenstämmen. Es ist kürzlich geschlagenes<br />
Tropenholz. Aber was ist das denn? Brüsk bremst<br />
der Fahrer herunter. Eine ganze Kuhherde<br />
kommt uns entgegen. Magere Muttertiere,<br />
Kälber, halbwüchsige Rinder. Werden wohl über<br />
die Hauptstraße zu <strong>ein</strong>er neuen Weide getrieben.<br />
Schsch, schsch, treibt sie <strong>ein</strong> Mann zu Fuß an. Die<br />
Flanken versuchen zwei Reiter zu sichern. Der<br />
<strong>ein</strong>e reitet <strong>ein</strong>es der typischen, kl<strong>ein</strong>wüchsigen,<br />
wendigen „Mangalarga“ Pferde, <strong>ein</strong>e brasilianische<br />
Rasse, die in <strong>ein</strong>er Art zockelndem<br />
Passgang, dem Walking Trott gehen. Der andere<br />
<strong>ein</strong>en schönen Rappen mit schlohfarbener<br />
Mähne. Die Hinterhand kontrolliert <strong>ein</strong> Junge auf<br />
dem Fahrrad, den Hütestock quer über den<br />
Lenker gelegt, die Baseballkappe schief auf dem<br />
Kopf.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 476
Neben dem Ochsenkarren ist auch das Reitpferd<br />
unverzichtbares Verkehrs- <strong>und</strong> Arbeitsmittel im<br />
ländlichen Brasilien. Ein richtiger „Vaqueiro“, <strong>ein</strong><br />
brasilianischer Cowboy lässt nichts über s<strong>ein</strong>e<br />
Tiere kommen <strong>und</strong> auch hier in Nordbrasilien sind<br />
Rodeos viel mehr als <strong>ein</strong>e Art Nationalsport. Die<br />
mehrtägigen Feste mit viel Musik ziehen <strong>ein</strong><br />
großes Publikum an <strong>und</strong> wer <strong>ein</strong> gut trainiertes<br />
Pferd im Stall hat oder Standfestigkeit im Sattel,<br />
kann sehr viel Geld gewinnen.<br />
spricht,<br />
Aber, entschuldigen Sie, schon gibt der Land<br />
Rover wieder Gas, überholt zwei Motorräder <strong>und</strong><br />
dann <strong>ein</strong>en Ochsenwagen. Konzentriere mich<br />
lieber wieder auf die Straße oder das, was sie hier<br />
so nennen. Ob der Schrecken wohl nachlässt,<br />
wenn man ihm direkt, entschlossen <strong>und</strong> zu allem<br />
bereit in die Augen schaut?<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 477
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 478
Will da <strong>ein</strong>er was kaufen?<br />
Alles beginnt mit <strong>ein</strong>em Entenbraten. Ein<br />
Spezialrezept! Unter den raffinierten Zutaten so<br />
ausgefallenes wie „Cupuaçu“, <strong>ein</strong>e Frucht aus der<br />
Familie des Kakaos, die es fast nur im Amazonas<br />
gibt. Sie ist aber hier im Norden, k<strong>ein</strong>e Aufregung,<br />
lächerlich <strong>ein</strong>fach zu bekommen. Wer will, kauft<br />
die ovale hölzerne Frucht mit der pfirsichsamtenen<br />
Haut <strong>und</strong> dem unverwechselbaren<br />
Parfüm auf jedem Markt, ganz oder von<br />
geduldigen Händen von den fest haftenden<br />
Kernen runter geschnitten, als blütenweißes<br />
Fruchtfleisch in kl<strong>ein</strong>e, schwül duftende<br />
Plastiksäckchen abgepackt. Jeder fliegende<br />
Händler, der von der Laderampe s<strong>ein</strong>es<br />
Kl<strong>ein</strong>lasters herunter verkauft, hat ihn. Die Ente<br />
hingegen ist schon etwas kniffliger. Tiefgefroren<br />
aus dem Supermarkt? Nur über die Leiche des<br />
Kochs!<br />
Auf dem Markt verkauft <strong>ein</strong>e Frau Eier, Hühner,<br />
lebende oder schon geschlachtete, mit oder ohne<br />
Federn, auch ausgeb<strong>ein</strong>t, wie immer es die werte<br />
K<strong>und</strong>schaft wünscht. Enten? Ja, das kann sie<br />
organisieren. Man muss den Braten <strong>ein</strong> oder zwei<br />
Tage im Voraus bestellen. K<strong>ein</strong> Problem, wird<br />
fristgerecht erledigt. Die Ente, ja, so zwischen 3<br />
<strong>und</strong> 3,5 Kilos, werde ins Haus geliefert, Samstag,<br />
k<strong>ein</strong> Problem, so gegen fünf. Was es koste?<br />
R$ 35,00. W<strong>und</strong>erbar. Ausgemacht.<br />
plötzlich erinnert sich der Koch an die Ente. Die<br />
lässt auf sich warten! Visitenkärtchen<br />
hervorgekramt, <strong>ein</strong> längerer Telefonanruf, <strong>und</strong><br />
endlich die gute Nachricht: der Entenbraten ist da,<br />
geschlachtet, ausgenommen <strong>und</strong> gerupft. Frisch,<br />
sozusagen <strong>ein</strong>e Freilaufente, schön athletisch, alles<br />
wie bestellt. Nur dass das – w<strong>und</strong>erbar! – gleich<br />
s<strong>ein</strong>en ersten Kratzer abbekommt. Leider, es tue<br />
ihr wirklich Leid, aber es sei nicht mehr möglich,<br />
die fortgeschrittene Uhrzeit, Sie müssen das<br />
verstehen, die Ente noch heute ins Haus zu liefern.<br />
Abholen? Ja, abholen könne man sie, hier sei die<br />
Adresse.<br />
Als das Entenrettungskommando endlich wieder<br />
zu Hause ankommt, ist der Braten <strong>ein</strong> Kilo leichter,<br />
sozusagen als Ausgleich, auch zehn Reais teurer als<br />
ausgemacht. Der Gastgeber, Experte, zieht<br />
folgenden Schluss, der von langer Erfahrung nur so<br />
strotzt: - Will da <strong>ein</strong>er was kaufen? Selber schuld!<br />
Denn eigentlich wollen die gar nichts verkaufen....<br />
Wie wahr! Wir haben die selbe „Geschäftsphilosophie“<br />
auch schon an anderen Orten zu<br />
spüren bekommen. Mussten uns sozusagen<br />
entschuldigen, dass wir etwas kaufen wollten.<br />
Was soll´s, das Entenrezept jedenfalls war <strong>ein</strong><br />
voller Erfolg, der Abend gerettet.<br />
Es ist Samstagnachmittag, schon gegen sechs, <strong>und</strong><br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 480
N.t. <strong>und</strong> i9<br />
Wir konstruieren gerade <strong>ein</strong> Haus. Hier in<br />
Santarém, am Ende der amazonischen Welt.<br />
Nicht, dass es mich stören würde, am Ende der<br />
Welt zu wohnen. Unser Alltag ist normal. Nur<br />
beim Bauen sind <strong>ein</strong>ige Besonderheiten zu<br />
betrachten. Man muss mit kl<strong>ein</strong>en<br />
Einschränkungen leben <strong>und</strong> ziemlich<br />
kompromissbereit s<strong>ein</strong>.<br />
Nicht nur die Auswahl an Kacheln, Bodenbelägen,<br />
Wasserhähnen <strong>und</strong> allen anderen dekorativeren<br />
Elementen ist etwas <strong>ein</strong>geschränkt. Auch an<br />
simplem Zement kann man sich mal die Zähne<br />
ausbeißen. Der fehlt nämlich gerade. Morgen soll<br />
<strong>ein</strong>e Ladung kommen, ja. Aber ganz offen gesagt,<br />
die wird dem Erstbesten verkauft, der bar bezahlt.<br />
Und ach ja, der auch gleich den Transport<br />
organisiert hat! Denn der zementgraue<br />
Lagerraum, ist sozusagen nur <strong>ein</strong>e<br />
Zwischenstation. Service exklusive sozusagen.<br />
Später kann man auch den Gr<strong>und</strong> für das fatale<br />
Fehlen des Zements erfahren. Es gibt in der<br />
ganzen Stadt k<strong>ein</strong>en Sack Zement mehr zu kaufen.<br />
Das Zementmonopol hat <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Firma.<br />
Deren Patriarch ist kürzlich ganz überraschend<br />
mitten aus dem Leben heraus gestorben. Und die<br />
Erben sind total überfordert. Waren schlicht nicht<br />
imstande, die Produktion ohne Unterbruch weiter<br />
zu führen. Irgendwann normalisiert sich die Sache<br />
wieder. Kurz darauf halbiert sich der<br />
Preis für <strong>ein</strong>en Sack Zement von gestern auf<br />
heute. Dumping. Ein neuer Anbieter hat die<br />
Marktlücke entdeckt. Der freie Markt beginnt zu<br />
funktionieren.<br />
Bin gerade in <strong>ein</strong>em der drei oder vier<br />
Geschäften, die Fußbodenkacheln verkauft. Aus<br />
Platzmangel sind sie auf dem Bürgersteig<br />
ausgestellt, wo sie sich an der Hauswand zu <strong>ein</strong>em<br />
wilden Mosaik zusammen finden, die Hauswand<br />
hoch. Habe endlich, es gibt zementgewordenes,<br />
künstlichem Gras, grau erstarrte Betonwellen <strong>und</strong><br />
gar kalten Kacheln, die warmes Holz imitieren,<br />
endlich <strong>ein</strong>e gef<strong>und</strong>en, die angenehm neutral ist.<br />
Die ist es! Die Quadratmeter hat mir der Maurer<br />
schon aufgeschrieben. Bitte den Verkäufer, die<br />
Bestellung aufzunehmen, alles auf dem<br />
Bürgersteig. Dieser aber verwandelt m<strong>ein</strong>e<br />
Erleichterung <strong>und</strong> m<strong>ein</strong>er Freude über den<br />
unerwarteten F<strong>und</strong> mit <strong>ein</strong>em Federstrich in<br />
<strong>ein</strong>en Alptraum. –”N.t.! Steht doch da groß <strong>und</strong><br />
handgeschrieben auf der ausgestellten<br />
Musterkachel!”- Die Buchstaben sind, ich gebe es<br />
zu, unübersehbar. ???N.t. ??? Hochnäsig, fast <strong>ein</strong><br />
wenig mitleidig lüftet er mir das Geheimnis des<br />
Geheimcodes: N.T. steht für “Não”, N<strong>ein</strong>, T. für<br />
“tem”, haben. Die Kacheln sind ausverkauft!!!!<br />
Bestellen? N.t.. Bestellen habe man nicht im<br />
Angebot. Erst in zwei oder drei Monaten komme<br />
<strong>ein</strong>e neue Ladung. Und man wisse nie so genau,<br />
was denn da komme .......<br />
Wie immer! Ich bin es, die etwas kaufen will! Der<br />
ach so liebenswürdige Verkäufer macht mir <strong>ein</strong>en<br />
riesigen Gefallen, mir überhaupt etwas verkaufen<br />
zu wollen! Ja, es war schon immer etwas<br />
komplizierter, <strong>ein</strong>en besonderen Geschmack zu<br />
haben.<br />
Bei der Konkurrenz gibt’s <strong>ein</strong>en neuen<br />
Geheimcode. Die Konkurrenz nennt sich “i9”! Es<br />
ist <strong>ein</strong>e Fre<strong>und</strong>in, sie sitzt im selben Boot, auch sie<br />
baut gerade, die mir auf die Sprünge hilft.<br />
“I+nove”, (Neun), ergibt das Wort “inove”,<br />
imperativ von innovieren, <strong>ein</strong>e Innovation<br />
machen. Ja, wenn <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong> Haus baut, innoviert<br />
er in den unterschiedlichsten Dingen.<br />
Eines jedenfalls wird mir immer klarer – perfekt,<br />
genauso wie ich es mir immer gewünscht habe,<br />
wird leider nur m<strong>ein</strong> nächstes Haus .... .<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 481
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 483
Chic caboclo<br />
Damit Sie auch etwas auf Ihre Kosten kommen,<br />
lade ich Sie zu <strong>ein</strong>em Stadtbummel <strong>ein</strong>, in <strong>ein</strong>es<br />
der populären Zentren natürlich. Hier finden Sie<br />
alles, was ich im Geheimen, verzeihen Sie mir die<br />
europäisch-überhebliche Arroganz, “Caboclo-<br />
Schick”, nenne. Der doch sehr zweifelhafte Schick<br />
des Nordens ist <strong>ein</strong>e überaus interessante<br />
Mischung aus ordinär <strong>und</strong> proper. Ein Geschmack,<br />
der sehr leicht in Kitsch abgleitet, besonders<br />
wenn er zu schreiend daherkommt, zu farbenprächtig,<br />
s<strong>ein</strong>e unverhüllte, unmittelbare<br />
Schwäche zum Billigen nie verleugnet. Aber meist<br />
balanciert er liebevoll genauf auf der Kante, ohne<br />
wirklich abzustürzen, rettet sich durch die<br />
Naivität, mit der er daher kommt, <strong>und</strong> die Freude<br />
<strong>und</strong> Natürlichkeit, mit der er getragen wird.<br />
Das typische an dieser Art Schick ist, neben der<br />
Lust auf schrille, farbige Farben, dass er k<strong>ein</strong>e<br />
Chance auslässt, hier noch etwas Glanz, da noch<br />
<strong>ein</strong> Spitzchen, <strong>ein</strong>en Strass, <strong>ein</strong>en überaus<br />
ausgefallenen Kragen, Dekolletés oder andere<br />
Aus- <strong>und</strong> Einschnitte, Einblick, Durchblick, <strong>ein</strong>e<br />
Aufschrift, <strong>ein</strong>e kindliche Zeichnung, <strong>ein</strong> Herz oder<br />
irgend<strong>ein</strong>e andere dekorative Kl<strong>ein</strong>igkeit<br />
anzubringen. Mehr sch<strong>ein</strong>t immer besser: noch<br />
enger, noch anliegender, noch zerschnittener,<br />
noch mehr Ausschnitt, am liebsten hinten <strong>und</strong><br />
vorne, noch mehr Transparenz, Spitze, Stickerei,<br />
Glanz. Die durch die Temperaturen auferlegten<br />
Einschränkungen sch<strong>ein</strong>en die lokalen Designer<br />
zur generellen Verblüffung geradezu zu beflügeln!<br />
Wie k<strong>ein</strong>e anderen pflegen sie das Ausgefallen-<br />
Andere, Extravaganzen, lieben neben schrägen<br />
Dekorationen, Drucke, Mix <strong>und</strong> Match, Stickerei<br />
<strong>und</strong> alle anderen denkbaren <strong>und</strong> <strong>und</strong>enkbaren<br />
Handarbeiten, kurz, alles, was herausputzt,<br />
verbessert <strong>und</strong> verschönt <strong>und</strong> natürlich immer die<br />
appetitlichen Körper <strong>und</strong> Kurven jener gut<br />
gepolsterten Mädchen, Frauen, Jungen <strong>und</strong><br />
Männer vorteilhaft zur Geltung bringt, nachzeichnet,<br />
betont, deren eher gedrungene Körperstatur<br />
<strong>ein</strong>e klare Tendenz zur üppigen Fülle zeigt.<br />
Alles wird mit so viel Frische, so r<strong>ein</strong> getragen,<br />
dass es <strong>ein</strong>em ins Herz schneidet, kindlich <strong>und</strong><br />
verspielt, Hauptsache es verschönt, macht auf sich<br />
aufmerksam, erheitert.<br />
Selbst wenn es gar k<strong>ein</strong>en „Jeitinho“, <strong>ein</strong> Kniffchen<br />
mehr gibt, den gerade herrschenden Modeschrei<br />
zu variieren, bleiben da immer noch die<br />
Accessoires. An k<strong>ein</strong>em anderen Ort sehe ich so<br />
viele goldene, lackierte, dekorierte Schuhe, mit<br />
transparentem oder nadelf<strong>ein</strong>em Stilettoabsatz,<br />
höher geht´s nicht, <strong>und</strong> hühneraugengarantierender,<br />
f<strong>ein</strong> zulaufender Spitze - wie wenn die<br />
Kleidung nicht schon auffällig genug wäre. Schreit:<br />
Hier bin ich! Seht her! Krasser nur die absolute<br />
Vorliebe für das unecht blondeste Blondhaar, die<br />
gar nicht diskret gebleichten Lichter <strong>und</strong><br />
Strähnchen, der Welt. Wen interessiert denn<br />
schon, dass es fake ist? Es macht doch Spaß!!!<br />
Schick-Caboclo ist r<strong>ein</strong>, ehrlich <strong>und</strong> konsequent –<br />
Alltags- <strong>und</strong> Straßenmode im besten, populärvulgärsten<br />
Sinn. Mode, die von der Straße<br />
kommt <strong>und</strong> für die Straße gemacht ist, denn sie<br />
setzt das Vulgär-S<strong>ein</strong> mit so viel Lust <strong>und</strong><br />
Augenzwinkern in Szene, missbraucht des<br />
Glanzes mit soviel Naivität, kleckert mit allen<br />
Regenbogenfarben, erfindet solch herzerfrischende,<br />
ausgefallene <strong>und</strong> überraschende<br />
Kombinationen, dass auch der schlechteste<br />
Geschmack liebenswert wird, zum Spiel, r<strong>ein</strong>es<br />
Vergnügen, fast kindlich. Manchmal sch<strong>ein</strong>t mir,<br />
bitte verzeihen Sie mir zum zweiten Mal, als ob<br />
der Karneval hier im Norden, oder besser die<br />
zwei „Bois“, (legendäre Figuren der Folklore,<br />
Ochsen Caprichoso oder Garantido, die bei<br />
<strong>ein</strong>em farbenprächtigen Volksfest in Parintins<br />
gegen<strong>ein</strong>ander kämpfen), immer präsent sind,<br />
jeden Tag <strong>ein</strong> wenig. Und schon erwische ich<br />
mich dabei, wie ich angesteckt werde, <strong>ein</strong><br />
Schleifchen hier, <strong>ein</strong>en Strass da, aber unglücklicherweise<br />
reicht auch das nicht, um m<strong>ein</strong>e<br />
„Gringuez“, m<strong>ein</strong> Ausländers<strong>ein</strong> zu vertuschen,<br />
was es aber nicht weniger vergnüglich macht.<br />
Die Schaufenster, <strong>ein</strong>e Welt für sich, halten mit.<br />
Am tollsten finde ich die, die nicht mal Scheiben<br />
haben. Dreißig, vierzig identisch kopflose<br />
Puppen, Hals, Brust, Hüften <strong>und</strong> mehrheitlich<br />
nackte B<strong>ein</strong>e, <strong>ein</strong> stummes, erstarrtes Ballett,<br />
sind <strong>ein</strong>fach außerhalb des Geschäftes hoch<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 484
unter das Vordach gehängt. Weiter oben <strong>ein</strong>e<br />
weitere identische Reihe, <strong>und</strong> gleich darüber<br />
Torsos, die irgendwo vor der Schamgrenze enden,<br />
bunt, <strong>ein</strong> ausgefallenes, eigenwilliges Ornament,<br />
das sich grellfarbig von der starkgelben, lang<br />
gezogenen Mauer abhebt. Freiluftschaufenster,<br />
die wohl Dreiviertel oder mehr dessen anbieten,<br />
was das Geschäft gerade zu verkaufen hat.<br />
Aber warten Sie nur! Der allerletzte Schrei,<br />
perfekt für Fashion Victims, sind – auch wenn Sie<br />
es mir nicht glauben, kniehohe, winterliche,<br />
weiche Schaftstiefel, hoch bis zum Knie <strong>und</strong> lose<br />
geknautscht, mit dicken Plateausohlen!!!! –<br />
„Verkaufen sich gut, ja“ – bestätigt mir der<br />
aufmerksame Verkäufer. Wie wär´s denn???? –<br />
Hier haben alle Shoppings Klimaanlage.... Sie<br />
werden übrigens gleich Seite an Seite mit den<br />
Havaianas, den Flip-Flops angeboten .... .<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 485
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 486
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 489
Ekel, ganz privat<br />
Haben Sie den Witz vom Portugiesen, der fast zur<br />
Ente geworden wäre, schon gehört? Wie es<br />
soweit kam? Der badete doch, welches<br />
Missgeschick, in <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Jahr gleich<br />
zweimal: Das <strong>ein</strong>e Mal fiel er, k<strong>ein</strong>er wusste<br />
genau, wie das Unglück geschah, von der Brücke,<br />
direkt in den Sturzbach. Das zweite Mal wurde<br />
der gänzlich Unvorbereitete von <strong>ein</strong>em<br />
gewaltigen Tropenunwetter überrascht, das ihn<br />
bis auf die Haut durchnässte.<br />
Uralt <strong>und</strong> immer wieder gern erzählt, hat hier im<br />
Amazonas doch jeder schon mal von jenen eklig<br />
ungewaschenen Barbaren gehört, die, je nach<br />
Interpretation, bis heute lieber Parfüm benutzen<br />
als gutes, <strong>ein</strong>faches Wasser. Auch wenn der<br />
<strong>ein</strong>fache Mann, der uns, beileibe nicht persönlich<br />
nehmen, den Witz erzählt, selber wohl noch nie<br />
<strong>ein</strong>en nicht gerade gut riechenden Portugiesen zu<br />
Gesicht bekam, auch er nimmt, wie alle hier,<br />
Indioerbe, wie sie stolz bemerken, drei bis viermal<br />
am Tag heilig s<strong>ein</strong> Bad. Und baden oder besser<br />
duschen ist hier beileibe nicht gleich duschen. Da<br />
gibt es das „Banho de Português“, sozusagen fast<br />
wasserlos. Duscht man aus Zeitgründen nur sehr<br />
kurz, zum Beispiel, weil das Essen schon auf dem<br />
Tisch steht, wirft man sich etwas Wasser über -<br />
„Jogar uma água“, denn <strong>ein</strong> wirkliches, köstliches<br />
Bad kann sehr gut <strong>ein</strong>e Viertelst<strong>und</strong>e oder mehr<br />
dauern <strong>und</strong> verbraucht natürlich entsprechend<br />
viel Wasser. Kl<strong>ein</strong>es Detail: Privathaushalte<br />
verfügen in Brasiliens Norden normalerweise nur<br />
über fließend kaltes Wasser – es ist ja sonst schon<br />
heiß genug.<br />
Aber bringen wir es auf den Punkt: Duschen oder<br />
Baden ist für Europäer wohl eher <strong>ein</strong>e<br />
Notwendigkeit, <strong>ein</strong> Müssen, ganz anders für die<br />
Einheimischen. Es ist <strong>ein</strong> lebensnotwendiges<br />
Vergnügen, <strong>ein</strong> Recht, von dem sie oft mehrmals<br />
am Tag <strong>und</strong> sicher immer nach dem Aufstehen<br />
<strong>und</strong> vor dem Einschlafen Gebrauch machen;<br />
belebend, erfrischend, erneuernd oder interessanterweise<br />
beruhigend.<br />
Womit <strong>ein</strong>mal mehr bewiesen ist, wie kulturell<br />
Tabus, Hygienevorschriften, Ekel <strong>und</strong> Widerwillen<br />
sind. Religion <strong>und</strong> lokale Überlieferungen, von den<br />
Indigenen übernommen, vermischen sich hier im<br />
hohen Norden zu <strong>ein</strong>em hochinteressanten<br />
Cocktail, der von allen Gesellschaftsschichten<br />
respektiert wird. Besonders r<strong>und</strong> ums Essen gibt<br />
es <strong>ein</strong>e Reihe von Tabus. Hat man Fieber, soll man<br />
k<strong>ein</strong>e Mangos essen, schon gar k<strong>ein</strong>e Grünen.<br />
Jeder weiß von <strong>ein</strong>em Verwandten, der danach<br />
sogleich ins Krankenhaus <strong>ein</strong>geliefert wurde.<br />
Aber zurück zur Hygiene. Der selbe Mann, der den<br />
Witz mit dem Portugiesen erzählt, produziert in<br />
s<strong>ein</strong>em Hinterhof Farinha. Dabei hat er, wie es <strong>ein</strong>,<br />
ziemlich pingeliger K<strong>und</strong>e ironisch umschreibt,<br />
drei Gehilfen: <strong>ein</strong> frei herumlaufendes schwarzes<br />
Schw<strong>ein</strong>, das s<strong>ein</strong>e abgeflachte Nase selbstbewusst<br />
in alles steckt, <strong>ein</strong> kauziges Äffchen,<br />
dessen Schnur es ihm nicht erlaubt, viel weiter<br />
als auf das Dach des Farinhahauses zu klettern,<br />
wo es den Papagei trifft, der mit s<strong>ein</strong>en heiseren<br />
Schreien alle anfeuert. Dabei hat er die frei<br />
herumlaufenden Hühner <strong>und</strong> Enten gar nicht<br />
mitgezählt <strong>und</strong> auch nicht die verschiedenen<br />
räudigen Straßenköter, die es sich gerne unter<br />
den riesigen Wannen bequem machen.<br />
Gewöhnungsbedürftig ist auch der leere<br />
Schildkrötenpanzer, Schildkröten sind hoch<br />
geschützt, der Panzer hier dient als <strong>ein</strong>e Art<br />
Schaufel. Auch das Abwasser, das kloakig im<br />
Gr<strong>und</strong> versickert ist nicht gerade<br />
umweltfre<strong>und</strong>lich, genauso wie das, <strong>ein</strong>fach<br />
über´s Gitter geworfene, unansehnlich bleiche<br />
Stück Talg, mit dem die riesigen Wannen<br />
<strong>ein</strong>gerieben werden. Was für <strong>ein</strong> Trost, dass<br />
Farinha hoch erhitzt wird, was wohl alle Keime<br />
tötet. Sicher sind so gut wie alle auf dem Markt<br />
erhältlichen Farinhas irgendwie be<strong>ein</strong>trächtigt.<br />
Denn bis heute gibt es für solche handwerklich<br />
hergestellten Lebensmittel k<strong>ein</strong>e vorgeschriebene<br />
Standards. Die Ges<strong>und</strong>heitsinspektion<br />
generell ist recht prekär.<br />
Aber zurück zum Talg. Erst vor kurzem lernte ich,<br />
was „Sebo“, Talg, eigentlich ist. Kaufte, neugierig<br />
wie ich nun mal bin, <strong>ein</strong> Stück <strong>ein</strong>gesalzenes<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 490
Fleisch, ziemlich durchzogen, was mich aber nicht<br />
weiter störte. Weichte das Fleisch <strong>ein</strong>e Nacht <strong>ein</strong>,<br />
überbrühte es mit heißem Wasser <strong>und</strong> schnitt die<br />
Hälfte kl<strong>ein</strong>. Gut frittiert, mit viel Zwiebeln<br />
angerichtet, hatte das verdammte Fleisch auf<br />
m<strong>ein</strong>em Teller aber <strong>ein</strong>en deutlich seifigen<br />
Geschmack! Die Hausangestellte löste das Rätsel<br />
sofort. Denn das, was das Fleisch weißlich<br />
durchzog, ich hielt es für saftiges Fett, war<br />
„Sebo“, Talg. Internet sei Dank lerne ich dann,<br />
dass Talg bis heute für die Herstellung von Seife<br />
<strong>und</strong> Kosmetika verwendet wird. Talg wird deshalb<br />
vor dem Zubereiten sorgfältig weggeschnitten.<br />
Was in der Zivilisation natürlich der Metzger<br />
macht….. . Die Probe auf Exempel lieferte mir<br />
dann das restliche Stück Fleisch, das,<br />
entsprechend in st<strong>und</strong>enlangem Rumschneiden<br />
von allem Talg befreit , zu <strong>ein</strong>em riesen Erfolg<br />
wurde. Der sonst eher zimperliche Handwerker,<br />
der was-der Bauer-nicht-kennt-frisst-er-nicht-<br />
Maurer, hier essen sie am Tisch mit, kratzte auch<br />
das letzte Stückchen Fleisch mit viel Farinha aus<br />
der Bratpfanne.<br />
Ja, mit dem Fleisch ist es hier etwas kompliziert.<br />
Es gibt den Metzger <strong>und</strong> dann aber auch kl<strong>ein</strong>e<br />
Baracken, die nur „Viceras“, Eingeweide<br />
verkaufen. Da hängen malerisch assortiert die<br />
Rinderb<strong>ein</strong>e für die Rindermarksuppe neben den<br />
Kutteln, natürlich noch am Stück <strong>und</strong> auch das<br />
bloß geschabte Gerippe findet Abnehmer. Lerne,<br />
dass solche Knochen, <strong>ein</strong>e Nacht <strong>ein</strong>gesalzen,<br />
nicht nur <strong>ein</strong>e leckere Brühe geben, sondern auch<br />
die tagtäglichen Bohnen geschmacklich ungem<strong>ein</strong><br />
bereichern. Ein Tier vom Scheitel bis zum Schwanz<br />
zu verwerten, ist hier also noch wirkliche<br />
Wirklichkeit. Am Wochenende darf‘s auch mal<br />
Schw<strong>ein</strong> s<strong>ein</strong>. Das arme hängt, ganz ohne Kühlung,<br />
an der freien Luft zum Verkauf. Es hat, solange es<br />
hat. In die selbe Kollektion gehört auch das das<br />
tiefgefrorene Hähnchen, das im Küchenbecken bei<br />
schon frühmorgendlichen 30 Grad auftaut. K<strong>ein</strong><br />
Problem! Aller Ekel wird damit wettgemacht, dass<br />
man es so gut durchbrät, dass es stocktrocken auf<br />
den Tisch kommt. Zudem werden Hähnchen, Fisch<br />
<strong>und</strong> alle Meerestiere, auch alles Eingesalzene vor<br />
dem Zubereiten mit sehr viel Zitronensaft <strong>und</strong><br />
Wasser gewaschen. Oder noch radikaler, das wirkt<br />
auch gegen zu viel Salz, mit kochend heißem<br />
Wasser übergossen. Es gibt hier gar <strong>ein</strong>e spezielle<br />
Zitrone, - ergibt, zusammen mit der Schale<br />
gemixt, <strong>ein</strong>en w<strong>und</strong>erbares Erfrischungsgetränk! –<br />
die nur dazu dient, um Fisch <strong>und</strong> Fleisch zu<br />
waschen.<br />
Denn neben dem Waschen wird hier alles vorher<br />
angerochen. Fischgeruch hat <strong>ein</strong>en eigenen,<br />
lokalen Namen: „Pitiú“ . „Pitiú“ ist <strong>ein</strong><br />
uramazonisches, unübersetzbares indigenes Wort.<br />
Umschreibt den Geruch <strong>ein</strong>es Fisches, der aber<br />
nicht unbedingt „fischig“ riecht, Pardon, stinkt.<br />
Auch Eigelbe werden gr<strong>und</strong>sätzlich vom f<strong>ein</strong>en<br />
Häutchen befreit. Denn auch das hat „Pitiu“.<br />
Auch Essen, Haare, Kleider, Häuser, Straßen, alles<br />
wird berochen - über Nasen, respektive Gerüche<br />
oder ekelerregende Gestänke diskutiert man<br />
wohl besser nicht. Aber Wasser, sehr viel Wasser<br />
<strong>und</strong> noch mehr Wasser wäscht alles, angenehme<br />
<strong>und</strong> unangenehme Gerüche <strong>ein</strong>fach weg.<br />
Man wäscht <strong>und</strong> hygienisiert hier alles. Früchte,<br />
Gemüse, <strong>ein</strong>fach alles was vom Markt, von der<br />
Straße kommt, wird in mehreren Etappen<br />
keimfrei gemacht. – Ist doch schon durch so<br />
viele, nicht immer saubere Hände gegangen!<br />
Gemüse <strong>und</strong> Früchte, auch die, die man vor dem<br />
Genuss schält oder kocht, obligatorischerweise<br />
<strong>ein</strong>e aufwendige Prozedur. Sie werden zuerst gut<br />
<strong>und</strong> kräftig mit viel Seifenwasser abgerieben,<br />
treiben dann für längere Zeit in <strong>ein</strong>er mit<br />
Hardcore Chemie sterilisierten Wasserbad. Nicht<br />
von ungefähr sind hier Hydroponieprodukte sehr<br />
beliebt - die haben ja k<strong>ein</strong>en Kontakt mit der<br />
ach so ekligen Erde!<br />
Dass die sie selben Personen aber problemlos<br />
jeden Tag Margarine statt Butter essen, viel<br />
billiger <strong>und</strong> k<strong>ein</strong> Cholesterin <strong>und</strong> nur Milch aus<br />
Milchpulver, möglichst mit Vitaminzusätzen <strong>und</strong><br />
so trinken, zum Mittagessen fettigst<br />
Ausgebackenes, aber natürlich nur weißes<br />
Fleisch! Rotes ist ja so schrecklich <strong>und</strong> besonders<br />
bei Hackfleisch muss das so eklige Blut unbedingt<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 491
vor dem Braten weg gewaschen werden! stört<br />
k<strong>ein</strong>en. Ekel ist auch der Gr<strong>und</strong>, weshalb k<strong>ein</strong><br />
brasilianischer Sandwich- oder Hotdogverkäufer<br />
s<strong>ein</strong> Produkt ohne Wegwerfplastikhandschuh<br />
<strong>ein</strong>füllt, jedes Brötchen mit <strong>ein</strong>er Zange angefasst<br />
wird, <strong>und</strong> manche Restaurants die Verschlüsse<br />
der Flaschen mit <strong>ein</strong>em Papiertaschentuch<br />
umwickeln. Auch für manche Bierdosen gibt es<br />
hier <strong>ein</strong>en zusätzlichen Aludeckel. Mit bloßer<br />
Hand berührt <strong>ein</strong> Verkäufer nur so etwas eklig<br />
schmutziges wie m<strong>ein</strong> Wechselgeld.<br />
Neben dem sozusagen allgem<strong>ein</strong> etablierte Ekel<br />
vor allen Tieren gehören auch andere weniger<br />
nachvollziehbare Hygienevorschriften ins Kapitel<br />
Sauberkeit. Wie unvorstellbar eklig, sich am<br />
Küchenwaschbecken die Zähne zu putzen! Einfach<br />
unvorstellbar, im Bad Früchte oder Gemüse zu<br />
waschen! - N<strong>ein</strong>! Halt! Was fällt dir <strong>ein</strong>! Hier,<br />
nimm dieses Becken! - Füße oder gar intimere<br />
Körperstellen kann man sich unmöglich im selben<br />
Plastikbecken waschen, in dem normalerweise die<br />
Wäsche <strong>ein</strong>geweicht wird(!).<br />
Allen ist klar, dass man Slips <strong>und</strong> andere<br />
Intimwäsche streng getrennt von der restlichen<br />
<strong>ein</strong>weicht, sie zwar in der selben Waschmaschine,<br />
aber in streng getrennten Waschgängen wäscht.<br />
Perfekte Hausfrauen haben, auch wenn sie streng<br />
katholisch sind, viele Gerätschaften doppelt,<br />
<strong>ein</strong>mal für Süßspeisen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal für Salziges,<br />
<strong>ein</strong>mal für Früchte <strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal für Knoblauch <strong>und</strong><br />
Zwiebeln. Wo darf ich denn nun das Gemüse<br />
schneiden? Das Besteck liegt, in der Schublade<br />
drin, in <strong>ein</strong>er fest schließenden Schachtel, deren<br />
Deckel jedes mal abgedeckt werden muss - es<br />
könnte ja, zu nachtschlafener Zeit <strong>ein</strong>er überaus<br />
ekligen Kakerlake <strong>ein</strong>fallen, unbemerkt über<br />
die so sorgfältig gewaschenen Messer <strong>und</strong> Gabeln<br />
schlafzuwandeln.<br />
Aus dem selben Gr<strong>und</strong> kann man hier auch in der<br />
Dusche den Ablauf verschließen, etwas, was ich<br />
erst lerne, nachdem ich die ganze Dusche<br />
knöcheltief unter Wasser gestellt habe. –<br />
Verständlich. Denn, nur wenn man es mit eigenen<br />
Augen gesehen hat, mit welch außergewöhnlicher<br />
Geschicklichkeit <strong>und</strong> unvorstellbarer Schnelligkeit<br />
es so <strong>ein</strong>em geflügelten Ekel gelingt, sich dem<br />
tödlichen Schlag des Schuhs ausgerechnet durch<br />
das winzige Loch des Ablaufes, sicher fünfmal<br />
kl<strong>ein</strong>er als das Insekt, zu entziehen. Dank s<strong>ein</strong>em<br />
versteckt unterirdischen Leben hat sich s<strong>ein</strong><br />
Körper so weit entwickelt, dass er sich so fix <strong>und</strong><br />
so überaus geschickt zusammenzuquetschen kann,<br />
was es ihm erlaubt, zu verschwinden, bevor man<br />
auch nur Zeit hatte, Verblüffung zu zeigen. -<br />
Kakerlaken sollen, sagen sie, als Einzige <strong>ein</strong>en<br />
Atomkrieg überleben... . Dagegen nimmt sich der<br />
kl<strong>ein</strong>e Frosch, ich finde ihn gar nicht eklig, er hat<br />
sich anstelle <strong>ein</strong>er wassergefüllten Bromelie das<br />
stehende Wasser der Toilette zum Pool<br />
ausgesucht, wo er standhaft auch den<br />
energischsten Spülversuchen stoisch Widerstand<br />
leistet, dagegen geradezu sympathisch aus.<br />
Apropos Bad: Brasilianische Badezimmer werden<br />
regelmäßig mit regelrechten, effektvollen<br />
Wasserschlachten geputzt oder besser<br />
überflutet. Wupps, noch <strong>ein</strong> Kessel voller<br />
Seifenwasser spritzt alle Wände hoch. Und gleich<br />
noch <strong>ein</strong>er, wie das effektvolle Platschen verrät.<br />
Was mit dem Wasser passiert? Alle<br />
brasilianischen Badezimmer haben genau in der<br />
Mitte <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>gebauten Ablauf. So manche<br />
Brasilianerin soll im Ausland verzweifelt die<br />
Schwiegermutter angerufen haben, um zu<br />
lernen, wie man hier denn nun <strong>ein</strong> Bad ohne<br />
Ablauf sauber kriegen solle. Hier entkommt auch<br />
k<strong>ein</strong> Küchenboden dem allgegenwärtigen<br />
Wasserschlauch. Wird zentimeterhoch geflutet,<br />
so effizient, dass Kochherde <strong>und</strong> Kühlschränke<br />
mit den Jahren still vor sich hin rosten.<br />
Erstaunt es Sie da, dass die Einheimischen vor<br />
lauter Ekel <strong>ein</strong>en sozusagen verbrannten oder<br />
betonierten Ring um ihre Häuser legen? Schatten<br />
bringende Pflanzen, von denen eklige Tierchen<br />
fallen könnten, nur in gebührendem Abstand<br />
dulden? Alles, was eklig kreucht <strong>und</strong> fleucht<br />
töten, ausrotten, vergiften? Die reichste<br />
Biodiversität der Welt ist wohl auch die am<br />
meisten gefürchtete <strong>und</strong> gehassteste. Hier im<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 492
Norden ist die urbanisierte, betonierte,<br />
plastifizierte Welt der Städte ohne fliegende,<br />
kriechende, wuselnde Ekel die Erfüllung des<br />
Konsumtraums. Symbolisiert Fortschritt,<br />
Wohlergehen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit.<br />
Am interessantesten aber ist, wie überaus relativ<br />
<strong>und</strong> selektiv Ekel s<strong>ein</strong> kann. So wird im Haus drin<br />
<strong>und</strong> gleich darum herum, exakt bis zum<br />
Gitterzaun, nicht das kl<strong>ein</strong>ste Schmützchen<br />
geduldet. Aller ist immer unfehlbar sauber, von<br />
den gefliesten Böden könnte man essen. Eine<br />
winzige Maus sorgt tagelang für Gesprächsstoff.<br />
Überschreitet man dann allerdings die Schwelle,<br />
schließt man die Haustür oder besser das Gitter<br />
hinter sich, türmen sich gleich da, vor dem Haus,<br />
seit <strong>ein</strong>er Woche schon, auf dem Bürgersteig die<br />
Abfallsäcke, ironischerweise in demselben Haus<br />
erzeugt. Die Müllmänner streiken mal wieder?<br />
N<strong>ein</strong>, sie arbeiten, aber sie nehmen nur jenen<br />
„Müll“ mit, der irgendwie in irgendwelche Tüten,<br />
normalerweise Supermarkttüten, abgefüllt ist.<br />
Wie gut, dass wenigstens die allgegenwärtigen,<br />
aber ja so ekligen Aasgeier ihre Arbeit nie<br />
<strong>ein</strong>stellen. Nur sollten sie sich besser mit den<br />
Müllmännern absprechen…<br />
Und der Hügel Bauschutt da drüben? Bietet<br />
mehreren Generationen der selben Rattenfamilie<br />
<strong>ein</strong>en geradezu idealen Unterschlupf. Sch<strong>ein</strong>t<br />
schon seit Monaten s<strong>ein</strong>em unbestimmten<br />
Schicksal zu harren!<br />
Die Erklärung ist <strong>ein</strong>fach. W<strong>und</strong>ersamerweise<br />
verwandelt sich Müll beim Überschreiten der<br />
Schwelle sozusagen in Gem<strong>ein</strong>gut. Einmal<br />
hinausgestellt ist er nicht mehr „m<strong>ein</strong>“ Müll,<br />
„m<strong>ein</strong>“ Problem. Jenseits des Gitters ist die Stadt,<br />
der Bürgermeister, der Gouverneur, was weiß ich<br />
wer, zuständig!<br />
Das gilt auch für die wortwörtlich zum Himmel<br />
stinkenden, ölig-pech-kloakigen Abwasserkanäle.<br />
Klar, auch sie sind schlecht riechendes Gem<strong>ein</strong>gut.<br />
Befinden sich, kurz vor dem Überlaufen, schwarz,<br />
stehend <strong>und</strong> vor sich hin faulend, zwei Straßen<br />
unterhalb der besten Wohngegend. Gewöhnungsbedürftig,<br />
überaus gewöhnungsbedürftig. Wie die<br />
unbebauten Gr<strong>und</strong>stücke, die als Abfallhalden von<br />
gut genährten Aasgeiern frequentiert werden. Die<br />
selben, die sich kurz zuvor der offen zurückgelassenen<br />
Reste des Quartiermarktes<br />
angenommen haben. Sch<strong>ein</strong>bar werden sie nie<br />
satt. – Schon daran gedacht, was passierte, wenn<br />
sie es nicht machen würden?<br />
Ja, Ekel ist wirklich kulturell.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 493
Von der Neuen Welt,<br />
dem Ende der Welt<br />
<strong>und</strong> anderen Welten<br />
Diese <strong>und</strong> nächste <strong>Foto</strong>s<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 494
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 495
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 496
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 497
So was gibt´s hier nicht, m<strong>ein</strong> Sohn!<br />
Der Matriarchin der Familie, Gott sei ihrer Seele<br />
gnädig, lag der Spruch, wahlweise als<br />
willkommene Erklärung, wohlfeile Entschuldigung<br />
oder ganz <strong>ein</strong>fach als Ausrede, sozusagen auf der<br />
Zungenspitze: - „M<strong>ein</strong> Sohn, so was gibt´s hier<br />
doch nicht!“ – Ewig <strong>ein</strong>tönige Leier,<br />
praktischerweise immer dann herangezogen,<br />
wenn sie sich <strong>ein</strong> neues Pülverchen, dunkleres<br />
Brot, jene tolle Salbe oder <strong>ein</strong>en Tee zur besseren<br />
Verdauung besorgen sollte. Es waren hilflose<br />
Anstrengungen, um ihre ständigen Ges<strong>und</strong>heitsprobleme,<br />
<strong>ein</strong>ige fanden, sie seien eher<br />
hypochondrischer Natur, zu kurieren oder<br />
wenigstens zu lindern.<br />
<strong>Amazonien</strong> liegt nun mal am Ende der Welt!<br />
Deshalb wusste sie, ohne auch nur nachzufragen,<br />
<strong>ein</strong>fach aus purer Erfahrung, dass alle<br />
Neuigkeiten, Moden, Erneuerungen nur sehr<br />
zögerlich, wenn überhaupt, bis hier in den ach so<br />
abgelegenen Norden Brasiliens gelängen. Nicht<br />
von Ungefähr heißt der zwar etwas chaotische,<br />
aber überaus gut dotierte Laden an den Kais in<br />
Santarém, Ironie hin oder her, ganz schlicht <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>fach „Fim do M<strong>und</strong>o“ - „Ende der Welt“! Fragt<br />
man den Besitzer nach der Wahl, weicht er aus.<br />
Die Geschichte sei zu komplex <strong>und</strong> zu lange, um<br />
wiedergegeben zu werden.<br />
Und um vom kl<strong>ein</strong>en aufs Große zu schließen: -<br />
„Aber du weißt doch, dass es das hier nicht gibt,<br />
m<strong>ein</strong> Sohn!“ – „Aber das weiß doch jeder, dass das<br />
hier nicht möglich ist, m<strong>ein</strong>e Liebe!“ - ist hier bis<br />
heute <strong>ein</strong> geflügelter lokaler Spruch. Nie habe ich<br />
<strong>ein</strong>e Region gesehen, wo es schwieriger war,<br />
etwas zu erreichen, etwas zum Funktionieren<br />
bringen, etwas zu Ende bringen. Es gibt<br />
Intellektuelle, die darin gar <strong>ein</strong>e Art Bauernschläue,<br />
<strong>ein</strong>e Revanche der ewig Unterlegenen<br />
sehen. Eine Auflehnung gegen all die von außen<br />
aufgezwungenen Anforderungen, Neuerungen.<br />
Der Spruch wird immer dann angewendet, wenn<br />
etwas unmöglich sch<strong>ein</strong>t, gar etwas Anstrengung<br />
verlangt oder sonst wie kompliziert ist. Plötzlich<br />
werden dann auch alle, auch die freiesten<br />
Freiberufler zu öffentlichen Angestellten. Angestellte<br />
von der Sorte, die jegliche Arbeit als riesiges<br />
Opfer, unzumutbare Zumutung ansehen. Für den<br />
Patriarchen oder ihre Familie würden sie zwar<br />
sofort <strong>und</strong> augenblicklich, aber für <strong>ein</strong>en<br />
Fremden....<br />
Sehr interessant <strong>und</strong> im Alltag oft ziemlich tricky,<br />
denn mit logischen Argumenten ist dieser Attitüde<br />
nicht beizukommen. Nur auf schlauen Umwegen<br />
oder mit rücksichtsloser patriarchalischer<br />
Autorität. Auch nicht jedermanns Sache. Aber<br />
vielleicht ist das halt der Preis, <strong>ein</strong>e Art Wegzoll,<br />
den es <strong>ein</strong>fach zu entrichten gilt. Im Gegenzug<br />
bekommt man all das, was das überaus<br />
fre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong> bukolische Hinterland ausmacht.<br />
Unfreiwillig ironische wird es dann, wenn die<br />
selben Personen über die „Fünfte Welt“,<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich m<strong>ein</strong>te er die Dritte, herziehen, in<br />
der sie leben. Das schlecke k<strong>ein</strong>er weg -<br />
<strong>Amazonien</strong> haben sie sowieso vergessen, das<br />
liege am Arsch der Welt! Am liebsten morgen<br />
schon würde er fliehen, flüchten. Aus der selben<br />
Welt, in deren Rädchen er aber selbst jeden Tag<br />
<strong>ein</strong> wenig Sand streut.<br />
Wie auch immer. Brasilien, die Welt rückt<br />
zusammen. Und so wird wohl irgendwann auch<br />
das Vorurteil, dass alles, was auch Südbrasilien<br />
komme, oder noch besser importiert sei, nicht<br />
nur besser schmecke, billiger sei, von besserer<br />
Qualität, länger funktioniere <strong>und</strong> das in allen<br />
Bereichen. Und das, auch nur dann, wenn es<br />
überhaupt, siehe oben, bis hierherkommt.<br />
Kann dem nur immer wieder entgegenhalten: Ich<br />
hoffe, ich werde es noch erleben, dass auch in<br />
São Paulo oder im Ausland jemand die<br />
fantastischen lokalen Früchte <strong>und</strong> das<br />
unnachahmliche andere Essen entdeckt.<br />
Sozusagen den Spieß umdreht <strong>und</strong> hochnäsig<br />
sagt, dass der <strong>ein</strong>heimische Fisch ganz <strong>ein</strong>fach<br />
viel frischer <strong>und</strong> besser schmeckt, als die<br />
Mehrzahl der Fische in Südbrasilien oder auch in<br />
Europa. Ich weiß, noch hat fast k<strong>ein</strong>er, oder<br />
wollte fast k<strong>ein</strong>er das Potenzial erkennen, das<br />
logistische Problem, die fehlende Infrastruktur,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 498
die Konservierung <strong>und</strong> den Nachschub lösen!<br />
Warum geht es nur umgekehrt? So kann man,<br />
bald schon, sehr bald, überall die selben,<br />
identischen Produkte kaufen. Das selbe<br />
amerikanische Brot, papieren <strong>und</strong> kraftlos,<br />
identisches Fast Food, die selben chinesischen,<br />
synthetischen Blüschen <strong>und</strong> Regenschirme, die<br />
selben Nachrichten <strong>und</strong> Novelas sehen, <strong>und</strong> den<br />
gleichen, künstlich aromatisierten Kaffee trinken.<br />
Wie wenn der Traktor des unaufhaltsamen<br />
Fortschritts nur Gutes, nur Segnungen bringen<br />
würde!<br />
Ketzerische Fragen - stehe auf verlorenem Posten.<br />
K<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Brasilianer aus dem Norden, auch<br />
die mit ges<strong>und</strong>em Selbstvertrauen, wird mir je<br />
beipflichten wollen oder können. Jeder will, am<br />
liebsten morgen schon, s<strong>ein</strong>e Shoppingcenter-<br />
Kultur, am liebsten gleich vor der Haustür, auch<br />
wenn er damit eigentlich den so schön<br />
<strong>ein</strong>geübten, ewigen Refrain Lügen straft: - „M<strong>ein</strong>e<br />
Tochter, leider, leider gibt es das hier nicht!<br />
Wusstest du das denn nicht?“ –<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 499
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 500
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 501
Über das Modern s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Hässlichkeit<br />
Der Geburtstagskuchen ist gigantisch, <strong>ein</strong><br />
rechteckiges Ungetüm. Der Zuckerguss, babyrosa-farben,<br />
hingebungsvoll verziert er die<br />
Ränder. Die Glückwünsche sind in gelben, schwarz<br />
abschattierten Buchstaben geschrieben <strong>und</strong><br />
gleich darüber, mir bleibt die Luft im Hals stecken,<br />
gibt es das übergroße, perfekt in Zucker<br />
gedruckte Abbild des Geburtstagskindes, <strong>ein</strong><br />
strahlendes Lächeln auf dem Kindergesicht!!!!<br />
Gott sei Dank, die <strong>ein</strong>zige Kerze steckt diskret im<br />
rechten Eck des süßen Werkes, wohl der letzte<br />
Schrei des trendigen Zuckerbäckers. Lieber Gott,<br />
mache, dass sie mir nur vom orangen Kleidchen<br />
auftischen! Könnte es nicht über mich bringen,<br />
<strong>ein</strong>en Teil der rosig zuckergussenen Wange oder<br />
gar <strong>ein</strong> Auge zu kannibalisieren. Schon <strong>ein</strong>e<br />
Strähne des lockigen Haares des lieben<br />
Geburtstagskindes herunterzuschlingen, würde<br />
mich was kosten.<br />
Immer wieder gibt es Torten, die <strong>Foto</strong>s zieren.<br />
Das nächste Mal verschmähe ich das Bild, <strong>ein</strong>e<br />
Homenage, das sorgfältig von steifen Cremeringeln<br />
gesäumt die Riesentorte ziert. Es ehrt jene<br />
Matriarchin, die hier im Dorf <strong>ein</strong>e große Rolle<br />
spielte, <strong>und</strong> nun aus den Himmeln auf das Werk<br />
herunterschaut. Auch dem kollektiven <strong>Foto</strong> der<br />
Zumbatänzerinnen zeige ich die kalte Schulter.<br />
Bemerke, als ich mich, natürlich hinter vorgehaltener<br />
Hand, leise <strong>und</strong> diskret beschwere,<br />
dass k<strong>ein</strong>er m<strong>ein</strong>e Skrupel versteht – Neuheiten, je<br />
ausgefallener, desto lieber, kommen an - je<br />
glänzender, ausgefallener, blumiger, farbiger <strong>und</strong><br />
natürlich am liebsten aus Plastik <strong>und</strong> so richtig<br />
schön künstlich sind wirklich gesucht!<br />
L<strong>ein</strong>enbetttücher? Ewig gestrig, ererbt <strong>und</strong> damit<br />
schon etwas fadensch<strong>ein</strong>ig, gehören immer in<br />
m<strong>ein</strong> Tropengepäck. N<strong>ein</strong>, nur wer mag schläft,<br />
krumm wie <strong>ein</strong>e Banane, in der immer kühleren,<br />
aber gewöhnungsbedürftigen Hängematte.<br />
Unglücklicherweise verweigert m<strong>ein</strong> Körper nicht<br />
nur Hängematten, sondern auch die ach so<br />
moderne, synthetische Bettwäsche, die sich so<br />
gerne klitschig, klebrig-heiß auf die Haut klebt, sich<br />
beim Hin <strong>und</strong> Her wälzen als effizienter Brutkasten<br />
entpuppt. Stelle ich die Klimaanlage an,<br />
verwandelt sie die Betttücher sogleich in eisige<br />
Klitschfallen. Wie w<strong>und</strong>erbar kühl ich da in<br />
m<strong>ein</strong>em r<strong>ein</strong>en L<strong>ein</strong>en schlafe!<br />
Das magische Bermudadreieck - modern-neupraktisch<br />
verfolgt mich. Es gilt als überaus schick<br />
oder praktisch?, die plastiküberzogenen Sitze des<br />
neuen Autos nicht zu entfernen. Stur besitzt man<br />
die sich unweigerlich öffnenden Spalten, die<br />
Plastikreste, die sich als <strong>ein</strong>zelne Streifen herunter<br />
schälen um zum Schluss total zerfleddert<br />
herunterhängen. Nur Taxifahrer <strong>und</strong> Buschauffeure<br />
sitzen auf luftigen Holzperlensitz<strong>ein</strong>lagen,<br />
die elegant den direkten Kontakt mit dem ach so<br />
praktischen Plastik vermeiden.<br />
Schlimmer als praktischer Plastik wohl nur das<br />
allgegenwärtige Kunstleder. Sie haben es erraten,<br />
natürlich fast immer in strahlendem Weiß! Meiden Sie<br />
die wolkenweichen Sofas, besonders wenn Sie Shorts<br />
tragen, denn es besteht die Gefahr, ganz<br />
<strong>ein</strong>fach darin festzukleben! Haut <strong>und</strong> ultra-heißer<br />
Plastik <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige, klatschige Masse, wenn Sie darin<br />
nicht buchstäblich ertrinken, wenn sich unter Ihren<br />
Schenkeln wahre Seen unschuldigen Schweißes<br />
ansammeln. Aber auch gutbürgerlicher Schick in Form<br />
velourüberzogener Stuhlflächen ist wenig zu<br />
empfehlen, denn er wurde praktischerweise mit <strong>ein</strong>er<br />
millimeter-dick-transparenten Plastikfilmschicht<br />
versiegelt. Strohgeflechtsitze sind total außer Mode!<br />
Die gehören, wie beim Theater Amazon, ins Museum,<br />
wurden in den 70 Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
gegen den international obligaten roten Theatervelours<br />
ausgetauscht. Das Argument? Die neu<br />
installierte Klimaanlage hätte das Stroh ausgetrocknet<br />
<strong>und</strong> gebrochen.<br />
Lösen die allgegenwärtigen Klimaanlagen, langärmlige<br />
Jacke (!)nicht vergessen, sie sind unweigerlich auf<br />
eisige 17 Grad <strong>ein</strong>gestellt – <strong>ein</strong> Problem, schaffen aber<br />
tausend andere. Viele können sich <strong>ein</strong>fach nicht<br />
erklären, woher all ihre Wehwehchen kommen. Wenn<br />
sie nur endlich geräuschlose Ventilatoren erfinden<br />
würden, wären m<strong>ein</strong>e Nächte erfrischender. Denn Zug<br />
verabscheuen die Moskitos abgr<strong>und</strong>tief.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 502
Moskitonetze? Die hat k<strong>ein</strong>er. Darunter fühle man<br />
sich bedrängt! Und natürlich? Wie nur haben Sie<br />
es erraten? – die sind nämlich total außer Mode!<br />
Passé auch antike Hotels im Kolonialstil, mit<br />
Geschichte <strong>und</strong> Tradition. Mit viel Glück werden<br />
Sie <strong>ein</strong>e Art Schweizer Alpenchalés antreffen, die<br />
irgendwie in den Tropen gestrandet sind. Die<br />
haben sie noch, die weiten, hohen Räume, glattes<br />
Holz für nackte Füße, sind in den Schatten hoher,<br />
üppiger Bäume gebaut. Terrassen, <strong>ein</strong> paar<br />
Haken, an denen <strong>ein</strong>e Hängematte baumelt, <strong>ein</strong><br />
ruhiger, lauschiger Innenhof, altmodisch mit<br />
f<strong>ein</strong>em, weißem, jeden Tag säuberlich<br />
gerechten Sand bestreut – wie unpraktisch! Beton<br />
muss her! Vielleicht gar Kacheln mit künstlichem<br />
Gras? Die Einheimischen wollen es modern: <strong>ein</strong><br />
sicher-hässlich-anonymes Hochhaus, düster, clean<br />
gar, aseptisch. Appartements, deren Zimmer nicht<br />
größer als <strong>ein</strong> Ei sind, die Fenster immer genaus<br />
so angeordnet, dass nur ja k<strong>ein</strong> Durchzug möglich<br />
ist. Nichts, was Klimaanlage <strong>und</strong> elektrisches Licht,<br />
auch tagsüber, nicht lösen würden! Balkone? Gar<br />
Terrassen? Die werden, wenn vorhanden,<br />
höchstens mal als H<strong>und</strong>eklo oder zum<br />
Wäschetrocknen benutzt.<br />
Aber, wie heißt es so schön auf Portugiesisch –<br />
über Geschmack diskutiert man nicht. Man kann<br />
ihn höchstens bedauern, wie den lokalen Hang<br />
zum Monumentalen, Kolossalen. Kongresshallen<br />
oder Viadukte, Restaurants <strong>und</strong> viele neuere<br />
öffentliche Gebäude kultivieren <strong>ein</strong>e ausgefallene<br />
Ästhetik. Überdimensioniert, wie mit der<br />
Motorsäge herausgeschnitten, zurechtgestutzt,<br />
roh hingeklotzt, ja hingekotzt. Bauten der<br />
Herrschenden, waren es früher Kirchen <strong>und</strong><br />
Schlösser, so sollen die opulenten Fassaden<br />
öffentliche Gebäude wohl vergessen machen, wie<br />
viel Geld in die Taschen von Bauherrn <strong>und</strong><br />
Politikern geflossen ist. Das Volk applaudiert, dem<br />
Volk gefällt´s. Mirabolante Monstrositäten,<br />
Alibikonstruktionen sollen überdecken, in wie<br />
vielen Stadtteilen die Abwässer frei zum Himmel<br />
stinken, beileibe nicht nur in den Pfahlbausiedlungen<br />
am Stadtrand oder am Hafen. Ein<br />
Hauch von Fortschritt, von wortgewaltigen,<br />
geschickten Politikern immer <strong>und</strong> immer wieder<br />
versprochen, nur in Ausnahmefällen gehalten. Je<br />
schöner <strong>und</strong> leerer die Worte, je strahlender <strong>und</strong><br />
komplexer die Grandezza der Versprechen, desto<br />
unwahrsch<strong>ein</strong>licher ihre Umsetzung.<br />
Hier setzte ich, lachen Sie nicht, trotzdem auf den<br />
Fortschritt! Brasilien kann sehr schnell <strong>und</strong><br />
überraschend effizient s<strong>ein</strong>. Morgen schon<br />
vielleicht ist nicht mehr das zuckergussgewordene<br />
<strong>Foto</strong> Mode, sondern wie hier im Süden, Altes,<br />
Entschuldigung, Antikes, der letzte Schrei!<br />
Neuerdings werden die Stadtzentren nicht mehr<br />
zerstört, sondern wiederbelebt <strong>und</strong> restauriert!<br />
Bald, schon sehr bald wird das auch im Norden<br />
Schule machen! Bals, schon sehr bald wird<br />
vielleicht <strong>ein</strong>er aus dem Süden jenen alten<br />
Kasten restaurieren, Kolonialstil, zwei<br />
Fußminuten nur zum neu belebten Zentrum!<br />
503
Überliefertes<br />
Was die wohl in der Küche so überaus energisch<br />
<strong>und</strong> ausdauernd beklopft? Traue m<strong>ein</strong>en Augen<br />
nicht, als ich das Schlachtermesser sehe, das<br />
immer wieder auf das unschuldig blutige Schnitzel<br />
runterhaut, es dann kurz wendet <strong>und</strong> es nun auch<br />
noch übers Kreuz mit ganz vielen, eng<br />
zusammenstehenden Schnitten misshandelt, oder<br />
wohl besser weich schlägt. Auch der Metzger hat<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Maschine bereit, durch die er die<br />
Schnitzel nach dem Zurechtschneiden laufen lässt.<br />
Nun verstehe ich, warum ich den sohlenähnlichen<br />
Schnitzeln immer ausweiche. Nicht besser ergeht<br />
es dem Hackfleisch. Hier im Norden wird es vor<br />
dem Anbraten sorgfältig <strong>und</strong> gründlich<br />
gewaschen. Erinnert verdächtig an jüdische oder<br />
muslimische Hygienegesetze, Ver- <strong>und</strong><br />
R<strong>ein</strong>heitsgebote.<br />
Historisch absolut unf<strong>und</strong>iert ist m<strong>ein</strong> Katalog an<br />
“Überfliefertem”, endlos <strong>und</strong> hochinteressant.<br />
W<strong>und</strong>erbar ironisch ist, dass man <strong>ein</strong>en<br />
bettwarmen Körper nicht auskalten lassen dürfe.<br />
Zu diesem Zweck stehen vor dem Bett <strong>ein</strong><br />
Pantoffelpaar oder Flip-flops, damit sich der<br />
Körper beim Aufstehen nicht erkühle. Und das bei<br />
Dauertemperaturen von über 30 Grad. Auch den<br />
Kühlschrank dürfe man in solchen Umständen<br />
nicht öffnen <strong>und</strong> eiskalte Getränke höchstens,<br />
wenn der Körper schon ausgekühlt sei, trinken.<br />
Tödlicher <strong>und</strong> krankheitsbringender wohl nur der<br />
“Sereno”, jener Tau, der sich wie <strong>ein</strong> feuchter<br />
Schleier im Morgengrauen über alles legt.<br />
Auch weiß hier bis heute jedes Kind, welcher Fisch<br />
<strong>und</strong> welches Fleisch, nicht gegessen werden darf,<br />
wenn der Körper irgendwie aus dem Gleichgewicht<br />
geraten ist. Fische werden generell in zwei<br />
Kategorien unterteilt: die schuppenlosen, mit<br />
lederner Haut, oft als „remoso“, als „kräftig oder<br />
wenig verträglich“ bezeichnet, die mit Schuppen<br />
gelten als „zahmer, leicht verträglicher. Fische <strong>und</strong><br />
andere Speisen, die als „remoso“ gelten, werden<br />
in traditionelleren Haushalten weder Leuten mit<br />
Allergien, Wöchnerinnen oder solchen, die sich<br />
von <strong>ein</strong>er Krankheit erholen, aufgetischt. Sind<br />
verboten, auch wenn es nur <strong>ein</strong> gestauchter<br />
Knöchel ist. Krustentiere gelten als ganz besonders<br />
“remoso”. Ihr Genuss verschlimmert jegliches<br />
Wehwechen augenblicklich. Manche Leute gehen<br />
sogar so weit, Fische mit Lederhaut von ihrem<br />
Speisezettel komplett zu verbannen.<br />
Überliefert ist auch, dass menschenfressende<br />
Raubfische wie Haifische oder Krokodile tabu sind.<br />
Würden sie gegessen, würde man, k<strong>ein</strong>er weiß,<br />
was für unglückliche Umstände zusammen spielen<br />
können, indirekt <strong>ein</strong>en kanibalischen Akt begehen.<br />
Vielleicht hat ja das unglückliche Tier kurz vor<br />
s<strong>ein</strong>em Tod <strong>ein</strong>e Menschenmahlzeit verdrückt!<br />
Sehr unverdaulich sollen auch bestimmte<br />
Kombinationen von Lebensmitteln s<strong>ein</strong>. Açaí zum<br />
Beispiel darf weder mit Früchten noch mit Milch<br />
oder Zitrone zusammen gegessen werden. Da<br />
könnte man glatt daran sterben.<br />
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Jesus da Brot des Lebens<br />
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Bestattungsunternehmen<br />
Goldener Friede, Vergoldeter<br />
Frieden<br />
Ewiges Leben, Neues Leben<br />
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Vom Anpreisen<br />
Ich sammle sie alle, die unschuldig w<strong>und</strong>erbaren<br />
Reklametafeln, das Wort Werbung wäre schon<br />
viel zu f<strong>ein</strong> <strong>und</strong> modern für sie. Ich liebe ihren<br />
freiwilligen <strong>und</strong> unfreiwilligen Humor, ihr Geradeheraus-s<strong>ein</strong><br />
<strong>und</strong> ihre entwaffnende Naivität, die<br />
hart am Hinterwäldlertum vorbeigeht. Warum<br />
sich der abgewrackte Schnellimbiss, irgendwo im<br />
Nirgendwo, ironischerweise Mc Donalds nennt,<br />
kann ja noch jeder verstehen. Auch dass der<br />
schwarze Punkt mit dem Haken, das<br />
Verkaufslokal, eher <strong>ein</strong>e Garage mit zwei<br />
Türlöchern, der grün umrandete „Ponto Certo“,<br />
k<strong>ein</strong> i-Punkt ist, sondern der Richtige Punkt, um<br />
<strong>ein</strong>zukaufen, macht ja noch Sinn. Aber diese<br />
altmodische Weitschweifigkeit, die auch das<br />
hinterletzte Produkt im Angebot in aller<br />
Ausführlichkeit an die Ladenfassade pinselt,<br />
kommt wohl noch aus der Vorschaufensterzeit,<br />
als der „Mascate“ Hausierer <strong>und</strong> die „Secos e<br />
Molhados“ – die wortwörtlich „Trocken <strong>und</strong><br />
Feuchten“, so hießen früher die Tante-Emma-<br />
Läden, <strong>ein</strong>fach alles verkauften.<br />
Auf dem Markt kann man sie heute noch finden,<br />
auf <strong>ein</strong>e Styroporplatte handgeschriebenen: Ich<br />
habe, oder wir haben: Früchte, Fruchtmark,<br />
Tucupí, Gemüse <strong>und</strong> Salate. Manchmal sind<br />
solche Litaneien gar hilfreich, besonders dann,<br />
wenn das Fruchtfleisch in irgendwelchen<br />
Kühltruhen unter dem Tresen versteckt ist.<br />
W<strong>und</strong>erschön sind all die grellbunt gr<strong>und</strong>ierten<br />
Hausfassaden, auf die in gekonntem in Air-Brush<br />
all die Produkte oder Dienstleistungen gesprayt<br />
wurden, die der Kommerz im Angebot hat. So wird<br />
die Hausmauer sozusagen zum Schaufenster.<br />
Stellt auch <strong>ein</strong>iges richtig. Ich errate es sogleich,<br />
der Laden nennt sich zwar leicht doppeldeutig<br />
“Água viva”, „lebendiges Wasser“, auch <strong>ein</strong>e<br />
hochgiftige, fast transparente Quallenart, aber<br />
daneben steht „Aquários“ - Aquarien, aha, hier<br />
werden die hier im Amazonas in die ganze Welt<br />
exportierten, exotischen Zierfische auch an lokale<br />
Liebhaber verkauft. Es sind sechs Fische, auf die<br />
sechs Quadrate <strong>ein</strong>er eisernen Doppeltür gemalt,<br />
die damit jedem s<strong>ein</strong> eigenes, unrealistisch<br />
türkisfarbenes, Aquarium zuteilt. Sie sch<strong>ein</strong>en mir<br />
ausgezeichnet getroffen, sind reich an Details, jede<br />
Flosse, Form sitzt, perfekt die Streifen, Augen <strong>und</strong><br />
Maserungen. Nur die Farben sind schon etwas<br />
mitgenommen, vom Regen ausgeblichen.<br />
Raten Sie mal, was wohl der kraftstrotzende<br />
Zeburindbulle verkauft, der in dunkelrotem<br />
Rahmen die ganze Wand dekoriert? S<strong>ein</strong>er ganzen<br />
Kraft bewusst hält er stier <strong>und</strong> direkt aus<br />
vergleichsweise kl<strong>ein</strong>en Augen m<strong>ein</strong>em Blick stand<br />
<strong>und</strong> fast sch<strong>ein</strong>t mir, als ob s<strong>ein</strong> rechtwinklig<br />
abstehendes rechtes Ohr soeben <strong>ein</strong>e leise lästige<br />
Fliege verscheucht habe. Vier stramme B<strong>ein</strong>e im<br />
hochstehenden Gras tragen die tief hängende<br />
Brust <strong>und</strong> den kraftvollen Körper mit dem<br />
charakteristischen Höcker auf dem Rücken. Der<br />
Arme – wie könnte es anders s<strong>ein</strong>, schmückt er<br />
die Seitenwand <strong>ein</strong>er Metzgerei!<br />
Andere Schilder sind so gut gem<strong>ein</strong>t, dass sie<br />
eher verwirren als informieren. Unter<strong>ein</strong>ander<br />
geschrieben steht „Mani/Pedi“ dahinter doppelt<br />
so groß „Cure“, was m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach auf<br />
<strong>ein</strong>en Heiler, als auf <strong>ein</strong>e Hand- <strong>und</strong> Fußpflegerin<br />
verweist. Da überzeugt die visuelle Botschaft, <strong>ein</strong><br />
überspitz zulaufender, lachender M<strong>und</strong> mit<br />
blitzenden W<strong>und</strong>erzähnen, die aus <strong>ein</strong>em<br />
orangen Ball heraus lachen, schon mehr.<br />
„Laboratório“, Labor <strong>und</strong> Zahnprothesen. Das<br />
mobile Holzdreib<strong>ein</strong>, tagsüber vor <strong>ein</strong>e<br />
wildfarbene Kachelmauer gestellt, wird wohl<br />
nach Geschäftsschluss r<strong>ein</strong> genommen. Die rot<br />
gerahmte Konkurrenz, „Protético Dentário Paulo<br />
Emílio“ schlägt es in Anschaulichkeit um Längen.<br />
Zwei schwarze Löcher auf weißen Gr<strong>und</strong> sind der<br />
Hintergr<strong>und</strong> für <strong>ein</strong> sehr realistisches Gebiss <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>en schauerlich altmodischen Apparat, der<br />
wohl zum Zähneausziehen dient. Man bedient<br />
sich hier, besonders in minderbemittelten<br />
Schichten, des Zahnarztes meist nur zum Ziehen<br />
faul gewordener Zähne. Wenn die Finanzen kurz<br />
sind, sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong> Gebiss <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>malig sichere<br />
Investition. So ließ sich <strong>ein</strong>, vor dem<br />
Millionengewinn im Lotto, fast mittellose<br />
Landarbeiter, als Erstes <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erschönes<br />
Gebiss anpassen. Vor dem überraschenden<br />
Gewinn war ihm nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Vorderzahn<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 513
erhalten geblieben.<br />
Die Mittelklasse allerdings lässt sich, neuen<br />
Techniken <strong>und</strong> Technologie sei Dank, immer<br />
mehr auch Zähne implantieren. Dieser Service<br />
wird auch sehr anschaulich an den Mann oder<br />
besser an den M<strong>und</strong> gebracht. Auch schief<br />
gewachsene Zähne lässt man sich hier auch noch<br />
im fortgeschritteneren Alter richten. Nicht nur<br />
Kinder entblößen überaus selbstbewusst ihre<br />
kl<strong>ein</strong>en Plaketten, die, fast könnte man denken,<br />
die Zähne mehr schmücken als korrigieren.<br />
Manches Zahnarztlogo integriert die kl<strong>ein</strong>en<br />
Plaketten mehr oder weniger kreativ in s<strong>ein</strong>en<br />
Schriftzug.<br />
Einer m<strong>ein</strong>er Favoriten aber ist der Schuhmacher,<br />
der an <strong>ein</strong>er Straßenecke in <strong>ein</strong>er stechend<br />
heißen Bretterbude s<strong>ein</strong>e Laufk<strong>und</strong>schaft bedient.<br />
Er verlässt sich ganz auf das geschriebene Wort.<br />
Auf <strong>ein</strong>em liebevoll quadratisch zurecht gesägten,<br />
handgeschriebenen Plakat setzt er s<strong>ein</strong>e K<strong>und</strong>en<br />
in unorthodoxem Umgang mit dem zur Verfügung<br />
stehenden Platz, den er bis in den letzten<br />
Millimeter voll ausnützt, von s<strong>ein</strong>en Leistungen in<br />
Kenntnis. Trennungsregeln <strong>und</strong> Wortzwischenräume<br />
kümmern ihn nicht. Die Buchstaben sind<br />
sicher <strong>und</strong> regelmäßig hingemalt, aber wie könnte<br />
es anders s<strong>ein</strong>, der Karton ist immer dann zu<br />
Ende, in <strong>ein</strong>em unerwartet unbequemen<br />
Moment, meist mitten im Wort, was ihn wenig<br />
stört. Er schreibt die fehlenden Buchstaben<br />
<strong>ein</strong>fach auf die nächste Zeile. Besondere Mühe hat<br />
er auf die Zahl 30 verwendet: Sie ist in<br />
leuchtendem Rot hingepinselt. Ich brauche<br />
mehrere Anläufe, bis es mir gelingt, die endlose<br />
Wortschlange in sinnvolle Teile zu gliedern:<br />
„Alleanv-ertrau-tenArb-eitenfe-rtigin-nert 30<br />
Tagen“ (Alle anvertrauten Arbeiten fertig innert 30<br />
Tagen).<br />
Als ich aber die Namen der Bestattungsunternehmen<br />
zu sammeln beginne, komme ich aus dem<br />
Staunen nicht mehr heraus. Sie heißen „Goldener,<br />
oder vielleicht auch Vergoldeter Frieden, Neues<br />
Leben, Ewiges Leben oder Grüner Alkoven. Gute<br />
ewige Ruhe!!!<br />
Besser wohl nur die Lotterie, die sich „SONHO<br />
MEU“ – m<strong>ein</strong> Traum nennt.<br />
Auch Parkplätze sind gut für Geschichten. Die <strong>ein</strong>e<br />
haben wir „Mãozinha“, Händchen getauft. Denn<br />
von der Person, die <strong>ein</strong>em den Parksch<strong>ein</strong> gibt,<br />
kann man nur die Hand sehen. Das Glas ist zu<br />
dunkel. Der Parkplatz allerdings, gleich gegenüber,<br />
mitten in der Stadt, gibt per Aufschrift k<strong>und</strong>: „NÃO<br />
ACEITAMOS RECLAMAÇÕES“ – Wir akzeptieren<br />
k<strong>ein</strong>e Reklamationen. Ja, hier ist der K<strong>und</strong>e halt<br />
noch nicht König.<br />
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Der König der schwarzen Cocada<br />
Ein König gefällig? K<strong>ein</strong> Problem - Könige,<br />
Hoflieferanten, gar <strong>ein</strong>en Kaiser findet man hier<br />
fast an jeder Ecke. Da gibt es den König der<br />
Kokosnuss. K<strong>ein</strong>er verkauft königlich köstlicheres<br />
Kokoswasser. Der grellrote Laden „Real Eletrica“<br />
verkauft alles, was <strong>ein</strong> Elektriker so braucht,<br />
Steckdosen, Lampen etc.. Die „reale“ Übersetzung<br />
allerdings hat wohl weniger mit der „Realität“<br />
oder dem „Real“, der brasilianischen Währung zu<br />
tun, als mit dem Titel <strong>ein</strong>es Hoflieferanten. „Real“<br />
kann auch königlich bedeuten. Der König der<br />
Schlüssel, „O Rei das Fechaduras“? Er öffnet<br />
<strong>ein</strong>em alle Türen. Ein riesiger, goldgelber<br />
Pappschlüssel signalisiert, dass es wohl weder<br />
Schloss noch Riegel gibt, die ihm widerstehen.<br />
Brauchen Sie <strong>ein</strong> neues Fahrrad? Der König, der<br />
Fahrräder, s<strong>ein</strong> Geschäft ist, k<strong>ein</strong> W<strong>und</strong>er bei<br />
diesen Straßenverhältnissen, über <strong>und</strong> über mit<br />
Gummiersatzreifen dekoriert. An den seitlichen<br />
Pfeilern prangen alle Fahrradmarken, die er<br />
vertritt. Er verkauft nicht nur königlich Fahrräder,<br />
sondern repariert auch gleich jegliches Stahlross,<br />
neben dem Motorrad wichtiges Verkehrsmittel<br />
bei den amazonischen Distanzen. Sollte es dann<br />
oder irgendetwas anderes Metallenes, doch<br />
irgendwann zu Schrott werden, können Sie es<br />
problemlos zur Schrottkönigin, „Rainha da<br />
Sucata“ bringen! In ihrem Reich handelt man nur<br />
mit Altmetall. Beim Bonbonkönig, „O Rei das<br />
Balas“ oder vielleicht ist es auch <strong>ein</strong>e Königin,<br />
imitieren unbekannt lokale Namen in Schrift <strong>und</strong><br />
Farbe gekonnt national bekannte, viel<br />
kostspieligere Marken. Und wollen Sie wetten?<br />
Sicher noch klebriger <strong>und</strong> süßer als das Original.<br />
Brasilianer sind nun mal geradezu süchtig nach<br />
Süßem, nach Zuckerzeug aller Art.<br />
Einmal sozusagen auf den König gekommen,<br />
stechen mir auch andre, in der Übersetzung oft<br />
etwas hochtrabenden, Namen überall ins Auge:<br />
Die „Prinzessin des Modeschmuckes“ macht wohl<br />
jede Käuferin für Augenblicke zur Prinzessin. Aus<br />
dem Schuhgeschäft „Plattaforma“, Plateausohle,<br />
kommt man wohl hoch erhobenen Kopfes,<br />
natürlich um Zentimeter größer <strong>und</strong> damit Kilos<br />
schlanker, heraus. Was wohl der „Goldfuß“ - „Pé<br />
Dourado“ oder der „MegaPé“ – „Megafuß“<br />
versprechen? Wohl eher <strong>ein</strong>e mega Auswahl als<br />
riese Füße. Die sind hier gar nicht gern gesehen.<br />
Das Schuhgeschäft zur Festung „Sapataria<br />
Fortaleza“ sch<strong>ein</strong>t da wohl <strong>ein</strong>e gute Zuflucht zu<br />
s<strong>ein</strong>. Ob allerdings der „Sichere Schritt“, „Passo<br />
Firme“ Schuhe oder vielleicht Nachhilfeunterricht<br />
verkauft, kann ich im Nachhin<strong>ein</strong> nicht mehr<br />
rekonstruieren.<br />
Der Getränkeverteiler „zum Sternen“ lässt mich<br />
wohl Sterne sehen. Im „Persischen Markt“ gibt‘s<br />
wohl unendlich viele unnütze Kl<strong>ein</strong>igkeiten,<br />
unisono aus China importiert. Das Flair aber, die<br />
Wuselatmosphäre ist wohl echt arabisch.<br />
Nachvollziehbar auch, warum das Farbengeschäft<br />
„Joker“ heißt, oder es im „Paradies“, jawohl,<br />
Unterhöschen, Lingerie <strong>und</strong> Slips, nicht nur vom<br />
F<strong>ein</strong>sten, gibt. Das Jahrh<strong>und</strong>ertgeschäft dagegen<br />
oder vielleicht das Geschäft des Jahrh<strong>und</strong>erts?<br />
stammt wohl noch aus dem letzten. Nichts<br />
wechselt hier schneller, als Geschäftsinhaber <strong>und</strong><br />
Ideen. Was allerdings bis heute widersteht, jedes<br />
Mal noch schlimmer heruntergekommen, ist das<br />
„Grand Hotel“, das wohl außer im Namen nie<br />
irgendwelche Grandezza besaß. In s<strong>ein</strong>em<br />
schlecht isolierten Eingangsbereich regnet es<br />
<strong>ein</strong>fach durch, wie die Pfützen bezeugen. Der<br />
Schriftzug sitzt schräg <strong>und</strong> die Fassade schimmelt<br />
vor sich hin.<br />
Lassen wir das Philosophieren - nehmen wir doch<br />
da drüben auf dem sonntäglichen Hippie- <strong>und</strong><br />
Krimskramsmarkt, <strong>ein</strong>en Frühschoppen.<br />
Cocktails, Drinks <strong>und</strong> Säfte hat sich der<br />
„Alchimist“ auf s<strong>ein</strong> schrillfarbenes Wägelchen<br />
schreiben lassen, zusammen mit zwei<br />
Telefonnummern. Vielleicht wollen Sie ihn ja für<br />
Ihre nächste Garten- oder Swimmingpoolparty<br />
mieten! Wie in <strong>ein</strong>er währschaften Bar zapft er<br />
die richtige Menge Alkohol aus den auf dem Kopf<br />
hin gehängten Flaschen mit den gängigsten<br />
Spirituosen, <strong>ein</strong>ige giftig <strong>und</strong> grellfarben, in den<br />
wackligen Plastikbecher. Ein Caipirinha aus Kiwi,<br />
Erdbeeren oder Maracuja gefällig? Der<br />
hochprozentige Alkohol tötet sicher alle allenfalls<br />
vorhandenen Bakterien ab, auch wenn die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 518
Früchte nicht besonders gut gewaschen sind <strong>und</strong><br />
die Eiswürfel vielleicht etwas fragwürdig. Und<br />
wenn Sie danach doch noch <strong>ein</strong>kaufen gehen<br />
wollen: Da drüben ist <strong>ein</strong> Supermarkt. „Coração<br />
de Mãe“ Mutters Herz - nennt er sich, wenn es<br />
<strong>ein</strong>em da nicht warm ums Herz wird! Aber auch<br />
den „Super Rei“, Super König oder den<br />
„Supermercado Progresso“, der Supermarkt<br />
Fortschritt gehört in die Sammlung. Auch zu den<br />
„Welten“ habe ich schon <strong>ein</strong>e ganze Sammlung<br />
zusammengetragen. Da gibt es die „Novo<br />
M<strong>und</strong>o“, die Neue Welt, o M<strong>und</strong>o do Real, die<br />
Welt des Reals, die Bar....<br />
Falls Sie nach allem hungrig sind – Wie wärs mit<br />
dem „Point dos Assados“, den „Point der<br />
Gebratenen“ oder den Point do Açai“ <strong>und</strong><br />
natürlich den König des Stockfisches, „O Rei do<br />
Bacalhão“. Gut schmeckt es auch im „Mascote“,<br />
im Maskottchen. Aber gleich dahinter, Sie werden<br />
es nie erraten, steht das „Casa Feliz“ – „das<br />
glückliche Haus“!<br />
Nur der „Rei da cocada preta“, der König der<br />
schwarzen Cocada des Titels ist eher ironisch<br />
gem<strong>ein</strong>t. Der König der schwarzen Cocada, <strong>ein</strong><br />
typisches Naschwerk aus Cocosflocken <strong>und</strong> viel<br />
Zucker ist jener, der sich für das Maximum hält,<br />
gar auf die anderen hinab sieht....<br />
Schokolade<br />
vergessen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 519
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 520
Baden <strong>und</strong> Trimmen Dobermann<br />
Nichts mache ich lieber, als lokale Einkaufsstraßen<br />
zu erk<strong>und</strong>en. Am ergiebigsten sind bürgerlichnormale<br />
Stadtteile, wie dieser gewöhnliche hier,<br />
in <strong>ein</strong>em Außenbezirk von Manaus. Die<br />
Hauptverkehrsader nennt hier jeder „Rua do<br />
Comércio“, ganz <strong>ein</strong>fach Straße des Kommerzes,<br />
Einkaufsstraße. Ob sie auch <strong>ein</strong>en wirklichen<br />
Namen hat? Verblüffend der doch sehr<br />
eigenwillige Mix der Geschäfte: Drei oder vier<br />
ziemlich große Pet-Shops, mindestens <strong>ein</strong><br />
Dutzend oder sind es noch mehr? Drogerien <strong>und</strong><br />
Apotheken, <strong>und</strong> unzählige kl<strong>ein</strong>e Boutiquen, die<br />
alle Damen- oder Kinderkleider anbieten,<br />
dazwischen noch zwei oder drei Papeterien, <strong>ein</strong><br />
unwahrsch<strong>ein</strong>lich lausig hergerichteter, aber<br />
ausgezeichnet frequentierter DVD-Verleih <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>en Bauhandel – spiegelt wohl den realen<br />
Bedarf der Anwohner.<br />
wohl nur die Kleidchen <strong>und</strong> die Lederschühchen,<br />
ohne die <strong>ein</strong>ige ganz verwöhnte k<strong>ein</strong>e Pfote auf<br />
die Straße setzen dürfen. Sicher wohnen sie in<br />
<strong>ein</strong>em dieser modernen Winzappartements <strong>und</strong><br />
sind aus diesem Winkel betrachtet, gar privilegiert,<br />
können sie doch immerhin hin <strong>und</strong> wieder<br />
spazieren gehen.<br />
Allerdings hätte ich nicht den Mut, m<strong>ein</strong>en<br />
Pinscher dem hiesigen Pet-Shop anzuvertrauen.<br />
Preist zwar auf starkgelbem Gr<strong>und</strong> das übliche<br />
Programm an: „Banho e tosa“ - Baden <strong>und</strong><br />
Trimmen, aber das Geschäft nennt sich ganz<br />
<strong>ein</strong>fach – Dobermann! Dobermann: Nomen est<br />
omen hat sich wohl auch der geschickte<br />
Werbemaler gedacht <strong>und</strong> gleich unter den<br />
Schriftzug <strong>ein</strong>en überaus naturgetreuen, ziemlich<br />
bissigen Dobermann hin gepinselt!<br />
Besonders faszinieren mich die Pet-Shops.<br />
Brasilianische H<strong>und</strong>e der gehobeneren Klassen<br />
<strong>und</strong> recht oft auch <strong>ein</strong>heimische Hauskatzen (!)<br />
baden, obligatorischerweise (!), <strong>ein</strong>mal pro<br />
Woche. Recht auf das komplette Programm:<br />
Shampoo, natürlich mit Weichmacher, bei hellen<br />
H<strong>und</strong>en gar mit Extra-Weißmacher oder<br />
Aufheller, Bürsten, Trimmen, Schleifchen,<br />
Krawättchen, <strong>und</strong> als Krönung des Meisterwerks,<br />
Parfüm, H<strong>und</strong>eparfüm. Müssen diese fremden<br />
<strong>und</strong> synthetischen Gerüche hassen, die nur den<br />
Nasen ihrer Besitzer schmeicheln. Schlimmer sind<br />
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Haus des Kreateurs<br />
Produkte für Landwirte, Tierhalter <strong>und</strong> Tierärzte<br />
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Hierher, liebe Käuferin, schauen Sie hier, verehrte K<strong>und</strong>in!<br />
- „Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“ – Hei, Frau<br />
Doktor – Was befielt die Frau Patronin? - ob ich<br />
wohl gem<strong>ein</strong>t bin? – „Moça, psst, moça! Psiu!” -<br />
Mädchen, psst, psiu! gefällt mir schon besser. Die<br />
in unseren Breitengraden überaus anzüglichen,<br />
scharfzüngigen „Psius“ lassen mich kalt, anders als<br />
die liebe europäische Fre<strong>und</strong>in, die jedes Mal<br />
zusammenzuckte, wenn wieder <strong>ein</strong>er fre<strong>und</strong>lichungehörig<br />
um unsere Aufmerksamkeit zischte.<br />
– „Tia, psiu, Tia“, Tante, ruft´s schon auf dem<br />
Parkplatz. Ein paar kl<strong>ein</strong>e Jungen reißen sich<br />
darum, wem sie hier auf dem Markt die immer<br />
volle werdende Taschen <strong>und</strong> den Einkaufswagen,<br />
natürlich gegen <strong>ein</strong> Trinkgeld, nachtragen <strong>und</strong><br />
nachschieben dürfen. Wir wählen Eniwandro -<br />
oder war s<strong>ein</strong> Name Waston, was sich wie Uoston<br />
ausspricht? die Baseballmütze verwegen verkehrt<br />
auf dem Kopf. Etwas gelangweilt aber folgsam<br />
karrt er den immer voller werdenden Wagen<br />
hinter uns her.<br />
Klappern gehört zum Handwerk. - M<strong>ein</strong>e Liebste!<br />
– m<strong>ein</strong>e Gute -, geschäftstüchtig zärtlich. Ehe man<br />
sich´s versieht, überschreitet man die unsichtbare<br />
Linie <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er ruft mehr – Mädchen ! - oder<br />
„Tia“, Tante, Intimität vortäuschend. Man gehört,<br />
der grauen Haare wegen, zum sogenannten<br />
„besten Alter“, wird respektvoll - „Signora“ -<br />
gerufen.<br />
Der Markt, anachronischerweise beginnt er so<br />
gegen 16h00 Uhr, bekommt <strong>ein</strong> spezielles Flair,<br />
wenn sich die unendlich vielen blauen<br />
Plastikplanen gegen den immer dunkler<br />
werdenden Himmel abheben <strong>und</strong> die an losen<br />
Drähten herunterhängenden Glühbirnen die<br />
Waren in ihren unerbittlichen Lichtkegeln bannen.<br />
Auch hier geht das Klappern weiter.<br />
Handgeschrieben preist <strong>ein</strong>e Wellpappe <strong>und</strong> drei<br />
oder vier, der Länge nach aufgeschnittene,<br />
Prachtexemplare die allersüßesten<br />
Wassermelonen aus Roraima, <strong>ein</strong> Nachbarstaat,<br />
an. Der Preis ist gleich doppelt angezeigt: R$ 10,00<br />
Reais. Verlangsamt man den Schritt, bleibt man<br />
mit den Augen etwas länger hängen, beginnt der<br />
Verkäufer schon zu locken. „Ai, Doutora!“ –<br />
„Manda Patroa“! Gleich daneben Bananen. Ein<br />
halb reifes Riesenbüschel kurzer, dicker Exemplare<br />
<strong>und</strong>, schon in handlichere Vierer- oder<br />
Fünferbüschel runtergeschnitte Langbananen, fast<br />
unterarmlang <strong>und</strong> sichelförmig werben, wie die<br />
Riesentrauben Pupunhas, <strong>ein</strong>e Palmfrucht, s<strong>ein</strong>e<br />
Kokosnüsschen sind kirsch-bis pflaumengroß <strong>und</strong><br />
man isst sie gekocht, ihr Geschmack erinnert von<br />
ferne an Kartoffeln, für sich selbst. Gerne hält der<br />
Verkäufer, s<strong>ein</strong> türkisfarbenes Shirt ist der<br />
perfekte Kontrast zu den orangen <strong>und</strong> gelben<br />
Pupunhas, es gibt auch gelbgrünliche, rote oder<br />
fast dunkelrote, zwei riesige Büschel fürs <strong>Foto</strong><br />
hoch. Er empfiehlt die hier: „Ai, Doutora,“ –<br />
„Manda Patroa“ - Garantiert! Sehen Sie? Die hat<br />
schon irgend<strong>ein</strong> Vogel angepickt. Die cleveren<br />
Viecher suchen sich immer die Besten aus! -<br />
Mache es aber ganz anders <strong>und</strong> bitte ihn mir<br />
doch von jedem Bündel drei oder vier, gar <strong>ein</strong><br />
Dutzend runter zu schneiden. Die<br />
Pfefferfrüchtchen „Psst, Doutora, só dispor<br />
Fregesia ....!“ „Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“<br />
gibt es in allen Schärfen, Formen <strong>und</strong> Farben. Als<br />
Maßbecher dient <strong>ein</strong>e ausgediente Blechbüchse.<br />
Auch bei den herunter gerollten, recycelten<br />
Mehlsäcken, doppelreihig im halben Dutzend<br />
hinter<strong>ein</strong>ander aufgestellt, kauft man per Liter,<br />
<strong>ein</strong>e schon etwas havarierte Öldose voll. Neben<br />
Fisch, Früchte <strong>und</strong> Gemüse gibt es auch <strong>ein</strong>en<br />
Fast Food- <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Non Food-Teil. Hier kann<br />
ich mich mit den typischen Pastel, ausfrittierte,<br />
gefüllte Teigtaschen, „Moça, psst, moça! Psiu!” -<br />
Pastel, Pastel, die besten der ganzen Stadt! – sie<br />
fehlen auf k<strong>ein</strong>em Markt, <strong>ein</strong>decken, oder gleich<br />
auch m<strong>ein</strong>e Garderobe vervollständigen. Das<br />
Angebot an gepunkteten <strong>und</strong> geblümten Slips ist<br />
umwerfend, aber es gibt auch Kleider, nicht<br />
gerade liebevoll auf halben, transparenten<br />
Plastikbüsten ausgestellt.<br />
Daneben werben grellstfarbene Haarklammern,<br />
neben<strong>ein</strong>ander auf <strong>ein</strong> bodenlanges Metallnetz<br />
geklemmt. Auch an die Kl<strong>ein</strong>sten ist gedacht: -<br />
„Ai, Doutora!“ – „Manda Patroa“ Ballone, schöne<br />
Ballone! – <strong>ein</strong> prall aufgeblasener Dinosaurier,<br />
Superman mit rotem Cape, noch von <strong>ein</strong>em<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 526
hellen Faden gebändigt.<br />
Haben Sie Ihre Markttasche vergessen, zu viel<br />
<strong>ein</strong>gekauft? – „Moça, psst, moça, Psiu!“ - Taschen,<br />
praktische Taschen, <strong>ein</strong> Real! - Buntfarbene<br />
recycelte Plastikplanen, wie wär´s mit dieser, die<br />
früher mal prickelnd für Bier warb, werden zu<br />
<strong>ein</strong>fachen Tragetaschen oder haltbaren Einkaufstaschen<br />
mit erstaunlichem Fassungsvermögen.<br />
Wenn Ihre Reise länger dauert, gar übers Wasser,<br />
wie wär´s denn mit <strong>ein</strong>em recycelten H<strong>und</strong>efuttersack?<br />
K<strong>ein</strong> Plastik ist dauerhafter <strong>und</strong><br />
geschickte Hände haben ihm zwei praktische<br />
Henkel angenäht. Am besten gefällt mir aber der<br />
Korb, aus gelben <strong>und</strong> grünen extra-starken<br />
Plastikverpackungsstreifen geflochten. Wird wohl<br />
Jahre den Dienst versehen.<br />
Folkloristischer wohl nur die Stände mit den<br />
ausgefallensten Kräutermedizingebräuen, die es<br />
allerdings nur auf den Hauptmärkten gibt. Sie<br />
haben das Anpreisen nicht nötig – „Ei, Doutora!“<br />
– „Manda Patroa“die listig abgebrühten Verkäufer<br />
versprechen ihre K<strong>und</strong>en von fast allem zu heilen,<br />
überzeugen mit unübersichtlicher Fülle, die<br />
hängt, steht, im Wind schaukelt, frisch oder<br />
getrocknet, in Alkohol <strong>ein</strong>gelegt oder zu<br />
handlichen Bündeln zusammengeb<strong>und</strong>en, im<br />
Naturzustand, oder schon handlich verpackt:<br />
Rinden, Wurzeln, Ästchen, Blätter, Kräuter, Öle,<br />
Harze, Knollen, Pflanzensäfte, Hörner, Fette, pur<br />
oder nach Hausrezept oder dem Wunsch der<br />
lieben Käuferschaft gemischt, die Naturapotheke<br />
des ganzen Regenwaldes ist hier versammelt. Am<br />
meisten faszinieren wohl die abgefüllten Bäder,<br />
Parfums, r<strong>ein</strong>igende Räucherstäbchen <strong>und</strong> andere<br />
Präparate. H<strong>und</strong>erte von kl<strong>ein</strong>en Flaschen, oft<br />
recycelt <strong>und</strong> mit Korken aus „Burití“ verschlossen,<br />
<strong>ein</strong>en billigen, weißen Baumwollfaden vielfach um<br />
den Flaschenhals gerollt, in riesigen Trauben vor<br />
die Baracke gehängt, transparente, <strong>und</strong>urchsichtige,<br />
gar trübe oder milchig helle Flüssigkeiten.<br />
Der Inhalt auf der handgeschriebenen Etikette<br />
wird unter den sprechenden Händen des<br />
Verkäufers noch magischer. Die Seife hier<br />
garantiert den alten, <strong>ein</strong>en neuen Liebhaber, das<br />
schwere Parfüm zieht K<strong>und</strong>schaft an, der<br />
Zaubertrank verdonnert garantiert <strong>und</strong> für immer,<br />
sowohl den Fre<strong>und</strong> wie auch den Ehemann zu<br />
immerwährender Treue. Es gibt k<strong>ein</strong>en bösen Blick<br />
oder Fluch, der ihnen widersteht: Macht <strong>ein</strong>en<br />
Gehörnten fügsam oder räumt unliebsame<br />
Hindernisse aus dem Weg, schon w<strong>ein</strong>t der<br />
Angebetete zu m<strong>ein</strong>en Füßen.<br />
Halt, nur nicht zu lange stehen bleiben. Sehen Sie,<br />
schon ruft´s: - „Psst, Doutora, só dispor<br />
Fregesia ....!“ -<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 527
Deutscher Branntw<strong>ein</strong><br />
In <strong>ein</strong>er der vielen Drogerien stoße ich, inmitten<br />
allerlei Tinkturen <strong>und</strong> altmodischer<br />
Hausmittelchen, auf das kl<strong>ein</strong>e Fläschchen mit<br />
grünem Verschluss <strong>und</strong> grüner Etikette:<br />
„Aguardente Alemã“ – Deutscher Branntw<strong>ein</strong>, das<br />
„ALEMÓ – Deutsch, fett <strong>und</strong> auffällig gedruckt.<br />
Auf der Etikette lese ich, dass es sich um die<br />
Tinktur <strong>ein</strong>er lokalen Firma handle, <strong>und</strong> dass das<br />
Medikament in kl<strong>ein</strong>en Dosen oder Tropfen<br />
genommen werden soll. Aber warum ALEMÃO?<br />
Deutsch? Die Frage beschäftigt mich, ich kaufe<br />
das Fläschchen für <strong>ein</strong> paar Reais.<br />
Tinktur aus Jalapa Composta – aha, Jalapa ist die<br />
kl<strong>ein</strong>e Knolle <strong>ein</strong>er Pflanze, in der Volksmedizin als<br />
Abführmittel verwendet. Macht Sinn, als ich die<br />
Anwendungsbereiche lese: laxierend <strong>und</strong> purgativ<br />
- abführend!!! Vorgeschlagene Dosierung:<br />
1 Suppenlöffel = laxierend, abführend,<br />
2-3 Suppenlöffel purgativ, stark abführend. Gut<br />
schütteln <strong>und</strong> verdünnt in etwas Zuckerwasser<br />
<strong>ein</strong>nehmen!<br />
Wo genau die Verbindung zwischen Purgativ,<br />
(wohl gar <strong>ein</strong> Purgatorium) <strong>und</strong> Deutsch liegt,<br />
überlasse ich der Fantasie <strong>und</strong> Kreativität des<br />
Lesers! Das Einnehmen mit Zuckerwasser aber ist<br />
definitiv brasilianisch! Es würde doch wohl<br />
k<strong>ein</strong>em Deutschen <strong>ein</strong>fallen, bittere Medizin mit<br />
viel Zucker zu versüßen! Aber vielleicht haben sie<br />
nicht unrecht - wozu denn unnötig leiden?<br />
Späte <strong>und</strong> andere Ein- <strong>und</strong> Ansichten<br />
„Se eu pudesse, voltaria lá atrás. Nessa época eu<br />
era feliz e não sabia.”<br />
Ach, könnte ich nur die Zeit zurückdrehen! Denn<br />
damals war ich glücklich – ich wusste es nur<br />
leider nicht!<br />
Tierisches<br />
“Bicho de manga, manga é. Bicha de goiaba,<br />
goiaba é.”<br />
Die Tierchen* der Mango sind ebenfalls Mango.<br />
Die Tierchen* der Guave werden zu Guave.<br />
*Die brasilianischen Fruchtfliegen sind sehr aktiv.<br />
Oft hat man k<strong>ein</strong>e Wahl. Entweder isst man die<br />
angefallene Frucht nicht oder man isst die<br />
kl<strong>ein</strong>en Würmer mit, indem man sie zur Frucht<br />
erklärt, wie es die brasilianische Redensart<br />
vorschlägt.<br />
Der schwarze Parkwächter über m<strong>ein</strong>e schwarze<br />
Hündin, die ziemlich rassistisch ist: - «Mas ela é<br />
tão preta quanto eu! Porque ela não gosta de<br />
mim?» -<br />
Sie ist genauso schwarz wie ich! Warum mag sie<br />
mich denn nicht?<br />
“Bonito o cachorro. A única coisa que não gosto<br />
que ele tem o meu nome.”<br />
Schöner H<strong>und</strong>. Das <strong>ein</strong>zige, was mir nicht gefällt,<br />
dass er genauso heißt wie ich! (Preta)<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 528
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 529
Im Kreuzfeuer<br />
Sie versuchen es auf die unterschiedlichsten,<br />
allerdings nicht sehr kreativen Arten, am<br />
penetrantesten ist wohl die Lautstärke, mich von<br />
ihrer Musikalität zu überzeugen. Dumpf <strong>und</strong><br />
gleichmäßig stampfen <strong>und</strong> pumpen die Bässe,<br />
über die der oder die Sänger/in <strong>ein</strong>en grölenden<br />
Klangteppich mit möglichst obszön-ordinären<br />
Texten schreit. Habe das äußerst zweifelhafte<br />
Vergnügen, mich sozusagen übers Kreuz <strong>und</strong> bis<br />
in alle Morgenst<strong>und</strong>en vom doch etwas<br />
<strong>ein</strong>fachen, ziemlich <strong>ein</strong>seitigen Musikgeschmack<br />
m<strong>ein</strong>er Vor-, Hinter- <strong>und</strong> Nebennachbarn<br />
überzeugen zu können. Vielleicht handelt es sich<br />
um <strong>ein</strong>en Wettbewerb? Ob sie gar um den Preis<br />
der ordinärsten Musik buhlen? Auch mit sehr viel<br />
Wohlwollen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er Toleranz, die <strong>ein</strong>em Engel<br />
wohl anstände, gelingt es mir nicht, ins Klima<br />
<strong>ein</strong>zustimmen, dem Pressluftgehämmer auch nur<br />
das Geringste abzugewinnen.<br />
Sie legen immer wieder ganz unerwartet los.<br />
Sicher haben sie sich nicht abgesprochen,<br />
trotzdem beginnt das Kreuzfeuer fast gleichzeitig,<br />
die letzte Potenz <strong>und</strong> die hinterletzten Dezibels<br />
ausreizend, die ihre mobilen, voll aufgedrehten,<br />
super-potenten Lautsprecherkunstwerke,<br />
kunstvoll ganze Kofferräume <strong>ein</strong>es Mittelklassewagens<br />
füllend, hergeben. Werden noch lauter,<br />
wenn sie die Heckklappe <strong>und</strong> alle Türen weit<br />
aufreißen, um den So<strong>und</strong> so richtig<br />
herausschallen zu lassen, auf öffentlichen Plätzen<br />
genauso wie am Strand. Immer gibt es irgendwie<br />
<strong>ein</strong>e Möglichkeit, mit dem lautstarken Auto ganz<br />
dicht hinunter oder heraufzufahren, zum Beispiel<br />
zu dem exponiert auf <strong>ein</strong>em Hügel gebauten Haus,<br />
von dem die Rhythmen dann auf den halben See<br />
herunterpreschen. Man will doch auch beim Jet-<br />
Ski-Fahren nicht auf den dümmlichen Rhythmus<br />
verzichten. Außer mir sch<strong>ein</strong>t es k<strong>ein</strong>en wirklich zu<br />
be<strong>ein</strong>trächtigen, schließlich haben wir Karneval<br />
<strong>und</strong> da ist alles erlaubt, besonders wenn man die<br />
ganze Geld- <strong>und</strong> Machtsociety um sich herum<br />
versammelt hat. N<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>greifen lohne sich nicht,<br />
man wisse bei solchen Anlässen oder Feiertagen<br />
nie, welche Drogen oder welcher Alkoholpegel im<br />
Spiel sei <strong>und</strong> die lieben Nachbarn wohl etwas<br />
schwerhörig, respektive taub gemacht habe.<br />
Stoisch aussitzen ist angesagt. Die Polizei zuckt,<br />
auch wenn man morgens um drei persönlich<br />
vorbeigeht, nur mit den Schultern. K<strong>ein</strong>er wagt es,<br />
das verlängerte Wochenende ist sowieso schon<br />
bald vorbei, sich mit den ignoranten, reichen <strong>und</strong><br />
halbstarken Nachbarn anzulegen, denn hier regiert<br />
Geld <strong>und</strong> Beziehungen die Welt oder die Politik.<br />
Trinke noch <strong>ein</strong>e Caiprinha <strong>und</strong> stopfe mir die<br />
Ohren zu. Das jedenfalls wird mir, auch mitten im<br />
Kreuzfeuer, vielleicht etwas Schlaf garantieren.<br />
Irgendwann erinnere ich mich auch an die<br />
Geschichte, die mir <strong>ein</strong> Bekannter erzählte. Er<br />
stammt aus Belém <strong>und</strong> nahm an <strong>ein</strong>em<br />
Studentenaustauschprogramm in Frankreich teil.<br />
Bald schloss er Fre<strong>und</strong>schaft mit <strong>ein</strong> paar<br />
Algeriern, die ihn auch umgehend zum Ausgehen<br />
<strong>ein</strong>luden. Was für <strong>ein</strong> Kulturschock, als er<br />
merkte, dass sie sich am Samstagabend nicht wie<br />
in s<strong>ein</strong>er Heimat, <strong>ein</strong>fach zusammen mit<br />
ohrenbetäubender Musik zudröhnen würden.<br />
Die jungen Leute machten nicht nur<br />
Konversation, sondern diskutierten heftig <strong>und</strong><br />
hatten alle <strong>ein</strong>e eigene M<strong>ein</strong>ung!!! Sowas hatte<br />
er, siehe Kreuzfeuer, in s<strong>ein</strong>er Heimat nie erlebt.<br />
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Hinter Gittern<br />
Zwei Bilder haben sich von m<strong>ein</strong>er allerersten<br />
Reise in den Amazonas in m<strong>ein</strong>e Erinnerung<br />
<strong>ein</strong>gebrannt. Eine quer durchs nachtschwarze<br />
Wohnzimmer gespannte Hängematte, in der ich<br />
trotz des Halbdunkels <strong>ein</strong>e Person weiß. Ein<br />
Finger, an den M<strong>und</strong> gelegt, gebietet Stille <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong> paar Gesten machen mir klar, dass es sich<br />
wohl um die Hausangestellte der Gastgeber<br />
handeln muss. Wir bücken uns so leise wie<br />
möglich unter der Hängematte durch -<br />
Privatsphären werden hier im Norden etwas<br />
anders gehandhabt. Man wohnt, getrennt durch<br />
sehr viele Gitter, sehr nah auf<strong>ein</strong>ander. Immer<br />
bellen auch der Fernseher oder das Radio des<br />
Nachbarn, ständige Geräuschkulisse immer<br />
irgendwo im Hintergr<strong>und</strong>.<br />
Das zweite Bild: Der heftige Regenguss fällt schräg<br />
durch das Türgitter mitten in den Wohnbereich.<br />
Peitscht heftig <strong>und</strong> urgewaltig auf den st<strong>ein</strong>ernen<br />
Fußboden. K<strong>ein</strong> Glas, k<strong>ein</strong> Holzladen hindert ihn<br />
daran. Wozu auch? Bei konstanten Temperaturen<br />
um die 30 Grad ist der erfrischende Regen<br />
hochwillkommen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bisschen Wasser schnell<br />
weggewischt. Der Regen aber, der ungehindert<br />
durchs Türgitter <strong>ein</strong>dringt <strong>und</strong> die unendlich<br />
vielen anderen Gitter lassen mir bis heute k<strong>ein</strong>e<br />
Ruhe.<br />
Schmalbrüstig klebt hier in den Städten <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>zimmerbreites Haus am identisch nächsten.<br />
Gleich hinter dem engen Bürgersteig steigen die<br />
Gitter hoch. Identisch auch sie, verriegeln die<br />
gleiche oder fast, tausendste Variante des<br />
halbmetertiefen Eingangsbereichs, zugekachelt,<br />
zubetoniert. Die obligate Ziertischstuhlgarnitur,<br />
mit den abwaschbaren Plastikkissen, schon etwas<br />
abgeschossen, quetscht sich zwischen zwei<br />
altmodische Blumentöpfe. Den kümmerlichen<br />
Zierpflanzen fehlt an Licht, was sie an Wasser zu<br />
viel bekommen. Manchmal belebt <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er,<br />
aggressiver Köter oder <strong>ein</strong> halb nacktes<br />
Windelkind das Stillleben. Auch Halbwüchsige mit<br />
speziellen Bedürfnissen werden zum Luftschöpfen<br />
in diesem Käfig untergebracht. Muss auch noch<br />
der Familienwagen hinter Gitter, greift man listig<br />
Besitz des öffentlichen Raumes. Lässt in den Zaun<br />
in der Höhe des Kofferraums <strong>ein</strong>e Art Ausbuchtung,<br />
wie <strong>ein</strong>en Hintern <strong>ein</strong>bauen, Platz genug für<br />
den Kofferraum des Firmenwagens.<br />
Wird man ins Hausinnere <strong>ein</strong>geladen, vielleicht zu<br />
<strong>ein</strong>em Kaffee in die Küche, kann man das<br />
Schmalbrüstige auch ganz konkret erleben. Man<br />
durchquert nämlich entweder <strong>ein</strong>en endlos langen<br />
Korridor, so schmal, dass man dessen Wände<br />
beidseitig problemlos greifen könnte, von dem alle<br />
Zimmer abgehen oder geht durch <strong>ein</strong>e endlose<br />
Reihe von Zimmern, <strong>ein</strong>s nach dem anderen, bis<br />
man endlich ganz hinten in der Küche landet.<br />
Dahinter nur der mit allerlei Krimskrams<br />
vollgestopfte Hinterhof.<br />
In all diesen Häusern <strong>und</strong> auch allen anderen,<br />
beginnt mit dem frühen, abrupten Her<strong>ein</strong>fallen<br />
der Nacht das große Ein- <strong>und</strong> Zuschließen,<br />
typisch für alle urbanen Zentren. Auch in den mit<br />
Gittern, inklusive Fernbedienung abgeschlossenen<br />
Wohnstraßen, verbarrikadieren man sich.<br />
Nur mich sch<strong>ein</strong>t die buchstäblich gefangene, nur<br />
vom Ventilator ständig durchmühlte Hitze fast zu<br />
ersticken. Auch den zwei, drei, von Nachrichten<br />
unterbrochenen Novelas, von denen man sich<br />
mindestens <strong>ein</strong>e ansehen muss, versüßen mir<br />
das Gefangenens<strong>ein</strong> nicht.<br />
In großen Städten ist alles vergittert. Es gibt Tür<strong>und</strong><br />
Fenstergitter, Gitterzäune, Abschrankungen,<br />
auch der Balkon im zweiten Stock ist vergittert.<br />
Manche Häuser sind richtige Käfige, denn wer<br />
sagt denn, dass die Diebe nicht vielleicht durchs<br />
Dach <strong>ein</strong>steigen? M<strong>ein</strong>e Versuche, den f<strong>ein</strong><br />
ziselierten <strong>und</strong> eleganten, von geschickten<br />
Handwerkern zu Ornamenten <strong>und</strong> Arabesken<br />
verdrehten <strong>und</strong> geschmiedeten Eisen <strong>ein</strong>e<br />
gewisse Ästhetik abzugewinnen, scheitern.<br />
Vergeblich, sie als nützliche, eiserne Kunstwerke<br />
anzusehen, in ihren exotischen Ornamenten<br />
erstarrte Klöppelspitzen sehen zu wollen,<br />
dekorativ <strong>und</strong> filigran. Es bleiben aufwendig<br />
gearbeitete Barrieren, die so tun, als ob sie nur<br />
Schleier wären, diskret <strong>und</strong> romantisch im<br />
Zwiegespräch mit der Architektur. Schlimmer<br />
noch die aggressiv massiven Eisenbolzen, die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 537
grob ausgestanzten Geflechte, durch die kaum <strong>ein</strong><br />
Lichtstrahl dringt. Das Versteckspiel gewinnt<br />
das Dunkel, die Schatten. Oft sind sie, da, hoch<br />
oben, von robust aggressiven Lanzen gekrönt<br />
oder noch schlimmer ganz <strong>ein</strong>fach zum Käfig<br />
umgebogen – moderne Diebe sch<strong>ein</strong>en alle <strong>ein</strong>en<br />
Radikalkletterkurs absolviert zu haben.<br />
Laufe Geviert um Geviert ab <strong>und</strong> alle <strong>und</strong> alles ist<br />
mannshoch, haushoch vergittert. Eine ganze<br />
Bevölkerung hat sich hinter Gitter gerettet,<br />
verschanzt. Nur die uralte Tante weigert sich,<br />
diese neue, perverse Welt zu verstehen.<br />
Hartnäckig stößt sie immer wieder den<br />
Fensterladen auf. Er geht direkt auf die Straße. Sie<br />
lehnt sich hinaus, wie sie es <strong>ein</strong> Leben lang<br />
gemacht hat. Bis es dann <strong>ein</strong>em ihrer Betreuer<br />
auffällt <strong>und</strong> er sie unter Protest, voller<br />
Unverständnis <strong>und</strong> Unwillen, loseist. Den Laden<br />
schließt, gar mit <strong>ein</strong>em langen Brett von innen<br />
verbarrikadiert. Sie wollte sich doch nur, wie<br />
früher, Beschäftigung lauschiger Nachmittage, das<br />
Kommen <strong>und</strong> Gehen auf der Straße, heute ja so<br />
gefährlich, ansehen!<br />
Will lieber k<strong>ein</strong>e Nagelprobe machen, wie real die<br />
in Bild <strong>und</strong> Ton von den niveaulosen<br />
Fernsehprogrammen <strong>und</strong> bluttriefenden<br />
Lokalblättern dargestellte verheerte Welt voller<br />
Schlechtigkeiten wirklich ist. Drehe, was für <strong>ein</strong>e<br />
lächerliche Rache, den Spieß um! Beginne die<br />
absurdesten Gitter zu sammeln. Da sind mal die als<br />
Gesamtpaket in Auftrag gegebenen: Eisen für<br />
Fenster, Türen <strong>und</strong> natürlich, falls vorhanden,<br />
auch für die Balkone. Sozusagen als Dr<strong>ein</strong>gabe<br />
<strong>ein</strong>en Tisch <strong>und</strong> mehrere Stühle oder Bänke im<br />
selben Muster, so eisern wie unbequem, fast<br />
wette ich, dass sie noch nie jemand benutzt hat.<br />
Surrealer nur die Sitzbank mitten auf dem<br />
belebten Bürgersteig, sicher hochwillkommen bei<br />
<strong>ein</strong>er akuten Herzattacke oder plötzlicher<br />
Atemnot. Sitze <strong>und</strong> Rückenlehne wiederholen das<br />
unbeholfen grobe Muster der zugepflastert,<br />
Pardon zugegitterten Fenster.<br />
Schlimmer nur das Haus oder wohl besser <strong>ein</strong>e Art<br />
Aufbewahrungsraum, in <strong>ein</strong>em Außenquartier von<br />
Manaus. Gleich neben das <strong>ein</strong>zige, der Straße<br />
zugewandte Fenster hat der aufmerksame Maurer<br />
die ach so dekorative Kiste der Klimaanlage<br />
platziert. Hinterlistige Dinger, die plopp, nichts<br />
ahnende im Vorbeigehen mit dicken, ekligen<br />
Tropfen Kondenswasser taufen, am liebsten<br />
mitten auf den frisch gewaschenen Scheitel. Vor<br />
das, wie oben bemerkt <strong>ein</strong>zige Fenster hat er, auf<br />
<strong>ein</strong>em Vorsprung abgestützt, <strong>ein</strong>e Doppellinie<br />
dicker, vorfabrizierter Betonsäulen gepfercht. So<br />
eng <strong>und</strong> so düster gedrängt, dass es ja k<strong>ein</strong>em<br />
Sonnenstrahl <strong>ein</strong>falle, sich vorwitzig ins Innere zu<br />
trauen!<br />
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Art-Cabocla<br />
Sie sind, wie so vieles hier, vergänglich, dekorativ,<br />
Gebrauchskunst. „Arte cabocla“, echte<br />
Volkskunst, bunt, grellbunt, populär im weitesten<br />
<strong>und</strong> engsten Sinne, modern als „Graffitis“<br />
bezeichnet ließe sich aber auch als Art-brut oder<br />
Naive Kunst <strong>ein</strong>ordnen. Hätten gar <strong>ein</strong> Museum<br />
verdient! Als Gebrauchskunst schmücken sie<br />
Mauern, zieren den Festplatz genauso wie die<br />
Korridore <strong>ein</strong>es Hotels oder funktionieren als<br />
Hintergr<strong>und</strong> für <strong>ein</strong>e Ladentheke. Sie sind zugleich<br />
Augenschmaus, Hingucker, Verkaufshilfsmittel<br />
<strong>und</strong> Komunikation.<br />
Einen ganzen Zoo treffe ich, nomen est omen,<br />
r<strong>und</strong> um die Baracke der <strong>ein</strong>fachen Parkbar. Der<br />
übergroße, leucht-blau-gelbe Papagei, <strong>ein</strong>e<br />
„Arara“, sitzt still <strong>und</strong> etwas dicklich auf <strong>ein</strong>em<br />
dürren Ast, ist im Profil dargestellt, hat ihr Auge<br />
genau jenen abwägenden, analytischen<br />
Papageienblick. Auch das „Bem.te.v“i-Kücken,<br />
vom Maler genauso mit Punkt geschrieben, ist<br />
sehr gut getroffen, sch<strong>ein</strong>t aber noch etwas<br />
erschrocken, vielleicht erst kürzlich flügge<br />
geworden. Großes Geschick <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e klare Idee<br />
von Perspektive verrät der naive Maler beim<br />
Zeichnen der Krallen. Er sch<strong>ein</strong>t den Vogel in der<br />
Natur sehr gut beobachtet zu haben. M<strong>ein</strong><br />
absoluter Favorit ist aber der fliegende Panther,<br />
verzeihen Sie mir den Übernamen, aber er ist <strong>ein</strong><br />
Meisterstück naiver Malerei. Genau auf der<br />
Grenze zwischen Kopie <strong>und</strong> Eigenschöpfung<br />
sch<strong>ein</strong>t m<strong>ein</strong>e Katze mitten in <strong>ein</strong>em<br />
wahnwitzigen Flug/Sprung erstarrt, sch<strong>ein</strong>t Flügel<br />
zu haben, schwebt reglos über <strong>ein</strong>em dunkelorangen<br />
in den Flammen <strong>ein</strong>es tropischen<br />
Abendrotes stehenden Himmels. Ob sie das denn<br />
nur in der Fantasie des Porträtisten kann oder<br />
auch im Volksglauben? Für mich hat er sozusagen<br />
ihren Mythos nachkreiert.<br />
Je nach Professionalität <strong>und</strong> Kunstfertigkeit des<br />
Ausführenden präsentieren sie sich als naive<br />
Pinselei mit unverfälschter Bildsprache, voller<br />
Details <strong>und</strong> manchmal ungeschliffen in den<br />
Proportionen, können aber auch zum kompliziert<br />
kommerziellen Airbrush ausreifen. Statt der<br />
Wünsche <strong>und</strong> Träumer der Autoren bilden sie oft<br />
das Universum des Käufers ab, nicht von ungefähr<br />
gibt es überall Delphine <strong>und</strong> Panter, die berühmt<br />
berüchtigten „Onças“. Auch landschaftliche<br />
Allegorien sind beliebt oder Darstellungen der<br />
Lebensweise imaginärer indigener Vorfahren <strong>und</strong><br />
ihrer tagtäglichen Verrichtungen.<br />
Amazonische Varianten der Hinterlandidyllen oder<br />
des röhrenden Hirsches.<br />
letzten<br />
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Urbanes<br />
<strong>Amazonien</strong><br />
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Urbanes <strong>Amazonien</strong><br />
Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte - <strong>ein</strong> historischer Abriss 556-560 <strong>und</strong> 566-570<br />
Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I 579-582<br />
Belém der Jesuiten, Museu de Arte Sacra Santo Alexandre 585<br />
Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II 598<br />
Kacheln 601-602<br />
Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige 608/609<br />
Belém modern 614<br />
Von den Mangobäumen 616<br />
Museum Goeldi, Belém 620/621<br />
Paris in den Amerikas 629/630<br />
Wenn die Tiere um ihr Glück spielen 633<br />
Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit 645-647<br />
Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates 653<br />
Im Hinterhof 654<br />
Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro 632-634<br />
Manaus 665/666<br />
Manaus große alte Lady, das Theater 672-674<br />
National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque 683/684<br />
An der Bushaltestelle 686/687<br />
Im Museum des Kautschuks 693<br />
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Belém<br />
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Belém, im Auge des Tropensturms Geschichte - <strong>ein</strong> historischer Abriss<br />
Entlang der waagrechten Klinge, die messerscharf<br />
<strong>und</strong> ohne die geringste Erhebung das<br />
schlammtrübe Meer süßen, endlos weiten<br />
Wassers zerschneidet, erheben sich in der Ferne<br />
die Silhouetten <strong>und</strong> noch mehr Silhouetten<br />
monochromatischer, angegrauter Gebäude,<br />
funktionell, hässlich-modern. Noch <strong>ein</strong>e jener<br />
uniformen Städte, globalisiert <strong>und</strong> gesichtslos,<br />
gäbe es da nicht die Kirchen, der Verputz<br />
kalkweiß, die Fassaden barocke Scherenschnitte,<br />
stumme Zeugen <strong>und</strong> langsam wiederentdeckte<br />
Erinnerungen an die Kolonialzeit, dem Delta des<br />
Flusses, den unendlichen, schlammfarben<br />
Wassermassen zugewandt, auf dem die kurzstämmigen<br />
Boote im immerwährend feuchtfruchtbaren<br />
Klima vor sich hin dümpeln. Ich<br />
wette, dass sich die Formen der Schiffe mit dem<br />
flachliegenden Kiel <strong>und</strong> den ausholend r<strong>und</strong>en<br />
Formen seit Jahrh<strong>und</strong>erten nicht verändert<br />
haben. Sie erinnern mit ihren tief hängenden<br />
Dächern <strong>und</strong> den flachen Bäuchen, <strong>ein</strong>ige sind<br />
zwei oder mehrstöckig, eher an <strong>ein</strong> paar vor sich<br />
hin schlinkernde Sardinenbüchsen als an die<br />
wichtigsten Verkehrsmittel der Region. Die Flüsse<br />
sind hier die Straßen, das Schiff wird zum Bus<br />
oder Zug.<br />
Es sch<strong>ein</strong>t mir, als ob der Kontrast zwischen den<br />
Booten, jedes <strong>ein</strong>zelne Brett von der Hand <strong>ein</strong>es<br />
lokalen Bootsbauers zurechtgeschnitten, <strong>und</strong> dem<br />
anonymen Beton der konventionellen<br />
Hochhäuser genau den Widerspruch oder handelt<br />
es sich gar um Rückständigkeit? dieser Stadt<br />
ausdrückt, denn hier ist so vieles verwirrend<br />
kontrovers, gleichzeitig sehr modern <strong>und</strong> sehr<br />
traditionell/rückständig, sehr kosmopolitisch <strong>und</strong><br />
sehr hinterwäldlerisch. Ein Abbild Brasiliens mit<br />
noch extremeren Zügen, sozusagen amazonischen<br />
Dimensionen.<br />
Die Stadt Belém ist der älteste Zugang <strong>und</strong> bis<br />
heute das Tor zu der riesigen Region <strong>Amazonien</strong>s,<br />
des größten zusammenhängenden<br />
Tropenwaldgebietes, welches etwa fünf Prozent<br />
der gesamten Landfläche der Erde <strong>und</strong> über 40<br />
Prozent des brasilianischen Territoriums bedeckt.<br />
Ein sich fächerförmig ausbreitendes Flusssystem,<br />
durch welches 1/5 des Süßwassers der Welt fließt.<br />
Belém befindet sich damit in <strong>ein</strong>er<br />
Schlüsselposition, sozusagen im Auge des<br />
Hurrikans - fast alles, was mit dem Amazonas zu<br />
tun hat, beginnt <strong>und</strong> endet auf irgend<strong>ein</strong>e Art <strong>und</strong><br />
Weise im Hafen von Belém. Ein Hurrikan, der<br />
Abenteurer, Geschäftsleute, Wissenschaftler <strong>und</strong><br />
Künstler, aus der halben Welt durchgeblasen hat<br />
<strong>und</strong> noch immer durchbläst, jeder mit s<strong>ein</strong>em<br />
eignen Bild vom Garten Eden im Kopf, gekommen,<br />
um mit eigenen Augen zu sehen, neugierig <strong>und</strong><br />
wissensdurstig, früher gar bereit, s<strong>ein</strong>e Ges<strong>und</strong>heit<br />
oder gar das Leben aufs Spiel zu setzen. An s<strong>ein</strong>em<br />
Hafen dockten die globalsten, komplexesten<br />
Persönlichkeiten an, <strong>ein</strong>e illusterer <strong>und</strong><br />
globalisierter als die andere, alle auf der Suche<br />
nach ebendiesem Art Paradies, <strong>ein</strong>em realen<br />
oder verlorenen, so übermächtig <strong>und</strong> so<br />
be<strong>ein</strong>druckend, dass es für <strong>ein</strong>ige auch zur Hölle<br />
wurde: Padre Antônio Vieira, Jesuit, Berater des<br />
portugiesischen Königs, Diplomat <strong>und</strong> Poet,<br />
Francisco Xavier de Mendonça Furtado,<br />
Gouverneur <strong>und</strong> Capitão-General des Staates<br />
Grão Pará <strong>und</strong> Maranhão, Bruder des illusteren<br />
Marques de Pombal, portugiesischer<br />
Premierminister, aufgeklärter Erneuerer<br />
Portugals <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Kolonien, erklärter F<strong>ein</strong>d<br />
der Jesuiten. Die Deutschen Carl Friedrich<br />
Philipp von Martius <strong>und</strong> Johan Babtist Ritter<br />
von Spix, zwei große deutsche Naturforscher<br />
<strong>und</strong> Ethnologen, Euclides de Cunha, Ingenieur<br />
<strong>und</strong> Poet, hergeschickt vom Diplomaten Barão<br />
do Rio Branco, um die Grenze mit Peru zu<br />
ber<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en nie beendeten Klassiker<br />
über den Amazonas zu schreiben, Parcefal<br />
Farquear, nordamerikanischer Unternehmer aus<br />
der Energie- <strong>und</strong> Verkehrsbranche, Cândido<br />
Mariano da Silva Rondon, Bezwinger <strong>ein</strong>es<br />
unbekannten Sertãos (Hinterlandes) <strong>und</strong> des<br />
teuflisch-tödlichen amazonischen Regenwaldes,<br />
durch den er die erste Telegrafenleitung<br />
verlegte. Viele Begegnungen mit den<br />
unterschiedlichsten Indiostämmen machten ihn<br />
später zu deren paternalistischem Beschützer.<br />
Einer der neueren Amazonasstaaten, Rondônia,<br />
ist nach ihm benannt. Theodore Roosevelt,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 556
nordamerikanischer Ex-Präsident auf der Suche<br />
nach Abenteuer <strong>und</strong> dem „Rio da Dúvida“, dem<br />
Fluss des Zweifels, <strong>und</strong> Emanuel Goeldi,<br />
Schweizer, Wissenschaftler <strong>und</strong> Museologe, um<br />
nur die berühmtesten unter sehr vielen anderen<br />
zu erwähnen.<br />
Eine lange Liste, die das Selbstvertrauen dieses<br />
Ortes eigentlich heben sollte, aber <strong>ein</strong>e Stadt<br />
antrifft, die wie parallelisiert zu s<strong>ein</strong> sch<strong>ein</strong>t,<br />
schläft, <strong>ein</strong> tief in tödlichem Schlaf versunkenes<br />
Dornröschen, vergessen, nicht hinter<br />
Dornenhecken versteckt, sondern hinter<br />
unendlich <strong>und</strong>urchdringlichen, schwer<br />
zugänglichen Ur-Wäldern. Eine Stadt, die sich bis<br />
heute nicht vom Schlag erholte, durch den sie<br />
über Nacht den ganzen Glanz <strong>und</strong> Reichtums des<br />
Kautschuks verlor, <strong>ein</strong>fach, weil clevere<br />
Engländer, allen voran Henry Wickham in <strong>ein</strong>em<br />
Akt der Biopiraterie die Samen des Gummibaums<br />
nach Asien schmuggelten. Belém schläft bis heute<br />
den Schlaf <strong>ein</strong>er schönen Unbekannten, denn wer<br />
heute über den Amazonas spricht oder schreibt,<br />
erinnert sich sogleich an das viel jüngere <strong>und</strong><br />
kulturell viel ärmere Manaus, <strong>ein</strong>e Flugst<strong>und</strong>e den<br />
Amazonas hoch.<br />
Belém liegt am Delta des breitesten <strong>und</strong> längsten<br />
Flusses der Welt, der Ort wurde strategisch<br />
perfekt ausgewählt. Der Amazonas war die<br />
Hauptverkehrsader, die die wichtigsten Städte der<br />
Region badet <strong>und</strong> <strong>ein</strong> außerordentlich komplexes<br />
tropischen Ökosystem nährt, auf das die Augen<br />
der ganzen Welt gerichtet sind, <strong>und</strong> um das<br />
Brasilien schon früher <strong>und</strong> besonders<br />
heute vom ganzen Planeten beneidet wird. Aber<br />
nicht nur der Regenwald, die Fauna <strong>und</strong> Flora, die<br />
Süßwasserreserven sind viel wert. Unter den<br />
amazonischen Erden liegen andere wertvolle <strong>und</strong><br />
begehrte Schätze: Viele Mineralien wie Eisen,<br />
Magnesium, Uran, Bauxit, Kupfer, Nickel, Silber,<br />
Mangan, Zinn, Uran, Blei, Titan, Phosphat <strong>und</strong><br />
Gold, es gibt fast k<strong>ein</strong>s, das fehlt, werden in der<br />
Region geschürft. Ein Großteil des auf der Welt<br />
verwendeten Bauxits, Hauptbestandteil des<br />
Aluminiums, stammt von hier. Die Chance ist groß,<br />
dass das Rohmaterial Ihrer Cola-Büchse aus dem<br />
hiesigen Regenwald kommt. Bis heute versuchen<br />
die verschiedensten Regierungen Brasiliens sich<br />
diese Erde untertan zu machen, schicken<br />
Goldgräber ebenso aus wie Viehzüchter, Sojaoder<br />
Reisproduzenten <strong>und</strong> Landlose, die alle ihr<br />
Stück Regenwald abbrennen, zerstören. Will man<br />
das Warum dieser langen Geschichte <strong>ein</strong> bisschen<br />
besser verstehen, so lohnt sich <strong>ein</strong> Blick in die<br />
wechselvolle Vergangenheit.<br />
Exotisch <strong>und</strong> voller Mäander ist sie, die Geschichte<br />
der Stadt Belém genauso wie die des ganzen<br />
brasilianischen Teils des Amazonas. Ein Blick auf<br />
die Landkarte zeigt, dass wir über kontinentalen<br />
Distanzen sprechen - von São Paulo fliegt man 4-5<br />
St<strong>und</strong>en bis in den Amazonas. Der bis heute<br />
unwirtliche Regenwald schiebt sich wie <strong>ein</strong><br />
<strong>und</strong>urchdringlicher Schutzwall zwischen den<br />
Norden <strong>und</strong> das Zentrum/Süd Brasiliens. Das<br />
erklärt, warum der Amazonas vielen Brasilianern<br />
genauso so fremd, unbekannt <strong>und</strong> exotisch<br />
vorkommt wie vielen Europäern. Daran hat auch<br />
die in den 70er Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
konstruierte Landverbindung Belém-Brasília nicht<br />
viel geändert. Bis dahin war der Norden praktisch<br />
nur per Schiff oder per Flugzeug zu erreichen. Zur<br />
Zeit der Kolonialisierung war es aus r<strong>ein</strong><br />
geografischen Gründen gar genauso <strong>ein</strong>fach, sich<br />
direkt nach Portugal <strong>ein</strong>zuschiffen wie ins übrige<br />
Brasilien. Der Norden war deshalb während der<br />
ersten 300 Jahre Kolonialzeit, von der Eroberung<br />
durch die Portugiesen bis zur Flucht des<br />
portugiesischen Königs Don João VI nach<br />
Brasilien, <strong>ein</strong>e Art überseeisches Portugal, direkt<br />
Lissabon, Portugal unterstellt. Näherte sich erst<br />
nach 1808, nachdem die Kolonie zum Kaiserreich<br />
geworden war, zögerlich dem restlichen Brasilien<br />
an. Auf dem Höhepunkt des Kautschukbooms zu<br />
Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war Belém dem<br />
restlichen Brasilien weit voran, erstrahlte, für<br />
kurze Zeit nur, als <strong>ein</strong>e der fortschrittlichsten,<br />
modernsten Städte <strong>ein</strong>es noch archaisch<br />
rückständigen Landes. Belém war <strong>ein</strong>e Art<br />
tropisches Paris, reich, avantgardistisch <strong>und</strong> total<br />
kosmopolitisch.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 557
Auf der anderen Seite des Ozeans, wir sind in den<br />
Jahren zwischen 1500 <strong>und</strong> 1530, setzt Portugal,<br />
<strong>ein</strong>e der Seefahrernationen, zu <strong>ein</strong>em<br />
außerordentlichen Sprung nach vorne an. Es wird<br />
zu <strong>ein</strong>em der reichsten Länder s<strong>ein</strong>er Zeit, indem<br />
es ihm gelingt, das Monopol des Gewürzhandels,<br />
über Jahrh<strong>und</strong>erte fest in arabischer <strong>und</strong><br />
venezianischer Hand, zu brechen. Es ist Vasco da<br />
Gama, der 1498 das Unvorstellbare fertigbringt<br />
<strong>und</strong> auf dem Seeweg nach Kalkutta, Indien<br />
gelangt <strong>und</strong> damit die so begehrten Gewürze aus<br />
dem Orient, sie dienen nicht nur kulinarischen<br />
Zwecken sondern werden auch als<br />
Konservierungsstoffe verwendet, sind als<br />
Arzneien genauso begehrt wie für Parfüms, zum<br />
ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes<br />
übers Meer nach Europa bringt.<br />
Über die „Entdeckung“ Brasiliens gibt es <strong>ein</strong>e, bis<br />
heute nicht bestätigte Theorie, die es als sehr<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich ansieht, dass die portugiesischen<br />
Seefahrer lange vor der offiziellen „Entdeckung“<br />
bis zur Küste Brasiliens vorgedrungen seien, den<br />
Fakt aber aus taktischen Gründen für sich<br />
behielten. Folgen wir der offiziellen<br />
Geschichtsschreibung, so war es Pedro Álvaro<br />
Cabral der 1500 in Porto Seguro, Bahia, das erste<br />
Mal der neuen Küste ansichtig wurde. Aus den<br />
unterschiedlichsten Gründen behandelt Portugal<br />
alle s<strong>ein</strong>e Kolonien mit <strong>ein</strong>em rigiden<br />
Merkantilismus. Der portugiesische König sendet<br />
Missionen aus, um die enormen Küsten des<br />
Riesenlandes, eher <strong>ein</strong> Kontinent, zu patrouillieren<br />
<strong>und</strong> sich damit deren Besitz zu versichern. So<br />
wurde die Kolonie auf der anderen Seite des<br />
Ozeans für die nächsten Jahrh<strong>und</strong>erte zu nichts<br />
anderem als zu <strong>ein</strong>e unendlich riesigen<br />
Landwirtschaftsgut, ohne nennenswerte<br />
Gegenleistung bis aufs letzte ausgeplündert. Ein<br />
sehr streng gehüteter Besitz, exklusiv <strong>und</strong><br />
ausnahmslos den portugiesischen Seefahrern <strong>und</strong><br />
Siedlern vorbehalten, der Zutritt von Ausländern<br />
war strickte untersagt. Die ganze Kolonie war bis<br />
zum Schlüsseljahr 1808 von der restlichen Welt<br />
abgeschnitten, abgeschottet <strong>und</strong> zensiert. Wollte<br />
man es bereisen, brauchte man <strong>ein</strong>e königliche<br />
Bewilligung, die zum Beispiel dem<br />
Forschungsreisenden, <strong>und</strong> als wissenschaftlicher<br />
Wiederentdecker Amerikas gefeierter Alexander<br />
von Humboldt (1769-1859) verweigert wurde. Er<br />
konnte nur den den Spaniern unterstellten Teil<br />
Südamerikas bereisen.<br />
Ein Stigma, unter dem Belém, die ganze Region<br />
Nordbrasiliens, mit wenigen Ausnahmen, bis zum<br />
heutigen Tag leidet, denn an der Mentalität der<br />
Ausbeutung hat sich bis heute wenig geändert, es<br />
wird wenig investiert, zu distanziert, zu<br />
kompliziert, zu gigantisch, unübersichtlich <strong>und</strong><br />
komplex ist die Frage, was man mit dem<br />
Amazonas außer Ausplündern denn eigentlich<br />
machen sollte, müsste oder dürfte.<br />
Im Jahr 1542 wagte sich der Jesuit Alonso de<br />
Rojas auf den großen Fluss, auf dem er <strong>ein</strong>e<br />
wirkliche oder fantasierte Begegnung mit den<br />
sogenannten Amazonen hatte, kriegerische<br />
Frauen, die sich die <strong>ein</strong>e Brust amputiert hatten.<br />
Eine Begegnung, die dem riesigen Strom den<br />
definitiven Namen Amazonas verlieh.<br />
Schon im Jahre 1493 teilte die päpstliche Bule<br />
„Inter coetra“, 1494 durch den Vertrag von<br />
Tordesilhas ratifiziert, alle östlich von Afrika<br />
schon entdeckten <strong>und</strong> noch zu entdeckenden<br />
Länder <strong>und</strong> Kontinente <strong>ein</strong>fach zwischen Spanien<br />
<strong>und</strong> Portugal auf. Ein Recht, das aber weder<br />
Frankreich noch Holland anerkannten. Besonders<br />
die Franzosen hatten <strong>ein</strong> Auge auf den Norden<br />
Brasiliens geworfen, wo sie bald zusammen mit<br />
den Holländern <strong>und</strong> Spaniern begannen, die<br />
Gegend um den Amazonas zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
auszubeuten. Da sie k<strong>ein</strong> Gold fanden, machten<br />
sie sich, genau zu <strong>ein</strong>er Zeit, als der Handel mit<br />
Gewürzen im Orient auf dem Rückgang war, auf<br />
die Suche nach den sogenannten “Drogas do<br />
Sertão”, exotischen Gewürzen, Harzen, Nüssen<br />
<strong>und</strong> Pelzen.<br />
Nach <strong>und</strong> nach wird die Region Norden von den<br />
verschiedenen religiösen Orden besetzt <strong>und</strong> bald<br />
geht ihr Einfluss weit über das Bekehren von<br />
unschuldigen Seelen hinaus. Es sind die Jesuiten,<br />
die die Mission Maranhão <strong>und</strong> Grão Pará der<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 558
Gesellschaft Jesu gründen, die 1643 den<br />
berühmten Poeten, Politiker <strong>und</strong> Padre Antônio<br />
Vieira empfängt, der sich höchst angetan vom<br />
Amazonas <strong>und</strong> den jesuitischen Missionen im Rio<br />
Negro <strong>und</strong> an anderen Flüssen der Region zeigt.<br />
Noch mehr, als s<strong>ein</strong>em Orden von Portugal, um<br />
die Ausbeutung besser kontrollieren zu können,<br />
der ganze Überseehandel überlassen wird, was<br />
dazu führt, dass die Jesuiten nun wirklich <strong>ein</strong>e<br />
entscheidende Rolle in der kolonialen Geopolitik<br />
spielen, sie werden, mit ihren weltweiten<br />
Verbindungen, zu globalen Handelsfirmen.<br />
Den Amazonas beschreibt Padre Antônio Vieira,<br />
(1608-1697), Jesuit <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Art<br />
Allro<strong>und</strong>gelehrter <strong>und</strong> Diplomat, der für s<strong>ein</strong>e<br />
Fähigkeiten mit der Feder mit dem Ehrentitel des<br />
„Kaisers der portugiesischen Sprache“<br />
ausgezeichnet, Autor von „Sermões“, die mit zu<br />
den schönsten der portugiesischen Sprache<br />
zählen, der Portugal ausgezeichnete<br />
diplomatische Dienste leistete <strong>und</strong> zudem großen<br />
Einfluss auf den portugiesischen König João IV<br />
ausübte, beschreibt den Amazonas dieser Zeit als<br />
geradezu globales Gemisch. Er spricht vom „Fluss<br />
Babel“ <strong>und</strong> fand den Vergleich gar untertrieben,<br />
schätzte er doch, dass im Amazonasbecken mehr<br />
Sprachen gesprochen wurden, als beim biblischen<br />
Bau des Turmes von Babel! Was auch<br />
Rückschlüsse auf die indigene Bevölkerung<br />
zulässt, laut Schätzung gab es wohl mehr als 300<br />
verschiedene Indiostämme.<br />
1735, schon im Zeichen der Aufklärung, kam der<br />
Franzose Charles-Marie de la Condamine, wohl<br />
der erste „Naturerforscher“ im heutigen Sinn,<br />
hierher. S<strong>ein</strong>e Reise in den Amazonas wurde von<br />
der französischen Académie dela Sciences<br />
gesponsert <strong>und</strong> verfolgte das Ziel, Isaac Newtons<br />
Messungen über die Breitengrade der Erde zu<br />
überprüfen. Die Herrlichkeiten, die er von s<strong>ein</strong>er<br />
Reise nach Hause brachte, stießen in Europa auf<br />
viel Echo <strong>und</strong> Widerhall. Pikante Details: in Quito,<br />
am Anfang s<strong>ein</strong>er Reise durch den Amazonas, trifft<br />
er den Jesuitenpater Samuel Fritz, Autor kostbarer<br />
Karten des Amazonasgebietes - wer <strong>ein</strong> Land<br />
erobern <strong>und</strong> besitzen will, muss als erstes<br />
Landkarten erstellen, <strong>und</strong> macht, unter sehr<br />
vielem anderen, Bekanntschaft mit <strong>ein</strong>em Produkt<br />
der Indios, welches sie „cahuchuc“ Kautschuk<br />
nennen.<br />
Auch Portugal modernisiert sich, denn 1750, wird<br />
Sebastião de Carvalho e Melo, der spätere<br />
Marquês de Pombal, <strong>ein</strong> Aufgeklärter, mit fast<br />
un<strong>ein</strong>geschränkter Macht ausgestattet, Pombal<br />
schickt <strong>ein</strong>e wissenschaftliche Expedition in den<br />
Norden, der s<strong>ein</strong> Halbbruder Francisco Xavier<br />
Mendonça Furtado als Kommandant vorsteht. In<br />
s<strong>ein</strong>er Begleitung befinden sich Physiker,<br />
Astronomen, Geografen, Ingenieure <strong>und</strong> unter<br />
anderen auch der Arquitekt Antônio Guiseppe<br />
Landi. Zum ersten Mal entwickelt Portugal <strong>ein</strong><br />
ökonomisches Projekt für die Kolonie. Im<br />
Amazonas wird der erste Kaffee angepflanzt, der<br />
von Französisch Guyana herunterkam,<br />
Baumwolle <strong>und</strong> Tabak, Zuckerrohr.<br />
Nach dem Vorbild holländischen <strong>und</strong> englischen<br />
Osthandelsgesellschaften gründet die<br />
„Companhia das Índias Orientais“, die<br />
Ostindische Kompanie, die das Handelsmonopol<br />
mit der Kolonie erhält. Er verbietet, in Portugal,<br />
die Sklaverei, reorganisiert das Erziehungswesen<br />
<strong>und</strong> - von entscheidender Bedeutung - nimmt es<br />
aus den Händen der Kirche - verjagt gar die<br />
Jesuiten aus allen ihren Privilegien! Der Orden<br />
wird 1759 definitiv aus Pará vertrieben <strong>und</strong><br />
Portugiesisch wird, konsequenterweise, zur<br />
offiziellen Umgangssprache.<br />
Aber schon nach 1780 gehen die Geschäfte im<br />
Amazonas zurück, die Kolonie verarmt. 1778<br />
wird die Companhia de Comércio do Grão-Pará e<br />
Maranhão aufgelöst <strong>und</strong> der Marquês de<br />
Pombal fällt in Ungnade. In Europa flackern <strong>ein</strong>e<br />
Reihe von Kriegen auf. Der Kolonie geht es<br />
Zusehens schlechter, bis sich König João VI im<br />
Jahr 1807 nach dem Scheitern s<strong>ein</strong>er<br />
Schaukelpolitik zwischen Frankreich <strong>und</strong> England<br />
gezwungen sieht, mit Hilfe der Engländer vor den<br />
Truppen Napoleons nach Brasilien zu flüchten,<br />
<strong>und</strong> damit <strong>ein</strong>e komplett neue Ära <strong>ein</strong>läutet.<br />
Nach der Zerschlagung der Vormachtstellung<br />
Napoleons in Europa, wird Brasilien zum<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 559
Königreich <strong>und</strong> Portugal in Personalunion<br />
verb<strong>und</strong>en. Der König öffnet endlich per Dekret<br />
die Häfen, allerdings nur für die befre<strong>und</strong>eten<br />
Nationen. Eine Politik die bis 1876 aufrechterhalten<br />
wird. So bekommt 1853, strategischen<br />
Interessen der Krone gehorchend, der mächtige<br />
Barão de Mauá das Schifffahrtsmonopol im<br />
Amazonas, das nicht nur die Besetzung des<br />
Territoriums garantiert, sondern auch s<strong>ein</strong>e<br />
Verteidigung gegen fremde Übergriffe absichert.<br />
Zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herrscht in<br />
Europa <strong>ein</strong>e wahre Übersee-Euphorie. Es werden<br />
die verschiedensten Forschungsexpeditionen<br />
nach Südamerika geschickt, von Fürsten oder<br />
Organisationen gesponsert, die auf<br />
Prestigegewinn spekulieren, aber auch handfeste<br />
ökonomische Interessen verfolgen. 1859<br />
veröffentlicht Charles Robert Darwin s<strong>ein</strong>e<br />
Evolutionstheorie.<br />
1817 wird der Kronprinz Dom Pedro I, er<br />
verkündete später Brasiliens Unabhängigkeit von<br />
Portugal, durch <strong>ein</strong>e politische Fernheirat, von<br />
Fürst von Metternich arrangiert, mit der<br />
habsburgischen Erzherzogin Maria Leopoldine<br />
von Österreich, Tochter von Kaiser Franz I.,<br />
verheiratet. Auf ihre Reise zu ihrem Gatten ins<br />
tropische Brasilien begleiten sie viele Gelehrte,<br />
Naturforscher <strong>und</strong> Künstler, sowie der Maler<br />
Thomas Ender. Er bringt aus den Jahren 1817/18<br />
viele Skizzen <strong>und</strong> Aquarelle sowie Illustrationen zu<br />
Reisewerken nach Österreich mit zurück. Auch der<br />
Naturforscher, Zoologe <strong>und</strong> Vogelk<strong>und</strong>ler Johann<br />
Natter ist mit auf der österreichischen<br />
Brasilien-Expedition dabei, die von 1817 bis 1835<br />
dauert. Er beginnt im Jahre 1829 an den Flüssen<br />
Rio Negro <strong>und</strong> Rio Branco s<strong>ein</strong>e 17-jährige<br />
Forschungsarbeit. Nach s<strong>ein</strong>er Rückkehr richtet er<br />
in Wien das „Brasilianum“ <strong>ein</strong>, <strong>ein</strong> riesiger Erfolg.<br />
Der bayrische König Maximilian I. sendet den<br />
Botaniker, Mediziner <strong>und</strong> Ethnologen Carl<br />
Friedrich Philipp von Martius <strong>und</strong> den Zoologen<br />
Johan Babtist Ritter von Spix mit auf die Reise. Die<br />
beiden reisen, unter unvorstellbaren Strapazen,<br />
bis in den Amazonas. In Belém angekommen,<br />
estaunt <strong>und</strong> verblüfft sie die ihnen total fremde<br />
Welt. Sie rudern mit <strong>ein</strong>er Militäreskorte <strong>und</strong><br />
besuchen Santarém, Óbidos, Manaus <strong>und</strong> dringen<br />
bis Egá (Tefé) am Solimões vor, wo sie sich<br />
trennen, denn Spix hat die Malaria sehr<br />
geschwächt. Spix kommt bis Tabatinga <strong>und</strong> bringt<br />
von da <strong>ein</strong>e reiche ethnologische Sammlung mit,<br />
heute im Münchner Völkerk<strong>und</strong>emuseum.<br />
Martius kommt bis zu der damaligen<br />
kolumbianischen Grenze. Nach <strong>ein</strong>em Jahr <strong>und</strong><br />
drei Monaten treffen sie wieder in Belém <strong>ein</strong>, <strong>und</strong><br />
kehren schließlich nach fast 4 Jahren mit <strong>ein</strong>er fast<br />
unvorstellbaren Ausbeute an Pflanzen, Insekten,<br />
Spinnen, Amphibien <strong>und</strong> Fischen nach Europa<br />
zurück, wo Spix bald darauf an den Spätfolgen der<br />
Malaria stirbt. Von Martius macht die Ausbeute,<br />
die in Europa auf fantastisches Interesse stößt, zu<br />
s<strong>ein</strong>em Lebenswerk <strong>und</strong> arbeitet die nächsten 48<br />
Jahre damit. Er bringt die „Flora Brasiliensis“, das<br />
größte botanische Werk des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
<strong>ein</strong> wahrhaftiges Überwerk heraus, daneben die<br />
„Historia Naturalis Palmarum“ <strong>und</strong> andere.<br />
1822 erklärt Brasilien s<strong>ein</strong>e Unabhängigkeit von<br />
Portugal <strong>und</strong> wird zum Kaiserreich Brasilien, das<br />
nun auch den Norden mit Pará <strong>und</strong> Maranhão<br />
<strong>ein</strong>schließt. Don Pedro I. dankt 1841 zugunsten<br />
s<strong>ein</strong>es Sohnes Don Pedro II. ab. Der Norden, viel<br />
stärker als der Rest Brasiliens mit Portugal<br />
verb<strong>und</strong>en, leistet Widerstand <strong>und</strong> erkennt die<br />
Unabhängigkeit erst nahezu <strong>ein</strong> Jahr später an.<br />
Zu viele hier im Norden hätten es vorgezogen,<br />
weiterhin unter portugiesischer Herrschaft zu<br />
bleiben.<br />
1889 wird der Kaiser Don Pedro II unblutig<br />
gestürzt <strong>und</strong> die Republik ausgerufen. Im<br />
Amazonas, s<strong>ein</strong> unwirtliches Innere ist immer<br />
noch so <strong>ein</strong>e Art weißer Fleck auf der Landkarte,<br />
gehen entscheidende Grenzber<strong>ein</strong>igungen mit<br />
Französisch Guyana, Bolivien <strong>und</strong> Peru vor sich,<br />
bei denen sich der Diplomat Barão do Rio Branco<br />
durch s<strong>ein</strong> außerordentliches<br />
Verhandlungsgeschick hervortut. So bringt er<br />
1903 den Staat Acre, wo sich bis dahin<br />
brasilianische Kautschukgewinner mit<br />
Es geht weiter Seite 538<br />
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olivianischen Militärs bekriegten, auf<br />
diplomatischem Weg <strong>und</strong> gegen <strong>ein</strong>e schöne<br />
Summe Geld zu Brasilien, allerdings mit dem<br />
Versprechen, auf Staatskosten mitten durch den<br />
Dschungel <strong>ein</strong>e Eisenbahnlinie zu verlegen, die<br />
berüchtigte Madeira- Mamoré, die Boliviens<br />
Zugang zum Hafen Porto Velho sichern soll.<br />
Zu <strong>ein</strong>er weiteren Grenzber<strong>ein</strong>igung auf dem<br />
Fluss Purus, diesmal mit Peru, lädt der selben<br />
Barão do Rio Branco den berühmten Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Ingenieur Euclides de Cunha <strong>ein</strong>. Dieser soll<br />
mit s<strong>ein</strong>en Aufzeichnungen <strong>und</strong> Erlebnissen <strong>ein</strong><br />
Buch über den Amazonas schreiben. Euclides de<br />
Cunha, an den trocken-heißen <strong>und</strong> kargen<br />
brasilianischen Sertão im Nordosten gewohnt,<br />
findet den Amazonas abstoßend <strong>und</strong> unwirtlich,<br />
<strong>ein</strong>e Art unfertiges, unbewohnbares Paradies. Ein<br />
anderer Unwegsamer, Unbezähmbarer, Cândido<br />
Mariano da Silva Rondon, bekannt als Marechal<br />
Rondon, nimmt das gigantische Mammutprojekt<br />
in Angriff, den unerschlossenen Teil Brasiliens mit<br />
dem Fortschritt <strong>ein</strong>er Telegrafenleitung zu<br />
beglücken, die er von Mato Grosso bis hoch in<br />
den Amazonas zieht. 1913/14 wird er, <strong>ein</strong>er, der<br />
sich s<strong>ein</strong>en Weg im Dschungel frei schlägt wie<br />
k<strong>ein</strong> zweiter, von der brasilianischen Regierung zu<br />
<strong>ein</strong>er andern, höchst abenteuerlichen Mission<br />
abberufen. Er soll Theodore Roosevelt mit <strong>ein</strong>er<br />
ganzen Gruppe Amerikaner, unter ihnen s<strong>ein</strong><br />
Sohn, auf <strong>ein</strong>e “Safari” in den Amazonas<br />
begleiten. Rondon will die Gelegenheit dazu<br />
benutzen, den Fluss “Rio da Dúvida“, (den Fluss<br />
des Zweifels, so genannt, weil man nicht genau<br />
wusste, wo er entsprang) genauer zu vermessen,<br />
aber die Exkursion endet als Desaster.<br />
Nun dreht sich hier im Norden fast alles um den<br />
Kautschuk. Wiedermal macht sich die strategische<br />
Position Beléms bezahlt. Auch soll nun endlich <strong>ein</strong><br />
naturwissenschaftliches Museum, zusammen mit<br />
<strong>ein</strong>er Forschungsstation <strong>ein</strong>gerichtet werden.<br />
Endlich können so die unvorstellbaren <strong>und</strong> so<br />
begehrten exotischen <strong>und</strong> tropischen Schätze an<br />
Ort <strong>und</strong> Stelle erforscht werden, werden nicht<br />
mehr „geraubt“, müssen nicht mehr dem Ausland<br />
abgetreten werden, das hier <strong>ein</strong>e Art lukrative<br />
Industrie mit Tierpräparaten, Botaniksammlungen<br />
<strong>und</strong> ethnologischen Gegenständen betreibt, die<br />
alle für den Export bestimmt sind. 1894 wird der<br />
Schweizer Emil August Goeldi zum Direktor des<br />
Museums, das später s<strong>ein</strong>en Namen tragen wird,<br />
ernannt. Er organisiert, ganz im Stil s<strong>ein</strong>er Zeit, die<br />
zoologische, ornithologische <strong>und</strong> ethnologische<br />
Mustersammlung mit Exponaten aus dem<br />
Amazonasbecken. Lässt <strong>ein</strong>en Zoologischen <strong>und</strong><br />
Botanischen Garten anlegen, der bis heute fast<br />
unverändert besucht werden kann.<br />
Nun tritt auch der unerschrockene Amerikaner<br />
Percival Farquhar (1864-1953) auf den Plan.<br />
Investor <strong>und</strong> überaus erfolgreicher Unternehmer,<br />
er besitzt in São Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro große<br />
Beteiligungen an der „Light and Power“, die die<br />
Stadt mit elektrischem Licht <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em<br />
Straßenbahnnetz versorgt. Außerdem verlegen<br />
s<strong>ein</strong>e Firmen in ganz Südamerika <strong>und</strong> auch in<br />
Brasilien, vom Norden bis in den Süden<br />
Eisenbahnschienen. Die Eisenbahn soll das Land<br />
in die Modernität kapitulieren. Er bekommt die<br />
Konzession für den Betrieb des Hafens von<br />
Belém, welchen er total erneuert <strong>und</strong> ihn 1909<br />
mit 120 Metern Kais <strong>und</strong> den ersten Lagerhäusern<br />
in Betrieb nimmt, schon <strong>und</strong> bald weiter<br />
ausbaut.<br />
Percival Farquhar schreckt vor nichts zurück. Nur<br />
s<strong>ein</strong> Megaprojekt, die von der brasilianischen<br />
Regierung für Bolivien in Auftrag gegebene<br />
Eisenbahnverbindung mitten durch den<br />
unwirtlichsten Regenwald verlegt, die<br />
Eisenbahnlinie Madeira-Mamoré, scheitert.<br />
Böse Zungen behaupten, dass unter jeder<br />
Eisenbahnschwelle <strong>ein</strong> von Tropenkrankheiten<br />
dahingeraffter Arbeiter begraben liege, <strong>und</strong> das,<br />
obwohl er vor Ort mitten im Dschungel <strong>ein</strong><br />
Krankenhaus <strong>und</strong> viele andere Vorkehrungen<br />
traf, um das Vorhaben gelingen zu lassen. Als sie<br />
endlich fertig ist, ist der Kautschukboom schon<br />
auf dem Niedergang <strong>und</strong> so wird die Strecke nie<br />
betrieben.<br />
Noch blüht Belém aber wie nie zuvor. Wird für<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 566
kurze Zeit nur, zu jener tropischen Kulturhauptstadt,<br />
zum viel besungenen <strong>und</strong> betrauerten<br />
tropischen Paris. Ein surreal-unwirkliches<br />
Luxusleben, finanziert von armen Gummibaumritzern<br />
<strong>und</strong> Krediten, die den ganzen Norden in<br />
<strong>ein</strong>e starke finanzielle Abhängigkeit von England<br />
manövriert.<br />
Ab 1913 wird Kaffee das brasilianische Exportgut<br />
Nummer <strong>ein</strong>s. Durch den Ersten Weltkrieg <strong>und</strong><br />
den Zusammenbruch des Latexes, clevere<br />
Engländer produzieren ihn in ihren Kolonien viel<br />
billiger, ist der Glanz Beléms dahin <strong>und</strong> es verfällt<br />
schon bald in s<strong>ein</strong>en Dornröschenschlaf, den es<br />
bis heute weiter träumt. Trotzdem 1918 wird die<br />
Escola de Agronomia do Pará, heute als UFRA<br />
bekannt (Universidade Federal Rural da Amazônia<br />
2002, Belém <strong>und</strong> drei Außenstationen) gegründet.<br />
Ein Anfang, um den Regenwald <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e schon<br />
existierenden <strong>und</strong> potenziellen Anbauflächen<br />
wissenschaftlicher <strong>und</strong> ökonomischer ausbeuten<br />
zu können.<br />
Während des zweiten Weltkrieges kommt es in<br />
Nordbrasilien zu <strong>ein</strong>em zweiten Latexboom, denn<br />
alle Gummi produzierenden Länder werden von<br />
Japan kontrolliert. Henry Ford, auf der Suche nach<br />
neuen Rohstoffquellen für die Produktion s<strong>ein</strong>er<br />
Autoreifen verpflanzt gar zu diesem Zweck <strong>ein</strong>e<br />
ganze amerikanische Musterstadt in den<br />
Regenwald, nahe Santarém, genannt Fordlándia,<br />
wo er nach dem Vorbild der Engländer<br />
Gummibaumplantagen errichten lässt. Aber das<br />
Vorhaben scheitert bald. Die brasilianische<br />
Regierung investierte sehr viel in die Pflanzungen,<br />
aber im Gegensatz zu Malaysia bewährte sich hier<br />
im Amazonas die Monokultur nicht, die<br />
Pflanzensetzlinge fallen alsbald Krankheiten <strong>und</strong><br />
Schädlingen zum Opfer.<br />
1943 werden die Staaten Roraima <strong>und</strong> Ronônia<br />
abgeteilt. 1953 kreiert Getúlio Vargas, diesmal als<br />
gewählter Präsident, <strong>ein</strong>e der berühmt/<br />
berüchtigten staatlichen Entwicklungsinstitutionen,<br />
SPVEA (Superintendência do Plano de<br />
Valorização Econômica da Amazônia =<br />
„Superamt/Verwaltung“ des Plans zur<br />
Wertsteigerung der amazonischen Wirtschaft)<br />
genannt, die wie viele nach ihr dem Amazonas den<br />
Fortschritt bringen soll. Alle so gigantisch, nicht<br />
nur im Namen, auch im Konzept, wie der<br />
Amazonas, den es zu bewältigen gilt.<br />
Zweischneidig wie so vieles präsentiert sich der<br />
Nationalismus der Militärdiktatur, der Patriotismus<br />
mit <strong>ein</strong>er strengen Doktrin kombiniert, die aber<br />
von der breiten Bevölkerung mit ihrer<br />
Entwicklungseuphorie sehr positiv aufgenommen<br />
wird. Dass die autoritäre, repressive<br />
Militärregierung alle Andersdenkenden verfolgt<br />
<strong>und</strong> die Presse- <strong>und</strong> Ausdrucksfreiheit<br />
beschneidet, stört wenige, denn für kurze Zeit<br />
erlebt man das brasilianische „Milagre<br />
Econômico“, das wirtschaftliche W<strong>und</strong>er, das<br />
paradoxerweise zwischen 1969 <strong>und</strong> 1973 nicht<br />
nur das Einkommen der Brasilianer, sondern<br />
auch die Armut vergrößert. Nicht von ungefähr<br />
werden die Jahre auch als „Anos de Chumbo“,<br />
als Bleierne Jahre bezeichnet.<br />
Im linken Untergr<strong>und</strong> regt sich Widerstand, es<br />
entsteht <strong>ein</strong>e Guerillia, die 1970 unter dem<br />
Namen Araguaia bekannt wird. Die Guerillheiros<br />
machen die Region des Bico do Papagaio, da wo<br />
sich die Staaten Goiás, Pará <strong>und</strong> Maranhão<br />
treffen, am Ufer des Flusses Araguaia-Tocantins,<br />
zu ihrem Hauptquartier, werden aber schon<br />
1971 von den Militärs entdeckt, gejagt <strong>und</strong><br />
umgebracht.<br />
Langsam <strong>und</strong> zögerlich verwandelt sich das<br />
Verhältnis zur Natur. 1967 wird das Instituto<br />
Brasileiro do Desenvolvimento Florestal – IBDF<br />
gegründet, verantwortlich für die brasilianischen<br />
Naturparks, aus dieser Zeit datieren die ersten<br />
Schutzgebiete im Norden Brasiliens, der Parque<br />
Nacional da Amazônia. Das IBDF wird später zu<br />
<strong>ein</strong>em Teil des IBAMAS (1989, Instituto Brasileiro<br />
do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais<br />
Renováveis), heute <strong>ein</strong>e wichtige Kontrollinstanz<br />
gegen die Zerstörung des Regenwaldes. 1967<br />
wird die Superintendência da Borracha (Latex)<br />
(SUDHEVEA) ins Leben gerufen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 567
Ab Mitte der sechziger Jahre wird in Brasilien<br />
massiv Soja angebaut. 1970 beginnt der Bau der<br />
Transamazônica, sie geht von Westen nach Osten<br />
quer durch Brasilien. Auch sie soll den „leeren“<br />
Raum des Amazonasgebietes erobern, gedacht als<br />
Ventil <strong>und</strong> mit dem Ziel <strong>ein</strong>e Landreform zu<br />
verhindern. Sie leitet unter dem Namen PIN<br />
(Programa de Integração Nacional) <strong>ein</strong>e massive,<br />
staatliche gelenkte innerbrasilianische Emigration<br />
Nordosten-Norden <strong>ein</strong>, alles nach dem heute<br />
schon fast ironischen klingenden Motto: „Terras<br />
sem homens (Amazônia) para homens sem terra<br />
(Nordeste)“ Land ohne Menschen (Amazonas) für<br />
Menschen ohne Land (Nordosten).<br />
Der Regenwald wird wieder <strong>ein</strong>mal „erobert“,<br />
diesmal durch „Garimpeiros“, Goldgräber,<br />
Kl<strong>ein</strong>bauern, die Landspekulation setzt <strong>ein</strong>. Die<br />
Einwohner des Staates Rondônia steigt schlagartig<br />
an <strong>und</strong> all<strong>ein</strong> in diesem Staat wird 80% des<br />
Regenwaldes abgeholzt. Die Konflikte, nicht nur<br />
mit den Indios, ausgetragen in bester<br />
Wildwestmanier, sie unterliegen dem Recht des<br />
Stärkeren, nehmen zu <strong>und</strong> dauern bis heute an.<br />
Die Bodenschätze des Staates Pará werden nun<br />
durch Megaprojekte ausgebeutet, denn die<br />
Militärs wollen Brasilien zu <strong>ein</strong>er großen Potenz<br />
machen, es endlich in die entwickelte Welt<br />
katapultieren. Es soll auch an Krediten nicht<br />
fehlen <strong>und</strong> so wird 1950 die Staatsbank Banco da<br />
Amazônia, Nachfolgerin der 1942 kreierten Banco<br />
de Crédito da Borracha“ gegründet, schließlich<br />
hilft die Industrialisierung auch bei der Sicherung<br />
des Territoriums. Im Rahmen der „Nationalen<br />
Integration“ wird die Freihandelszone von<br />
Manaus ins Leben gerufen <strong>und</strong> viele andere<br />
gigantische Projekte nehmen Gestalt an. Geringe<br />
Lohnkosten <strong>und</strong> niedrige Steuern locken<br />
Bergbaufirmen wie die 1942 gegründete<br />
Staatsfirma Companhia Vale do Rio Doce, 1997<br />
privatisiert <strong>und</strong> heute durch zahlreiche<br />
Übernahmen zum weltweit größten Erzerzeuger<br />
aufgestiegen, beteiligt sich am Projekt der<br />
Mineração Rio do Norte in Oriximiná, Nordosten<br />
Pará, 15 Bootsst<strong>und</strong>en von Santarém, wo Bauxit<br />
abgebaut wird. In Carajás, Bico do Pagagaio, Süden<br />
von Pará war es die United States Steel, die riesige<br />
Eisenerzvorkommen fand. Als 1970 andere<br />
Mineralien gef<strong>und</strong>en werden, wird die Amazônia<br />
Mineração S.A. gegründet, die die Vale später<br />
all<strong>ein</strong> übernimmt <strong>und</strong> 1979 das „Programa Grande<br />
Carajás“ lanciert, das die reichste Miene der Welt<br />
ausbeuten soll. Zusammen mit dem Bergbau ist<br />
auch Landwirtschaft <strong>und</strong> die Ausbeutung des<br />
Regenwaldes geplant.<br />
Um das ambitiöse Projekt in die Tat umzusetzen,<br />
wird die Eisenbahn Carajás, der Hafen Pota da<br />
Madeira <strong>und</strong> das Wasserkraftwerk Tucuruí, nach<br />
Itaipu der zweitgrößte Stausee Brasiliens gebaut,<br />
dessen Energie zu <strong>ein</strong>em großen Teil von der hier<br />
ansässigen Aluminiumindustrie wie die nahe<br />
Belém in Barcarena ansäßige Albrás/ Alunorte<br />
verbraucht wird. Die Region gilt als <strong>ein</strong>e der<br />
vernachlässigsten <strong>und</strong> ärmsten Brasiliens, es gibt<br />
Arbeiter, die unter sklavenähnlichen<br />
Verhältnissen gehalten werden <strong>und</strong> beim<br />
Massaker vom Eldorado dos Carajás wurden<br />
1996 19 Sem Terras, Landlose von der<br />
Militärpolizei des Staates Pará erschlossen.<br />
Andere pharaonische Projekte wie das des<br />
amerikanischen Unternehmers Container- <strong>und</strong><br />
Tankerkönig Daniel Keith Ludwig, <strong>ein</strong>e<br />
schwimmende Zellulosefabrik in den Dschungel<br />
schicken, auf den Fluss Jarí, <strong>ein</strong> Nebenfluss des<br />
Amazonas, an der Grenze Pará/Amapá, erleben<br />
<strong>ein</strong>e wechselvolle Geschichte. 1981 gibt Ludwig<br />
auf <strong>und</strong> <strong>ein</strong> brasilianisches Konsortium<br />
übernimmt s<strong>ein</strong>e Schulden. Heute ist Jarí in den<br />
Händen des brasilianischen Giganten F<strong>und</strong>ação<br />
Orsa, die hier sehr erfolgreich Zellulose aus<br />
Eukalyptus (!) herstellt.<br />
1973 wird die Autostraße BR 163, die Cuiabá,<br />
Mato Grosso mit Santarém, Pará verbindet,<br />
gebaut für Regenwaldschützern das Symbol für<br />
den falschen, zerstörerischen Umgang mit dem<br />
Regenwald. Ab 1979 beginnt Brasilien, auch auf<br />
internationalen Druck hin, s<strong>ein</strong>e<br />
protektionistische, autoritäre <strong>und</strong><br />
paternalistische Wirtschaftsstrategien zu<br />
revidieren, beginnt sich schrittweise zu öffnen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 568
1982 erreicht die Auslandschuld Brasiliens<br />
gigantische Ausmaße an. Das autarke Modell der<br />
Militärs, das alle Importe durch Eigenproduktion<br />
ersetzen will, geht bankrott. 1983 hat die Hälfte<br />
der Bevölkerung nur 12,2% des Inlandkapitals.<br />
Soziale Bewegungen wie MST (Movimento dos<br />
Trabalhadores Rurais sem Terra) <strong>und</strong> die Pastoral<br />
da Criança <strong>und</strong> Pastoral da Terra, beide eng der<br />
Katholischen Kirche verb<strong>und</strong>en, die sich in den<br />
70-er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der<br />
Befreiungstheologie Dom Hélder Câmeras auf die<br />
Seite der Armen schlägt, beginnen sich zu<br />
organisieren. 1984 kommt es zu Massenprotesten<br />
(Diretas já!). 1985 übernimmt der Vizepräsident<br />
José Sarney, er hatte während der Militärdiktatur<br />
hohe Ämter bekleidet, nach dem plötzlichen Tod<br />
Tancredo Neves als der erste Zivilist das Amt des<br />
Präsidenten, allerdings noch in indirekten<br />
Wahlen. Er regiert bis 1990 <strong>und</strong> verweigert dem<br />
Internationalen Währungsfonds mit <strong>ein</strong>em<br />
Moratorium die Zahlung der Zinsen der<br />
brasilianischen Auslandsschulden.<br />
Zwischen 1950 <strong>und</strong> 1980 explodiert die<br />
brasilianische Bevölkerung. Mit von den<br />
wichtigsten Veränderungen das amazonischen<br />
Szenariums ist der Bevölkerungszuwachs, der hier<br />
weit über dem brasilianischen Durchschnitt liegt.<br />
Zwischen 1950 <strong>und</strong> 2007 nimmt die Bevölkerung<br />
im Amazonas um mehr als 500% zu, was direkte<br />
Folgen für die Umwelt hat. Auf der <strong>ein</strong>en Seite<br />
wachsen Abholzung <strong>und</strong> Urbarmachung<br />
unverhältnismäßig, auf der anderen Seite erliegen<br />
immer mehr Menschen der Anziehung der Städte.<br />
International fast gar nicht oder nur punktuell<br />
wahrgenommen, erlebt der Amazonas damit <strong>ein</strong>e<br />
rasche Urbanisierung, die dem Idealbild des<br />
intakten Regenwalds, der grünen, unberührten<br />
Lunge der Welt in allem widerspricht. Ein<br />
unerwarteter, unsichtbarer Kontrast, <strong>ein</strong><br />
Schandfleck frisst sich ins Grün. Heute leben<br />
dreimal mehr Menschen oder fast 80 Prozent oft<br />
unter oft sehr prekären Bedingungen in den<br />
urbanen Zentren. Der unkontrollierte, überaus<br />
rasche Verstädterung sorgt auch hier im<br />
Amazonas dafür, dass all die hiesigen Städte unter<br />
den selben Problemen leiden, wie viele andere in<br />
den unterentwickelten Teilen Brasiliens.<br />
Pessimisten sehen den Amazonas als <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige,<br />
riesige Favela.<br />
Es entsteht auf der <strong>ein</strong>en Seite <strong>ein</strong> Publikum, das<br />
konsumieren will, auf der anderen Seite<br />
explodieren die Kosten mit Infrastruktur <strong>und</strong> der<br />
Versorgung von Gr<strong>und</strong>bedürfnissen, die der<br />
Gem<strong>ein</strong>de zukommen, was durch die enormen<br />
Distanzen <strong>und</strong> die abgelegene Lage erschwert <strong>und</strong><br />
verschärft wird. Immer weiter um sich greifende<br />
Gewalt, das Fehlen jeglicher Infrastruktur <strong>und</strong> der<br />
Mangel an Basisdienstleistungen wie fließendes<br />
Wasser, Elektrizität, Müllabfuhr, Schulen <strong>und</strong><br />
Ausbildung, Krankenversorgung, öffentliche<br />
Verkehrsmittel <strong>und</strong> die Sicherheit führen zu den<br />
selben Problemen wie in den Städten des<br />
restlichen Brasilien.<br />
In den 80-er Jahren kommt in Pará <strong>und</strong> dem<br />
restlichen Brasilien die sensationelle Nachricht von<br />
Goldf<strong>und</strong>en in der „Serra Pelada“ bei Curionópolis,<br />
Südpará in Umlauf. Besonders aus Maranhão<br />
strömen Garimpeiros zu tausenden herbei. Sie<br />
verwandeln den Berg auf dem Höhepunkt s<strong>ein</strong>er<br />
Produktion in <strong>ein</strong>en menschlichen Ameisenhaufen.<br />
1988 wird die bis heute gültige Verfassung<br />
verabschiedet, die zum ersten Mal wenigstens<br />
theoretisch den Amazonas <strong>und</strong> das Pantanal zum<br />
nationalen Naturerbe erklärt <strong>und</strong> die indigenen<br />
Völker unter Schutz stellt, denn so langsam<br />
richten sich die Augen der Welt auf den<br />
Regenwald.<br />
1988 wird Chico Mendes, während der<br />
Militärdiktatur verfolgt, Gründer der Gewerkschaft<br />
der Kautschukzapfer aus Acre, ermordet, als er<br />
sich für die Erhaltung des Regenwaldes <strong>ein</strong>setzt<br />
<strong>und</strong> 2005 geht der Mord an der amerikanischen<br />
Ordensschwester <strong>und</strong> Umweltaktivistin Dorothy<br />
Stang, sie arbeitete für die Pastoral da Terra in der<br />
Region der Transamazônica, um die Welt. Sie wird<br />
Anapu, Pará, kaltblütig ermordet.<br />
Um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende zu Beginn der 2000<br />
Jahre werden die Exporte von industrialisierten<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 569
Gütern von Exporten von Commodities überholt.<br />
Zu diesen Rohstoffen <strong>und</strong> Rohmaterialien<br />
gehören vor allem Soja, Rindfleisch, Hähnchen,<br />
Orangensaft aber auch Eisen, Bauxit <strong>und</strong> Erdöl,<br />
<strong>ein</strong> Teil davon aus dem Amazonas. Dazu kommen<br />
vor Ort riesige, umstrittene Projekte zur<br />
Energiegewinnung wie der Staudamm von Belo<br />
Monte <strong>und</strong> andere, die lokal für große<br />
Spannungen zwischen der traditionellen<br />
Bevölkerung <strong>und</strong> dem aufgezwungenen<br />
Fortschritt sorgen.<br />
Mütze Schlaf nach <strong>ein</strong>em w<strong>und</strong>erbaren<br />
Mittagessen. Im Traum ersch<strong>ein</strong>en sie mir dann<br />
alle, die Ausländer <strong>und</strong> die Indigenen, die<br />
klingenden Namen mischen sich unter die<br />
Namenlosen <strong>und</strong> zusammen versuchen sie mir das<br />
hochkomplexe, gigantische Puzzle zu erklären, das<br />
Belém, der Amazonas ist <strong>und</strong> für mich wohl immer<br />
bleiben wird.<br />
Gigantisch, widersprüchlich, zweischneidig <strong>und</strong><br />
sehr schnellen Wandeln zum besseren oder auch<br />
schlimmeren unterworfen, das ist auch Belém,<br />
das ist der Amazonas, das ist Brasilien.<br />
Immer wenn ich wieder nach Belém komme, hat<br />
sich <strong>ein</strong>iges getan. Der Dornröschenschlaf ist, wer<br />
weiß, schon ausgeschlafen. Irgendwann wird gar<br />
jemand die w<strong>und</strong>erschön zerfallende Altstadt<br />
sanieren. Schon beginnt sie sich zaghaftestens zu<br />
beleben. Vorreiter sind <strong>ein</strong>zelne In-Lokale,<br />
ver<strong>ein</strong>zelt werden die w<strong>und</strong>erschönen Kirchen<br />
restauriert. Irgendwann werde ich kommen <strong>und</strong><br />
werde die w<strong>und</strong>erschönen Gebäude voller Leben,<br />
voller neuem Leben vorfinden, das <strong>ein</strong>e <strong>und</strong><br />
andere vielleicht noch mit <strong>ein</strong>em dieser<br />
sandbestreuten Hinterhöfe, in denen immer <strong>ein</strong><br />
Mangobaum steht. Zwei, drei Hängematten<br />
wiegen sich <strong>ein</strong>ladend im Wind, ideal für <strong>ein</strong>e<br />
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Vor die H<strong>und</strong>e gegangen I<br />
Belém ist wie <strong>ein</strong> kostbares, f<strong>ein</strong> zilseliertes Stück<br />
Mobiliar, ehemals allerletzter Schrei, irgendwann<br />
in der amazonischen Vergangenheit, heute leider,<br />
leider in Vergessenheit geraten, in Ungnade<br />
gefallen, weggestellt verstaubt es auf irgend<br />
<strong>ein</strong>em Dachboden. Einer jener Trends, die, wie so<br />
viele andere vor <strong>und</strong> nach ihnen, heute leider,<br />
leider vergessen wurden, komplett <strong>und</strong><br />
hoffnungslos altmodisch sch<strong>ein</strong>en. Ein Puzzlestück<br />
nur das von fernen, verflossen Glorien zeugt.<br />
Zeitzeugin, Überlebende, die schon so viele<br />
neuere Moden vorbeiziehen hat sehen, die, die<br />
k<strong>ein</strong>er zählte <strong>und</strong> alle anderen dazu. Eine Art<br />
Monster, hier ziemlich abgeschlagen <strong>und</strong> da<br />
deutlich zerkratzt, völlig aus dem Leim geraten,<br />
von zu vielen Umzügen, unachtsamen Bewohnern<br />
<strong>und</strong> gleichgültigen Bediensteten misshandelt. Nie<br />
hat sich <strong>ein</strong>er mit mehr als Worten bereit erklärt,<br />
die Bissstellen, hinterlassen vom Zahn der Zeit,<br />
die aufgeschlagenen Kanten <strong>und</strong> die weg<br />
gesplitterte Farbe restaurieren zu lassen. Zu<br />
anstrengend, zu aufwendig <strong>und</strong> überhaupt. Ein<br />
oder zweimal hat <strong>ein</strong>er etwas Lack darüber<br />
geschmiert, der die herausgeschlagenen Scharten<br />
schlecht kaschiert.<br />
K<strong>ein</strong>em ging der Niedergang bis auf´s Herz, so tief,<br />
dass er etwas getan hätte, das über das übliche<br />
Lamentieren, Bedauern, leider, ja leider.....<br />
hinausginge. Sprach zwar mit von Sehnsucht<br />
rauer Stimme von jenen ach so glamourösen<br />
Zeiten, um so vieles besseren <strong>und</strong> schöner, aber es<br />
folgten k<strong>ein</strong>e Taten. Für das Möbelstück ändert<br />
sich nichts. Wurde, in irgend<strong>ein</strong>em Zimmer in<br />
irgend<strong>ein</strong>e staubige Nische, <strong>ein</strong>e dunkle Ecke<br />
gerückt. K<strong>ein</strong> Vorzeigezimmer, k<strong>ein</strong> Hof halten,<br />
wofür es eigentlich gebaut wurde.<br />
Belém steht, immer noch, wacklig zwar, aber<br />
widersteht. Hält tapfer aus, <strong>ein</strong>e echte Lady. Die<br />
tief liegenden Augen gezeichnet. Die Krähenfüße<br />
graben sich immer tiefer. Die papierdünne Haut<br />
des Halses <strong>und</strong> der Hände zerknautscht, von<br />
faltigen Irrwegen durchzogen. Das versprochene<br />
Lifting, tausendfach versprochen, lässt auf sich<br />
warten. Dieses Risiko, sie auf den Operationstisch<br />
zu legen! Hat, richtig überlegt, Glück im Unglück,<br />
wirklich Schw<strong>ein</strong> gehabt! Ist es hier nicht bis heute<br />
Brauch, all das in Schutt <strong>und</strong> Asche zu legen, was<br />
an den soeben Verblichenen, die Vorväter<br />
erinnern könnte? Damit nichts, aber auch gar nicht<br />
an den Verstorbenen <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e Zeit erinnere!<br />
Das Zusammenleben in dieser Stadt ist, war immer<br />
schon eng. Brust an Brust, Mauer an Mauer,<br />
Gitter an Gitter. Jeder Schritt <strong>ein</strong> brüsker Schnitt<br />
durch alle sozialen Schichten. Unerklärlich<br />
kompliziert <strong>und</strong> so intim <strong>und</strong> organisch, dass sich<br />
das Oben <strong>und</strong> Unten mit dem Miserablen ständig<br />
vermischen. Nicht mal Stadtviertel oder<br />
Wohnblöcke trennen, rücken wenigstens die<br />
extremen sozialen Unterschiede aus dem Blickfeld.<br />
Zu <strong>ein</strong>geübt das Weg-, Darüberhinweg-Schauen.<br />
Zementierte, täglich bejahte Strukturen von<br />
Senhor <strong>und</strong> Untergebenen, feudal, von beiden<br />
Seiten zementiert, durch Gott <strong>und</strong> das Schicksal<br />
gegeben, unverrückbar <strong>und</strong> ewiglich durch die<br />
Geburt vorbestimmt.<br />
Hier der w<strong>und</strong>erschöne Stadtpark, wohl gepflegt,<br />
nur Pudel, Cocker Spaniel <strong>und</strong> Bulldoggen. Zwei<br />
Schritte weiter Straßenh<strong>und</strong>e, Underdogs, solche<br />
mit vier <strong>und</strong> andere mit zwei B<strong>ein</strong>en. Die<br />
Bürgersteige voller illegalen Mahlzeitenverkäufer,<br />
Fliegenden Dienstleister <strong>und</strong> Händler,<br />
für viele die <strong>ein</strong>zige Art <strong>ein</strong> Auskommen zu<br />
verdienen. Die <strong>ein</strong>en verscherbeln im mobilen<br />
Bauchladen Raubkopien der neuesten<br />
Hollywood- <strong>und</strong> Playstation-Lancierungen, die<br />
ihrerseits von den oberen Klassen gekauft<br />
werden. Fast an jeder Ecke <strong>ein</strong>es jener<br />
armseligen Tischchen, „Jogo de Bicho“, illegales<br />
Glücksspiel, <strong>und</strong> an <strong>ein</strong>em anderen, noch<br />
wackligeren, richtet <strong>ein</strong> armer Schlucker Handys<br />
her oder verkauft unnütze Kinkerlitzchen. Vor<br />
dem super-schicken Supermarkt hingestreckt <strong>ein</strong><br />
Betrunkener. Seite an Seite mit dem<br />
Zeitungsverkäufer, der für jede Zeitung s<strong>ein</strong><br />
Leben riskiert, wenn er sich vor die<br />
Autoschlangen wirft. Die noch unverkauften<br />
Exemplare sind <strong>ein</strong>fach am Straßenrand<br />
aufgestapelt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 579
Längst hat Belém s<strong>ein</strong>e Schlüsselposition verloren,<br />
der Amazonas wird nicht mehr von hier aus<br />
erschlossen. Und die Stadt leidet wie alle Städte<br />
hier unter der Misere, der Gewalt, der<br />
Informalität, die große Teile der arbeitenden<br />
Bevölkerung betrifft <strong>und</strong> der fehlenden Mittel, die<br />
den ganzen Amazonas prägen. Bis heute werden<br />
Megarpojekte implantiert, deren Konsequenzen<br />
für die ganze Umgebung, die Menschen <strong>und</strong> die<br />
Umwelt gar nicht oder nur unzureichend<br />
abgeklärt werden.<br />
Der majestätisch, hochelegante Gebäudekomplex,<br />
das Kolleg der Jesuiten, heute Sitz des<br />
Archebischofs, <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Museum, lenkt m<strong>ein</strong>en<br />
Blick ab. Der Gebäudekomplex zählt zu den<br />
repräsentativsten <strong>und</strong> ausdrucksstärksten<br />
der brasilianischen Kolonialarchitektur. Die<br />
be<strong>ein</strong>druckende 1719 fertiggestellte Kirche Santo<br />
Alexandre, dessen Barrock deutlich tropische<br />
Züge trägt <strong>und</strong> den repräsentativen Sinn der<br />
Jesuiten bestätigt, beherbergt das w<strong>und</strong>erschöne<br />
„Museu de Arte Sacra“, <strong>ein</strong>es der schönsten<br />
Brasiliens, mit über 300 Ausstellungstücken<br />
barocker Kirchenkunst. Auf der gegenüberliegenden<br />
Seite schließt die Matriz den alten<br />
Stadtkern ab. Die üppig-barrocke Fassade endlich<br />
hochweiß gekalkt <strong>und</strong> nicht mehr vom hoch<br />
kriechenden Schimmel, Wasser <strong>und</strong> anderen<br />
Infiltrationen zerfressen - die schon so lange<br />
angekündigten Restaurierungsarbeiten haben<br />
endlich begonnen!<br />
Wende mich dem Fort zu, dessen Mauern heute<br />
geschleift sind, das hoch über das Delta ragt. Das<br />
Geviert trägt den stolzen, geschichtsträchtigen<br />
Namen „Núcleo Feliz Lusitânea“. Hier ankerten<br />
1616 die ersten Portugiesen <strong>und</strong> gründeten am<br />
1. September 1627 auf <strong>ein</strong>em steuerfreien Lehen<br />
den Flecken Santa Maria de Belém de Grão Pará.<br />
Gaben dem endlosen Kreuzzug gegen die<br />
unliebsame ausländische Präsenz mehr Gewicht,<br />
<strong>und</strong> bemächtigten sich auch gleichzeitig des<br />
lukrativen Handels mit den sogenannten “Drogas<br />
do Sertão”, aromatische Harze, Medizinalpflanzen,<br />
Guaraná, Anil, Salsa parillha, Pfeffer, Urucum, Noz<br />
de pixurim, Gergelim, Kakao, Cashewnüsse,<br />
Vanille, Paranüsse, Ingwer, Erdnüsse, Tabak <strong>und</strong><br />
wild wachsende Baumwolle aus dem Tropenwald<br />
<strong>und</strong> den Landwirtschaftszonen r<strong>und</strong> um Belém.<br />
Außerdem kostbare Hölzer <strong>und</strong> die aus dem Orient<br />
hergebrachten <strong>und</strong> hier anklimatisierten,<br />
wertvollen Gewürze wie Zimt, Nelken <strong>und</strong><br />
Muskatnuss. Nicht nur zum Essen, sondern auch<br />
als Medikamente begehrt, für Parfüms <strong>und</strong><br />
Balsame, zur Räucherung <strong>und</strong> als<br />
Konservierungsstoffe - Spezereien, auf dem<br />
europäischen Markt oft mit Gold aufgewogen.<br />
Das Museum „Forte do Presépio“ arbeitet diese<br />
Geschichte der Kolonisation des Amazonas in<br />
Gr<strong>und</strong>zügen auf, stellt indianische Töpferwaren<br />
gleichberechtigt neben Reste europäischen<br />
Porzellans.<br />
Wo ist die w<strong>und</strong>erschöne Stadt abgelieben, die<br />
1751 unter dem portugiesischen Premierminister<br />
<strong>und</strong> Erneuerer Marques de Pombal zur<br />
Hauptstadt der Provinz Grão-Pará e Maranhão<br />
erhoben wird <strong>und</strong> dazu vom Architekten Antônio<br />
Guiseppe Landi, Italianer aus Bologna (1708-<br />
1790) mit s<strong>ein</strong>em unvergleichlich, klassischen Stil<br />
zu <strong>ein</strong>er tropischen Metropole ausgebaut wird?<br />
Dimensionen <strong>und</strong> architektonische Qualität<br />
zeigen die Wichtigkeit, die die Stadt für den<br />
pombalschen Merkantilismus hatte. Bedeutende<br />
Bauten, wie die große Kathedrale Sé <strong>und</strong> der<br />
Palácio do Governo (1940 in Palácio Lauro Sodré<br />
umgetauft; 1994 zum Museum des Staates Pará<br />
ausgebaut) <strong>und</strong> das Casa das Onze Janelas, das<br />
Elf-Fenstrige-Haus am Ende des Platzes, <strong>ein</strong><br />
ehemaliges Militärkrankenhaus gehören dazu.<br />
W<strong>und</strong>erschön proportioniert, in starkem Gelb<br />
gleich über die Bucht gestellt, beherbergt heute<br />
das lokale Museum für Moderne Kunst <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Restaurant mit wechselvollem Schicksal.<br />
Belém ging <strong>und</strong> geht <strong>ein</strong> paar Mal unter <strong>und</strong><br />
beginnt immer wieder neu. Die Stadt wird<br />
zwischen 1835 <strong>und</strong> 1837 zum Zentrum <strong>ein</strong>es<br />
Volksaufstandes, zum Epizentrum <strong>ein</strong>er<br />
Revolution, der „Cabanagem“ (Cabana ist <strong>ein</strong>e<br />
behelfsmäßig errichtete Hütte), <strong>ein</strong>e Art<br />
Bürgerkrieg. Untere Schichten, verarmte<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 580
Caboclos, ehemalige, frei gelassene oder frei<br />
gekaufte Sklaven, Indios ohne Stammeszugehörigkeit<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar Fazendeiros <strong>und</strong> Händler<br />
zetteln ihn an, von den Ideen der Französischen<br />
<strong>und</strong> Amerikanischen Revolution inspiriert. Sie<br />
proben die Unabhängigkeit, denn die Rio-de-<br />
Janeiro-zentrierten Ideen, der Kaiser<br />
ist seit 1808 in die Kolonie geflüchtet, sch<strong>ein</strong>en<br />
ihnen nicht akzeptabel. Der Aufstand greift auf<br />
alle Staaten Grão-Parás, (heute Pará, Amazonas,<br />
Roraima, Rondônia <strong>und</strong> Amapá) über. Es wird<br />
geschätzt, dass mindestens 40 Prozent der<br />
Bevölkerung, oder 30.000 Bewohner bei den<br />
Unruhen <strong>und</strong> Kämpfen getötet wurden.<br />
Schon ab 1840 setzt der Kautschukboom <strong>ein</strong>. Es<br />
ist Charles Goodyear gelungen in <strong>ein</strong>em speziellen<br />
Vulkanisierungsverfahren den Gummireifen zu<br />
entwickeln, der nun die Gummiproduktion <strong>und</strong><br />
damit das ganze Amazonasbecken in den Blick des<br />
restlichen Brasiliens <strong>und</strong> der Welt rückt. Es geht<br />
nun Schlag auf Schlag. 1866 geht die Schifffahrt<br />
auf dem Amazonas in die Hände der Engländer<br />
<strong>und</strong> Amerikaner über. Nach 1877 emigrieren<br />
Millionen von „Nordestinos“, besonders aus Ceará<br />
im brasilianischen Nordosten in den Amazonas,<br />
fliehen vor den schrecklichen Dürren, unter<br />
denen ihr Staat immer wieder leidet, werden vom<br />
riesigen Ungeheuer Tropenwald verschlungen,<br />
<strong>ein</strong>fach absorbiert, höchst willkommen als<br />
„Seringeirios“, Gummizapfer, <strong>ein</strong>e Art<br />
Unterh<strong>und</strong>e, auf der untersten Stufe der<br />
Produktionskette. Die „Drogas do Sertão“, die<br />
Gewinnung von Medizinalkräutern, Andiroba <strong>und</strong><br />
Copaibaöl, wohlriechenden Samen wie Cumarú<br />
<strong>und</strong> Pelze wilder Tiere werden nebensächlich, nur<br />
Jutte <strong>und</strong> Paranüsse, nach Europa, besonders nach<br />
Deutschland exportiert, behaupten sich,<br />
neben der Viehzucht, als Neben<strong>ein</strong>kunftsquellen.<br />
Als Stadt der Mangobäume stilisiert, <strong>ein</strong>es der<br />
Symbole Beléms, zur Hochblüte des Kautschuks<br />
auf Geheiß des damaligen Bürgermeisters Antônio<br />
Lemos angepflanzt, finden sich überall, beschatten<br />
den Verfall <strong>und</strong> die Nachlässigkeit. Lemos<br />
konstruiert jene wohlhabende, reiche Stadt, die<br />
bald aus allen Nähten platzt. Immer mehr<br />
Ausländer, Portugiesen, Spanier, Chinesen,<br />
Franzosen quellen hier aus den Schiffen. Auch<br />
viele Japaner kommen über die Meere. Sie bilden<br />
die zweitgrößte japanische Kolonie Brasiliens,<br />
Libanesen <strong>und</strong> Syrier strömen herbei. Lemos will<br />
hoch hinaus. Modernisiert die von Malaria- <strong>und</strong><br />
Gelbfieberepidemien geplagte Stadt, passt sie<br />
europäischen Standards an. Das angestrebte<br />
Vorbild ist nichts weniger als das kosmopolitische<br />
Paris. Der Sanitätsarzt Oswaldo Cruz, er hat schon<br />
Rio de Janeiro mit rigorosen sanitären<br />
Maßnahmen vom Stigma der todbringenden<br />
Tropenkrankheiten befreit, saniert nun Belém. Es<br />
wird zum Hauptumschlag <strong>und</strong> -verladeplatz für<br />
die Gummiballen, die nach Europa <strong>und</strong> USA<br />
verschifft werden <strong>und</strong> ihr strenger Geruch soll<br />
die halbe Stadt verpestet haben. Lemos lässt all<br />
die Boulevards <strong>und</strong> Kioske bauen, den „Bosque“,<br />
<strong>ein</strong> angenehm kühler <strong>und</strong> gut gepflegter Ort,<br />
halb Zoo, halb Park, bis heute von vielen Familien<br />
besucht, sorgt für elektrisches Licht <strong>und</strong> die<br />
ultramoderne Straßenbahn. Die neu ausgerufene<br />
brasilianische Republik, die Pará <strong>ein</strong>en größeren<br />
Anteil am Gewinn des Kautschuks zugesteht,<br />
hilft. 1901 wird die aus England importierte<br />
Eisenkonstruktion des „Ver-o-peso“, des<br />
zentralen Marktes errichtet. Der Name „Ver-opeso“<br />
(Sieh das Gewicht) stammt aus der<br />
Kolonialzeit, denn hier wurden alle <strong>ein</strong>geschifften<br />
Waren, um sie richtig versteuern zu können, im<br />
Zollhaus „Haver-o-peso“ gewogen.<br />
Auch die Kultur lässt sich nicht lumpen. Der<br />
berühmte brasilianische Komponist Carlos<br />
Gomes präsentiert in Belém im schönen Teatro<br />
da Paz in den Jahren 1878 <strong>und</strong> 1882 s<strong>ein</strong>e Opern.<br />
Als Kehrseite werden die meisten Konsumgüter<br />
aus Europa <strong>ein</strong>geführt - was aus den Tropen<br />
kommt, galt vor h<strong>und</strong>ert Jahren <strong>und</strong> gilt bis auf<br />
den jetzigen Tag, welch hartnäckiges,<br />
snobistisches Vorurteil, als minderwertig,<br />
zweitrangig. Böse Zungen wissen gar, dass die<br />
Elite, bis heute der Misere relativ gleichgültig<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 581
gegenübersteht, auf welcher sich ihr Reichtum<br />
gründet. Lässt ihre Kinder nun nicht mehr in<br />
Portugal, sondern in Frankreich erziehen. Lässt,<br />
Geld spielt k<strong>ein</strong>e Rolle, da im fernen Europa auch<br />
gleich ihre schmutzigen Kleider waschen <strong>und</strong><br />
stärken.<br />
Auf m<strong>ein</strong>en Besuchen in Belém wünsche ich mir<br />
<strong>ein</strong> wenig dieses Darüber-hinweg-sehen-können.<br />
Ein f<strong>ein</strong>er Nieselregen setzt <strong>ein</strong>, der verspricht.<br />
Ziehe mich zurück, lasse die alte Lady zurück,<br />
leise schaukelt ihr Schaukelstuhl, vor <strong>und</strong> zurück,<br />
oder wohl mehr zurück als vor. Von mir jedenfalls<br />
bekommt sie nur die allerbesten Wünsche mit ihn<br />
ihre Träume geschickt.<br />
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Belém der Jesuiten, Museu de Arte Sacra<br />
Der majestätisch, hochelegante Gebäudekomplex,<br />
das Kolleg der Jesuiten, heute Sitz des<br />
Archenbischofs, fasziniert wie alle von den<br />
Jesuiten erbauten Gebäude. Dieses hier trägt<br />
deutlich tropische Züge, <strong>ein</strong> Barrock, der durch<br />
s<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fach-klaren Linien überzeugt, die von der<br />
stupenden Effizienz <strong>und</strong> dem guten Geschmack<br />
des Jesuitenordens zeugt. Der ganze Komplex gilt<br />
zu den be<strong>ein</strong>druckensten sakralen Bauten der<br />
brasilianischen Kolonialarchitektur, errichtet zu<br />
jenen Glanzzeiten, als der Jesuitenorden auf dem<br />
Höhepunkt s<strong>ein</strong>er Macht angelangt war, viel mehr<br />
als <strong>ein</strong> christlicher Orden, mehr <strong>ein</strong>e Art<br />
straffstens organisierte Christianisierungs- <strong>und</strong><br />
Handelsfirma mit klaren Visionen <strong>und</strong> Vorgaben,<br />
die mit starker Hand zentralistisch <strong>ein</strong>gefordert<br />
wurden. Wie stark die Kontrolle war, zeigt zum<br />
Beispiel, dass die Baupläne aller jesuitischen<br />
Kirchen auf der ganzen Welt, ob sie nun in Japan,<br />
oder im brasilianischen Amazonas errichtet<br />
wurden, von der Zentrale in Rom genehmigt<br />
werden mussten. Und das vor 300 Jahren, als<br />
Belém nur mit dem Schiff zugänglich war.<br />
Glanzlichter Brasiliens, das über 300 Ausstellungsstücken<br />
barocker Kirchenkunst zeigt <strong>und</strong> sie auch<br />
ganz didaktisch in den historischen<br />
Zusammenhang stellt.<br />
Um die Ecke beherbergt <strong>ein</strong> anderer Teil das<br />
kl<strong>ein</strong>e, liebevoll ausgestattete Museum des Círios.<br />
Hier kann man mehr über die wechselhafte<br />
Geschichte des wohl wichtigsten lokalen<br />
Feiertages <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Marienverehrung lernen,<br />
abgehalten immer am ersten Sonntag im Oktober.<br />
Man hatte <strong>ein</strong>e Welt zu be<strong>ein</strong>drucken, <strong>ein</strong>en Ruf<br />
zu repräsentieren, was die 1719 fertiggestellte<br />
Kirche Santo Alexandre, sie steht auch immer<br />
wieder klassischen Konzerten offen, <strong>und</strong> gleich<br />
daneben, öffentlich zugänglich, <strong>ein</strong> Museum,<br />
bestätigt, dass die Jesuiten wohl immer das Beste<br />
wollten. Das Museum zählt zu <strong>ein</strong>em der<br />
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Vor die H<strong>und</strong>e gegangen II<br />
Er sch<strong>ein</strong>t mir zu folgen. Jedes Mal, wenn ich den<br />
Blick schweifen lasse, drängt er sich irgendwo ins<br />
Blickfeld. Schon gute fünfzehn Minuten nimmt er<br />
den selben Weg, fast sch<strong>ein</strong>t es, als er m<strong>ein</strong> Ziel<br />
erahnt hätte. S<strong>ein</strong> gleichmäßiges Traben, der steil<br />
erhobener Schwanz, Nase <strong>und</strong> Augen immer nach<br />
vorne orientiert, weiß wohl sehr genau, wohin er<br />
will. Er verkörpert im wortwörtlichen Sinn <strong>ein</strong>en<br />
Underdog. Einer jener Straßenköter, alle Viralatas,<br />
Abfallkübeldreher, unbestimmter Rassen,<br />
herrenlos (?), wie sie überall in der Stadt<br />
anzutreffen sind.<br />
Ockerfarben, mittelgroß - schau, da ist er wieder,<br />
da weiter vorne! Riecht an <strong>ein</strong> paar Abfallsäcken,<br />
markiert da <strong>ein</strong>en vergessenen Haufen Bauschutt,<br />
auf dem Bürgersteig entsorgt. Genauer betrachtet<br />
ist nicht mal ausgehungert. Überquert clever die<br />
Straße, <strong>ein</strong> Profi, so als wüsste er um die<br />
Gefahren, die die Autos für ihn bedeuten. Stillt in<br />
<strong>ein</strong>er Pfütze oder der Gosse s<strong>ein</strong>en Durst, da im<br />
Straßengraben, da hat sich der Regen gestaut.<br />
Nur k<strong>ein</strong> falscher Tritt!<br />
Die H<strong>und</strong>emeute im frisch restaurierten Park,<br />
<strong>ein</strong>es der Postkartenmotive der Stadt dagegen, ist<br />
wirklich dabei vor die H<strong>und</strong>e zu gehen. Weder<br />
Bedauern noch <strong>ein</strong> Anti-Wurmmittel können ihre<br />
Probleme lösen. Es sind ihrer zu viele. Drei, n<strong>ein</strong><br />
vier Straßenköter, verlaust, voller Würmer, so<br />
mager, dass ihnen die Haut zwischen jeder Rippe<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Delle formt. Sie paaren sich hier auf<br />
dem Platz. Ignorieren ihren jämmerlichen Zustand<br />
<strong>ein</strong>fach. Spielen, überleben, sich selber <strong>und</strong> dem<br />
Zufall überlassen. An Müll <strong>und</strong> Abfall für<br />
Straßenh<strong>und</strong>e fehlt es jedenfalls nie. K<strong>ein</strong>en<br />
sch<strong>ein</strong>t es zu kümmern, dass sie nicht nur lebende<br />
Kreaturen sind, sondern auch <strong>ein</strong>e Gefahr für die<br />
öffentliche Ges<strong>und</strong>heit. Könnten, unter anderem,<br />
Zwischenwirte für die Mikrobe der Leishmaniose<br />
s<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e typische Tropenkrankheit, in deren<br />
Kur/Heilung durch moderne Medikamente nie<br />
wirklich investiert wurde. Eine andere Touristin<br />
fotografiert fasziniert den Paarungsakt.<br />
Schau nur! Da haben sie doch das alte Gebäude<br />
des lokalen Fußballclubs Remo neu gestrichen,<br />
blau mit f<strong>ein</strong> gepinselten, weißen Linien! Ein<br />
Überbleibsel der Belle Époque. Vor Kurzem noch<br />
vernachlässigt, der Witterung preisgegeben, wie<br />
der ganze, w<strong>und</strong>erschöne Komplex der Altstadt,<br />
heruntergekommen, vor die H<strong>und</strong>e gegangen.<br />
Der Nieselregen, leicht wie <strong>ein</strong> Schleier, konstant<br />
<strong>und</strong> lauwarm, setzt <strong>ein</strong>. Er sch<strong>ein</strong>t den<br />
importierten Sträuchern besonders gut zu<br />
bekommen. Sie stehen in voller Blüte. Die Dolden<br />
in lebendigem Rot geben dem Platz etwas<br />
Heiteres, verleihen ihm <strong>ein</strong>en Hauch von Ordnung,<br />
Fortschritt <strong>und</strong> Zivilisation. Geben ihm, streng <strong>und</strong><br />
geometrisch angepflanzt, gar <strong>ein</strong> gewisses Flair,<br />
die künstliche Eleganz <strong>ein</strong>es in die Tropen verirrten<br />
französischen Gartens. Auf der ersten Stufe <strong>ein</strong>er<br />
Statue, da, im Zentrum des Platzes, liegen drei<br />
identisch <strong>ein</strong>gerollte Kugeln, <strong>ein</strong>e dicht neben<br />
der anderen. Der St<strong>ein</strong>, noch, blitzsauber,<br />
strahlend weiß. Der Regen sch<strong>ein</strong>t den<br />
flüchtigen, gleichgültigen Schlaf der drei<br />
Straßenköter nicht zu be<strong>ein</strong>trächtigen.<br />
Wünsche mir etwas von ebendieser<br />
Gleichgültigkeit an diesem ersten Tag in Belém.<br />
Ich will Geld abheben <strong>und</strong> sehe schon bald vor<br />
mir <strong>ein</strong>e Filiale m<strong>ein</strong>er Bank. Der starke Regen<br />
schreckt mich nicht mehr, aber die Szene, mit<br />
der mich dieselbe beschenkt, doch sehr. Gut<br />
beschützt vom schwungvollen Dach <strong>ein</strong>er<br />
modernen Rampe für Körperbehinderte, auf<br />
<strong>ein</strong>er großen, zurecht gerissenen Pape bequem<br />
zurechtgesetzt, sehe ich <strong>ein</strong> Paar Obdachloser,<br />
zusammen mit ihren wenigen Habseligkeiten,<br />
unter ihnen auch <strong>ein</strong> H<strong>und</strong>. Er hat gar, wie<br />
vorsorglich, s<strong>ein</strong>e eigene Pappe abbekommen!<br />
Ich stelle mir vor, wie er sich, dreimal an Ort <strong>und</strong><br />
Stelle im Kreis dreht, sich dann zufrieden darauf<br />
niederlässt, so fürsorglich vor den endlos nieder<br />
triefenden Wassern geschützt!<br />
Eine verkehrte Welt: Die Reichen schicken ihre<br />
H<strong>und</strong>e zum Teufel, während die Underdogs, die,<br />
die selber vor die H<strong>und</strong>e gehen, den ihren umso<br />
besser behandeln.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 598
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Kacheln<br />
Das Trompe d´oeil der leichten, f<strong>ein</strong>en<br />
Pinselstriche auf weißem Gr<strong>und</strong> ist so raffiniert<br />
ausgearbeitet, dass jeweils vier Kacheln immer<br />
das selbe Quadrat mit dem sich endlos<br />
wiederholenden Blumenornament formen, egal<br />
wie die Kacheln auch gesetzt werden, liegend,<br />
<strong>ein</strong>e an die andere gereiht, oder spitzüber. Eine<br />
f<strong>ein</strong>e Linie aus Punkten durchläuft jede Kachel<br />
diagonal, rahmt <strong>und</strong> trennt jedes Ornament in der<br />
Horizontalen <strong>und</strong> in der Vertikalen. Identische<br />
Punkte schließen sich im Innern <strong>ein</strong>er jeden<br />
Blume zu <strong>ein</strong>em delikat gebrochenen Kreis.<br />
Ich sammle sie alle, Kachel für Kachel, auch <strong>ein</strong><br />
paar modernere Exemplare, hochinteressant <strong>und</strong><br />
landestypisch. Einige bewahre ich in der<br />
Erinnerung, andere fotografiere ich im Detail,<br />
achte auf Friese <strong>und</strong> Einfassungen, registriere<br />
raffinierte Ecklösungen <strong>und</strong> sorgfältig gearbeitete<br />
Fugen. Lege wert auf Einzelheiten, verraten sie<br />
mir doch die delikate Hand des Kunsthandwerkers<br />
<strong>und</strong> des Kachelsetzers. Suche nach Spuren, die es<br />
problemlos auch dem Laien erlauben, die<br />
handgemalten von den industriell hergestellten zu<br />
unterscheiden. Da, in den Fugen treffen sich die<br />
f<strong>ein</strong>en Linien zweier handbemalter Stücke niemals<br />
so präzise, wie bei den industrialisierten. Zeigen<br />
unregelmäßige Schnittpunkte, ovale, eirige Kreise<br />
<strong>und</strong> auch die Farben sind unregelmäßiger,<br />
wurden etwas f<strong>ein</strong>er, <strong>ein</strong>ige gröber oder<br />
dicklicher, mit mehr oder weniger Druck<br />
aufgetragen. Die Intensität, die Mischung <strong>und</strong> die<br />
Nuancen variieren von <strong>ein</strong>er Kachel zur nächsten,<br />
<strong>und</strong> die Oberflächen zeigen fast immer <strong>ein</strong> paar<br />
kl<strong>ein</strong>e Unebenheiten, Unperfektionen, <strong>ein</strong>e leichte<br />
Körnung, winzige Höhenunterschiede.<br />
Die Kachel, <strong>ein</strong>e Erbschaft der Mauren, das Wort<br />
“Azulejo”, Kachel, stammt aus dem Arabischen,<br />
wurde von den Portugiesen nach Brasilien<br />
gebracht. Ihre stilisierten Arabesken, das f<strong>ein</strong><br />
ausgedachte Dekor belegen das. Neben vielen<br />
geometrischen Ornamenten gibt es auch reiche<br />
figurative Motive. Mache sch<strong>ein</strong>en direkt aus<br />
<strong>ein</strong>em imaginären, üppigen Garten zu stammen;<br />
reiche Blumengirlanden, Ranken, von Obst<br />
überquellende Schalen <strong>und</strong> Körbe aber auch<br />
Alltagsszenen. Dekorativ sind sie alle, schmücken<br />
Fassaden von Herrenhäusern oder kl<strong>ein</strong>en<br />
Palästen im portugiesischen oder maurischen Stil.<br />
Zuerst wurden die Kacheln, Stück für<br />
gebrechliches Stück, Quadrat für delikates<br />
Quadrat, von den Portugiesen übers Meer her<br />
verschifft, später dann auch hier in Brasilien<br />
produziert. Wirklich populär wurden sie, als es<br />
möglich war, sie in industrieller Skala herzustellen.<br />
Gekachelte Häuser, oft Herrschafts- <strong>und</strong><br />
Kaufmannshäuser, sind oft nur Überlebende, nicht<br />
im besten Zustand. Die Behörden zögern noch, sie<br />
zu retten <strong>und</strong> zu bewahren, indem sie sie unter<br />
Denkmalschutz stellen.<br />
Kacheln bilden, des Klimas, der hohen<br />
Luftfeuchtigkeit <strong>und</strong> der ständigen Regenfälle<br />
wegen, <strong>ein</strong>en idealen Fassadenverputz, können<br />
überall angebracht werden, schmücken nicht nur<br />
Hauswände <strong>und</strong> Gartenmauern, sondern auch<br />
Treppenhäuser, erfolgreicher Kulturaustausch im<br />
wahrsten Sinne des Wortes, denn die<br />
geometrischen Kacheln bilden <strong>ein</strong>e perfekte<br />
Kombination zu den starken Farben <strong>und</strong> den<br />
anderen Elementen der portugiesischen<br />
Kolonialarchitektur, den massiven,<br />
kontrastfarbenen Fensterstürzen <strong>und</strong> –rahmen,<br />
den endlosen Reihen eng neben<strong>ein</strong>ander<br />
stehender Fenstertüren, die horizontale Friese,<br />
hinter denen die tief liegenden Dächer mit ihren<br />
vier flachen Dachflächen <strong>ein</strong>fach verschwinden,<br />
schaut man von der Straße hoch.<br />
Blau <strong>und</strong> gelb mit schwerelos leichten<br />
Pinselstrichen <strong>und</strong> viel Sorgfalt von geübter Hand<br />
auf den weißen Gr<strong>und</strong> aufgetragen - fast alle<br />
Kacheltypen bevorzugen diese klassischen<br />
Farben, seltener sind Kastanienbraun, Kupferrot<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong> metallisches Grün. Um die<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
integrieren die Kachelkunsthandwerker<br />
Elemente des Jugendstils <strong>und</strong> Art Deco. Die<br />
Farben werden morbide, die Kacheloberfläche<br />
erhalten charakteristische, reliefartige<br />
Erhebungen. Blumen <strong>und</strong> Ranken<br />
verselbstständigten sich auf üppigen Bändern.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 601
Die 50er <strong>und</strong> 70er Jahre des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
setzen beschwingte Akzente, reizen auf sehr<br />
interessante Weise die Idee des Kontrastes <strong>und</strong><br />
der Repetition aus, modern <strong>und</strong> zeitgenössisch,<br />
Führen auch neue, leuchtend grelle oder gar<br />
schreiende Farben <strong>ein</strong>. Ich mag auch die<br />
populären Zementkacheln, eher als Fußboden<br />
verlegt. Auf <strong>ein</strong>e zementene Unterschicht wird in<br />
<strong>ein</strong>e Schablone <strong>ein</strong>e zweite Schicht aus Zement,<br />
Marmorpuder <strong>und</strong> Farbe gegossen, die<br />
anschließen unter hohem Druck gepresst wird.<br />
Die Kacheln erzählen mir mit ihren Manierismen<br />
oder Modismen Geschichten. Sie erzählen von<br />
endlosen Regengüssen, von glühenden, <strong>ein</strong>en an<br />
den anderen gereihten Sonnentagen.<br />
Verschweigen elegant, wer oder was sie<br />
beschädigt hat, wie <strong>und</strong> warum sie nur<br />
behelfsmäßig repariert wurden, weshalb sich ihre<br />
Farben langsam aber sicher herunter schälen,<br />
oder sie gar, <strong>ein</strong> vergessener Schatz, unter <strong>ein</strong>er<br />
f<strong>ein</strong>en, romantischen Schicht Moos vor sich hin<br />
schimmeln. Sie verkörpern nicht nur fast<br />
unvergängliche Schönheit, sondern auch<br />
Hartnäckigkeit <strong>und</strong> Widerstand, überdauern sie<br />
doch bis heute, wie das hochherrschaftliche<br />
Eckhaus in Manaus, das zu <strong>ein</strong>em majestätischen<br />
Kulturzentrum <strong>und</strong> Theater geworden ist. Oder<br />
schmücken das geduckte Gebäude in Santarém,<br />
das mit s<strong>ein</strong>en neun Spitzbogenfenstern direkt<br />
aus 1001 Nacht zu stammen sch<strong>ein</strong>t. Ein Detail:<br />
jeweils drei Mal drei der Fenster sind in <strong>ein</strong>er<br />
anderen Farbe gemalt. Der kl<strong>ein</strong>e Stadtpalast<br />
wurde, pure Fantasie, vielleicht von <strong>ein</strong>em<br />
libanesischen oder syrischen Einwanderer in<br />
Auftrag gegeben. Einer der vielen Einwanderer aus<br />
arabischen Ländern.<br />
Noch <strong>ein</strong> Fremder, der sich hier im Norden mit<br />
<strong>ein</strong>er exotischen Welt konfrontiert sah, so exotisch<br />
<strong>und</strong> erschreckend-faszinierend, wie die s<strong>ein</strong>e für<br />
uns. Nur die Hitze war ihm wohl vertraut <strong>und</strong><br />
familiär. Vielleicht war er – was für <strong>ein</strong>e verrückte<br />
Idee - als geborener Kaufmann <strong>ein</strong> direkter<br />
Nachkomme Ali Babas oder zumindest <strong>ein</strong>er s<strong>ein</strong>er<br />
Helfer oder waren es Räuber? untergetaucht,<br />
glücklich, in s<strong>ein</strong>em gekachelten Haus in diesem<br />
abgelegenen, exotischen Teils der Tropen.....<br />
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Gehwege <strong>und</strong> Bürgersteige<br />
Erk<strong>und</strong>e sie alle, vorurteilslos <strong>und</strong> ohne jegliche<br />
Diskriminierung, die holprigen Gassen, schmalen<br />
Wege <strong>und</strong> steilen „Ladeiras“ genauso wie die<br />
prunkvollen Alleen <strong>und</strong> breiten „Avenidas“.<br />
Verwünsche, es gibt k<strong>ein</strong> Ausweichen, den<br />
lausigen Zustand der Bürgersteige. Hier löst sich<br />
der Belag, da fehlt er ganz, wohl <strong>ein</strong>e Art<br />
Gradmesser des Zustandes <strong>ein</strong>er Stadt, ihres<br />
Wohlstandes <strong>und</strong> politischen Willens <strong>und</strong><br />
Wohlwollens, aber auch <strong>ein</strong>e Zeitreise durch all<br />
die wechselhaften Zyklen, die die Stadt schon<br />
durchlaufen hat. St<strong>ein</strong> für St<strong>ein</strong>, Kiesel für Kiesel<br />
nimmt mich auf <strong>ein</strong>e Reise durch die<br />
verschiedensten Vergangenheiten mit.<br />
Was es nicht alles gibt: „Travessas“ (TV<br />
abgekürzt….) - Querstraßen, <strong>ein</strong>en „Largo da<br />
Misericórdia“, <strong>ein</strong>en Platz der Barmherzigkeit.<br />
Manche Städte haben <strong>ein</strong>e „Rua direita“ – <strong>ein</strong>e<br />
Rechte Straße, aber nie <strong>ein</strong>e linke. Be<strong>ein</strong>druckend<br />
die “Rua da boa morte“ – die Straße des guten<br />
Todes, so genannt nach <strong>ein</strong>em religiösen Orden,<br />
der nur schwarze Frauen aufnahm.<br />
Erobere die Städte, zu Fuß - ureuropäische<br />
Gewohnheiten legt man nicht so <strong>ein</strong>fach ab.<br />
Schlüpfe in die weichsten Turnschuhe, ignoriere<br />
Höchsttemperaturen oder Regenschauer, laufe<br />
los, bummle, gehe, wohin mich die Füße tragen,<br />
<strong>ein</strong> Stadtplan zur Hand, auch das <strong>ein</strong>e importiertanerzogene<br />
Gewohnheit. Vertraue mich der<br />
Neugier an, versuche unterwegs, welch<br />
hoffnungsloses Unterfangen, nicht zu viel Staub<br />
oder stinkende Abgase abzubekommen. Erforsche,<br />
lerne, von Schweißausbrüchen <strong>und</strong> der<br />
Langsamkeit begleitet, mit jedem Schritt etwas<br />
Neues, dringe mit neugierig-indiskretem Blick <strong>ein</strong>,<br />
will gar bis zur Seele dieses Ortes vordringen. Will<br />
den Zauber jenes Platzes, dieses Hauses<br />
entschlüsseln, Geheimnisse erfahren, hier <strong>ein</strong><br />
offensichtliches, sichtbares, da <strong>ein</strong> streng<br />
verborgenes.<br />
Die riesigen, klaren Blöcke hier, die seit drei, vier,<br />
wer weiß, gar fünf Jahrh<strong>und</strong>erten die Eingänge der<br />
majestätischen Kirchen säumen, ehemals<br />
großartige, heute verkommene Plätze pflastern.<br />
Wie viele Füße vor mir schleiften, hasteten,<br />
sprangen, glitten oder schlurften schon darüber?<br />
In europäischen Kalkst<strong>ein</strong>werken geschnitten,<br />
symbolisieren sie <strong>ein</strong>en sozusagen <strong>ein</strong>seitigen<br />
Handelsverkehr, denn sie wurden als r<strong>ein</strong>er Ballast<br />
im Bauch sonst halbleerer portugiesischer Schiffe<br />
übers Meer hergebracht. Die selben Schiffe, die<br />
dann vollbepackt mit Zucker <strong>und</strong> Edelhölzern<br />
zurückkehrten. Sie säumen auch die offenen<br />
Abwasserkanäle <strong>und</strong> Abflüsse, die bis heute nicht<br />
nur die nie versiegenden Fluten <strong>und</strong> Flüsse des<br />
Regenwassers auffangen. Diese Straße hier<br />
bewahrt noch das Kopfst<strong>ein</strong>pflaster, holprig grob<br />
<strong>und</strong> unregelmäßig. Die runzeligen, quadratisch von<br />
Hand zurecht geschlagenen St<strong>ein</strong>e haben die<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte problemlos überstanden. Bis heute<br />
schlucken <strong>und</strong> verdauen ihre gefräßigen Spalten,<br />
ständig auf der Lauer, fast alles, Ströme <strong>und</strong><br />
Sintfluten Regenwassers genauso wie f<strong>ein</strong>e<br />
Stilettoabsätze.<br />
Zum Innehalten, Ausruhen lädt der überaus<br />
elegante Granitfußboden der antiken Kirche da<br />
drüben <strong>ein</strong>. S<strong>ein</strong>e Schönheit überdauert bis zum<br />
heutigen Tag, so vortrefflich spielt s<strong>ein</strong> elegantes,<br />
regelmäßig zeitloses Muster s<strong>ein</strong> schwarz/weißes<br />
Licht- <strong>und</strong> Schattenspiel, lässt mich für<br />
Augenblicke den Schimmel vergessen, der sich<br />
den Wänden hoch nagt. Er ist im Diagonal verlegt,<br />
was die Sensation von Weite <strong>und</strong> Großzügigkeit<br />
noch erhöht. Aus der Hochblüte des Kautschuks<br />
stammen die resistenten, kl<strong>ein</strong>en Pflasterst<strong>ein</strong>e,<br />
die sich zu Mosaiken zusammenfügen. Sie<br />
wiederholen die paar klassischen Farben:<br />
verschiedene Abschattierungen von Schiefergrau,<br />
oranges Braun <strong>und</strong> klares Beige. Inspiriert an den<br />
klassischen, portugiesischen Vorbildern, werden<br />
sie entweder als großzügige, offene Fächer<br />
gegen<strong>ein</strong>ander gesetzt oder formen kunstvolle,<br />
zwei <strong>und</strong> dreifarbige Mosaike. Schlängeln sich mit<br />
ihren Blumengirlanden wie endlos ausgerollte,<br />
verst<strong>ein</strong>erte Teppiche den repräsentativen<br />
Hauptstraßen <strong>und</strong> Hauptverkehrsadern lang.<br />
Schmücken die Eingänge des Theaters <strong>und</strong><br />
anderer öffentlicher Gebäude, wo sie sich mit<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 608
südlicher Grandezza zu dekorativ verschlungenen<br />
Ornamenten oder komplexen, geometrischen<br />
Figuren zusammen fügen. Auch in den<br />
öffentlichen Parks mit ihren reich ornamentierten<br />
Pavillons der Belle Époque geht man auf ihnen<br />
spazieren. Sie gliedern <strong>und</strong> umfassen die vielen<br />
Rasen- <strong>und</strong> Sandflächen.<br />
Die die vielen Neo´s: Neoklassizismus,<br />
Neobyzantinismus, Neoromanisch, die<br />
Gründerzeit <strong>und</strong> der Eklektizismus haben ihre<br />
Spuren hinterlassen, überdauern in<br />
Haus<strong>ein</strong>gängen hochherrschaftlicher Häuser <strong>und</strong><br />
im Eingangsbereich öffentlicher Gebäude, halten<br />
mit den faszinierend reichen, hochstilisierten <strong>und</strong><br />
geschwungene Gitterzäunen aus der Zeit<br />
Zwiesprache. Andere Eingänge zeigen den<br />
typischen sechseckigen, orangeroten<br />
Klinkerboden. Der Türklopfer hier an <strong>ein</strong>er<br />
massiven Haustür, das schwer-schwarze Blei<br />
abgegriffen <strong>und</strong> poliert, <strong>ein</strong>e mollige Hand, die<br />
aus <strong>ein</strong>er romantisch gerüschten Manschette<br />
schaut <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Gewicht umklammert, mit dem<br />
man Einlass begehrt, ist wohl vergessen<br />
gegangen. Die Kirche aus der selben Zeit<br />
schmückt sich mit industriell gefertigten<br />
Zementkacheln, die sich in dunkeldüsteren Farben<br />
mit ihren reichen Ornamenten zu <strong>ein</strong>er Art<br />
st<strong>ein</strong>ernem Orientteppich zusammenfügen.<br />
In den moderneren oder modernisierten Teilen<br />
der Stadt trete ich auf Beton, viel beklatschter<br />
Fortschritt <strong>und</strong> Ästhetik der fortschritts üchtigen<br />
Jahrzehnte zwischen 1950 <strong>und</strong> 1970. Viereckige,<br />
vorfabrizierte Blöcke aus Zement bilden grauslichgräuliche,<br />
billige Imitationen der traditionellen<br />
portugiesischen Muster. Schachbretter, in langen<br />
Streifen zusammengelegt, in beige, grau <strong>und</strong><br />
fahlem, <strong>und</strong>efinierbarem Rot, voller tückischer<br />
Löcher, fehlender St<strong>ein</strong>e <strong>und</strong> Wasser<strong>ein</strong>filtrationen,<br />
kl<strong>ein</strong>e, hinterlistig gestellten Fallen für<br />
unvorbereitete, unbedacht gesetzte Füße, die mit<br />
achtsamem Blick <strong>und</strong> manchem Hopser entschärft<br />
werden müssen. Heute setzt man, fehlendem<br />
Geschmack oder fehlendem Geld zuzuschreiben?<br />
auf <strong>ein</strong>gefärbten oder übermalten Zement, hier<br />
<strong>und</strong> da <strong>ein</strong>gerissen, fehlerhaft, am Zerbröseln. Die<br />
Trottoirs sind <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zelnes buntes Mach- <strong>und</strong><br />
Flickwerk, denn oft ist der Hausbesitzer für das<br />
Stück Bürgersteig vor s<strong>ein</strong>em Haus verantwortlich.<br />
Aber nun wird‘s edel! Herrrrr<strong>ein</strong>spaziert m<strong>ein</strong>e<br />
Damen <strong>und</strong> Herren. Darf ich Ihnen <strong>ein</strong>e durch <strong>und</strong><br />
durch <strong>ein</strong>heimische Kostbarkeit vorstellen?!<br />
Parkett aus den edelsten Tropenhölzern,<br />
gleichzeitig genial <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> überaus elegant.<br />
S<strong>ein</strong> Geheimnis? Zweifarbene, kostbare, lange<br />
Dielen, abwechselnd <strong>ein</strong>e aus hellem „Pau<br />
Marfim“, Elfenb<strong>ein</strong>holz neben <strong>ein</strong>er aus<br />
fastschwarzem „Jacarandá“ – Ebenholz verlegt.<br />
Fantastisch, dieser großzügige Flur, perfekt<br />
gewachst <strong>und</strong> gebohnert! Und erst der gigantische<br />
Tanzsaal mit der hohen Decke, den<br />
stuckverzierten Spiegeln <strong>und</strong> den schnörkligen<br />
Leuchtern! Zur selben Zeit anheimelnd,<br />
majestätisch <strong>und</strong> fremd – Inseln guten<br />
Geschmacks inmitten <strong>ein</strong>es Meeres zementierter<br />
Gleichförmigkeit, dessen m<strong>ein</strong>e Füße<br />
trotzdem nie müde werden. Entdecke, erobere<br />
jedes Mal etwas Neues, kl<strong>ein</strong>e, charmante<br />
Geheimnisse, die Fetzen <strong>ein</strong>es Gesprächs, <strong>ein</strong>e<br />
unerwartet lauschige, von der Modernität<br />
vergessene Ecke. Setze, Einzelstück für<br />
Einzelstück, Fragment für Fragment, das Puzzle<br />
zusammen, das mir wohl irgendwann die Seele<br />
dieser Stadt verrät.<br />
Nachtrag. Auf der Insel Marajó, irgendwo in der<br />
Vergangenheit vergessen worden, stoße ich auf<br />
unerwartetes Selbstbewussts<strong>ein</strong>. Die Hotelbesitzerin<br />
erklärt mir, wie <strong>ein</strong>fach es sei, sich<br />
hier zurechtzufinden! Die Straßen der Stadt seien<br />
<strong>ein</strong>fach nummeriert, genauso wie in New York!<br />
Die Längsstraßen hätten gerade Nummern, die<br />
Querstraßen, die Travessas, ungerade.<br />
Finde dann auch problemlos an der Ecke der<br />
Fünften mit der Siebten das Lokal, das ich suchte.<br />
Wie in New York….<br />
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Belém modern<br />
Auf der super-eleganten Toilette schließt die Türe<br />
nicht. Traurig hängt das Schloss durch. Es fehlt<br />
ihm <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Schraube. Da wird mir klar wie<br />
<strong>ein</strong> Blitz, dass die Vernachlässigung hier System<br />
hat. Auch in den auf antarktische Temperaturen<br />
runter gekühlen „Docas“, den Doks von Belém<br />
holt sie mich <strong>ein</strong>. Noch <strong>ein</strong> Exemplar dieses<br />
übergangslosen Neben<strong>ein</strong>ander-Existierens,<br />
punktuelle Restauration öffentlicher Gebäude,<br />
die dem Gesamtkomplex aber wenig bringt, wie<br />
<strong>ein</strong> Shopping zu Rückzugsorte der Mittelklasse<br />
wird, die man nur mit dem Auto oder Taxi<br />
erreicht. Auch dass die Doks gleich an den<br />
überaus populären Ver-o-peso anschließen, <strong>ein</strong>en<br />
Kontrast bilden, der schreiender <strong>und</strong> drastischer<br />
nicht s<strong>ein</strong> könnte. Außer mir sch<strong>ein</strong>t das alle<br />
auszublenden.<br />
Der Häuserzeile, fantastisch heruntergekommen,<br />
<strong>ein</strong>ige Häuser sind gekachelt, stammt sicher aus<br />
der Kolonialzeit <strong>und</strong> haben damit sicher drei oder<br />
vier Jahrh<strong>und</strong>erte auf dem Buckel, fehlt allerdings<br />
deutlich mehr als <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>fache Schraube. Die<br />
edle Glasfassade der Dokas spiegelt das<br />
Gegenüber in malerischen Nuancen. <strong>Foto</strong>grafiere<br />
es vom rappelvollen Parkplatz aus.<br />
Infrastrukturprojekten, Mienen <strong>und</strong> Eisenwerken<br />
gebot, als großangelegtes Projekt geplant <strong>und</strong><br />
ausgeführt, zeugen sie von der <strong>ein</strong>stigen<br />
Wichtigkeit der Stadt. Die Doks, 1914 <strong>ein</strong>geweiht<br />
verfügten nicht nur über 11 riesige Kräne, sondern<br />
auch elektrisches Licht <strong>und</strong> 13 Lagerhallen. Drei<br />
davon wurden im Jahre 2000 total renoviert. Da<br />
reihen sich nun an privilegierter Lage direkt am<br />
Amazonas vollklimatisierte Einkaufsstraßen <strong>und</strong><br />
Edelrestaurants an<strong>ein</strong>ander. Auch <strong>ein</strong>e trendige<br />
Brauerei <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e der unvergesslichen Eisdielen<br />
mit Eis aus vielen lokalen Früchten gibt es hier,<br />
perfekte Touristenmagnete.<br />
Widerstehe dem Impuls, die Verantwortlichen auf<br />
die fehlende Schraube der Toilettentür<br />
aufmerksam zu machen. Reklamieren ist verpönt,<br />
schickt sich nicht. Zurück in den kühlen Hallen<br />
gehe ich wieder mal durch das kl<strong>ein</strong>e, sehr<br />
informative Museum, das Museu do Porto. Da<br />
kann man <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Reise durch die Zeiten<br />
machen, zivilisiert, sicher <strong>und</strong> kühl. Alles was man<br />
von der gegenüberliegenden Straßenseite nicht<br />
sagen kann.<br />
Die Docks, auch sie sind Zeitzeugen, spiegeln das<br />
heutige, moderne Belém. Vom amerikanischen<br />
Großunternehmer <strong>und</strong> Visionär Percival Farquar,<br />
der hier in Brasilien über <strong>ein</strong> Universum an<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 614
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 615
Von den Mangobäumen<br />
Der hohe Korb öffnet s<strong>ein</strong>en Schl<strong>und</strong> weit <strong>und</strong><br />
ausladend, übervoll, fast quillt ihm die fruchtige<br />
Last über den Rand. Mangos, Kokosmangos, gelb,<br />
flach <strong>und</strong> fest <strong>und</strong> <strong>ein</strong> bisschen gewöhnlich. Sie<br />
haben ziemlich viele Fasern <strong>und</strong> Fäden. Rieche<br />
ganz klar ihren charakteristischen Geruch, erdig,<br />
harzig <strong>und</strong> grün. Der Korb mit dem groben,<br />
luftdurchlässigen Flechtwerk, von den Indios<br />
entwickelt <strong>und</strong> weitervererbt, verhindert, dass die<br />
süße Last verdirbt, wichtig bei <strong>ein</strong>er<br />
Durchschnittstemperatur von 28 Grad <strong>und</strong> 80 %<br />
Luftfeuchtigkeit. – „Wie viel kosten sie?“ – Der<br />
Junge verkauft das halbe Dutzend für <strong>ein</strong>en Real,<br />
<strong>ein</strong> Nebenjob, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Extra<strong>ein</strong>kommen,<br />
eigentlich passt er auf die geparkten Autos auf.<br />
Könnte die Mangos, vielleicht vom Aufprall leicht<br />
angequetscht, gleich hier auf dem Boden selbst<br />
zusammenlesen. Aber die besten befinden sich<br />
immer außer Reichweite begehrlicher Hände.<br />
Müssen verdient/erobert werden, sind, klar, <strong>ein</strong>e<br />
kl<strong>ein</strong>e Anstrengung wert, <strong>ein</strong> paar leichte<br />
Körperübungen, etwas Gymnastik.<br />
Die zwei Männer beobachte ich von Weitem.<br />
Wollen wohl die junge Frau in ihrer Gesellschaft<br />
bezirzen. Wählen mit Bedacht. Jeder zeigt auf<br />
<strong>ein</strong>e andere. Zielen, vergewissern sich noch<br />
<strong>ein</strong>mal, ob sie alles in Betracht gezogen haben.<br />
Dann endlich werfen sie das Projektil hoch hinauf,<br />
<strong>ein</strong> herumliegender St<strong>ein</strong>, <strong>ein</strong>e noch grün<br />
heruntergerissene Mango. Strecken sich im<br />
Sprung, lang <strong>und</strong> noch höher, legen das ganze<br />
Gewicht <strong>und</strong> alle Kraft in den Salto, lachen,<br />
vergnügen sich königlich, weichen dem los<br />
geschlagenen Ast- <strong>und</strong> Blätterregen aus, um<br />
endlich jene Mango, die köstlichste von allen,<br />
aufzufangen. Gibt´s <strong>ein</strong>en süßeren ersten Biss als<br />
jener? Ein Spiel für kl<strong>ein</strong>e Jungen, das auch für<br />
größere s<strong>ein</strong>en Reiz nicht verloren hat.<br />
Mangobäume. Alleen aus Mangobäumen. Gibt es<br />
allgegenwärtigere Bilder <strong>und</strong> sich immer<br />
wiederholendere sehnsüchtig-süße Erinnerungen<br />
an die Stadt Belém in Pará? Üppig leiden sie von<br />
Dezember bis Februar unter der kostbaren<br />
Früchtelast. Es sch<strong>ein</strong>t, dass ihnen die ständigen<br />
Regengüsse <strong>und</strong> die hiesigen hohen Temperaturen<br />
sehr behagen. Sie wurden zur Zeit des Kautschuks<br />
extra aus Indien importiert. Bezeugen somit die<br />
Grandezza anderer, vergangener, ziemlich<br />
globalisierter Zeiten. Modernen Urbanisten<br />
würden sie nie unterkommen, die mögen<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich lieber Blumen <strong>und</strong> dekorative<br />
Blätter. Fallende Mangos – <strong>ein</strong>e öffentliche<br />
Gefahr! Ein unschuldiges Auto im großzügigen<br />
Schatten <strong>ein</strong>es Mangobaumes abgestellt <strong>und</strong> von<br />
<strong>ein</strong>er herunter schießenden Mango <strong>ein</strong>gedellt! Ob<br />
die Versicherung wohl zahlt? Oder die<br />
Krankenkasse? Dann wenn <strong>ein</strong>er auf <strong>ein</strong>em<br />
übersehenen, schlecht abgenagten <strong>und</strong> damit<br />
äußerst schlüpfrigem Mangokern ausrutschte?<br />
Von jenen angeheiterten Wespen gestochen, die<br />
sich an der süßen Fäulnis, überreichlich<br />
vorhandenen, verderbenden Mangofleisches<br />
alkoholisiert hat?<br />
Die Mangos jedenfalls sind allgegenwärtig.<br />
Schwimmen angebissen, puh, unreif, in den<br />
stehenden Abwässern der offenen Kanäle, halb<br />
Regen, halb Abfluss, färben, neben dem von<br />
unzuverlässigen Müllmännern ignorierten<br />
Müllsäcken, überreif runter geplumpst den<br />
Bürgersteig buttergelb. Wenige gelangen in<br />
menschliche Mägen. Verfallen Sie ja nicht auf die<br />
absurde Idee irgendwo <strong>ein</strong>en Mangosaft trinken<br />
wollen! Die Mangos hier füllen höchstens den<br />
Magen oder den Geldbeutel weniger<br />
Begünstigter. Die sind so zahlreich wie die<br />
Mangos, verkaufen im erfrischenden Schatten<br />
der Alleen, oder sind es vielleicht gar<br />
„Mangazeis“, „Mangenhaine“? des Zentrums an<br />
jeder Straßenecke tausenderlei Kinkerlitzchen.<br />
Ein <strong>ein</strong>zelner, <strong>ein</strong> ganz spezieller Mangobaum<br />
bleibt mir unvergesslich. Mystisch, synkretistisch,<br />
<strong>ein</strong> heiliger, heidnischer Baum, zu Ehren <strong>ein</strong>es<br />
vergangenen Círios mit Satinbändern in den<br />
schönsten Regenbogenfarben geschmückt.<br />
Jedem Band „Promessas“, Versprechen, <strong>ein</strong>e Art<br />
Votivgaben, auf den Stoff geschrieben, dem<br />
Baum anvertraut, <strong>ein</strong>s neben dem anderen in<br />
s<strong>ein</strong> Geäst geb<strong>und</strong>en, schon von Weitem <strong>ein</strong><br />
heiterer Gruß. Schöne, kreative Lesung, <strong>ein</strong>e<br />
neue Interpretation <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Art Versöhnung mit<br />
der Popularität der Mangobäume Beléms.<br />
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Museum Goeldi, Belém<br />
Da schau die “Cutia”, <strong>ein</strong> Nager, etwas größer als<br />
<strong>ein</strong> Meerschw<strong>ein</strong>chen! Posiert auf den<br />
Hinterb<strong>ein</strong>en, <strong>ein</strong>e Samenhülse zwischen den<br />
Pfoten. Knabbert sie auf <strong>und</strong> schon ist sie ins<br />
dunkle Dickicht davon gewieselt, das sogleich<br />
auch das leuchtende Orange ihres Hinterteils<br />
verschluckt.<br />
Der stillgrüne Park des Museums Goeldi ist<br />
wochentags eher leer. Nur an den Wochenenden<br />
drängeln sich hier die Menschen. Sogar die zwei<br />
ausgestopften Perdchen gibt’s noch, auf denen<br />
sonntaglich gewandete Eltern so gerne ihre<br />
ebenso sonntäglich herausgeputzten Kinder<br />
ablichten. Auch die Cutias haben sich längst an die<br />
Besucher gewöhnt. Tolerieren die Menschen, die<br />
tagsüber in ihr Revier <strong>ein</strong>dringen. Mit sehr viel<br />
Glück kann man auch <strong>ein</strong> Faultier sehen, hoch<br />
oben, das sich kopfunter durch die Äste angelt<br />
<strong>und</strong> das nicht mal so langsam. Nur am Boden<br />
bewegt es sich in Zeitlupe. Legen langsam <strong>und</strong><br />
ungelekt <strong>ein</strong>en Arm vor den anderen, mehr<br />
schleifend denn kriechend.<br />
Die Mischung zwischen botanischem Garten, alle<br />
Bäume sind ausgeschildert, frei laufender <strong>und</strong><br />
hinter Gittern ausgestellter Natur <strong>und</strong> Chalets aus<br />
den Schweizer Alpen ist <strong>ein</strong>malig. Zeugt von der<br />
Geisteshaltung der Wende des 19. zum 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein Seel<strong>ein</strong> voller Wasservögel, den<br />
Umrissen des Lago Maggiore nachempf<strong>und</strong>en,<br />
überirdische Grotten, <strong>ein</strong> Teich voller Vitoria<br />
Regias inspiriert am Format des Schwarzen<br />
Meeres <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e überwältigend amazonische<br />
Vegetation ist <strong>ein</strong> Zeitdokument, vielleicht etwas<br />
nostalgisch, aber <strong>ein</strong>e grüne Oase voller<br />
kolonialistischem Charme mitten in Belém.<br />
Das Museum <strong>und</strong> der Park, sie beherbergen auch<br />
<strong>ein</strong>e renommierte Forschungsstation, spiegeln<br />
wichtige lokale Errungenschaften. Verwandelten,<br />
zur Zeit der Hochblüte des Kautschuks, den<br />
blühender Handel mit exotischen Tierpräparaten,<br />
an die Naturwissenschaftlichen Museen <strong>und</strong><br />
Kuriositätenkabinette der halben Welt verschickt,<br />
in <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>heimische Forschungsstation <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Museum, die es der lokalen Gesellschaft erlaubt,<br />
ihre reiche Biodiversität selber <strong>und</strong> vor Ort zu<br />
erforschen. Ein Meilenst<strong>ein</strong> für Brasilien, der von<br />
<strong>ein</strong>em ganz neuen Selbstbewussts<strong>ein</strong> zeugt.<br />
Endlich beginnt man sich auch hier vom so<br />
gewichtigen Erde der Kolonialzeit zu befreien.<br />
Die unterschiedlichsten Komponenten spielen<br />
erfolgreich zusammen. Da sind die Naturwissenschaften,<br />
die sich in Brasilien, zusammen<br />
mit <strong>ein</strong>er regelrechten Neubewertung dessen, was<br />
Brasilien ist <strong>und</strong> gehört, professiona-lisieren. Dazu<br />
kommt <strong>ein</strong> visionärer Politiker, Lauro Sodré, er war<br />
zwischen 1858 bis 1944 Gouverneur von Pará <strong>und</strong><br />
organisiert in den Jahren 1891 bis 1897 hier in<br />
Belém verschiedene “Vitrinen”, <strong>ein</strong>e<br />
davon das Museum Goeldi. Die sollten der Welt<br />
beweisen, wie fortschrittlich <strong>und</strong> zivilisiert der<br />
Amazonas ist. Um den Plan des Museums, es<br />
bestand schon in den Gr<strong>und</strong>zügen, weiter zu<br />
treiben, beruft er 1894 den Schweizer Zoologen<br />
Emil Goeldi nach Belém. Der hatte in Leipzig <strong>und</strong><br />
Jena studiert <strong>und</strong> kam als frisch doktorierter<br />
Zoologe ans Museu Nacional nach Rio de Janeiro,<br />
wo er fünf Jahre blieb. Als Direktor des schon<br />
bestehende Museu Paraense nach Belém<br />
berufen, rekonstruiert er dasselbe von Gr<strong>und</strong><br />
auf. Stattete es mit <strong>ein</strong>em klaren<br />
Forschungsprojekt aus, ganz im Geist s<strong>ein</strong>er Zeit,<br />
ziemlich europazentriert, besonders, da auch alle<br />
wissenschaftlichen Mitarbeiter aus Europa<br />
kommen. Brasiliens Universitäten sind erst im<br />
Aufbau. Es etablierte sich <strong>ein</strong>e Art<br />
wissenschaftliche Kolonie deutschen Ursprungs<br />
mitten im Amazonas zusammen mit <strong>ein</strong>er<br />
Forschungsstation, die sich bald <strong>ein</strong>en Namen<br />
macht. Letzte Nachfolgerin Goeldis wird <strong>ein</strong>e<br />
deutsche Ornithologin, Emilia Snethlage. Sie wird<br />
Museumsdirektorin <strong>ein</strong>er Instanz, die zusammen<br />
mit dem Niedergang des Kautschuks in finanzielle<br />
Nöte <strong>und</strong> Dekadenz gerät. Eine Pionierin, nicht<br />
nur die erste Frau, die für den Staat Pará<br />
arbeitet, sondern überhaupt die erste Direktorin<br />
<strong>ein</strong>er Forschungsanstalt in Südamerika. Sie<br />
kommt 1905 ins Museum <strong>und</strong> steht ihm<br />
zwischen 1914 <strong>und</strong> 1922 als Direktorin vor. Sie<br />
muss <strong>ein</strong>e herausragende Persönlichkeit<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 620
gewesen s<strong>ein</strong>, deren Biografie es noch<br />
aufzuarbeiten gilt. Sie durchquerte 1909, zu Fuß,<br />
nur von indigenen Führern begleitet, <strong>ein</strong> bis dahin<br />
der Wissenschaft ungekanntes Gebiet zwischen<br />
den Flüssen Xingu <strong>und</strong> Tapajós. Ihr Grabst<strong>ein</strong><br />
steht in Porto Velho, der Hauptstadt von<br />
Rondônia, denn sie kehrte nie mehr nach<br />
Deutschland zurück.<br />
Wildtiere, Zitteraale, Stachelrochen, Krokodile <strong>und</strong><br />
natürlich die unterschiedlichsten Schildkröten.<br />
Allerdings ist auch der Gitterkäfig der „Onça“, <strong>ein</strong>e<br />
wilde, furchterregende Raubkatze, der<br />
brasilianischer Panther, noch ganz altmodisch<br />
aus Beton. Goeldi hätte besseres verdient.<br />
Das Museum Goeldi ist noch <strong>ein</strong> Puzzlestück<br />
Amazonas, mal in besserem, mal in schlechterem<br />
Zustand. Symbol <strong>ein</strong>es Übergangs, noch<br />
europazentriert in s<strong>ein</strong>er Konzeption, aber schon<br />
vor Ort, in den Tropen etabliert <strong>und</strong> mit dem<br />
klaren Ansatz, den Amazonas vor Ort zu<br />
erforschen. Der Park, ganz Belle Époque, ist bis<br />
heute sehr beliebt bei den Einwohnern. Die<br />
Ausstellungen in den verschiedenen<br />
Museumsräume zeigen <strong>ein</strong> interessantes<br />
Panorama der Natur- <strong>und</strong> Lokalgeschichte.<br />
Paralell dazu wird hier auch geforscht. Es gibt viel<br />
zu tun. Die Geschichte des Amazonas <strong>und</strong> die<br />
s<strong>ein</strong>er überwältigenden Natur ist gerade dabei<br />
erarbeitet zu werden.<br />
In den w<strong>und</strong>erschön kühlen Parkanlage des<br />
Museu Goeldi trifft man <strong>ein</strong>en faszinierenden Teil<br />
des amazonischen Pflanzenreichtums, sozusagen<br />
en Miniatur. Auch lauschige Teiche <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Riesenbambus fehlen nicht. Dazwischen befinden<br />
sich die Gehege <strong>und</strong> Becken für <strong>ein</strong> paar<br />
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Paris in den Amerikas<br />
Ein kl<strong>ein</strong>es, rasches Spiel geht mir durch den Kopf.<br />
K<strong>ein</strong>er wird erraten, wo ich hier in Belém um<br />
Himmels willen die Statue des Merkurs<br />
fotografiert habe. Die unzähligen, w<strong>und</strong>erschönen<br />
Kacheln, alle abgeschlagen <strong>und</strong> vom Zahn der Zeit<br />
deutlich angeknabbert. Vergessen, genauso wie<br />
die Schienen der „Tramway“, der Straßenbahn,<br />
<strong>ein</strong>st viel bejubeltes Symbol für Ordnung <strong>und</strong><br />
Fortschritt. Die haben sich nicht mal die Mühe<br />
gemacht, ihre eiserne Doppelspur zuzupflastern.<br />
K<strong>ein</strong>er wird drauf kommen, wer wohl die knallorange<br />
Unterhose anziehen wird. Sie wird, auf<br />
<strong>ein</strong>en weißen Ring gestreckt, direkt auf der<br />
bloßen Hauswand angeboten. Das Geschäft quillt,<br />
wie alle hier, bis auf den Bürgersteig. Auf der<br />
gegenüberliegenden Hausmauer werden die<br />
Mädchen mit Minist-Tangas in Schwarz <strong>und</strong> Pink<br />
geködert. Wer verkauft wohl all jenes Gold in den<br />
verschiedensten Erststockhinterzimmerchen?<br />
Schreiende Plakate versprechen, es ohne große<br />
Nachfrage sogleich zu versilbern. Ob es dieselben<br />
sind, die dann gleich bei <strong>ein</strong>er der drei Lotterien,<br />
gleich dreifach illegal, ihr Glück versuchen? Hilft<br />
gar nichts mehr, werden sie K<strong>und</strong>en der<br />
„Schutzpatronin“. Sie bedient praktischerweise<br />
gleich mehrere Religionen, jede mit den<br />
entsprechenden Artikeln <strong>und</strong> Artefakten. Ich<br />
verliebe mich sogleich in <strong>ein</strong> wachsbleiches,<br />
w<strong>und</strong>erschön altmodisches Herz, <strong>ein</strong>e Votivgabe.<br />
Was für <strong>ein</strong> Souvenir!<br />
Magisch zieht es mich immer wieder da hoch. Der<br />
hohe Uhrturm von Paris winkt mir schon von<br />
Weitem zu. Er erhebt sich majestätisch über das<br />
wilde <strong>und</strong> farbenprächtige Gewimmsel, <strong>ein</strong> wahres<br />
Mekka der Straßenhändler, hier im<br />
vernachlässigten Zentrum von Belém, schreiend,<br />
pulsierend, gefährlich <strong>und</strong> dreckbillig. Das<br />
Gebäude, <strong>ein</strong> Eckhaus, dominiert die abfallende<br />
Geschäftsstraße. Überragt sie, auf halber Höhe ist<br />
der elegante Schriftzug, „Paris in den Amerikas“<br />
gleich mehrfach r<strong>und</strong>um angebracht. Bleibe,<br />
<strong>ein</strong>mal mehr, mit angehaltenem Atem stehen. Ob<br />
es der Kontrast zwischen den ungezählten<br />
Statuen, alle in arabische Burkas gehüllt, Burkas in<br />
allen unmöglichen <strong>und</strong> möglichen Farben,<br />
Materialien, Drucken <strong>und</strong> billigen Stickereien <strong>und</strong><br />
der spektakulär weit ausschwingenden<br />
Doppeltreppe ist, der m<strong>ein</strong> Herz <strong>ein</strong>en Herzschlag<br />
überspringen lässt?<br />
Ich übersehe die zu St<strong>ein</strong> erstarrten Säulen mit<br />
den Burkas <strong>ein</strong>fach <strong>und</strong> stelle mich vor die<br />
spektakuläre Doppeltreppe, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, sehr<br />
effektvolles Kunstwerk, etwas zurückversetzt. Zu<br />
m<strong>ein</strong>en Füßen überreich verzierte Fließen in<br />
kitschigem neo-klassizistischem Barock. Die Farben<br />
der vorletzten Jahrh<strong>und</strong>ertwende angedunkelt.<br />
Die Treppe beginnt mit zwei weit aus<strong>ein</strong>ander<br />
stehenden Säulen. Holt Anlauf, steigt hoch <strong>und</strong><br />
verjüngt sich dann in halber Höhe wie die<br />
geschnürten Taillen der Damen, die hier<br />
bedient wurden. Auf halber Höhe streckt <strong>ein</strong>e<br />
Bronzestatue mit weit geöffneten Armen weit<br />
zwei Leuchter von sich weg, genau da wo sich die<br />
Treppe zweiteilt. Einer Treppenflügel schwingt<br />
sich nach rechts hoch, der andere schwungvoll<br />
nach links. Sie führen in zwei doppelten, kühnen<br />
Wellen in die Galerie im Obergeschoss, wo sie<br />
sich wieder ver<strong>ein</strong>en. Warte darauf, dass <strong>ein</strong>e<br />
der f<strong>ein</strong>en Damen, anspruchsvolle K<strong>und</strong>schaft<br />
mit blasser Haut, Sonnenschirmchen <strong>und</strong><br />
Spitzenhandschuhen in ihren raschelnden, hellen<br />
Kleidern aus Batist oder ultraleichtem L<strong>ein</strong>en<br />
darüber hochschwebt. Ihre zierlichen Schühchen<br />
berühren kaum den Boden. Schau, da beugt sich<br />
<strong>ein</strong>e über die Balustrade, schaut vergnügt auf das<br />
Getümmel im Erdgeschoss herab.<br />
Klar, das Bauwerk ist kitschig, voller Schnickschnack<br />
<strong>und</strong> schmückendem Tand, aber gerade<br />
deshalb ist es so wertvoll. Alles ist orginal. Die<br />
Leuchter haben alle noch die gläsernen,<br />
gewellten Schirmchen, der filigrane Stuck hat<br />
kaum unter dem Zahn der Zeit gelitten. Auch die<br />
kostbaren Einlegböden sind in ausgezeichnetem<br />
Zustand. Blind sind nur die Spiegel. Die Galerie ist<br />
leer. Hat etwas Magisches, Gespensterhaftes in<br />
ihrer Leere <strong>und</strong> Unberührtheit. Es sch<strong>ein</strong>t sogar,<br />
dass hier sogar jemand regelmäßig Staub wischt.<br />
Das Erdgeschoß allerdings ist bienenfleißig.<br />
Zwischen den unzähligen Burkas aus den<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 629
verschiedensten Stoffen, in allen nur denkbaren<br />
Farben, mit Drucken <strong>und</strong> Stickereien, wieseln<br />
Verkäuferinnen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>en herum. Denn die<br />
Obeliske sind in Wahrheit nur dicke, aufrecht<br />
hingestellte Tuchballen, von geschickten Händen<br />
so drapiert, dass sie den Fall der nicht sehr teuren<br />
Stoffe ins beste Licht rücken – „Paris nas<br />
Américas“ ist bis heute <strong>ein</strong> Tuchgeschäft! Nur<br />
ziemlich viel populärer, als auch schon. Stoffballen<br />
füllen das ganze Erdgeschoss <strong>und</strong> auch die<br />
hohen Schränke mit den verglasten Türen, rechts<br />
<strong>und</strong> links den Wänden entlang, dramatisch lang<br />
gezogen. Hier kauft man noch Stoff <strong>und</strong> lässt sich<br />
daraus Kleider nähen.<br />
Heute setzt allerdings k<strong>ein</strong>e Dame der besseren<br />
Gesellschaft auch nur <strong>ein</strong>en Fuß in den ordinären<br />
Schmutz des Zentrums. Zwar liegt die zentrale<br />
Markthalle „Ver-o-peso“ gleich um die Ecke <strong>und</strong><br />
gleich daneben, <strong>ein</strong> Spaziergang von vielleicht<br />
fünf Minuten, die ultraschicken „Docas“, die zu<br />
Restaurants <strong>und</strong> Geschäften umgebauten Docks.<br />
Aber da fährt man im Auto vor.<br />
„Paris nas América“, <strong>ein</strong>es von Beléms ersten<br />
Warenhäusern, es eröffnete exakt am<br />
15.06.1870, spiegelt perfekt den Glanz der Belle<br />
Epoque. Das Geschäft war Augenzeuge <strong>ein</strong>er<br />
verschwenderischen, wilden Zeit, gebaut, als der<br />
Handel mit dem Kautschuk gerade s<strong>ein</strong>en Aufstieg<br />
zum Gipfel begann. Nicht dass ich den kitschigen<br />
Kitsch des Baus überschätzen würde. Aber hier in<br />
der selben Stadt gibt es so viele unglaublich<br />
unproportionierte <strong>und</strong> hässliche neue Gebäude.<br />
So hässlich, dass kaum <strong>ein</strong> Architekt die Hand im<br />
Spiel gehabt haben kann. Deshalb wird dieses<br />
kl<strong>ein</strong>e Gesamtkunstwerk hier zu <strong>ein</strong>em wahren<br />
Augenschmaus. In jeder anderen Stadt, in Rio de<br />
Janeiro oder São Paulo, hätte man es längst in <strong>ein</strong>e<br />
erstklassige Touristenattraktion verwandelt. Es<br />
wäre <strong>ein</strong> Café, <strong>ein</strong>e Bar oder <strong>ein</strong>e Boutique. Hier<br />
aber überlebt es auf andere Weise. Wird, wie<br />
manches andere, zu m<strong>ein</strong>em Privatmuseum.<br />
Aus <strong>ein</strong>er anderen Perspektive betrachtet, sch<strong>ein</strong>t<br />
es mir hier gar geradezu ironisch, gar von<br />
ausgleichender Gerechtigkeit, dass dieses<br />
hochherrschaftliche Zentrum heute ausgerechnet<br />
jenen gehört, deren Vorfahren es indirekt mit so<br />
viel P<strong>ein</strong>, Leid <strong>und</strong> Opfern finanziert haben.<br />
Einer der Straßenhändler, immer zu <strong>ein</strong>em<br />
Schwatz aufgelegt, hat sich soeben an mich<br />
gewendet. Er hat m<strong>ein</strong>e ach so touristischen<br />
Versuche beobachtet, alles auf Film zu bannen.<br />
Gott sei Dank sind die heutigen Kameras so<br />
winzigkl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> diskret. Sagt zu mir, Beifall<br />
heischend: - „Schönes Gebäude, nicht wahr?<br />
Würde <strong>ein</strong>en besseren Platz verdienen! Finden Sie<br />
nicht auch?“-<br />
Wird m<strong>ein</strong> launiges Spiel leider wohl kaum<br />
durchschauen. Was ich exotisch finde, kitschig,<br />
nostalgisch w<strong>und</strong>erbar, gleichzeitig bedaure, ist<br />
für ihn alltäglichste, banalste Nachbarschaft, s<strong>ein</strong><br />
Alltag.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 630
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 631
Illegales Glücksspiel<br />
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Wenn die Tiere um ihr Glück spielen<br />
Das Plakat ist w<strong>und</strong>erschön, so antik-altmodischheruntergekommen<br />
wie das Zentrum von Belém<br />
selbst. Ich entdecke es auf <strong>ein</strong>em m<strong>ein</strong>er ziellosen<br />
Streifzüge in <strong>ein</strong>er unsch<strong>ein</strong>baren Bar. Eine Bar,<br />
von jenen, bei denen man nicht so genau weiß,<br />
wo die Straße aufhört <strong>und</strong> die Bar anfängt, oder<br />
umgekehrt. Auf dem Plakat sind, <strong>ein</strong>s säuberlich<br />
neben dem anderen, 25 Tiere dargestellt.<br />
Handgemalt, nahm sich der Künstler <strong>ein</strong>ige naive<br />
Freiheiten mit Proportionen <strong>und</strong> Größenverhältnissen.<br />
Trotzdem, jedes Tier ist sofort<br />
erkennbar. Auf dem kreidebeschriebenen Plakat<br />
<strong>ein</strong>e komplexe Reihe von Zahlen. Darüber die<br />
verschlüsselte Nachricht: “Sopa de Leão” <strong>ein</strong>e<br />
Löwensuppe????<br />
Endlich fällt auch bei mir der Groschen. Es handelt<br />
sich um <strong>ein</strong>es jener der Lokale, wo man wetten<br />
kann. Man setzt auf <strong>ein</strong>es der 25 Tiere. Berühmt<br />
berüchtigtes, illegales, aber hier toleriertes „Jogo<br />
do bicho“!<br />
Das „Jogo de bicho“, das Glücksspiel der Tiere<br />
verdankt s<strong>ein</strong>e Existenz der Erfindergabe <strong>ein</strong>es<br />
Barons, João Batista Viana , aus Rio de Janeiro.<br />
Der Baron betrieb <strong>ein</strong>en Zoologischen Garten, der<br />
ihn in ständige Geldnöte stürzte. Um den Zoo <strong>und</strong><br />
damit auch sich selber finanziell wieder fit zu<br />
bekommen, erfand er <strong>ein</strong> Glücksspiel. Man<br />
konnte <strong>ein</strong>en Geldbetrag auf <strong>ein</strong>es der 25 Tiere<br />
s<strong>ein</strong>es Zoos setzen <strong>und</strong> gewinnen, falls das Tier,<br />
auf das man gesetzt hatte, ausgelost wurde. Das<br />
Ganze wurde zu <strong>ein</strong>em so großen Erfolg, dass<br />
seit 1892 ganz Brasilien auf diese 25 Tiere<br />
wettet. Jedes Tier ist mit <strong>ein</strong>er Zahlenserie<br />
assoziiert. Zweimal pro Tag werden bis heute in<br />
Rio die Gewinnzahlen ausgelost <strong>und</strong> sogleich in<br />
<strong>ein</strong>er generalstabsmäßigen Aktion ans ganze<br />
Land weitergeleitet. Die Fäden der ganzen<br />
Millionen bewegenden Aktion laufen in den<br />
Fingern mächtiger „Bicheiros“ zusammen,<br />
wahren Großunternehmern in Sachen illegalem<br />
Glücksspiel <strong>und</strong> Geldwäscherei. Sie verschieben<br />
<strong>und</strong> waschen in <strong>ein</strong>er vom Staat übersehenen<br />
oder tolerierten Grauzone unversteuerte<br />
Riesensummen. Jedem ist bekannt, dass es den<br />
Karneval in Rio nicht gäbe, wenn die Bicheiros<br />
nicht Unsummen in ihn investieren würden.<br />
Neben dem illegalen Wettbusiness sind sie in<br />
noch viel zweifelhaftere Geschäfte verflochten<br />
<strong>und</strong> verfilzt. Die Intimitäten mit korrupten<br />
Politikern aber garantiert allen Straffreiheit, den<br />
Bicheiros <strong>und</strong> den Politikern, die mit großzügigen<br />
Wahlkampfspenden versorgt werden. Und zum<br />
Schluss haben alle, um ganz im Tierreich zu<br />
bleiben, wie man hier sagt, ihre Schwänze<br />
festgeb<strong>und</strong>en, „estão de rabo preso“, haben alle<br />
Dreck am Stecken <strong>und</strong> k<strong>ein</strong>er kann den anderen<br />
verraten, ohne dass es ihm selber an den Kragen<br />
geht.<br />
Das gilt wohl auch für den Staatsanwalt, der<br />
kürzlich in <strong>ein</strong>em Interview verkündete, er<br />
all<strong>ein</strong>e könne nicht Rambo spielen <strong>und</strong> gegen<br />
das illegale Glücksspiel vorgehen. Und so steht<br />
der kl<strong>ein</strong>e, mobile Verkaufskiosk weiter da.<br />
Direkt schräg gegenüber des Justizgebäudes, da<br />
wo der Staatsanwalt jeden Tag daran vorbei<br />
muss. Es wird geschätzt, dass das illegale<br />
Glücksspiel all<strong>ein</strong> in Belém gegen 8.000<br />
„Angestellten“ <strong>ein</strong> zwar illegales, aber<br />
konstantes Einkommen biete.<br />
Da ich heute Nacht weder von <strong>ein</strong>em Vogel<br />
Strauß, Nummer <strong>ein</strong>s, noch von <strong>ein</strong>em Adler,<br />
Nummer zwei, geträumt habe, fehlt mir auch die<br />
Inspiration zum Wetten. Denn wenn es so wäre,<br />
wäre mir <strong>ein</strong> Gewinn so gut wie sicher. Der Vogel<br />
Strauß rennt mit s<strong>ein</strong>en muskulösen B<strong>ein</strong>en über<br />
<strong>ein</strong>e gelbliche Steppe, vielleicht kommt er aus<br />
dem Nordosten. Der Adler s<strong>ein</strong>erseits schaut<br />
uninteressiert in die Ferne, wo sich s<strong>ein</strong> Blick<br />
verliert. Auch der blutarme Löwe, Nummer 16<br />
etwas schwach auf der Lunge, flößt mir k<strong>ein</strong><br />
Vertrauen <strong>ein</strong>. Gehe weiter. Fast stolpere ich<br />
über <strong>ein</strong>en jener etwas aus dem Kontext<br />
gerissenen Stühlen auf dem Bürgersteig. Die<br />
kl<strong>ein</strong>en, abreißbaren Papiertalons allerdings<br />
bringen mich auf die richtige Spur. Sie sind, wie<br />
die mobilen Holzbaracken, die ach so unauffällig<br />
an so vielen Ecken in diesem Land herumstehen,<br />
Glücksspielverkaufsstellen. Parallelwelten wie<br />
diese, offiziell verboten, inoffiziell toleriert,<br />
erklären bis zu <strong>ein</strong>em gewissen Grad, warum es<br />
mit dem Amazonas <strong>und</strong> mit ganz Brasilien nicht<br />
effizienter <strong>und</strong> schneller vorwärtsgeht.<br />
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Am „Círio“, be<strong>ein</strong>druckende Marienfrömmigkeit<br />
Dem schmächtigen Jungen ist schlecht. Ich kann<br />
ihn sehr gut verstehen. Wir sind alle zusammen<br />
hier <strong>ein</strong>gekeilt, an<strong>ein</strong>ander gepresst, <strong>ein</strong>er an den<br />
anderen geklebt. Werden, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Ganzes, im<br />
Kollektiv rumgestoßen, hin <strong>und</strong> her gewalzt. Da<br />
muss er nun halt durch! Die Berlinda ist so nah!<br />
Da ist sie! Ganz, ganz nah! Gleich wird sie vorbeigezogen<br />
werden. Die Berlinda mit der winzigen<br />
Muttergottes hält s<strong>ein</strong>e Mutter davon ab, ihn aus<br />
dem Gewühl hinaus zu führen. Schon taucht sie<br />
da vorne, orangefarben, blumengeschmückt über<br />
der Menge auf. Die Emotionen, die Ergriffenheit<br />
treiben auf den Höhepunkt zu, überschlagen sich.<br />
Und schon geht es dem Jungen, welch´ W<strong>und</strong>er,<br />
wieder besser.<br />
Der Junge ist, zusammen mit s<strong>ein</strong>er Mutter, <strong>ein</strong>er<br />
der auf 4,2 Millionen geschätzten Teilnehmer des<br />
diesjährigen Cirios. Die setzten sich aus Gläubigen,<br />
Pilgern, Zuschauern, Straßenhändlern,<br />
Wasserträgern <strong>und</strong> vielen anderen zusammen,<br />
die alle an <strong>ein</strong>em der vielen Prozessionen <strong>und</strong><br />
Festen teilnehmen. Ob es <strong>ein</strong>er der allgegenwärtigen<br />
Wasserbecher war, der s<strong>ein</strong>en Magen<br />
wieder ins Gleichgewicht brachte? Knöcheltief,<br />
schwimmbadblau <strong>und</strong> leer türmen sie sich zu<br />
m<strong>ein</strong>en Füßen. Der Pilgerstrom zieht vorbei <strong>und</strong><br />
unerschöpfliche Quellen sprudeln Nachschub.<br />
Noch mehr <strong>und</strong> noch mehr Becher werden<br />
weitergereicht, bis zum Epizentrum in der Mitte.<br />
Hilfreiche Hände gießen sie unermüdlich über fast<br />
nackte Körper, zu <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Menschen-<br />
knäuel zusammengepresst. Die an der Kordel<br />
vollbringen jene fast übermenschliche Leistung<br />
<strong>und</strong> ziehen die Berlinda an <strong>ein</strong>er unterarmdicken<br />
Kordel über die ganzen 4,6 km, von der Matriz bis<br />
zur Basílica de Nazaré.<br />
„Wie winzig sie ist!“ So winzig <strong>und</strong> so mächtig! Die<br />
kl<strong>ein</strong>e Heiligenfigur der „Nossa Senhora de<br />
Nazaré“, unserer Herrin aus Nazareth, Maria, die<br />
Gottesmutter, bewegt <strong>ein</strong>mal pro Jahr, am ersten<br />
Sonntag im Oktober, in <strong>ein</strong>er Prozession zu ihren<br />
Ehren alles, was hier im Norden, B<strong>ein</strong>e oder Füße<br />
hat oder sich sonst wie fortbewegen kann. Der<br />
„Círio“ ist das wohl wichtigste <strong>und</strong> größte religiöse<br />
<strong>und</strong> auch profane Fest im Norden Brasiliens. Alles<br />
an diesen drei Tagen Festlichkeiten sprengt die<br />
fassbaren Dimensionen. Es ist <strong>ein</strong> Fest der<br />
Superlative, gleichzeitig religiös <strong>und</strong> profan,<br />
volkstümlich, urwüchsig <strong>und</strong> r<strong>ein</strong>, überbordend,<br />
<strong>ein</strong>e Kirmes, <strong>ein</strong> Kommerz, <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger<br />
Überschwang.<br />
Bei fast 40 Grad <strong>und</strong> extrem hoher Luftfeuchtigkeit<br />
zieht <strong>ein</strong> wuselnder, endloser, menschlicher Wurm<br />
an <strong>ein</strong>em 800 Meter langen, oberarmdicken Strick<br />
die Figur durch die Straßen von Belém am Delta<br />
des Amazonas. Fünfzehntausend sollen es s<strong>ein</strong>, die<br />
dieses Jahr <strong>ein</strong> Versprechen <strong>ein</strong>lösen oder<br />
Danksagen <strong>und</strong> das mit <strong>ein</strong>em Gang an der Kordel<br />
der Madonna vergelten. Es sollen in der Mehrzahl<br />
Männer s<strong>ein</strong>, aber auch <strong>ein</strong>zelne Frauen<br />
widerstehen den tropischfeuchten Graden <strong>und</strong><br />
geben sich der kollektiven, barfüßigen Hysterie<br />
hin, im Nachhin<strong>ein</strong> mit leuchtenden Augen als<br />
läuternde, kompensierende Erfahrung<br />
beschrieben.<br />
Wieder <strong>und</strong> wieder flutet die Musik her- <strong>und</strong><br />
hinüber. Die mächtige Bank hinter uns hat <strong>ein</strong>en<br />
der singenden Padres verpflichtet. S<strong>ein</strong><br />
wohlklingender Bass preist Maria <strong>und</strong> schon geht<br />
da auch der schillernde Papierschnitzelregen<br />
über die unübersehbare Menge nieder. Auch das<br />
<strong>ein</strong> Gruß an die winzige, hochverehrte<br />
Heiligenfigur der „Nossa Senhora de Nazaré“,<br />
unserer Herrin aus Nazareth, Maria, die<br />
Gottesmutter. Immer wieder fixieren die Augen<br />
<strong>ein</strong>e mitgetragene Votivgabe. Da hat sich <strong>ein</strong>e<br />
Frau <strong>ein</strong>en Spielzeugkl<strong>ein</strong>laster auf den Kopf<br />
gestellt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e andere trägt das <strong>ein</strong>fache<br />
Modell <strong>ein</strong>es Hauses, blau, die Nummer 10 weiß<br />
aufgepinselt auf der Schulter. Alles mit der<br />
göttlichen Hilfe der Heiligen erreicht. Wächsern<br />
<strong>und</strong> bleich erhebt sich <strong>ein</strong> B<strong>ein</strong> über die Menge.<br />
Der Brauch der „Promessas“, der Gelübde, ist<br />
allgegenwärtig. Wer möchte nicht <strong>ein</strong> Haus<br />
kaufen, <strong>ein</strong> Boot, oder von <strong>ein</strong>er Krankheit<br />
geheilt werden. Wird das Gelübde erhört, wird es<br />
am Círio „bezahlt“, <strong>ein</strong>gelöst. Entweder mit dem<br />
erschöpfenden <strong>und</strong> trotzdem im wahrsten Sinne<br />
des Wortes heiß umstrittenen Gang an der<br />
Kordel oder mit <strong>ein</strong>em Ex-Voto: <strong>ein</strong> selbst<br />
geschnitztes B<strong>ein</strong> für die Heilung <strong>ein</strong>es<br />
B<strong>ein</strong>bruchs, <strong>ein</strong> wächsernes Herz für geheilte<br />
körperliche oder seelische Beschwerden. Für die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 645
wächsernen Gaben gibt es das Schiff der Gelübde,<br />
in dem alle Wachsfiguren gesammelt <strong>und</strong> später<br />
von den Padres, wie die Sage geht, in <strong>ein</strong>em<br />
ewigen Zyklus <strong>ein</strong>geschmolzen <strong>und</strong> am nächsten<br />
Círio als neue Ex-Votos wieder verkauft werden.<br />
Andere gehen <strong>ein</strong>en Teil des Weges auf den Knien<br />
oder versorgen die Inbrünstigen am Seil mit<br />
Wasser.<br />
Alles beginnt gleich am ersten Tag nach m<strong>ein</strong>er<br />
Ankunft. Wir schlendern über den „Ver-o-peso“,<br />
den legendären Markt, <strong>und</strong> lassen uns von den<br />
exotischen Köstlichkeiten, von den von der<br />
Feuchtigkeit tausendfach verstärkten Gerüchen<br />
<strong>und</strong> exotischen Geschmäckern berauschen. Wir<br />
beobachten den majestätischen Flug der<br />
„Urubus“, der allgegenwärtigen Aasgeier, die<br />
überall auf anfallende Happen lauern. Tauchen<br />
zwischen die magischen Baracken mit den<br />
Medizinal- <strong>und</strong> Heilpflanzen <strong>ein</strong>, wo man <strong>ein</strong>en<br />
Zauber kaufen könnte, der den Geliebten ganz<br />
fest an <strong>ein</strong>en bindet. Zum X-ten Mal schlängelt<br />
sich <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>es der vier oder fünf Versionen des<br />
Ave-Maria ins Ohr. Es ist die Begleitmusik des<br />
Festes, <strong>ein</strong>e ewige Schleife. Begleitet <strong>ein</strong>em durch<br />
die ganze Stadt, schallt aus allen allgegenwärtigen<br />
Lautsprechern in den unterschiedlichsten<br />
Variationen. Wird zwei, ja dreifach runtergespielt,<br />
manchmal sogar gleichzeitig, <strong>ein</strong>e irritierende,<br />
religiöse Kakofonie, haarscharf am Kitsch vorbei,<br />
aber doch herzer-greifend, irgendwie bewegend.<br />
Die fliegenden Händler verkaufen schon die<br />
Raubkopien der offiziellen CD. Auch die<br />
allgegenwärtigen T-Shirts, bedruckt mit dem<br />
diesjährigen offiziellen <strong>Foto</strong> der Heiligen, kann<br />
man an jeder Ecke kaufen.<br />
Später, hoch oben auf dem Platz mit dem Fort <strong>und</strong><br />
dem Casa das Onze Janelas zieht aber die<br />
großmächtige „Mangeira“, der Mangobaum gleich<br />
daneben, magisch m<strong>ein</strong>en Blick auf sich. Er ist<br />
über <strong>und</strong> über mit vielfarbigen Satinbändern<br />
behängt. Sie heben sich effektvoll vom dunklen<br />
Blattgrün ab <strong>und</strong> kräuseln <strong>und</strong> wellen sich leise in<br />
der ständigen Brise. Es sei das Werk <strong>ein</strong>er<br />
Ausländerin, <strong>ein</strong>er Künstlerin, die schon länger<br />
hier wohne. Sie hat ihn als Wunschbaum, als Ex-<br />
Votum-Baum kreiert. Hier kann jeder s<strong>ein</strong>e<br />
Wünsche, Träume, m<strong>ein</strong>en Dank für erhaltene<br />
Gnaden ausdrücken. Kann <strong>ein</strong> Band auswählen, sie<br />
darauf schreiben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er der Helfer knüpft es<br />
dann im Baum fest.<br />
Aber noch ist es nicht soweit. Das Fest ist noch<br />
jung <strong>und</strong> dauert drei Tage. Die winzige Statue der<br />
Nossa Senhora de Nazaré, normalerweise hoch<br />
oben in <strong>ein</strong>em Alkoven, ist schon Tage vor dem<br />
Círio von ihrem Platz heruntergestiegen <strong>und</strong> hat<br />
ihre Kirche verlassen. Sie ist überaus fleißig. In den<br />
Monaten vor dem Cirio reist sie unermüdlich<br />
durch den ganzen Staat bis weit ins Hinterland. Am<br />
Vortag wurde sie von <strong>ein</strong>er tiefgläubigen<br />
Motorradescorte feierlich nach Icoraçi gebracht,<br />
die kl<strong>ein</strong>e Hinterlandstadt, die quer über dem<br />
Amazonasdelta liegt.<br />
Am Tag vor der Hauptprozession kehrt sie per<br />
Schiff nach Belém zurück. Sie wird von vielen<br />
festlich geschmückten Booten empfangen. Eines<br />
nach dem anderen machen sich die Schiffe<br />
frühmorgens auf, alle, ob groß oder kl<strong>ein</strong>, gut<br />
ausgerüstet oder <strong>ein</strong>fache Fischerboote, sind<br />
festlich geschmückt <strong>und</strong> mit Lautsprechern<br />
bestückt: noch mehr Ave-Marias in der klassischen<br />
<strong>und</strong> in der Popversion. Alle havarieren<br />
gefährlich nah am Kitsch. Langsam formiert sich<br />
die Prozession der Boote, richtet sich zur<br />
militärischen Dreiecksform aus. Schau, da am<br />
Horizont! Tausende von Fingern zeigen auf den<br />
Punkt, erschreckt laufe ich auf die Gegenseite<br />
des – Gott sei Dank – großen Schiffes. Der<br />
Kapitän hat die Gefahr auch erkannt. Über<br />
Lautsprecher bittet er das gerührte Publikum,<br />
sich doch bitte nicht alle gleichzeitig auf derselben<br />
Schiffsseite zu versammeln. Das Schiff mit<br />
der Statue ist <strong>ein</strong> Kreuzer der Marine,<br />
schmucklos-hässlich in s<strong>ein</strong>em militärischen<br />
Tarngrau, die Kanone auf dem Vorderdeck im<br />
Anschlag. Wieder das Raunen, wieder die<br />
Schlagseite <strong>und</strong> da steht sie! Winzig kl<strong>ein</strong>,<br />
hochverehrt <strong>und</strong> heilig, streng bewacht von<br />
strammen Matrosen in blendenden Galauniformen!<br />
Zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.<br />
W<strong>ein</strong>en, Rührung, Rosenkränze werden gebetet.<br />
Alle stimmen in die ewig gleiche <strong>und</strong> immer<br />
wieder anrührende Festmusik <strong>ein</strong>. Auch ich bin<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 646
gerührt. Dann schrill <strong>und</strong> überraschend, Misstöne.<br />
Die Gläubigen wollen näher, noch näher an die<br />
Heiligenfigur heran! Der Kapitän widersteht den<br />
Schimpftiraden. Lässt sich zurufen, dass er vor der<br />
Heiligen fliehe! Das Gezeter wird immer emotioneller<br />
<strong>und</strong>… Der Kapitän erhört die Gläubigen<br />
<strong>und</strong> zieht das Schiff in elegantem Bogen so nah<br />
am Kreuzer vorbei, wie es die Marine in ihrer<br />
Majestät auch nur erlaubt. Ein bewegender<br />
Augenblick, feierlich, inbrünstig.<br />
Am Kai, wieder auf sicherem Gr<strong>und</strong>, empfangen<br />
uns inmitten der jubelnden Menge unzählige<br />
Spielzeugverkäufer, <strong>ein</strong>ige halbe Kinder, <strong>ein</strong>e<br />
andere Tradition des Círios. Bieten auf übermannshohen<br />
Doppelkreuzen aus federleichtem<br />
„Burití“, <strong>ein</strong>er Palmenart, traditionelles Spielzeug<br />
feil. Kunterbunt, naiv, w<strong>und</strong>erhübsch.<br />
Farbenprächtige Kanus <strong>und</strong> größere Schiffe,<br />
Vögel, die paarweise mit ihren Schnäbeln auf<br />
fiktives Futter <strong>ein</strong>hacken. Gürteltiere, die mit Kopf<br />
<strong>und</strong> Schwanz wackeln, wenn das Gewicht unter<br />
ihrem Bauch hin <strong>und</strong> her schaukelt. Wendigen<br />
Schlangen, grellbunte Wippen <strong>und</strong> das Karussell –<br />
Spielzeug aus <strong>ein</strong>er vergessenen, altmodischen<br />
Welt ohne Plastik. Es wird auf <strong>ein</strong>er Insel vor<br />
Belém von unzähligen Handwerkern von Hand aus<br />
der ultraleichten Palmfaser geschnitzt, das ganze<br />
Jahr über, <strong>und</strong> nur in den Tagen des Círios in den<br />
Straßen verkauft. Am Kai geht es gleich weiter mit<br />
der „Pavulagem“, der perfekten Mischung aus<br />
Heiligem <strong>und</strong> Profanem. Eine Art Kirmes, <strong>ein</strong><br />
Jahrmarkt, <strong>ein</strong> wahrhaftig populäres Volksfest.<br />
Heute Abend findet bei Kerzensch<strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />
singenden Padres die feierliche „Transladação“,<br />
die Überführung der Heiligenstatue von der<br />
Basílica de Nazaré zur Matriz statt.<br />
Und dann, dann ist es endlich soweit. Am Sonntag<br />
des Círio beginnt die Prozession mit <strong>ein</strong>er Messe in<br />
aller Herrgottsfrühe. Früh, sehr früh am Morgen,<br />
um der gröbsten Hitze <strong>und</strong> dem obligaten Regen,<br />
der normalerweise nachmittags fällt, zu entgehen.<br />
Der ganze riesige Platz vor der Matriz ist<br />
rappelvoll. Die Messe ist feierlich <strong>und</strong> dann geht,<br />
unter Böllerschüssen formiert sich der Umzug. An<br />
der Kordel drängen sie sich, baren Fußes. Die Stadt<br />
brodelt. Viele beziehen schon sehr früh ihre<br />
Logenplätze, st<strong>und</strong>enlanges Warten auf die<br />
Prozession gehört dazu. Andere gehen der<br />
Prozession entgegen, laufen <strong>ein</strong>e Abkürzung, um<br />
sie mehrmals zu sehen. Wir bekommen, <strong>ein</strong>e Hand<br />
wäscht die andere, unsere Plätze hoch oben auf<br />
<strong>ein</strong>er der vielen Tribünen.<br />
Unterdessen habe ich mir auch <strong>ein</strong>en der vielen<br />
Papierfächer besorgt, die praktischerweise auch<br />
gleich den Text der Ave Marias aufgedruckt haben.<br />
Heute ist die Musik live. Viele ausgebildete Sänger<br />
<strong>und</strong> Sängerinnen treten in <strong>ein</strong>e Art Wettstreit, von<br />
den gesponserten Tribünen auf beiden Seiten der<br />
Straße aus. Ihre Klasse <strong>und</strong> Inbrunst sch<strong>ein</strong>t die<br />
Kakofonie wettzumachen <strong>und</strong> weder die immer<br />
zahlreicheren Gläubigen noch die hochverehrte<br />
Heilige sch<strong>ein</strong>en sich daran zu stören. Schon ist die<br />
Spitze der Prozession in Sicht. Hälse recken sich,<br />
Gedränge, Getümmel, Emotion. Unter den Füßen<br />
der Pilger bildet sich <strong>ein</strong> knöcheltiefer Teppich<br />
aus Wasserflaschen, Girlanden <strong>und</strong> anderem<br />
Abfall. Auch das sch<strong>ein</strong>t k<strong>ein</strong>en zu stören. Viele<br />
Gläubige waten mit bloßen Füßen durch ihn<br />
hindurch, die verzückten Augen auf die Kordel<br />
gerichtet. Später kommen alle Familien, die<br />
Nachbarn, die Fre<strong>und</strong>e zusammen <strong>und</strong> essen<br />
„Pato no Tucupí’“, Ente in Tucupí, das<br />
traditionelle Festessen, wohl <strong>ein</strong>es der<br />
ursprünglichsten <strong>und</strong> unverwechselbarsten Essen<br />
Brasiliens.<br />
Was als Erinnerung bleibt, ist die Unbekümmertheit,<br />
die Echtheit, die kräftigen Farben <strong>ein</strong>es<br />
Volksfestes, <strong>und</strong> der Respekt für <strong>ein</strong>e unverfälschte,<br />
pure Gläubigkeit, die, so glaube ich,<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich wirklich Berge versetzen kann.<br />
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Nicht mal der Parkplatz der Pfarrei bleibt verschont<br />
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Kloaken <strong>und</strong> Inline-Skates<br />
Die improvisierten Brücken, die<br />
schwindelerregend <strong>und</strong> ohne Geländer über die<br />
Wasser führen, Wasser, die ich zuerst für Bäche<br />
halte, die aber in Wirklichkeit Abwasserkloaken<br />
sind, sch<strong>ein</strong>en mir auf den ersten Blick<br />
romantisch. Die je nach Regenmengen mehr oder<br />
weniger verdünnten Ausdünstungen steigen mir<br />
der Klimaanlage wegen nur mit Verzögerung in<br />
die Nase. Auch die leuchtenden Blautöne der<br />
Bretterbuden, alle auf Stelzen, jeder<br />
Quadratmeter den Wassern abgerungen,<br />
abgetrotzter günstiger Wohnraum, kontrastieren<br />
gegen die blendenden Schönwetterwolkengebirge.<br />
Die strahlenden Blaus sollen Mücken<br />
fernhalten <strong>und</strong> gleichzeitig Glück bringen.<br />
oder weniger Erfolg aufrecht. Festgezurrte Füße<br />
holen ungelenk Anlauf zu <strong>ein</strong> paar R<strong>und</strong>en. Knie-,<br />
Ellbogen- <strong>und</strong> Kinnschutz waren im Kit nicht<br />
inbegriffen. Immer wieder halten wir im Kollektiv<br />
den Atem an. Schauen, zu Tode erschrocken, feige<br />
weg, wenn noch jemand hinzufallen droht.<br />
Erstaunlicherweise passiert wenig.<br />
Nur die Frage, ob es nicht „sinnvollere“<br />
Weihnachtsgeschenke für <strong>ein</strong> Favelakind gäbe,<br />
verpufft, wird, zu europäisch, von der<br />
freuchtschweren regenschwangeren Luft <strong>ein</strong>fach<br />
verschlungen.<br />
Weiß nicht so genau wie, aber wir fahren an <strong>ein</strong><br />
paar lokalen Favelas vorbei. Der Stadtteil, der<br />
gerade als schick gilt, liegt gleich um die Ecke.<br />
Und dann sind plötzlich alle gefordert. Der Fahrer<br />
beugt sich konzentriert über das Steuer. Einzeln,<br />
zu mehren oder gar in ganzen Schwärmen gleiten<br />
immer wieder kl<strong>ein</strong>ere <strong>und</strong> größere Kinder über<br />
der Fahrbahn. Es ist kurz nach Weihnachten.<br />
Wie’s sch<strong>ein</strong>t, haben sie alle das gleiche<br />
Weihnachtsgeschenk erhalten: Inline-Skates. Da<br />
die Straße sowieso ihr Spielplatz ist <strong>und</strong> es auf<br />
Asphalt noch schöner rollt, wagt sich groß <strong>und</strong><br />
kl<strong>ein</strong> auf die Rädchen. Arme rudern, <strong>ein</strong>geknickte<br />
Knöchel werden immer wieder durchgedrückt.<br />
Schmale Körper balancieren, halten sich mit mehr<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 653
Im Hinterhof<br />
In jenen verlotterten, vergessenen Häusern der<br />
Altstadt, jenen, die noch Türklopfer haben,<br />
grünspanige Händchens mit gerüschter<br />
Manschette, soll es sie noch geben. Einem wie<br />
dieses hier: Die Hausfront direkt an den mit<br />
riesigen rechteckigen Kalkst<strong>ein</strong>platten<br />
gepflasterten Bürgersteig gebaut, der<br />
abblätternde Verputz, <strong>ein</strong> fahles Rosa. So dünn<br />
aufgetragen, das sich an vielen Stellen ältere<br />
Farbanstriche, wieder Geltung verschaffen, <strong>ein</strong><br />
bleiches Türkis-Hellblau, gar <strong>ein</strong> kräftiges Ocker.<br />
Starke Läden verbarrikadieren die doppelten<br />
Fenster, oben Glas, unten Venezianas. Die<br />
Haustür ewig hoch. Schließt mit <strong>ein</strong>em<br />
geschwungenen Gitter, unverglast, ab. Öffnete sie<br />
sich unerwartet, <strong>ein</strong> H<strong>und</strong> will Gassi gehen, all<strong>ein</strong><br />
natürlich, <strong>ein</strong> Bewohner Zigaretten kaufen, gäbe<br />
es, wer weiß, ganz hinten, da wo der Korridor<br />
endet, <strong>ein</strong>en jener kühlen, funktionellen<br />
Hinterhöfe. Kl<strong>ein</strong>e, nostalgische Oasen inmitten<br />
<strong>ein</strong>er pulsierenden Stadt. Schmucklos, die Erde<br />
festgestampft, purer Sand, jeden Tag aufs Neue<br />
mit dem metallenem Rechen, ihm fehlt der dritte<br />
Zahn von Rechts, p<strong>ein</strong>lich gesäubert. K<strong>ein</strong> Blatt<br />
des <strong>ein</strong>zigen Baumes übersehen. Er steht ganz<br />
hinten, Mango oder Avocado, gar <strong>ein</strong>e Caneleira,<br />
<strong>ein</strong> Zimtbaum. In s<strong>ein</strong>em Schatten kann man sich<br />
in der Hängematte in <strong>ein</strong>en kräfterestaurierenden<br />
Mittagsschlaf schaukeln, gleich neben der<br />
st<strong>ein</strong>ernen Bank. Sie lädt zum Meditieren über die<br />
Mäander des Lebens <strong>ein</strong>. Ermöglicht es, vor den<br />
größten Hitzen, die das Gehirn erweichen <strong>und</strong> den<br />
Körper dumpf <strong>und</strong> die Bewegungen schläfrig<br />
machen, zu flüchten.<br />
Ästhetik jeglicher Art ist der Natur solcher<br />
Hinterhöfen völlig fremd. Sie kultivieren die<br />
Zufälligkeit, das Ländlich-Rustikale. Auch das Grün<br />
gedeiht von Ungefähr. Spontan, eher verschont als<br />
gepflanzt, übersehen, wie so vieles hier. K<strong>ein</strong>er will<br />
in s<strong>ein</strong>em Hof <strong>ein</strong>en jener geometrischen Parks,<br />
<strong>ein</strong>en Garten gar, die nur den Konventionen<br />
genügen, zum Herzeigen dienen. Die überlässt<br />
man den öffentlichen Organen oder kultiviert sie<br />
im zubetonierten Eingangsbereich des Hauses, wo<br />
die wenigen Töpfe <strong>und</strong> Zierpflanzen hinter Gittern<br />
gefangenen sind.<br />
In der gleichgültigen Öde des Hinterhofs, <strong>ein</strong><br />
Anhängsel des Hauses nur, gar <strong>ein</strong> später dazu<br />
gekauftes, umfunktioniertes leerstehendes<br />
Gr<strong>und</strong>stück, macht jeder, was <strong>und</strong> wie er will <strong>und</strong><br />
sei es nur dazu da, sich <strong>ein</strong> paar Hühner <strong>und</strong> zwei<br />
oder drei Enten, zukünftige Festtagsbraten zu<br />
halten. Andere treffen hier ihre Fre<strong>und</strong>e. Jeder<br />
schaukelt in s<strong>ein</strong>em plastikbeschnürten<br />
Schaukelstuhl, allgegenwärtig in allen Hinterhöfen<br />
Brasiliens. Auf die Kinder wartet <strong>ein</strong>e Wippe.<br />
Immer ist <strong>ein</strong>er da, sie anzustoßen, hoch <strong>und</strong><br />
höher, ganz hoch, hoch in die immergrünen<br />
Blätterdecken.<br />
<strong>und</strong><br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 654
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Die Heilige <strong>und</strong> die Tapioqueiras von Mosqueiro<br />
Die kl<strong>ein</strong>e Kirche, sie schließt den schmucklos<br />
nackten Platz ab, ist weder kunstfertig noch <strong>ein</strong><br />
wichtiges Baudenkmal. Sie erinnert mit ihren zwei<br />
quadratischen Türmen, die das schmale<br />
Mittelschiff fast erdrücken, <strong>ein</strong> wenig an <strong>ein</strong>e<br />
Theaterkulisse, lieblos vor irgend<strong>ein</strong>en Block, <strong>ein</strong><br />
schon bestehendes Gebäude, geklebt. Eine Kirche<br />
wie viele ähnliche in ähnlich gesichtslosen<br />
Städtchen irgendwo im weiten amazonischen<br />
Hinterland. Sie ist gut erhalten, aber schlecht<br />
restauriert. Den hiesigen Padres fehlt es leider<br />
manchmal an Sensibilität im Umgang mit<br />
historischem Baugut. Und von den lokalen<br />
Maurern kann man nicht verlangen, als dass sie<br />
mehr können, als mehr oder weniger geschickt<br />
den Verputz erneuern <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Schicht<br />
Farbe über drei alte pinseln. Die Renovation, die<br />
die Kirche eigentlich “verschönern” sollte, folgt<br />
dabei oft dem eigenen zweifelhaften Geschmack<br />
<strong>und</strong> den noch zweifelhafteren Empfehlungen des<br />
Padres <strong>und</strong> der Kirchgem<strong>ein</strong>de.<br />
Trotzdem trete ich <strong>ein</strong>. Die antike Heiligenstatue<br />
fasziniert mich auf den ersten Blick. Es handelt<br />
sich um die lokale Schutzheilige, <strong>ein</strong>e Holzfigur<br />
der „Nossa Senhora de O“, - „unserer Heiligen<br />
Mutter von O“. Sie nimmt mich total gefangen.<br />
Eine eiserne Tafel belehrt mich, dass das „O“<br />
gleichzeitig das Unendliche verkörpere, aber auch<br />
die gebenedeite Frucht, die im hoch in ihrem<br />
angeschwollen, höchst schwangeren Leibe<br />
heranwächst. Will man dem nach innen<br />
gerichteten Blick <strong>und</strong> dem verhaltenen Lächeln<br />
glauben, so ist unsere abgeklärte Madonna<br />
innerlich schon bereit, das Kind zu gebären, bald,<br />
bald schon.<br />
Muss mir <strong>ein</strong>gestehen, dass dies m<strong>ein</strong>e erste<br />
Madonna ist, die sich so sichtbar, so bekennend<br />
<strong>und</strong> glücklich schwanger zeigt. Eine w<strong>und</strong>erbar<br />
plastische Figur, irden, volksnah, w<strong>und</strong>ersam<br />
greifbar. Schau, da steigt sie schon, nicht ohne<br />
Mühe <strong>und</strong> durch die fortgeschrittene<br />
Schwangerschaft etwas schwerfällig geworden,<br />
von ihrem Piedestal herunter! Mit <strong>ein</strong>er Hand<br />
stützt sie den schmerzenden Rücken, die Füße<br />
sind, um das verlagerte Gewicht besser<br />
ausgleichen zu können, leicht nach außen<br />
gewendet. Mischt sich, etwas kurzatmig <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong> wenig erschöpft, sogleich unters Volk,<br />
verschwindet schon im garagenartigen Bauch der<br />
Markthalle zu ihrer Linken. Versucht hier mit leicht<br />
resignierter Geste <strong>ein</strong>e Handvoll „Farinha d´água“,<br />
n<strong>ein</strong>, dieses ist zu grob, kauft von dem hier, dem<br />
f<strong>ein</strong>eren, nur leicht gekörnten <strong>und</strong> frischknackigen.<br />
Dann soll´s noch <strong>ein</strong> Schäufelchen vom<br />
leuchtend roten „Colorau“ s<strong>ein</strong>, f<strong>ein</strong> zermahlen,<br />
um dem Huhn etwas Farbe zu geben <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en<br />
guten Fisch, ja, der hier. Er wird zusammen mit<br />
den klassischen Kräutern <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />
Pfefferfrüchtchen in <strong>ein</strong> frisches Bananenblatt<br />
<strong>ein</strong>geschlagen. Wieder draußen setzt sie sich,<br />
gleich vor der Markthalle, auf dem Hauptplatz an<br />
<strong>ein</strong>en der kl<strong>ein</strong>en Tische der „Tapioqueiras“, <strong>und</strong><br />
bestellt, <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Stärkung tut Not, <strong>ein</strong>e<br />
„Tapioquinha“, <strong>ein</strong>e Art Pfannkuchen, leicht <strong>und</strong><br />
ausgesprochen lecker, dick mit frisch geriebenen,<br />
groben Kokosflocken bestreut, die nach kurzer<br />
Wartezeit auf <strong>ein</strong>em zurechtgeschnittenen<br />
Bananenblatt serviert wird.<br />
Ich bestelle das selbe. Sitze am Nebentisch <strong>und</strong><br />
genieße aufs Neue jenen Wohlgeschmack, den<br />
ich vor Jahren schon kennen lernte <strong>und</strong> der <strong>ein</strong>er<br />
der Gründe war, warum ich zurückgekehrt bin.<br />
Eine kulinarische Entdeckung, <strong>ein</strong>e Offenbarung.<br />
Der erste Bissen bestätigt mir mal wieder, dass<br />
es bis jetzt noch niemandem gelungen ist,<br />
leichtere „Tapiocas“ oder schmackhafteres<br />
„Cuscus“, (Maiscuscus, wird mit Milch <strong>und</strong><br />
Kokosflocken gegessen) zuzubereiten!<br />
Aber leider ist heute alles <strong>ein</strong> wenig anders. Auch<br />
hier steht die Zeit nicht still. 1972 wurde die<br />
unendlich lange Brücke gebaut, die den Archipel<br />
Mosqueiro, der sich aus 35 auf ca. 220 km²<br />
verteilten Inseln zusammensetzt, mit der großen<br />
Stadt Belém verbindet. Hier leben normalerweise<br />
r<strong>und</strong> 30.000 Personen. Während der Ferienzeit<br />
erhöht sich die Zahl bis auf 400.000 Seelen,<br />
besonders jetzt, wo der Zugang, er war früher<br />
nur per Schiff möglich, ganz leicht ist <strong>und</strong> der Bus<br />
zum Lokaltarif fährt. So kommen nun, neben den<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 660
traditionellen Sommergästen auch andere, wie<br />
die, die man hier nicht eben fre<strong>und</strong>lich<br />
„Farofeiros“ nennt, was sich so etwa mit<br />
Eintagestouristen übersetzten lässt. Die bringen,<br />
die Ökonomien sind knapp, Restaurants sind im<br />
schmalen Budget nicht vorgesehen, ihr Essen,<br />
eben die „Farofa“, auch gleich selber mit. So ist<br />
nun der elitäre verschlafene Sommerkurort der<br />
lokalen Reichen zu <strong>ein</strong>er Stadt wie viele andere im<br />
Landesinnern geworden, modern <strong>und</strong> etwas<br />
gesichtslos. Auch die berühmten Tapioqueiras<br />
wurden von den Neuerungen nicht verschont <strong>und</strong><br />
bekamen von der Stadtregierung Einheitsstände<br />
verpasst, sodass sie sich nur noch durch die<br />
Namensschilder der Köchinnen unterscheiden.<br />
Die andere Errungenschaft ist, dass es heute an<br />
den traditionellerweise von Frauen betriebenen<br />
Ständen auch Männer gibt, die die Hände in die<br />
weißen vorbereiteten Massen, die „Goma“<br />
versenken, das Feuer unter der Pfanne regulieren,<br />
den fertig gebratenen <strong>und</strong> gewendeten<br />
Pfannkuchen mit Kokosmilch tränken. Die<br />
Veränderung kann nur zwei Ursachen haben.<br />
Entweder wirft der kl<strong>ein</strong>e Kommerz soviel ab,<br />
dass auch <strong>ein</strong>e Familie davon leben kann, oder die<br />
Armut <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit ist so groß, dass auch<br />
Männer diese Jobs akzeptieren müssen.<br />
Wie auch immer – die Tapiocas verdanken wir der<br />
indigenen Bevölkerung die schon vor ca. 12.000<br />
Jahren, lange vor der Ankunft der Portugiesen,<br />
hier in dieser Region des Amazonas lebten. Hier<br />
auf Mosqueiro lebte der Stamm der Tuinambás,<br />
deren Kultur sich durch ihr Nähe zur Natur<br />
auszeichnete. Als sich dann die Portugiesen das<br />
Land untertan machten <strong>und</strong> ihren „Besitz“ via<br />
„Seismarias“ (Schenkung <strong>ein</strong>es Gr<strong>und</strong>stückes<br />
durch die Krone) absicherten, siedelte sich hier am<br />
06. Dezember 1746 als <strong>ein</strong>er der Ersten <strong>ein</strong> Padre<br />
Antônio da Silva an. S<strong>ein</strong>e Nachkommen bauten<br />
den Besitz mit Hilfe afrikanischer Sklaven zu <strong>ein</strong>em<br />
florierenden Bauerngut aus. 1886 erfolgte dann<br />
die Gründung der Stadt Mosqueiro, die<br />
jahrh<strong>und</strong>ertelang bis zur Belle Époque <strong>ein</strong><br />
ländliches Das<strong>ein</strong> fristete <strong>und</strong> von der Produktion<br />
von Lebensmitteln für die Stadt Belém lebte.<br />
Am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden die Inseln<br />
<strong>und</strong> Mosqueiro mit ihren dunklen Sandstränden<br />
von jenen Ausländern entdeckt, die der<br />
Kautschukboom <strong>und</strong> andere Güter hierhergelockt<br />
hatten. Ihnen gefielen die lang gezogenen<br />
Flussstände, die mit ihrem zwar trüben, aber<br />
süßen Wasser ideal für stille, stilvolle<br />
Sommerfrischen waren. Bald hatten die Lochards,<br />
Ponteds, Smiths, Uptons, Kaulfuss <strong>und</strong> Arouchs,<br />
die im Privatboot ankamen, an privaten<br />
Bootsstegen landeten, hier alle ihr Wochenendhaus,<br />
fern der Stadt <strong>und</strong> brachten damit <strong>ein</strong> Stück<br />
Europa in den Amazonas. Bald folgten ihnen die<br />
vermögenderen Familien Beléms <strong>und</strong> nach kurzer<br />
Zeit besiedelten immer mehr Chalés <strong>und</strong><br />
Bungalows den Sommerkurort. Die schmucken<br />
Häuschen <strong>und</strong> Bungalows aus lokalem Acapú<br />
holz wurden fast alle im eklektischen <strong>und</strong><br />
modernistischen Stil gebaut. Inspirieren sich an<br />
den Chalés der Schweizer Alpen oder des<br />
Schwarzwaldes, den sie kunstvoll in tausenderlei<br />
Varianten variieren. Typisch ist das reich<br />
geschnitzte Filigran im besten Zuckerbäckerstil,<br />
gar dem Hexenhaus von Hänsel <strong>und</strong> Gretel<br />
abgeschaut. Dazu kommen verschnörkelte<br />
Veranden, Balkönchen, Treppenaufgänge,<br />
Nischen <strong>und</strong> Vorsprünge, Girlanden, hölzernes<br />
Zierwerk <strong>und</strong> viele <strong>und</strong> noch mehr Ornamente,<br />
immer dekorativ verspielt, zierlich gearbeitet,<br />
Zierart, angemalt in markanten Farben, wie es<br />
die Mode der amazonischen Belle Époque wollte.<br />
Die schmucken Sommerhäuschen erhielten die<br />
passenden Namen: „Sissi“ oder „Villa Flora.<br />
Heute trifft man nur noch das <strong>ein</strong>e oder andere<br />
Haus in gutem Zustand. Die meisten sind<br />
dekadent <strong>und</strong> verlassen, die Bemalung splittert<br />
<strong>und</strong> von innen nagen die Termiten – lange schon<br />
ist her, seit Mosqueiro als schick galt. Heute zieht<br />
die lokale Elite die weitläufigen Strände des<br />
Ozeans in Salinas vor, <strong>ein</strong> paar Autost<strong>und</strong>en nur,<br />
um Sommerfrischen zu verbringen oder <strong>ein</strong><br />
Wochenende.<br />
Schau, sie ist aufgestanden! Gerne begleite ich<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 661
m<strong>ein</strong>e Madonna noch <strong>ein</strong> Stück. Fast hätte ich ihr<br />
den Arm gereicht. Höre aus ihrem etwas kurzem<br />
Atem die leichte Müdigkeit <strong>und</strong> Anstrengung des<br />
Wartens auf die Geburt heraus. Begleite sie bis an<br />
den Strand hinunter, da wo sich <strong>ein</strong> vergessenes<br />
Stück gepflasterter Strandpromenade <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
endlos lange Kaimauer mit weißen Säulen dem<br />
Wasser entlang zieht. Wie viele bleiche <strong>und</strong> zarte<br />
Frauen haben hier wohl etwas Kühlung <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
frische Brise gesucht? Sind hier, beschattet von<br />
ihren kostbaren Sonnenschirmen, die gepflegten<br />
Hände in elegant gehäckelten Spitzenhandschuhen<br />
spazieren gegangen. Fächelten sich<br />
erschöpft mit duftenden, rüschenbesetzten<br />
Fächern zwischen der <strong>ein</strong>en Laterne <strong>und</strong> der<br />
nächsten die Illusion <strong>ein</strong>er frischen Brise zu.<br />
Die Madonna? N<strong>ein</strong>, sie war nicht nur <strong>ein</strong><br />
nostalgischer Traum. Da! Schau! Das schwindende<br />
Licht schneidet ihre Silhouette aus dem schnell<br />
dunkler werdenden Himmel heraus. Hochschwanger,<br />
im Profil hebt sie sich vom Horizont ab. R<strong>und</strong><br />
wölbt sich der gesegnete Leib.<br />
Auf der Rückfahrt stoppen wir bei der<br />
„Fazendinha“, <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Laden. Da gibt‘s <strong>ein</strong>e<br />
andere Köstlichkeit aus vergangenen Zeiten:<br />
„Qualhada“, Sauermilch, ganz modern in <strong>ein</strong>er<br />
Einliter PET-Flasche verkauft. Sie ist cremig <strong>und</strong><br />
hat gerade die richtige Säure. M<strong>ein</strong>er Heiligen<br />
hätte sie wohl auch geschmeckt. Sie schließt<br />
gerade beim Kosten genießerisch die Augen, die<br />
<strong>ein</strong>e Hand auf dem hohen Leib.<br />
Ja, zu dieser Zeit stand auch der Leuchtturm noch,<br />
strategisch an der Spitze der Insel positioniert.<br />
Heute legt nur noch das herrschaftliche Hotel<br />
„Farol“ Zeugnis davon ab. Es hält Stand, fast<br />
unberührt, nur die originale Möblierung aus<br />
dunklem, fast schwarzem Holz, das dunkle<br />
Getäfer wurde um <strong>ein</strong> paar Plastikstühle <strong>und</strong><br />
Plastiktischtücher ergänzt. Eine überraschend<br />
wilde Stilmischung aus Schwarzwald <strong>und</strong><br />
Alpensanatorium, noch <strong>ein</strong> Hochalpenhotel im<br />
eklektischen Stil aus der vorletzten<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwende, das sozusagen über Nacht in<br />
den Tropen wieder erwachte.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 662
Manaus<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 664
Manaus<br />
Dass es auch <strong>ein</strong> schickes, <strong>ein</strong> hochmodernes<br />
<strong>Amazonien</strong> gibt, wird mir an der “Ponta Negra”,<br />
Manaus “Miami”, endgültig klar. Wenn die<br />
bräunlichen Wasser des Rio Negros nicht wären,<br />
wähnte ich mich in irgend<strong>ein</strong>em Luxushafen an<br />
der Cote d’Azur. Eine schnittige Jacht dümpelt<br />
neben der anderen. Als ich dann aber sozusagen<br />
die Seite wechsle, nicht schon wieder in Taxi rufen<br />
will, <strong>und</strong> auf dem öffentlichen Bus bestehe, muss<br />
ich m<strong>ein</strong>e Ungeduld zügeln. Der nächste fährt erst<br />
in <strong>ein</strong>er halben St<strong>und</strong>e. Und gegen den Regen<br />
gibt’s auch k<strong>ein</strong>en Unterstand. – Manaus<br />
verleugnet s<strong>ein</strong>e Zwitterhaftigkeit nicht.<br />
Auf der <strong>ein</strong>en Seite die in den letzten zehn Jahren<br />
wie Pilze aus dem tropen-feuchten Boden<br />
geschossenen Shoppingcenters, runter gekühlte,<br />
hermetisch in sich geschlossene Welten, in denen<br />
man für <strong>ein</strong> paar St<strong>und</strong>en alles vergessen kann<br />
<strong>und</strong> ungeniert konsumieren darf, auf der anderen<br />
Seite der absolut chaotische Verkehr, dem<br />
k<strong>ein</strong>erlei Stadtplaner Herr zu werden sch<strong>ein</strong>t.<br />
Manaus ist <strong>ein</strong>e Freihandelszone <strong>und</strong> profitiert<br />
wie k<strong>ein</strong>e andere nördliche Stadt von den<br />
großzügigen staatlichen Subventionen, die der<br />
Stadt aber auch <strong>ein</strong>e spürbare Dynamik bringen.<br />
Die an Miami inspirierte Ponta Negra<br />
kontrastieren mit armen Stadtvierteln <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em<br />
Zentrum, dem noch viel fehlt, um zum Postkartenmotiv<br />
zu werden. Aber Manaus ist auf<br />
dem richtigen Weg. Der Komplex um die zentrale<br />
Markthalle, aus England importierte Eisenkonstruktionen<br />
<strong>und</strong> andere repräsentative<br />
Bauten sind – endlich! - brandneu <strong>und</strong> kompetent<br />
restauriert.<br />
Manaus, der Name der Stadt erinnert an die<br />
indigenen Manaós, die hier schon vor der<br />
portugiesischen Besitznahme siedelten, 1669 als<br />
Fort, als letzter Vorposten in der Wildnis des<br />
Tropenwaldes, <strong>ein</strong>e Art Tor zum restlichen<br />
amazonischen Hinterland gegründet, hat damit<br />
auch s<strong>ein</strong>en Platz in der bewegten Geschichte.<br />
Alles begann mit der Notwendigkeit, die Präsenz<br />
der Portugiesen in diesem abgelegenen Stück<br />
Brasilien zu garantieren <strong>und</strong> gleichzeitig die<br />
Schätze der Region auszubeuten. Konsequenterweise<br />
wurde hier 1755 die Capitania de São José<br />
do Rio Negro gegründet. 1848 wurde Manaus zur<br />
Stadt <strong>und</strong> zur Kapitale des Staates Amazonas<br />
erklärt <strong>und</strong> macht sich bereit zur ersten Hochblüte,<br />
finanziert vom Kautschuk. Das heutige<br />
Manaus erinnert wieder an die kosmopolitische<br />
Metropole, die es schon zur Zeit des Kautschuks<br />
war, etwas moderner zwar <strong>und</strong> weniger<br />
glamourös, aber mit Drive.<br />
Als der Kautschuk von der zweiten Hälfte des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts an die Ökonomie finanzierte, fehlte<br />
es Manaus an nichts. Basierend auf den selben<br />
hygienistischen Ideen, die in ganz Brasilien Furore<br />
machten, baute man hier die Stadt um. Legte<br />
breite Straßen an, schachbrettartig funktionell,<br />
für die man ganze Hügel <strong>ein</strong>fach abtrug,<br />
versetzte, Wasserläufe trocken legte oder zum<br />
Verschwinden brachte. Es galt der so<br />
dominierende Natur etwas Urbanes<br />
entgegenzusetzen. Mit dem reichlich fließenden<br />
Geld des Kautschuks wurden Abwassersysteme,<br />
Straßenbeleuchtung <strong>und</strong> Straßenbeläge, <strong>ein</strong>ige<br />
auch aus Katuschuk, finanziert. Fortschritte, auf<br />
die das restliche Brasilien mit leuchtenden Augen<br />
schaute. Die ersten Trambahnen begannen zu<br />
zirkulieren <strong>und</strong> Manaus bekam <strong>ein</strong>en Telegrafen,<br />
der die Kommunikation mit der Welt erlaubte.<br />
Der Kautschuk wurde an internationalen Börsen<br />
gehandelt, die Stadt wurde so quase über Nacht<br />
in die Moderne <strong>und</strong> den Luxus katapultiert.<br />
Saus <strong>und</strong> Braus allerdings dauerten nur kurze Zeit<br />
<strong>und</strong> der Niedergang war umso brutaler. Ein<br />
langer <strong>und</strong> brutaler Abstieg begann <strong>und</strong> nur ab<br />
1960 wurde Manaus von der Militärdiktatur aus<br />
s<strong>ein</strong>em Dornröschenschlaf geweckt, die “Zona<br />
Franca”, <strong>ein</strong>e Freihandelszohne wurde instaliert,<br />
auch sie unter dem Motto “integrar para não<br />
entregar”, den Amazonas ins restliche Land<br />
integrieren, um ihn nicht zu verlieren. Damit<br />
wurden Arbeitsplätze geschaffen <strong>und</strong><br />
Industriebetriebe gebaut, angezogen von den<br />
vielen Vorteilen, die ihnen hier gewährt wurde.<br />
Schon mehr als zwei Mal großzügig verlängert,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 665
Ein Ende ist erst für 2073 vorgesehen, löst die<br />
Freihandelszone das Problem der aus allen Fugen<br />
berstenden Stadt nicht. Auch hier in Manaus<br />
sucht man nach gangbaren Lösungen für den<br />
Amazonas <strong>und</strong> nach Antworten auf die Frage, wie<br />
der Tropenwald nachhaltig genutzt werden<br />
könnte, ohne abgeholzt zu werden <strong>und</strong> was dabei<br />
mit s<strong>ein</strong>en Bewohnern passieren solle.<br />
Das Zauberwort heißt Biotechnologie. Es ist im<br />
M<strong>und</strong> all derer, die weiter denken. Unter<br />
Biotechnologie versteht man, ziemlich ver<strong>ein</strong>facht<br />
ausgedrückt, sowas wie das Knacken weiterer<br />
Geheimnisse, die die Natur uns immer noch<br />
vorenthält. Natur, <strong>ein</strong>mal mehr der riesiggroße<br />
Tropenwald, soll mit dem durchaus praktischen<br />
Ziel soweit erforscht werden, die daraus<br />
gewonnen Elemente <strong>und</strong> Erkenntnisse in<br />
praktisch Anwendbares, Nützliches für die<br />
Industrie umwandeln lassen. Das erfordert<br />
kompetente Gehirne <strong>und</strong> Forscher, die erst noch<br />
geformt werden müssen <strong>und</strong> Industrien, die es<br />
noch zu gründen gilt.<br />
Ein Ausweg <strong>und</strong> mögliche Zukunft für die<br />
tropischen Wälder <strong>und</strong> die Stadt hier? Oder<br />
<strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e noch raffinerierte Variante der<br />
Ausbeutung, die wir schon so gut kennen?<br />
sie,<br />
sammelt<br />
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Manaus große alte Lady, das Theater<br />
Sch<strong>ein</strong>t erst vor kurzem gewesen zu s<strong>ein</strong>, als wir<br />
uns hier <strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erschönes Konzert anhörten.<br />
Die kl<strong>ein</strong>e Warteschlange, sie rührte sich nicht<br />
vom Fleck, hielten wir geduldig aus. Der Sitzplatz<br />
aus rotem Velours im Theater Amazon, dem<br />
Postkartenmotiv von Manaus, war gratis!<br />
Immer wenn ich zurückkomme, bew<strong>und</strong>ere ich<br />
diese alte Dame, Zeugin <strong>und</strong> Symbol der kurzen,<br />
glamourösen Hochblüte des Kautschuks. Es muss<br />
<strong>ein</strong>e unglaubliche Zeit gewesen s<strong>ein</strong>!<br />
Manaus, Tage <strong>und</strong> Tage den Amazonas hoch,<br />
wurde zwar 1669 gegründet, aber erst 1848 zur<br />
Stadt erklärt. Schon ab 1840 setzte hier der<br />
Kautschukboom <strong>ein</strong>. Manaus entwickelte sich<br />
bald zu <strong>ein</strong>em blühenden Umschlagplatz, zur<br />
wichtigen Sammel- <strong>und</strong> Lagerstation der<br />
Kautschukballen. In Reiseberichten kann man<br />
lesen, dass sie die ganze Stadt mit ihrem<br />
charakteristischen Duft imprägnierten. Manaus<br />
war <strong>ein</strong>e aufblühende Stadt im Urwald, in den<br />
tropigsten Tropen, <strong>ein</strong> Anachronismus in sich,<br />
aber auch <strong>ein</strong> Stück hart erkämpfter Zivilisation, in<br />
die man sich flüchten konnte, wenn das Leben<br />
draußen zu unwirtlich war. Man kann nachlesen,<br />
dass Manaus <strong>und</strong> Belém auf dem Höhepunkt des<br />
Kautschukbooms die modernsten, fortschrittlichsten<br />
<strong>und</strong> am meisten kommentierten<br />
Städte Brasiliens waren. Sie waren so modern <strong>und</strong><br />
fortschrittlich, dass sie von den ersten waren, die<br />
elektrisches Licht <strong>und</strong> Straßenbahnen<br />
installierten. Symbole des Fortschritts, noch<br />
symbolträchtiger <strong>und</strong> gewichtiger, wenn man<br />
bedenkt, dass Brasilien zu dieser Zeit <strong>ein</strong>e r<strong>ein</strong>e<br />
Agrarnation war. Gerade 70 Jahre vorher hatte die<br />
Öffnung der Häfen für befre<strong>und</strong>ete Nationen<br />
stattgef<strong>und</strong>en. Der portugiesische Kaiser Don João<br />
VI war 1808 vor den Truppen Napoleons in die<br />
Kolonie geflüchtet. Er brachte nicht nur <strong>ein</strong>e<br />
riesige Bibliothek mit sich, sondern errichtete in<br />
der bis dahin in allen Belangen von Portugal<br />
gegängelten <strong>und</strong> komplett abhängig gehaltene<br />
Kolonie die ersten Universitäten, <strong>ein</strong>e Presse <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>e Staatsbank, die Banco do Brasil.<br />
Der ganze Boom hatte s<strong>ein</strong>e Wurzeln in Europa.<br />
Die Industrielle Revolution funktionierte wie <strong>ein</strong>e<br />
Lokomotive, die den Fortschritt anheizte. Sie<br />
verlangte nach tausenderlei Neuendwicklungen,<br />
<strong>ein</strong>e davon Latex, Gummi. Es war Charles<br />
Goodyear gelungen, in <strong>ein</strong>em speziellen<br />
Vulkanisierungsverfahren den Gummireifen zu<br />
entwickeln, der nun die Gummiproduktion <strong>und</strong><br />
damit das ganze Amazonasbecken in den Blick der<br />
Welt rückte. Es ging Schlag auf Schlag. 1866 ging<br />
die Schifffahrt auf dem Amazonas in die Hände der<br />
Engländer <strong>und</strong> Amerikaner über. Die Nachfrage<br />
nach dem Rohprodukt Kautschuk, extrahiert mit<br />
primitivsten Methoden mitten aus dem<br />
Regenwald, explodierte. Wer auf Kautschuk setzte,<br />
konnte mit astronomischen Gewinnen rechnen.<br />
Das wirkte wie <strong>ein</strong> Magnet auf viele Immigranten,<br />
reiche <strong>und</strong> arme, Abenteurer, Ausländer <strong>und</strong><br />
Brasilianer. Nach 1877 emigrierten Millionen von<br />
„Nordestinos“, besonders aus Ceará im<br />
brasilianischen Nordosten in den Amazonas. Sie<br />
flohen vor den schrecklichen Dürren, unter denen<br />
ihr Staat immer wieder litt. Sie wurden vom<br />
riesigen Ungeheuer Tropenwald verschlungen,<br />
absorbiert - höchst willkommen als „Seringeirios“,<br />
Gummizapfer, <strong>ein</strong>e Art Unterh<strong>und</strong>e, auf der<br />
untersten Stufe der Produktionskette. In ihrer<br />
gep<strong>ein</strong>igten Heimat hatten sie außer ihrem Leben<br />
nicht viel zu verlieren.<br />
Zudem war Brasilien war gerade dabei, sich<br />
endgültig von der Sklaverei zu befreien. (Das<br />
Gesetz des „Lei do Vente livre“ datiert von 1871<br />
<strong>und</strong> das Ende der Sklaverei wurde endlich 1888<br />
mit dem Lei Áurea verkündet). So wurden diese<br />
Immigranten zu Kautschukarbeitern ohne jegliche<br />
Rechte. Extrativistische, vorindustrielle<br />
Sammlertätigkeit, unter Lebensgefahr ausgeübt,<br />
erwartete sie. Quellen bestätigen, dass das Leben<br />
<strong>ein</strong>es Gummiarbeiters oft gar noch schlimmer<br />
gewesen s<strong>ein</strong> soll als das <strong>ein</strong>es Sklaven,<br />
besonders, wenn man die Risiken dazu rechnet,<br />
denen er mitten im Dschungel ausgesetzt war.<br />
Dem Kautschukboom aber versetzte der clevere<br />
Engländer Henry Wickhamm, aber schon bald den<br />
Todesstoß. Er schmuggelte, illegal natürlich,<br />
Gummibaumsamen nach England, wo sie in Kew<br />
Garden, dem königlichen Botanischen Garten<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 672
vermehrt <strong>und</strong> verbessert wurden. Von da aus<br />
wurden sie nach Malaysia, der englischen Kolonie<br />
verschifft, wo die geraubten Gummibäume in<br />
riesigen Plantagen angebaut wurden. Damit<br />
waren Brasilien sozusagen über Nacht die<br />
Geschäftsgr<strong>und</strong>lagen entzogen. Der industriell<br />
angebaute Kautschuk war dem aus der Wildnis<br />
heraus gebuckelten weit überlegen.<br />
Extreme Kontraste, soziale Ungerechtigkeiten,<br />
Ausbeutung <strong>und</strong> Freibeutertum sind typisch für<br />
jene Epoche, in der sich Kautschukbarone <strong>und</strong><br />
Händler, sie verdienten Ströme von Geld,<br />
Schwärmen <strong>und</strong> Schwärmen von Miserablen <strong>und</strong><br />
Untermenschen gegenüber standen, von<strong>ein</strong>ander<br />
abhängig waren, <strong>ein</strong> Muster, das sich bis auf den<br />
heutigen Tag in viel kl<strong>ein</strong>erer Skala noch immer<br />
wiederholt. Aber die Geschichte gehört den<br />
Erfolgreichen. Dieselben verdienten <strong>ein</strong> ihrem<br />
Reichtum entsprechendes Umfeld. Sie stampften<br />
dieses Manaus aus dem Boden, das, über Nacht<br />
sozusagen, explodierte, sott <strong>und</strong> sich damit für<br />
kurze Zeit in <strong>ein</strong> tropisches, <strong>ein</strong> Eiland der<br />
Zivilisation, <strong>ein</strong>e Hauptstadt des Dschungels<br />
verwandelte.<br />
Das Theater, versteckt hinter <strong>ein</strong>em wilden<br />
Gewirr elektrischer Leitungen <strong>und</strong> unschöner<br />
Lichtmasten, zeugt bis heute davon. Majestätisch,<br />
<strong>ein</strong>er Insel gleich, sticht es aus dem Meer der<br />
gesichtslosen Gebäuden heraus. Manaus ist bis<br />
heute nicht viel mehr als <strong>ein</strong>e Agglomeration, <strong>ein</strong>e<br />
Anhäufung von Gebäuden, <strong>ein</strong>e Stadt mit <strong>ein</strong>em<br />
sich selber überlassenen Zentrum, worin sie sich in<br />
nichts von anderen brasilianischen Städten<br />
unterscheidet. Das Theater aber besticht durch<br />
<strong>ein</strong>e exotische Schönheit, obwohl es eigentlich aus<br />
<strong>ein</strong>er überaus wilden Kollektion baulicher Stile <strong>und</strong><br />
Moden besteht. S<strong>ein</strong>e Architektur lässt k<strong>ein</strong>en<br />
Effekt aus <strong>und</strong> be<strong>ein</strong>druckt trotzdem. Das Dach<br />
mit s<strong>ein</strong>en vier Dachflächen, von <strong>ein</strong>em kurzen<br />
Turm mit <strong>ein</strong>er reich dekorierten Kuppel gekrönt,<br />
wirkt halb maurisch, halb Moschee. Die<br />
emaillierten Dachziegel in Grün, Blau, Gelb <strong>und</strong><br />
Ocker, <strong>ein</strong>e Hommage an die Farben der<br />
Brasilianischen Flagge, bestärken das Exotische.<br />
Praktisch das ganze Baumaterial, auch die Ziegel,<br />
letztere wurden aus dem Elsass, der Rest aus ganz<br />
Europa her geschifft: Die dekorativen Eisengitter<br />
stammen aus England, die Bronzen aus Belgien,<br />
die Kristallleuchter <strong>und</strong> Spiegel aus Murano.<br />
Rückt die rosafarbene Treppe in den Blick, legt sie<br />
den Baukörper frei, der an <strong>ein</strong> italienisches<br />
Renaissancepalazzi erinnert. Simpel, in <strong>ein</strong>em<br />
starken, königlichen Rosa bemalt, die<br />
Fensterstürze <strong>und</strong> Rahmen sind weiß akzentuiert.<br />
Der portugiesische Einfluss ist unverkennbar.<br />
Schließlich war das Gabinete Português de<br />
Engenharia e Arquitetura de Lisboa für die<br />
Konstruktion aus dem Jahre 1883 verantwortlich.<br />
Die Hauptfassade, dem großen Platz zugewandt,<br />
schwelgt im Prunk griechischer Säulen <strong>und</strong><br />
anderen hellenistischer Elemente. Die<br />
Innenausstattung steht dem in nichts nach. Das<br />
w<strong>und</strong>erschöne Holzparkett aus <strong>ein</strong>heimischem<br />
Tropenholz, es krönt den Innenausbau, bekam den<br />
edlen Glanz <strong>und</strong> die perfekte Form in Europa<br />
verpasst! Zurück verschifft konnte es dann in der<br />
Wildnis bestechen. Intarsien aus zweifarbigem<br />
Edelholz, dunkelstes, fast schwarzes Jacaranda<br />
<strong>und</strong> helles, klares Pau Marfim bilden zusammen<br />
mit allegorischen Deckenmalereien, sie<br />
glorifizieren die Schönen Künste <strong>Amazonien</strong>s,<br />
ellenhohe, elegante Spiegel <strong>und</strong> viel Stuck <strong>und</strong><br />
Gips <strong>ein</strong> verspieltes Ganzes voller Fru-fru, typisch<br />
für die Belle Époque. An den Wänden des<br />
großzügigen Zuschauerraumes prunken die<br />
Namen europäischer Poeten <strong>und</strong> Musiker. Einige<br />
von ihnen spielten, tanzten <strong>und</strong> musizierten hier.<br />
Auch Carlos Gomes, <strong>ein</strong>er der wenigen illusteren<br />
Brasilianer, dirigierte hier s<strong>ein</strong>e Opern.<br />
Wie es zu <strong>ein</strong>em Prachtbau dieser Größenordnung<br />
gehört, fehlt auch der riesige Ballsaal nicht. Heute<br />
tanzen auf s<strong>ein</strong>em kostbaren Parkett allerdings<br />
nur noch die Filzpantoffeln der Touristen, in der<br />
Mehrheit Ausländer. Kurioses Detail sind die<br />
buntfarbenen Spucknäpfe, die man zu dieser Zeit<br />
mit allergrößter Natürlichkeit benutzte. Beim<br />
Verlassen des Hauses über die majestätische<br />
Treppe, öffnet sich an deren Fuß <strong>ein</strong> riesiger<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 673
Platz, zeitlos <strong>und</strong> elegant. Erstarrte schwarzweiße<br />
Wellen, st<strong>ein</strong>erne Mosaike, der<br />
dekorativen Pflasterungen portugiesischer Städte<br />
nachempf<strong>und</strong>en. Inmitten des Platzes <strong>ein</strong><br />
Brunnen, dessen Figuren aus der Zeit allegorisch<br />
die Öffnung der Häfen feiern. Zwei Schiffe, die<br />
sich in der Mitte treffen, <strong>ein</strong>s mit dem Kopf <strong>ein</strong>er<br />
Sphinxs als Galionsfigur, das andere löwenköpfig.<br />
Vier Aufschriften, das Weltbild der Epoche<br />
spiegelnd: Europa, Amerika, Asien <strong>und</strong> Afrika.<br />
Andere, bessere Zeiten wieder spiegelt auch der<br />
Justizpalast gleich da drüben. Hoch über dem<br />
Niveau der Straße, Gelb <strong>und</strong> weiß, ernst,<br />
distanziert, hinter Gittern funktioniert heute<br />
Manaus hohe Gerichtsbarkeit. Weiter unten, dem<br />
Hafen zugewendet, der Palast vom Rio Negro.<br />
Vom Deutschen Waldemar Schulz, er gehörte zur<br />
Latexelite, in Auftrag gegeben, dient er heute mit<br />
s<strong>ein</strong>er luxuriösen Fassade <strong>und</strong> den ungezählten<br />
Mauernischen <strong>und</strong> Vorsprüngen als Sitz der<br />
Regierung. Waldermar Schulz soll, wie viele<br />
andere, sehr unter dem Zusammenbruch der<br />
Preise des Kautschuks gelitten haben.<br />
Auch das Theater hat schwere Zeiten hinter sich,<br />
ist <strong>ein</strong>e wirkliche Überlebenskünstlerin. Diente,<br />
zwischen 1944 <strong>und</strong> 1968 <strong>ein</strong>er amerikanischen<br />
Firma als Depot für Latex <strong>und</strong> Benzin! Die Wende<br />
kam wohl mit der 1967 installierten Zollfreizone,<br />
die Manaus mit Steuerbefreiungen zu <strong>ein</strong>em<br />
wichtigen Industriestandort machte. Heute strahlt<br />
das Theater, wiederhergestellt, in neuem Glanz,<br />
beherbergt verschiedene Festivals <strong>und</strong> Opern <strong>und</strong><br />
nennt <strong>ein</strong> erstklassisches Orchester s<strong>ein</strong> eigen.<br />
Gerne verrenken sich die leicht bekleideten<br />
Touristen heute etwas den Hals, wenn sie dafür in<br />
die geschichtsträchtige Atmosphäre der damaligen<br />
Urwaldhauptstadt <strong>ein</strong>tauchen können.<br />
Setze m<strong>ein</strong>en Spaziergang fort <strong>und</strong> stoße, am Ende<br />
des Platzes, auf <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zelnen, <strong>ein</strong>samen Wagen<br />
der Manaos Railway, ohne Schienen, verloren wie<br />
<strong>ein</strong> Fisch auf dem Trockenen. Steht da ohne<br />
Funktion, nostalgisch, pur <strong>und</strong> dekorativ, <strong>ein</strong><br />
letzter Zeuge ehemaliger Modernität. An der Stelle<br />
des Zielbahnhofes steht „Saudade“, traurige<br />
Sehnsucht, wie es der schweizer Schriftsteller<br />
Hugo Loetscher so treffend übersetzte.<br />
Saudades!<br />
auch<br />
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National Geografic <strong>und</strong> Belle Époque<br />
Der Regen setzt nie aus, nicht mal sonntags. Kaum<br />
beginnt die Sonne an den Pfützen zu lecken,<br />
türmen sich dramatisch drohend die nächsten<br />
Wolkenwände auf, pechschwarz, himmelhoch<br />
<strong>und</strong> schwer, tonnenschwer. So beladen, dass sie<br />
sich schon bald, n<strong>ein</strong>, jetzt gleich! erleichtern<br />
werden. Aber was soll´s. Das kommerzielle<br />
Zentrum r<strong>und</strong> um den Hafen von Manaus ist wie<br />
ausgestorben, auch wenn der Bus heute nur die<br />
Hälfte des normalen Fahrpreises, nämlich <strong>ein</strong>en<br />
Real, kostet. Von den Tausenden von<br />
Straßenhändlern sind nur die kl<strong>ein</strong>en Baracken<br />
übrig, die roten Plachen gut festgezurrt <strong>und</strong> sicher<br />
verschnürt. Sie malen die von den Regenmassen<br />
sauber gewaschenen <strong>und</strong> glitzernden Bürgersteige<br />
fre<strong>und</strong>licher.<br />
Die zerfallenen Fassaden in ausgewaschenem Rot<br />
der drei, vier ungleichen Gebäude gleich vor mir,<br />
<strong>ein</strong> Teil der Hafenanlage, sehen, ob’s wohl dem<br />
diffusen, grauen Regenlicht zuzuschreiben ist,<br />
heute noch trostloser <strong>und</strong> <strong>ein</strong>samer aus. Die<br />
angefressenen Ränder <strong>und</strong> das Dreckwasser<br />
kaschieren erfolgreich die wirkliche Tiefe der<br />
riesigen Pfütze. Entkomme, pures Glück, der hoch<br />
aufspritzenden Wasserfontäne, in der Kurve vom<br />
unachtsamen Rad des nächsten Busses<br />
hochgeworfen. Fast wäre ich von stinkenden<br />
Abwässern getauft worden, um endlich den<br />
Wachmann in s<strong>ein</strong>er cleanen Uniform um<br />
Erlaubnis zu bitten, denn ich will fotografieren.<br />
Die Gebäude befinden sich am hinteren linken<br />
Ende <strong>ein</strong>er Art Hof, der zum Parkplatz<br />
umfunktioniert wurde. Erlaubnis erhalten, kann<br />
ich näher treten. Springe da über noch <strong>ein</strong>e<br />
Wasserlache voller Bauabfällen <strong>und</strong> Müll. Hier<br />
treibt <strong>ein</strong>e Zeitung im Wasser, <strong>ein</strong>e Dose Bier,<br />
daneben <strong>ein</strong> Plastikbecher. Der Zustand der<br />
Häuserzeile, das erste Gebäude erinnert an <strong>ein</strong>e<br />
fantasievolle Imitation <strong>ein</strong>es Schlösschens aus dem<br />
Mittelalter, erweist sich von Nahem als noch<br />
dramatischer. Vom ehemaligen Glanz ist wenig<br />
übrig geblieben. Die enormen, massiven Blöcke<br />
aus Sandst<strong>ein</strong> des Bürgersteiges, die selben, die als<br />
Gewicht in den Schiffsbäuchen übers Meer kamen,<br />
zeugen von besseren Zeiten. Auch die Vordächer<br />
aus Zinkblech bewahren, auch wenn sie heute nur<br />
die ungezählten, hier abgestellten Ziehkarren der<br />
Lastenträger beschützen, noch <strong>ein</strong>ige ihrer<br />
charmanten viktorianischen Details, spitzige<br />
Lanzen, Dachreiter, filigran, aber aus<br />
unverwüstlichem Eisen geschnitten. Daneben<br />
blättert die gekachelte Hauswand vor sich hin.<br />
Bedauernd bew<strong>und</strong>ere ich die tausenderlei<br />
Details, Mauervorsprünge, Nischen <strong>und</strong> die<br />
typischen kl<strong>ein</strong>en, nur angedeuteten Balkönchen,<br />
jedes mit <strong>ein</strong>em hüfthohen Gitter, eigentlich<br />
<strong>ein</strong>fach bodenlange Balkonfenster im besten<br />
portugiesischen Stil, <strong>ein</strong>s ans andere gereihte<br />
R<strong>und</strong>bogenfenster, die massiven Türen, deren<br />
Farbe leise vor sich hin krümelt. Da, hoch oben im<br />
dritten Stock, wächst gar unbekümmert <strong>ein</strong><br />
Strauch aus dem Fenster. An der Längsseite <strong>ein</strong>e<br />
Emailtafel: Rua Monteiro de Souza <strong>und</strong> darunter<br />
der Name <strong>ein</strong>er Firma, ENASA, Flusstransporte,<br />
Passagiere <strong>und</strong> Fracht. Hier funktionierten, nur<br />
h<strong>und</strong>ert Jahre ist´s her, rappelvolle Lagerhäuser<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong> florierender Kommerz. Über allem lag<br />
<strong>ein</strong>e penetrant <strong>und</strong> stechend riechende Wolke -<br />
Kautschuk.<br />
Der Wächter erzählt mir, dass es auch <strong>ein</strong>e<br />
Straßenbahnstation gab. Das wiederum erklärt<br />
mir endlich den Zerfall <strong>und</strong> die Dekadenz der<br />
strategisch so gut gelegenen Gebäude, es sind<br />
öffentliche Gebäude oder sie gehören Firmen,<br />
die längst in Konkurs gegangen sind. Leider<br />
sch<strong>ein</strong>t es mal wieder, wie so oft in Brasilien,<br />
<strong>ein</strong>facher zu s<strong>ein</strong>, etwas abzureißen <strong>und</strong> an<br />
derselben Stelle etwas Neues hinzuklotzen,<br />
grandioser, moderner, zeitgemäßer. Das protzige<br />
Hochhaus aus Glas <strong>und</strong> Stahl des Ministeriums<br />
der Fazenda gleich da hinten illustriert das sehr<br />
gut. Schlimmer nur <strong>ein</strong> paar Straßen weiter oben<br />
das Colégio Dom Bosco, <strong>ein</strong>e katholische<br />
Privatschule, dessen grandioser, aber so<br />
unpraktisch <strong>und</strong> unzeitgemäßer Altbau aus der<br />
Belle Époque dem Verfall preisgegeben sch<strong>ein</strong>t,<br />
was noch stärker ins Auge sticht, weil daneben<br />
vom selben Colégio <strong>ein</strong> fensterloser Monsterbau<br />
hochgezogen wurde, <strong>ein</strong> Kultur- <strong>und</strong><br />
Sportzentrum, der mit s<strong>ein</strong>em riesigen<br />
R<strong>und</strong>bogen an <strong>ein</strong>en überdimensionierten<br />
Tempel erinnert.<br />
Wenig rettete sich aus der amazonischen Belle<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 683
Époque hinüber, die so brutal mit dem Ende des<br />
Kautschukbooms zusammenbrach, <strong>und</strong> alle <strong>und</strong><br />
alles mit sich in den Zerfall riss. Hier <strong>ein</strong> paar<br />
filigrane Zinkvordächer, <strong>ein</strong> paar viktorianische<br />
Eisengitter, in den leeren Fensterlöchern<br />
Bauschutt, Unkraut, Dreck <strong>und</strong> Abfall. Suche noch<br />
nach <strong>ein</strong> paar interessanten Winkeln, als sich der<br />
Wächter wieder nähert: - „Sind Sie vom „National<br />
Geografic“? – Danke für die Blumen! Welch<br />
fre<strong>und</strong>liche Überschätzung <strong>ein</strong>es bescheidenen<br />
Interesses an zerfallenden Halbruinen! Erzählt<br />
mir, die Vern<strong>ein</strong>ung verscheucht ihn nicht, von<br />
<strong>ein</strong>em Fre<strong>und</strong>, der Lehrer ist <strong>und</strong> sich, was für<br />
<strong>ein</strong>e Rarität, auch für diese verloren gegangene<br />
Vergangenheit interessiert. Er soll sogar <strong>ein</strong> Buch<br />
mit Bildern aus der Zeit haben! Da könne man die<br />
Straßenbahnen bew<strong>und</strong>ern, sehen, wie alles hier<br />
funktioniere <strong>und</strong> pulsiere. Für <strong>ein</strong>en kurzen<br />
Augenblick verlasse ich das Durch<strong>ein</strong>ander, die<br />
Verwahrlosung, unter der fast die ganze<br />
Hafenanlage leidet. Viele der offiziellen<br />
Linienschiffe bedienen ihre K<strong>und</strong>en skandalös<br />
<strong>ein</strong>fach an improvisierten Ständen unter freiem<br />
Himmel, am Kopf schmaler Treppen, die zu<br />
zweifelhaften Stegen führen, über die alles<br />
verladen wird, Passagiere <strong>und</strong> Fracht! Kann den<br />
stechenden, durch die Feuchtigkeit noch<br />
penetranteren Geruch riechen, den die<br />
allgegenwärtigen Katschukballen ausströmten,<br />
die hier verschifft werden. Sehe nun <strong>ein</strong>e gewisse<br />
Logik, <strong>ein</strong> Kommen <strong>und</strong> Gehen von Waren <strong>und</strong><br />
Personen, alles von Ausländern, in der Hauptsache<br />
von Engländern <strong>und</strong> Amerikanern organisiert, die<br />
den Hafen nicht nur konstruierten, sondern ihn<br />
auch gleich betrieben. Zwar begann die Öffnung<br />
der Häfen im historischen Jahr 1852, als der Kaiser<br />
Don Pedro II dem Visconde von Mauá das Recht,<br />
<strong>ein</strong> Monopol, zugestand, das Amazonasgebiet mit<br />
Schiffen zu befahren mit dem Ziel, die Grenzen zu<br />
sichern. Aber schon 1874 war es die Amazon<br />
Steam Navegation Compagny, die mit nordamerikanischem<br />
Kapital die Schifffahrtsrechte<br />
monopolisierte.<br />
Der Parkwächter flößt mir Hoffnung <strong>ein</strong>. Ich<br />
schließe aus dem zufälligen Gespräch, dass doch<br />
nicht alles verloren ist, besonders jetzt, da Manaus<br />
als <strong>ein</strong>e der Städte für die Fußballweltmeisterschaft<br />
2014 ausgewählt wurde. Später, schon auf<br />
der „Praça da Polícia“, oder offiziell „Praça<br />
Heliodoro Balbi“ genannt, strahlt <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Park<br />
mit <strong>ein</strong>em filigranen Pavillon <strong>und</strong> romantischen<br />
Brücken in neuem Licht <strong>und</strong> es gibt gar <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es<br />
Museum gleich dahinter. „Manaus Belle Epoque“<br />
ist der Name des Projektes. Schließlich wird das<br />
berühmte Theater, so verloren inmitten <strong>ein</strong>er<br />
gesichtslos-hässlichen Stadt, <strong>ein</strong> paar Pendants auf<br />
dem selben Niveau erhalten. Klar, nur die<br />
Touristen mit ihrem nie versiegenden Durst nach<br />
Geschichte, können das ändern.<br />
Der zentrale Gemüse-, Früchte-, Fleisch- <strong>und</strong><br />
Fischmarkt, auch <strong>ein</strong> paar Souvenirecken gab es,<br />
<strong>ein</strong>e Gebäudegruppe aus verschiedenen filigranen<br />
Markthallen aus Eisen, aus England importiert,<br />
sehr hübsch, <strong>ein</strong> paar Straßen weiter vorne, ist<br />
endlich auch, nach langer Wartezeit, voller kräftig<br />
zupackender Arbeiter. Höchste Zeit, denn die<br />
Händler wurden schon länger vertrieben. Verteilen<br />
sich, obdachlos geworden, in den umliegenden<br />
Straßen, überall, unter freiem Himmel. Beim<br />
Umbau soll übrigens im Dachstock <strong>ein</strong>er der<br />
Markthallen <strong>ein</strong>e endlose, gut genährte<br />
Riesenschlange gef<strong>und</strong>en worden s<strong>ein</strong>. K<strong>ein</strong><br />
W<strong>und</strong>er, an Ratten mangelt es hier kaum. In <strong>ein</strong>er<br />
ansteigenden Gasse gibt´s gar aus von<br />
Gemüsekisten übrig gebliebenem Holz <strong>und</strong> Karton<br />
improvisierte Bretterverschläge mit Betten <strong>und</strong><br />
da! das Treppengeländer auf der anderen Seite ist<br />
zur Wäschel<strong>ein</strong>e geworden, kürzlich gewaschene<br />
Wäsche trocknet hier zwischen <strong>ein</strong>em Regenguss<br />
<strong>und</strong> dem nächsten.<br />
In der Zwischenzeit tun die nächsten Sintfluten<br />
weiter ihr Werk. Waschen <strong>und</strong> rosten die eisernen<br />
Gitterstäbe, deren pittoreskes Grünblau auch ganz<br />
<strong>ein</strong>fach Grünspan s<strong>ein</strong> könnte. Aber wer weiß –<br />
wählte man nur den Winkel richtig, wartete <strong>ein</strong><br />
gnädiges, weichzeichnendes Licht ab, könnte <strong>ein</strong>er<br />
der <strong>Foto</strong>grafen des Nacional Geografic, wahre<br />
Genies ihres Faches, vielleicht aus dem Markt <strong>ein</strong>e<br />
Art romantische Engländerin machen, delikat <strong>und</strong><br />
da in den Tropen <strong>ein</strong>fach vergessen. Oder halt,<br />
eher Dornröschen, das, wie unromantisch, von der<br />
Fußballweltmeisterschaft nun wohl endlich wach<br />
geküsst werden wird.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 684
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 685
An der Bushaltestelle<br />
Wohl <strong>ein</strong>e Art Geheimcode? - Claro 10, Oi 15, Vivo<br />
12 16 06, Tim 15 10, Amazonia 10 15 20, Telemar<br />
20 40 – aha, das improvisierte handgeschriebene<br />
Plakat verkauft ganz <strong>ein</strong>fach Telefon- <strong>und</strong><br />
Handykarten. Noch kodifizierter schallt es an m<strong>ein</strong><br />
Ohr: “Picolé da massa, picolé da massa!” -<br />
Maulbeere, Passionsfrucht, Kokos, Cupuaçu, Açaí!<br />
Religiös betet der schon in die Jahre geratene<br />
Verkäufer den Singsang in regelmäßigen<br />
Intervallen herunter. Eis am Stiel! In so viele<br />
Geschmacksrichtungen! Sch<strong>ein</strong>t sich gut zu<br />
verkaufen - leider fehlt mir die Courage, von der<br />
Köstlichkeit auch zu kosten. Eine Mutter klaubt<br />
tief in ihrer altmodischen Börse nach <strong>ein</strong>em Real<br />
für jeden. Schon schlecken die spitzen Zungen<br />
zweier aufgeweckter Jungs mit deutlich<br />
indianischen Gesichtszügen das oben abger<strong>und</strong>ete<br />
Stängeleis. Der Mann hat es, unverpackt,<br />
<strong>ein</strong>s wie das andere fest durchgefroren, am<br />
kurzen Holzstängel aus dem improvisierten<br />
Bauchladen, <strong>ein</strong> Kasten aus Styropor, gezaubert.<br />
Schon hängt er ihn sich wieder um <strong>und</strong> ruft: –<br />
„Picolé da massa, picolé da massa!“.<br />
Schon übertönt ihn <strong>ein</strong>e andere Stimme, die<br />
Stimmlage um Nuancen penetranter. Sie besteht<br />
darauf, dass das Gift, das sie verkaufe, sowohl<br />
Katzen wie Ratten <strong>und</strong> gleich auch alles andere<br />
Getier töte. Der Mann weiter vorne wirbt für<br />
Erfrischungen. Ließ sich, so kommt endlich s<strong>ein</strong><br />
gesamtes Limonaden- <strong>und</strong> Wasserangebot<br />
wirklich zur Geltung, <strong>ein</strong> paar Ringe an den<br />
praktischen Handwagen löten. In denen klappert<br />
nun <strong>ein</strong> Muster s<strong>ein</strong>es Angebots. Je <strong>ein</strong>e leere<br />
Dose Cola, Guaraná <strong>und</strong> Fanta – Orange oder<br />
Traube? Dazu gibt´s auch den obligaten Becher<br />
Wasser <strong>und</strong> das selbe auch in kl<strong>ein</strong>en Flaschen, die<br />
wohl s<strong>ein</strong>en Hauptumsatz ausmachen, natürlich<br />
nur ohne Kohlensäure.<br />
Die meisten Männer, die hier Mögliches <strong>und</strong><br />
Unmögliches anbieten, arbeiten auf eigene<br />
Rechnung, informell, unregistriert. Die meisten<br />
haben die 50ig schon überschritten. Ich stehe am<br />
untersten Teil der steil zum Hafen abfallenden<br />
Straße im Zentrum von Manaus, zu <strong>ein</strong>em riesigen<br />
Busbahnhof umfunktioniert. Über die zwei von<br />
<strong>ein</strong>em zementierten Bord getrennten Pisten, <strong>ein</strong>e<br />
Art verkehrstechnisches Nadelöhr, stürzen sich<br />
wohl fast alle Buslinien der Stadt hinunter. Ich<br />
entnehme es den abgenützten, zerkratzten<br />
Metalltafeln, die in endlosen Reihen Busnummern<br />
auflisten. Dazu kommen die sich ständig<br />
erneuernden, wuselnden Menschenmassen, die<br />
sozusagen im Kollektiv auf ihren Bus warten.<br />
Letztere stoppen quietschend fast im Sek<strong>und</strong>entakt,<br />
schwungvoll <strong>und</strong> abrupt, nach <strong>ein</strong>er<br />
genussvollen Schussfahrt. Bremsen hart <strong>und</strong> brüsk,<br />
geheimnisvollerweise immer am richtigen Ort, an<br />
der ganzen Höhen verteilten fünf oder sechs<br />
Haltestellen. Türen schlagen auf, Türen schlagen<br />
zu, <strong>und</strong> schon schießen sie wieder davon,<br />
aufbrausend <strong>und</strong> kraftvoll Gas gebend, alles in<br />
frenetischem Rhythmus. Schneiden die<br />
hinderlich gerade stillstehenden Busse, brausen<br />
an ihnen vorbei, schon mit voller Geschwindigkeit.<br />
Bin mal wieder die Einzige, die sich von<br />
solchem rüpelhaften Fahrstil be<strong>ein</strong>drucken lässt.<br />
Hinter, vor <strong>und</strong> neben mir wimseln Passagiere<br />
nach allen Seiten. Überqueren ungeachtet der<br />
Gefahren todesmutig die zwei Pisten. Werfen<br />
sich winkend, es ist ihr Bus, fast vor s<strong>ein</strong>e Räder.<br />
Ist er ihnen unglücklicherweise gerade vor der<br />
Nase abgefahren, schlagen sie lautstark ans Blech<br />
der Türen. Ist der Fahrer gut gelaunt, haut er den<br />
Fuß auf die Bremse, öffnet die Tür noch mal,<br />
auch wenn der Kühler schon halb ausgeschert ist.<br />
Alles Gewohnheitssache! Endlose Wartezeiten<br />
werden, wie die unerträgliche Hitze stoisch <strong>und</strong><br />
gottgegeben hingenommen. K<strong>ein</strong>er stresst sich,<br />
viele unterhalten sich angeregt. Wer sich´s<br />
leisten kann, fährt sowieso Auto, natürlich mit<br />
der überlebensnotwendigen Klimaanlage! Die<br />
Unterbemittelten sind unter sich, was vielleicht<br />
auch erklärt, warum hier k<strong>ein</strong>er um <strong>ein</strong>en<br />
Groschen bittet, k<strong>ein</strong>es der Kinder um Almosen<br />
bettelt.<br />
Zu den visuellen Eindrücken gesellen sich die<br />
unterschiedlichsten Gerüche. Der appetitliche<br />
Bratenduft <strong>ein</strong>es „Churrasco de gato“,<br />
(„Katzenbarbecue“, volkstümlich für billige<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 686
Fleischspießchen, deren Herkunft zweifelhaft ist)<br />
kitzelt von der gegenüberliegenden Straßenseite<br />
herüber, regt m<strong>ein</strong>en Speichelfluss an. Denke<br />
sehnsüchtig an die appetitliche Kruste, das<br />
großzügig mit geschmorte Fett.<br />
Schon lässt sich da hinten am tief liegenden<br />
Horizont gerade die Sonne abrupt hinter die Stadt<br />
fallen. Badet für Minuten den gleißend verglasten<br />
Obelisk des Innenministeriums in zarte gelb <strong>und</strong><br />
rosa Töne. Ein Mann mit sehr dunkel getönter<br />
Haut baut sich vor mir auf. S<strong>ein</strong> schwarzes,<br />
aalglattes Haar, mit viel Brillantine gebändigt,<br />
verrät die indigene Abstammung. S<strong>ein</strong> Parfüm,<br />
altmodisch <strong>und</strong> schwer, großzügig aufgetragen,<br />
umhüllt mich. Vetiver, <strong>ein</strong> Duft, den hier viele<br />
Männer benutzen.<br />
Eines der allgegenwärtigen Handys schrillt los.<br />
Versuche wegzuhören. Vergeblich. Habe die<br />
zweifelhafte Ehre, die Verwicklungen <strong>und</strong><br />
Kümmernisse der halben Verwandtschaft<br />
mitverfolgen zu dürfen. Noch immer k<strong>ein</strong> Bus mit<br />
m<strong>ein</strong>er Nummer in Sicht. Die brütende Hitze<br />
bringt mich auf die, derselben Hitze wegen, doch<br />
wohl eher kl<strong>ein</strong>formatigen Oberteile der<br />
umstehenden Frauen. Sch<strong>ein</strong>en dicht über die<br />
mollig-r<strong>und</strong>lichen Oberkörper geklebt. Besonders<br />
dann, wenn sie wie die Mehrzahl um Nummern zu<br />
kl<strong>ein</strong> gekauft wurden. Die Körper platzen aus allen<br />
Nähten <strong>und</strong> doch - so wenig Stoff <strong>und</strong> solch <strong>ein</strong>e<br />
Vielfalt an Trägerhemdchen, Blüschen, Shirts <strong>und</strong><br />
Hängerchen! Auch sch<strong>ein</strong>t es k<strong>ein</strong>e zu stören,<br />
dass sie alle aus hochsynthetischem Material<br />
gefertigt sind, für die 35 Grad Lufttemperatur <strong>und</strong><br />
über 80 % Luftfeuchtigkeit genauso wenig<br />
geeignet wie die obligaten Jeans, in die sie alle<br />
ihre strammen Schenkel <strong>und</strong> knackigen Popos<br />
gequetscht haben.<br />
Der eitle junge Mann vor mir schlägt alle. S<strong>ein</strong><br />
rotes, im schönsten Hinterwäldlerschick aggressiv<br />
bedrucktes T-Shirt hat <strong>ein</strong>e geschickte Hand,<br />
Paillette um glänzende Paillette, mit dem<br />
orthografisch sehr frei nachempf<strong>und</strong>enen Namen<br />
“Tribuus d’Guerra” verschönt. Die Inspiration<br />
stammt wohl von den weit ausholenden Flügeln<br />
des in Schwarz <strong>und</strong> Grau aufgedruckten Kriegers. –<br />
“Picolé da massa, picolé da massa..... “ Und da<br />
braust ja auch schon m<strong>ein</strong> Bus daher....<br />
immer wieder.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 687
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Im Museum des Kautschuks<br />
Die Museumsführerin ist die Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong><br />
Geduld in Person. Empfängt die Touristen, die das<br />
kl<strong>ein</strong>e Schiff von der Marina do David hergebracht<br />
hat <strong>und</strong> integriert sie sogleich in den kl<strong>ein</strong>en<br />
R<strong>und</strong>gang durchs Freilichtmuseum. Hier im<br />
„Museu do Seringal“, am linken Ufer des Rio<br />
Negro gelegen, dreht sich alles um den<br />
Kautschuk. Äußerst didaktisch <strong>und</strong> anschaulich<br />
erzählt sie, wie sich <strong>ein</strong> Kautschukgewinner, unter<br />
ihnen viele Nordestinos, kurz nach Mitternacht,<br />
<strong>ein</strong>e Lampe auf dem Kopf, in den stockdunklen<br />
Wald aufmachte, wo er die Bäume anritzte <strong>und</strong><br />
die kl<strong>ein</strong>en Behälter zum Auffangen des Saftes<br />
anbrachte. Nachts war die Hitze erträglicher <strong>und</strong><br />
der Saft floss generöser. Den selben Pfad <strong>ein</strong><br />
zweites Mal ablief, diesmal am frühen Morgen,<br />
um den in den kl<strong>ein</strong>en Metalltrichtern aufgefangenen<br />
weißen Latex <strong>ein</strong>zusammeln. Zurück in<br />
s<strong>ein</strong>er Hütte, verklumpte er denselben über<br />
offenem Feuer zu kompakten Ballen, „Pelotas“<br />
genannt.<br />
K<strong>ein</strong> Leben, eher <strong>ein</strong>e Art Vorhölle sei es<br />
gewesen. Und schon gar k<strong>ein</strong>e Möglichkeit reich<br />
zu werden. Eine fremde, f<strong>ein</strong>dliche Welt mit<br />
Indios, exotischen Tieren <strong>und</strong> Pflanzen, dem<br />
strengen Regime der Barone <strong>und</strong> Zwischenhändler,<br />
den ausbeuterischen Kaufleuten<br />
ausgeliefert. Viele Kautschukgewinner starben<br />
sehr jung. Opfer von Schlangenbissen, tropischen<br />
Krankheiten <strong>und</strong> auch von Rauchvergiftungen, die<br />
sie sich beim Kautschukkochen zuzogen. Die<br />
Katuschukbarone dagegen wurden über Nacht<br />
unermesslich reich. Reisten regelmäßig nach<br />
Europa, von wo sie sich allen nur erdenklichen<br />
Komfort, von Möbeln über W<strong>ein</strong>, Geschirr <strong>und</strong><br />
Kleidern für ihre Damen <strong>und</strong> Geliebten<br />
mitbrachten.<br />
Der kl<strong>ein</strong>e Krämerladen mit der Waage, wo die<br />
Kautschukballen gewogen <strong>und</strong> sogleich gegen<br />
Lebensmittel <strong>und</strong> anderes Lebensnotwendige<br />
umgetauscht wurden, zeigt, wie abhängig die<br />
„Seringeiros“ gehalten wurden. Denn der<br />
allmächtige Besitzer des Herrenhauses mit<br />
Krämerladen legte nicht nur die Preise für den<br />
Kautschuk fest, sondern auch für die Waren. Dabei<br />
rechnete er natürlich immer zu s<strong>ein</strong>en Gunsten.<br />
Das Einzige, was hier zur Authentizität fehlt, ist der<br />
durchdringend beißende Geruch, den der frische<br />
Latex ausströmt, von so vielen Reisenden aus der<br />
Zeit des Kautschuks als das Charakteristische<br />
überhaupt beschrieben. Das w<strong>und</strong>erhübsche<br />
Museum, <strong>ein</strong>s als Filmkulisse gebaut, bekommt so<br />
nun heute <strong>ein</strong>e zweite Nutzung mit didaktischem<br />
Hintergr<strong>und</strong>.<br />
Obs.: Das Museum schließt früh, nach 16 Uhr wird<br />
der Betrieb <strong>ein</strong>gestellt. Eine Vorsichtsmaßnahme<br />
gegen jene Moskitos, die Leishmaniose <strong>und</strong><br />
Malaria verbreiten.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 693
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 694
<strong>Amazonien</strong><br />
isst<br />
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<strong>Amazonien</strong> isst<br />
Ode an die amazonischen Töpfe 702/703<br />
Cupuaçu 705<br />
Die Eisdiele 707<br />
Guaraná, der Energiedrink 709<br />
Maniok – die Vielfältige 717/718<br />
Das Haus der Farinha 724<br />
Heute ist Farinha-Tag 725<br />
Roter Açaí – weißer Açaí 734/735<br />
Der frischeste Fische der Welt! 741-743<br />
Remoso <strong>und</strong> andere Tabus 745<br />
Vom Salz 749/750<br />
Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte 752<br />
Der Brei 755<br />
Ein regionales Frühstücksbankett 757<br />
Köstliche Straßenkost 761<br />
X-alles inklusive 766<br />
Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets 772<br />
Der verspeiste Panther 774/775<br />
Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten 781<br />
Padres Büchse 786/787<br />
An den, der mich liest oder Der Jesuit 788<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 698
In Brasilien werden Orangen oft nicht gegessen, sondern ausgelutscht. Ein saftiges Vergnügen!<br />
Vor dem Auslutschen werden die Orangen geschält. Kunstfertig, schneidet das Messer –<br />
vom Körper weg – <strong>ein</strong>e hauchdünne Schicht der Orangenhaut herunter.<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 700
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 701
Ode an die amazonischen Töpfe<br />
<strong>Amazonien</strong> nimmt mich in kürzester Zeit für sich<br />
<strong>ein</strong>. Es erobert mich ganz <strong>ein</strong>fach über den<br />
Magen! Je mehr Früchte, Gemüse <strong>und</strong> Tuberkeln<br />
ich kennen lerne, desto faszinierter bin ich. Stehe<br />
da wie <strong>ein</strong> Kind, mit offenem M<strong>und</strong>. Bräuchte<br />
dringend jemand, dem ich all diese Neuigkeiten<br />
erzählen könnte. Atemlos <strong>und</strong> jeder Satz von<br />
<strong>ein</strong>em Ausrufezeichen begleitet! Die Vielfalt an<br />
mir unbekannten Esswaren <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />
ist schlicht überwältigend, <strong>ein</strong> Schlaraffenland!<br />
Alle kommen sie aus der Region. Außerhalb<br />
<strong>Amazonien</strong>s, zum Beispiel im Süden des Landes,<br />
sind sie so gut wie unbekannt.<br />
-„Stell dir vor, da gibt es unterarmlange, tief<br />
gefurchte Bohnen! Die pendeln von riesigen<br />
Bäumen! Wenn man die Bohnen um sich selber<br />
dreht, damit sie aufbrechen, kann man,<br />
aufgereiht wie auf <strong>ein</strong>er Perlenschnur, die Kerne<br />
sehen. Jeder Kern ist in weißen Flaum gebettet<br />
<strong>und</strong> den Flaum kann man essen! Er schmeckt süß<br />
<strong>und</strong> etwas wattig!“ Auf dem Markt sehe, rieche,<br />
koste ich anderes, vor allem Früchte. Ich liebe sie<br />
alle heiß <strong>und</strong> entdecke sie jeden Tag neu. Haben<br />
Sie gewusst, wie viele ganz unterschiedliche<br />
Bananen es gibt? Die kl<strong>ein</strong>ste <strong>ein</strong> Drittel so kl<strong>ein</strong><br />
wie die lang gezogenste? Das Riesenbüschel<br />
kurzer, dicker Langbananen, fast unterarmlang<br />
<strong>und</strong> sichelförmig, werben für sich selbst. Schon<br />
der Name zergeht mir auf der Zuge: „Banana<br />
comprida”, die lang gestreckte, m<strong>ein</strong>e absolute<br />
Favoritin. Sie ist unanständig lang <strong>und</strong> läuft in<br />
<strong>ein</strong>er schnabelartigen Verlängerung aus. Ist ihre<br />
Schale fast schwarz, ist sie genau richtig für die<br />
Bratpfanne oder den Grill, denn roh ist sie<br />
ungenießbar. Gebraten oder gebacken schmeckt<br />
auch die dicklich gedrungene „Figo” oder „Banana<br />
da Terra”, die Landpomeranze, besser als im<br />
Naturzustand. Die „Banana Prata”, die<br />
Silberbanane, gilt als die Königin der Bananen. Sie<br />
ist schlanker, gleich halb so groß wie die<br />
langgestreckte <strong>und</strong> schmeckt bananig süß. Die<br />
kl<strong>ein</strong>ste, kurz wie wulstige Finger, ist die „Ouro”,<br />
die Goldbanane, auch eher süßlich. Dann gibt es<br />
noch die „São Tomé”, die <strong>ein</strong>e dunkelrötliche, fast<br />
lila Schale hat, die „Maçã”, die fast wie die „Prata”<br />
schmeckt, <strong>und</strong> schließlich die „Nanica” oder<br />
Wasserbanane, die uninteressanteste, die es auch<br />
in Europa in jedem Supermarkt zu kaufen gibt.<br />
Verkauft werden sie gleich dutzendweise <strong>und</strong><br />
k<strong>ein</strong>er nimmt es <strong>ein</strong>em übel, wenn man die<br />
Früchte vor dem Kauf diskret mit zwei Fingern<br />
drückt. N<strong>ein</strong>, die sind noch zu unreif....<br />
Was den Bananen an Vielfalt recht ist, kann den<br />
Zitrusfrüchten nur billig s<strong>ein</strong>. Die klassischen<br />
Orangen, die Brasilianer kaufen sie gleich 10 kgweise,<br />
sind die Saftorangen. Fünf, sechs Stück<br />
ergeben <strong>ein</strong> schönes Glas zuckersüßen Saftes, den<br />
es auch in der <strong>ein</strong>fachsten Bar immer frisch gibt.<br />
Bitte nur nicht vergessen, dass ihn die Brasilianer<br />
obligatorischerweise mit Eis <strong>und</strong> Zucker trinken.<br />
Die gleichen Orangen werden auch zur Feijoada,<br />
dem Bohnennationalgericht serviert: Gewaschen,<br />
wird ihnen zuerst der Boden <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Deckel<br />
abgeschnitten <strong>und</strong> dann mit dem Messer<br />
großzügig die restliche Schale, vom Körper weg!<br />
Dann werden sie ausgelutscht. Die Grenzen von<br />
Orangen zu den verschiedenen Limettentypen<br />
<strong>und</strong> Zitronen sind fließend. Da gibt es zum<br />
Beispiel die kl<strong>ein</strong>e “limão bravo”, eigentlich <strong>ein</strong>e<br />
Limette, die knallorangefarben wird, <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
ausgeprägte, explodierende Säure hat. Fast in<br />
Vergessenheit geraten ist die köstlich-bittere<br />
„Laranja da terra“. Man bekommt sie höchstens<br />
auf ländlichen Märkten oder findet sie in<br />
verwilderten Hinterhöfen. Sie gilt als<br />
blutr<strong>ein</strong>igend <strong>und</strong> medizinal. Ihre Bitterkeit passt<br />
w<strong>und</strong>erbar zu <strong>ein</strong>er Caipirinha. Die gelbe Zitrone,<br />
die Limão galego hat <strong>ein</strong>e unregelmäßig<br />
aufgeworfene Schale, die an Pockennarben<br />
erinnert. Sie wird hier <strong>ein</strong>zig <strong>und</strong> all<strong>ein</strong> dazu<br />
benutzt, Fisch oder Huhn zu „waschen”. Das<br />
heißt unangenehme Gerüche vor dem Kochen zu<br />
neutralisieren.<br />
Weiter vorne freue ich mich über die stark<br />
orange, rot oder gelbfarbene Traube<br />
„Pupunhas“, pingpongballgroße, dickschalige<br />
Kokosnüsschen, <strong>ein</strong>e der vielen essbaren<br />
Palmfrüchte. Pupunhas isst man gekocht. Sie<br />
schmecken fast <strong>ein</strong> wenig wie <strong>ein</strong>e ölige<br />
Kartoffel. Der Verkäufer gräbt s<strong>ein</strong>en Nagel ins<br />
Fruchtfleisch. Je öliger der hinterlassene<br />
Abdruck, desto besser. Auch wenn sie schon von<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 702
<strong>ein</strong> paar Vogelschnabelhieben gezeichnet sind,<br />
sieht er das als gutes Zeichen: Die cleveren<br />
Viecher suchen sich immer die Besten aus!“<br />
„Tucumã”, etwas größer, auch <strong>ein</strong>e Palmfrucht, ist<br />
in Manaus überall anzutreffen. Die lederne Schale<br />
der ockerfarbenen Kokosnuss, etwa so groß wie<br />
<strong>ein</strong>e Aprikose, wird in Spiralen runter geschnitten<br />
<strong>und</strong> gleich aus der Hand oder in den<br />
unterschiedlichsten Kombinationen, z.B. in<br />
Sandwiches verspeist. Schmeckt fremdartig,<br />
holzig <strong>und</strong> ölig aber lecker. Der „Tucumã“ des<br />
Staates Pará dagegen ist leuchtend orange. Sehr<br />
faserig, sehr fettig schmeckt er süßlich <strong>und</strong> wird<br />
zu Saft oder Eis verarbeitet. Die <strong>ein</strong>zige eher<br />
gewöhnungsbedürftige Frucht aus dem Norden ist<br />
„Murici“. Ein unschuldig gelbes Früchtchen, sehr<br />
fetthaltig, das je nach Typ leicht nach<br />
verdorbenem Käse schmeckt! Aber mit der Zeit<br />
gewinne ich alle lieb. Auch die köstlich-bitteren<br />
Piquiás, die normalerweise im Reis mitgekocht<br />
werden <strong>und</strong> diesem <strong>ein</strong>e gelbliche Farbe geben.<br />
Die meterlangen Okraschoten oder die<br />
lilafarbenen, die ich nur hie <strong>und</strong> da ergattere. Der<br />
<strong>ein</strong>heimische Spinat, der Affenohr heißt <strong>und</strong><br />
knackig schmeckt <strong>und</strong> m<strong>ein</strong>e geliebten dunkellila<br />
Carás, die man hier nur zum Frühstück oder<br />
Nachmittagskaffee genießt.<br />
Welche der Früchte <strong>und</strong> Gemüse wirklich aus<br />
Südamerika kommen, ist umstritten. Dass die<br />
Portugiesen <strong>ein</strong>e rege „Bio-Piraterie” betrieben,<br />
das heißt, Nutzpflanzen aus Europa <strong>und</strong> Asien<br />
nach Brasilien brachten <strong>und</strong> umgekehrt, ist<br />
bekannt. Die besten Beispiele sind die<br />
Schlangenbohnen, die Mangos, der Jambo, dessen<br />
Frucht mehr wie <strong>ein</strong>e Blume schmeckt. Auch die<br />
Jaca ist <strong>ein</strong> Import aus Asien. Die langgezogenen,<br />
armlangen <strong>und</strong> oberschenkeldicken Jacafrüchte<br />
wachsen nicht an Ästen, n<strong>ein</strong> sie sprießen direkt<br />
aus der Rinde des Stammes. Ihr Fruchtfleisch<br />
strömt <strong>ein</strong>en eigenartig exotischen Duft aus. An<br />
den Schnittstellen sondern sie <strong>ein</strong>en eklig<br />
klebrigen Kautschuk ab, der lange Fäden zieht. Der<br />
unfehlbare Trick, um das Klebzeug runterzukriegen?<br />
Speiseöl, da geht der Leim <strong>ein</strong>fach runter.<br />
Auch die Mangos kommen aus Asien, sind aber in<br />
ihrer Vielfalt kaum zu übertreffen. Jede Region hat<br />
ihre Spezialitäten. Es gibt kl<strong>ein</strong>ere, normalerweise<br />
mit harter Schale <strong>und</strong> vielen Fasern <strong>und</strong> riesige mit<br />
sehr viel parfümiertem Fruchtfleisch, Manga rosa<br />
<strong>und</strong> Coração de boi, Rinderherzenmango. Es gibt<br />
Sorten, die außen grün bleiben, auch wenn sie<br />
schon reif sind. Ihr Fruchtfleisch ist goldgelb – <strong>ein</strong><br />
schöner Kontrast. Andere färben sich gelb, orange<br />
oder rot. Haben die ursprünglicheren Sorten viele,<br />
sehr viele Fasern, die sich zwischen die Zähne<br />
setzen, wie m<strong>ein</strong>e Großmutter es wohl<br />
ausgedrückt hätte, haben Neuzüchtungen fast<br />
k<strong>ein</strong>e. Ihre Namen variieren je nach Region:<br />
„Espada”, Schwertmango, „Coquinho”,<br />
Kokosmango usw... Ein Fan soll, wie kürzlich zu<br />
lesen war, in s<strong>ein</strong>em Obstgarten nicht weniger als<br />
zweih<strong>und</strong>ert verschiedene Mangoarten<br />
versammelt haben!<br />
Kl<strong>ein</strong>e Vitaminbomben sind die “Açerolas”, kl<strong>ein</strong>e<br />
kirschartige Beeren, rot <strong>und</strong> säuerlich. Sie eignen<br />
sich für Saft oder zum aus der Hand essen.<br />
Herrlich sauer schmeckt auch die hier im Süden<br />
weniger bekannte „Taperebá”. Ein orangenes<br />
Früchtchen, oval, etwa so groß wie <strong>ein</strong>e<br />
Stachelbeere, <strong>ein</strong>es riesigen Baumes, dessen<br />
dünne Schicht Fruchtfleisch von Hand oder<br />
moderner im Mixer runter geschnitten wird, bis<br />
man <strong>ein</strong> f<strong>ein</strong>es, säuerliches Püree hat, das mit<br />
Wasser verdünnt <strong>und</strong> mit viel Zucker versüßt<br />
getrunken wird, oder für Nachspeisen<br />
Verwendung findet. Andere Früchte sind noch<br />
ungewöhnlicher, zum Beispiel grüngelb, r<strong>und</strong>,<br />
mit stumpfen Hörnchen, wie <strong>ein</strong>e stachlige<br />
Kugel, wie der „Biribá“ <strong>und</strong> „Graviola”, aus der<br />
Familie der Atas. Sie sehen aus wie von <strong>ein</strong>em<br />
anderen Stern.<br />
Andere haben <strong>ein</strong>e st<strong>ein</strong>harte Schale, um leckere<br />
Kerne oder Nüsse zu beschützen. Oder müssen,<br />
wie die Königin der Früchte, der „Bacurí”, dessen<br />
blendend weißes, parfümiertes Fruchtfleisch gar<br />
in mühevoller Handarbeit vom Kern runter<br />
geschabt werden. Ein paar Millimeter nur, für <strong>ein</strong><br />
paar h<strong>und</strong>ert Gramm der Frucht müssen<br />
unzählige Früchte geöffnet <strong>und</strong> geschabt<br />
werden. Aber es lohnt sich.<br />
Willkommen im Schlaraffenland!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 703
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 704
Cupuaçu<br />
Da, drüben, was verkaufen sie denn da? Zuerst<br />
fällt mir der eigentümliche Geruch auf. Schwer,<br />
fruchtig-säuerlich, deliziös-penetrant <strong>und</strong><br />
exotisch beißt er mich in die Nase. Dann bleibe<br />
ich, unbehaglich <strong>und</strong> fasziniert zugleich, vor der<br />
Frau stehen. Sie sitzt auf <strong>ein</strong>em wackligen Podest,<br />
im Schneidersitz, unter <strong>ein</strong>em improvisierten<br />
Sonnendach. Zwischen die B<strong>ein</strong>e hat sie sich <strong>ein</strong><br />
blaues Plastikbecken geklemmt. In der <strong>ein</strong>en<br />
Hand hält sie <strong>ein</strong>e metallene Schere, mit der<br />
anderen hält sie das weiße Fruchtfleisch fest.<br />
Plopp, schon wieder fällt <strong>ein</strong> ca. 3 cm langer, r<strong>und</strong><br />
zulaufender brauner Kern ins Becken. Routiniert<br />
schneidet die Schere weiter. Schneidet das<br />
cremeweiße Fleisch vom nächsten Kern herunter.<br />
Jetzt fällt der Groschen – „Cupuaçu!“ Die<br />
beliebteste Frucht <strong>Amazonien</strong>s!<br />
Magisch erschnuppert ihn m<strong>ein</strong>e Nase, lange<br />
bevor ich ihn sehe. So exotisch wie der Name,<br />
schwer beschreibbar, fruchtig säuerlich, deliziöspenetranter<br />
Geschmack-Geruch, tief <strong>ein</strong>gekerbt<br />
ins Duftgedächtnis, <strong>ein</strong>e der typischsten<br />
Erinnerungen an den Amazonas. Schwül <strong>und</strong><br />
parfümschwer bannt er <strong>ein</strong>em auch dann, wenn<br />
das blendende Fruchtfleisch noch von der<br />
samtbraunen, hölzernen Schale geschützt ist.<br />
Unverändert übersteht das Parfüm alle<br />
Verarbeitungsprozesse. Jeder Schluck oder Bissen,<br />
den ich schleckend-schlucke, beschenkt mich mit<br />
dem selben deliziös-penetranten, fruchtigen<br />
Parfüm.<br />
Der Cupuaçu ist der Bruder des Kakaos. Auch s<strong>ein</strong>e<br />
Kerne könnten zu Schokolade verarbeitet werden.<br />
Allerdings ist es bis heute nur sehr kl<strong>ein</strong>en<br />
Unternehmen gelungen, die “Cupulate” genannte<br />
Schokolade so zartschmelzend zu machen wie die<br />
aus Kakao. Das ganze ist nichts Neues. Früher gab<br />
es in Belém <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Fabrik, die<br />
Cupuaçu-Schokolade herstellte. Längst hat sie vor<br />
der übermächtigen internationalen Konkurrenz<br />
kapituliert. Heute werden die Samen des<br />
Cupuaçus mehrheitlich in Kakaobutter<br />
umgewandelt, der in der Kosmetikindustrie<br />
Verwendung findet.<br />
Der Cupuaçu schläft, wie viele andere indigene<br />
Früchte hier s<strong>ein</strong>en tiefen Dornröschenschlaf<br />
weiter, denn nicht mal in Südbrasilien kann ich<br />
s<strong>ein</strong> w<strong>und</strong>erbar säuerliches Fruchtfleisch kaufen....<br />
Die wissen nicht, was ihnen entgeht!<br />
Xxxxx<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 705
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 706
Die Eisdiele<br />
Wofür soll ich mich nur entscheiden? Die Auswahl<br />
ist schlicht überwältigend. Staunend stehe ich vor<br />
dem riesigen, etwas zusammengeflickt<br />
aussehenden Schild. Eigentlich möchte ich nur <strong>ein</strong><br />
Eis. Ganz <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong> kühles, cremiges Eis! Aber<br />
die Liste der Geschmackssorten ist so lang wie<br />
exotisch. Weniger als die Hälfte der Aromen sind<br />
mir auch nur vom Hörensagen bekannt. Hinter <strong>ein</strong><br />
paar der angepriesenen Köstlichkeiten sind<br />
Punkte geklebt, andere sind durchgestrichen. In<br />
ganz traditionellen Eisdielen ist die Speisekarte<br />
sowieso handgeschrieben. Denn das Angebot ist<br />
so groß wie saison- <strong>und</strong> angebotsabhängig.<br />
Unerschöpflich wechselt es jeden Tag. Es hat, so<br />
lange es hat. Manchmal lohnt es sich, zurückzufragen.<br />
Es kann ja vorkommen, dass man<br />
vergessen hat, die Liste zu aktualisieren. Auch<br />
kl<strong>ein</strong>e Probeportionen werden auf plastikenen<br />
Babylöffeln gerne angeboten.<br />
Denn - soviel weiß ich schon: So exotisch, wie sie<br />
heißen, so fremdländisch schmecken sie auch –<br />
parfümiert, säuerlich oder mit <strong>ein</strong>em Stich<br />
ungewohnter Exotik, gar faulig oder käsig.<br />
Genüsslich lasse ich mir die verschiedenen<br />
indigenen Namen auf der Zunge zergehen:<br />
Cupuaçu, Açaí, Sapotilha <strong>und</strong> Bacuri, Taparebá,<br />
Murici, Uxi, Abacaxi. Übersehe gefliessentlich so<br />
gewöhnliches wie Paranusseis, gar Erdbeere <strong>und</strong><br />
Schokolade, auch weiße. Apropos, es gibt gar<br />
<strong>ein</strong>en „Brigadeiro Suíço“ <strong>ein</strong>en „Schweizer<br />
Brigadier (<strong>ein</strong> hoher militärischer Grad)“, der<br />
sicher aus Schokolade <strong>und</strong> Kondensmilch (!)<br />
besteht. S<strong>ein</strong> Aroma ist wohl identisch<br />
schokoladig- ultra-süß wie die kl<strong>ein</strong>en Kugeln, die<br />
bei k<strong>ein</strong>em Kinderfest fehlen.<br />
M<strong>ein</strong>e absoluten Favoriten sind Açaí branco,<br />
eigentlich khakifarben, <strong>ein</strong>e seltene Art Açaí, fast<br />
immer durchgestrichen...., <strong>und</strong> Bacuri. Wer es<br />
gerne konventioneller mag, der kann auch Kokos-,<br />
Avocado-, Ananas-, Mais-, Maracujá- <strong>und</strong><br />
Paranusseis genießen, denn alles, was Obst, Frucht<br />
oder Palmfrucht ist, wird hier zu Eis. Natürlich gibt<br />
es daneben auch Sahneeis, Eis aus purer<br />
Kondensmilch, „Creme de Leite“, „Flocos“, aus<br />
Tapioca <strong>und</strong> gemischtes Eis wie Paraense, halb<br />
Tapioca halb Açaí oder „Mestiço“ <strong>und</strong> Carimbó,<br />
Paranuss mit Cupuaçu.<br />
Immer noch unschlüssig? Wie wäre es mit <strong>ein</strong>er<br />
Probeportion? Gerne reicht der Verkäufer <strong>ein</strong>e<br />
kl<strong>ein</strong>e Versuchung auf <strong>ein</strong>em bunten Winzlöffel.<br />
Der Spruch, malerisch in Form <strong>ein</strong>e Eises an die<br />
Schiefertafel gemalt, ist mir zwar etwas zu<br />
moralisch, aber er passt gut hierher: „A vida é<br />
como um sorvete. Aproveita antes que derreta.“ –<br />
Das Leben ist wie <strong>ein</strong> Eis. Mach Gebrauch davon,<br />
bevor es zergeht.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 707
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 708
Guaraná, der Energiedrink<br />
- „Wie es denn nun in Europa gewesen sei?“ –<br />
„Oh, ganz schön! Doch! Aber kannst du dir<br />
vorstellen – da gibt es k<strong>ein</strong> Guaraná! Nirgendwo<br />
gibt es Guaraná!“ – Guaraná, sozusagen die<br />
alkoholfreie Version der Caipirinha, ist das<br />
brasilianische Nationalgetränk,. Es gibt das<br />
limonadeähnliche Erfrischungsgetränk bis in die<br />
hinterste, abgelegene Ecke Brasiliens.<br />
Von der Farbe starken Schwarztees, so populär<br />
<strong>und</strong> klebrig süß wie Coca-Cola, nicht von ungefähr<br />
wird es vom selben Produzenten <strong>und</strong> vielen<br />
anderen Konkurrenten, unter den unterschiedlichsten<br />
Namen hergestellt <strong>und</strong> vertrieben. Hier<br />
im Norden überlebt noch <strong>ein</strong>e der wenigen<br />
lokalen Guaranámarken: Baré. Und es kann<br />
durchaus vorkommen, dass das Restaurant<br />
irgendwo im Nirgendwo nur zwei alkoholfreie<br />
Getränke anzubieten hat: Wasser <strong>und</strong> Baré.<br />
Guaraná, nicht nur in Form des Erfrischungsgetränkes,<br />
sondern in Form von Pulver oder Sirup,<br />
trifft man hier im Norden überall. Guaraná<br />
enthält Koff<strong>ein</strong> <strong>und</strong> gilt deshalb als natürlicher<br />
Energiespender, als leistungsfördernd. Ihm wird<br />
nicht nur zugeschrieben, jegliche Müdigkeit zu<br />
vertreiben, sondern auch die Stimmung <strong>und</strong> noch<br />
ganz andere Dinge zu heben. In populären Bars<br />
werben lange Listen mit <strong>ein</strong>deutig-fantasievollen<br />
Namen für die mit Guaraná gemixten<br />
Energiedrinks. Sie nennen sich vollm<strong>und</strong>ig<br />
„Chlorophyl“, „Afrodisíaco“, „Turbinado“, „100 %<br />
radikal“ oder „Naturviagra“ <strong>und</strong> versprechen, den<br />
stärksten Mann, <strong>und</strong> nicht nur den, aufzurichten.<br />
Schließlich enthalten sie zum Beispiel neben dem<br />
obligaten Guaraná in Pulverform auch gemahlene<br />
Paranüsse <strong>und</strong>/oder geröstete Erdnüsse, werden<br />
zu wahren Kalorienbomben, angereichert mit<br />
Milchpulver <strong>und</strong> die im Volksm<strong>und</strong> <strong>ein</strong>schlägig<br />
beleumdete „Catuaba“, <strong>ein</strong>e Medizinalpflanze <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong> oder zwei Wachteleier! Alles zusammen wird<br />
gut in den allgegenwärtigen Mixern frisch<br />
gemischt <strong>und</strong> für den besseren Geschmack gerne<br />
mit lokalen Säften, Eis <strong>und</strong> dem obligaten Zucker<br />
ergänzt. Da merkt wirklich k<strong>ein</strong>er mehr, dass pures<br />
Guaraná-Pulver wie gemahlenes Holz schmeckt.<br />
Guaraná ist <strong>ein</strong> strauchartiges, dekoratives<br />
Lianengewächs, dessen reife Samenkapseln nach<br />
dem Aufspringen <strong>ein</strong> dunkles Auge entblößen. Das<br />
beste Guaraná soll aus Maués, ca. 250 km von<br />
Manaus, kommen. Wie so vieles kannten schon<br />
die Indigenen die Guaranásamen <strong>und</strong> ihre potente<br />
Wirkung. W<strong>und</strong>erschön ist die Lende, <strong>ein</strong>e von<br />
vielen, die sich die Indios zur Entstehung des<br />
Guaranás erzählen: Ein Indiopaar bat Tupã, den<br />
König der Götter, um <strong>ein</strong>en Sohn. Erhört, wuchs<br />
das Kind zu <strong>ein</strong>em schönen, generösen <strong>und</strong> guten<br />
jungen Mann heran. Das Paar wurde, vielleicht<br />
gerade deswegen, von Juruparí, dem Gott der<br />
Dunkelheit, um s<strong>ein</strong> Glück beneidet. Eines schönen<br />
Tages, der Junge war gerade dabei, reife Früchte<br />
zu pflücken, übermannte der Hass den dunklen<br />
Gott. Er verwandelte sich in <strong>ein</strong>e Giftschlange<br />
<strong>und</strong> vergiftete den Jungen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />
Biss. Das Unglück löste <strong>ein</strong> heftiges Unwetter<br />
aus, <strong>ein</strong>e Botschaft Tupãs. Er befahl, die Augen<br />
des Kindes in feste Erde zu pflanzen, damit<br />
daraus <strong>ein</strong>e bis dahin unbekannte Pflanze<br />
wachse, die nützliche Früchte tragen werde. Die<br />
<strong>ein</strong>gegrabenen Augen solle man während vierer<br />
Monde mit den Tränen der Hinterbliebenen<br />
netzen, bis die Pflanze, welche Jungen Kraft gäbe<br />
<strong>und</strong> die Alten stärke, zu sprießen begänne. Die<br />
roten Samen der Pflanze aber legten beim<br />
Aufspringen <strong>ein</strong>en weißen Augapfel mit <strong>ein</strong>em<br />
schwarzen Auge frei, Erinnerung an den<br />
unglücklichen jungen Mann, der nun so lange<br />
weiterlebt, wie es Guaraná gibt.<br />
Wenn es nach den Brasilianern geht, wird es<br />
wohl nie außer Mode kommen, <strong>und</strong> unsere<br />
Reisende wird vielleicht gar auf <strong>ein</strong>er nächsten<br />
Europareise nicht mehr auf <strong>ein</strong> so vorzügliches<br />
Getränk verzichten müssen.<br />
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Maniok – die Vielfältige<br />
Wenn ich „Farinha“ höre, das Produkt aus<br />
Maniok, fällt mir immer wieder das lustig-listige<br />
Lied von Xanghai <strong>ein</strong>: „Se a farinha fosse<br />
americana ....,“ Wenn Farinha aus Amerika<br />
käme... . Ja, wenn die ach so lokale Farinha aus<br />
Amerika käme! Ja, dann bräuchte sie weder<br />
Werbung noch <strong>ein</strong>e eigene Musik! Alle würden ihr<br />
zujubeln, sie würde vor allem in Shoppings<br />
verkauft <strong>und</strong> viele würden lange Schlangen in<br />
Kauf nehmen, nur um sie zu genießen! Sie wäre<br />
so beliebt <strong>und</strong> begehrt wie Hamburger, Pizza oder<br />
Coca-Cola! Bekäme <strong>ein</strong>heitliche Qualitätsstandards,<br />
<strong>ein</strong>e Herkunftsbezeichnung <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Gütesiegel! Wäre <strong>ein</strong> Star, so ganz anders, als das<br />
Armeleute-Essen, als das sie heute gilt.<br />
Für viele Leute aus dem Amazons ist Farinha –<br />
noch! - viel wichtiger als Brot, <strong>ein</strong> wirkliches<br />
Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel. Es gibt tausenderlei<br />
Farinhas, hellere, gelbere, gröbere, f<strong>ein</strong>ere, aber<br />
nur hier im Norden gibt es die leckeren,<br />
knackigeren oder knusprigen „Farinhas d’água“<br />
(Wassermehl, weil die Maniokwurzel im Wasser<br />
fermentiert). Auf allen Märkten werden sie offen<br />
in recycelten, seitlich herunter gerollten<br />
Mehlsäcken angeboten <strong>und</strong> jeder hat so s<strong>ein</strong>e<br />
Vorliebe. Wer kosten will, bevor er kauft, wirft<br />
sich mit drei Fingern etwas Farinha in den M<strong>und</strong>.<br />
Farinha passt <strong>ein</strong>fach zu allem. Reis <strong>und</strong> Bohnen,<br />
ohne Farinha? – Undenkbar! In sehr <strong>ein</strong>fachen<br />
Haushalten wird Farinha morgens in den Kaffee<br />
gerührt, zum Mittagessen zusammen mit Açaí<br />
aufgetischt <strong>und</strong> manche mögen die ultrasüßen<br />
Nachspeisen, gar Wassermelone nur zusammen<br />
mit Farinha. Oder wie man hier zu sagen pflegt -<br />
über Geschmack streitet man sich nicht, man kann<br />
ihn höchstens bedauern. Kenne allerdings k<strong>ein</strong>en,<br />
der <strong>ein</strong>er leckeren „Farofa com ovo“, <strong>ein</strong>er in<br />
Butter angerösteten, knusprigen Farinha mit<br />
zerpflücktem Ei widerstehen kann. Auch die<br />
„Mojica“, das klassische Restengericht, Fischreste,<br />
Fischabsud <strong>und</strong> viel Koriander, <strong>ein</strong>gedickt mit<br />
Farinha, kommt immer gut an. Wird die selbe<br />
Suppe mit Fleisch zubereitet, hat sie den<br />
w<strong>und</strong>erbaren Namen „Caldo de Caridade“ - Suppe<br />
der Nächstenliebe.<br />
Es gibt zwei Typen von Maniok, die Manihot<br />
esculenta <strong>und</strong> die Manihot utilissima. Aus beiden<br />
wird viel mehr als nur Farinha hergestellt. Beide<br />
stammen, wie der Mais <strong>und</strong> die Kartoffeln, aus<br />
Südamerika. Sie wurden seit Urzeiten von den<br />
indigenen Stämmen angebaut, veredelt verbessert<br />
<strong>und</strong> in immer neuen Varianten gezüchtet. Und die<br />
Sache noch komplexer zu machen, die Manihot<br />
esculenta, auch böse Maniok genannt, ist<br />
hochgiftig. Sie enthält tödliche Blausäure. Es war<br />
die indigene Bevölkerung, der es gelang, das Gift<br />
durch die unterschiedlichsten Verarbeitungsmethoden<br />
unschädlich zu machen.<br />
Eine der indigenen Lenden erzählt, woher die<br />
Maniok stammt. Die Maniokwurzel wuchs auf<br />
dem Grab <strong>ein</strong>es von <strong>ein</strong>em weißen Mann mit<br />
<strong>ein</strong>er India gezeugten Kindes, das, Frucht <strong>ein</strong>es<br />
Fehltrittes, der umgebracht <strong>und</strong> da begraben<br />
wurde. Ob es nun der Sünde oder der ihm<br />
nachgew<strong>ein</strong>ten bitteren Tränen zu verdanken ist,<br />
dass die Wurzel, die entstand, giftig wurde,<br />
darüber driften die Lenden allerdings<br />
aus<strong>ein</strong>ander. Wie auch immer. Die<br />
Maniokpflanze ist äußerst genügsam, was<br />
Bodenbeschaffenheit <strong>und</strong> Feuchtigkeit anbetrifft.<br />
Sie gedeiht ohne großen Aufwand <strong>und</strong> Pflege<br />
auch auf armen Böden. Die Maniokwurzel<br />
allerdings ist, <strong>ein</strong>mal geerntet, sehr leicht<br />
verderblich. Es gibt weiße <strong>und</strong> gelbe, gar<br />
butterweiche Varianten, jede mit eigenem<br />
Verwendungszweck. Die Urbevölkerung wandelt<br />
sie in die verschiedensten Produkte um. Es gibt<br />
Tucupi, pulverf<strong>ein</strong>e „Goma“ für die<br />
Tapiocafladen, knusprige Tapiocaflocken, die<br />
unterschiedlichsten Arten altmodischer „Beiju<br />
sicas“, trockenes amazonisches Knäckebrot <strong>und</strong><br />
natürlich die überaus nährstoffreiche Farinha,<br />
das Mehl. All diese Produkte halten sich<br />
monatelang frisch.<br />
Auch die Blätter der Maniokpflanze, auch die<br />
enthalten Blausäure, werden verwendet. Auf<br />
dem Ver-o-peso kann man die siebenfingrigen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 717
Blätter des Maniokstrauches zu riesigen<br />
dunkelgrünen Bergen aufgehäuft sehen. Die<br />
werden, da gleich vor Ort, durch den Wolf<br />
gedreht <strong>und</strong> als „Maniva crua“ portionsweise<br />
verkauft. Wer es weniger folkloristisch mag, kauft<br />
sie schon vorgekocht im Supermarkt. Mitten<br />
zwischen den Gestellen brodeln in riesigen<br />
Hexenkessel braun-schwarze Breie vor sich hin,<br />
deren Aussehen erschreckend an flüssige<br />
Kuhfladen erinnert, wäre da nicht der köstliche<br />
blättrige Geruch der „Maniba“, mitten<br />
im Kochprozess. „Maniba“, das weiß hier jedes<br />
Kind, muss sieben Tage, <strong>ein</strong>e ganze lange Woche<br />
lang (!) vor sich hin kochen, damit ihre tödlichgiftige<br />
Blausäure chemisch umgewandelt wird<br />
<strong>und</strong> verdampft. An den letzten Tage des<br />
Kochprozesses werden dem grünen Brei dann die<br />
selben Fleisch- <strong>und</strong> Wurstsorten der Feijoada, wer<br />
mag, findet auch Verwendung für Kutteln,<br />
Sauohren <strong>und</strong> –schwänzen, beigegeben.<br />
Zusammen mit Reis, scharfer Pfeffersauce <strong>und</strong><br />
natürlich Farinha ist <strong>ein</strong>es der lokalen<br />
Nationalgerichte, die „Maniçoba“ fertig.<br />
Wird in Südbrasilien nur die süße Maniok<br />
verwendet, so ist hier im Norden vor allem die<br />
giftige Art beliebt. Sie wird nie unprozessiert<br />
gegessen, denn die Blausäure muss zerstört<br />
werden. Dazu werden die Knollen tagelang<br />
gewässert, am besten in <strong>ein</strong>em fließenden<br />
Gewässer. Dann werden sie geschält <strong>und</strong><br />
gerieben. Die geriebene Masse wird in <strong>ein</strong> langes,<br />
flexibles, schon von den Indigenen entwickeltes<br />
„Rohr“, das „Tipití“ gefüllt. Der langgezogene<br />
Behälter ist so raffiniert ingeniös geflochten, dass<br />
er, am <strong>ein</strong>en Ende festgemacht <strong>und</strong> am anderen<br />
verdreht, sich lang <strong>und</strong> länger auszieht <strong>und</strong> dabei<br />
den gelblichen Saft, der leckere, säuerliche<br />
„Tucupí“ auspresst. Dieser Saft wird stehen<br />
gelassen, wobei sich die „Goma“, <strong>ein</strong> hauchf<strong>ein</strong>es<br />
Pulver, auf dem Gr<strong>und</strong> absetzt. Der Tucupi wird<br />
dann sorgfältig abgegossen, aufgekocht <strong>und</strong> in<br />
recycelten Petflaschen, nie passt die Farbe des<br />
Deckels zum kl<strong>ein</strong>en Rest des Plastikverschlusses,<br />
der auf der Flasche zurückbleibt, oder im<br />
Offenverkauf verkauft. Guter Tucupí ist von<br />
dicklich grün-gelber Farbe <strong>und</strong> sollte möglichst<br />
nicht in den hier leider überall gebräuchlichen<br />
Alupfannen gekocht werden, denn dann wird er<br />
grau. Man kann auch kl<strong>ein</strong>ere Flaschen mit<br />
Pfefferfrüchtchen kaufen, die sich in Tucupí<br />
perfekt konservieren.<br />
Der blendend weiße Bodensatz, die pulverf<strong>ein</strong>e<br />
„Goma“ wird entweder feucht für die<br />
pfannkuchenähnlichen Tapiokafladen verwendet<br />
oder getrocknet. Für Tapiokafladen wird das<br />
angefeuchtete Mehl <strong>ein</strong>fach in die heiße Pfanne<br />
gesiebt, gesalzen, <strong>und</strong> ballt sich w<strong>und</strong>ersam in<br />
<strong>ein</strong>er Minute durch die Einwirkung der Hitze zu<br />
<strong>ein</strong>em delikaten, mehr oder weniger dicken<br />
Pfannkuchen zusammen. Etwas Butter oder<br />
Kokosmilch dazu oder raffiniert gefüllt, das<br />
glutenfree-Frühstück ist fertig. Ein anderer Prozess<br />
rollt das f<strong>ein</strong>e Mehl so lange, bis es sich in<br />
styroporähnlichen Kugeln, Tapiokaflocken, weiß<br />
<strong>und</strong> knusprig, die an schlankes Popkorn erinnern<br />
zusammenballt. Auch Sago gehört in diese Familie.<br />
Tapiocaflocken gehören unbedingt in den Açaí <strong>und</strong><br />
sind auch für Brei <strong>und</strong> Süßspeisen unabdingbar.<br />
Was im Tipiti als ausgepresster Rest zurückbleibt,<br />
wird zu Farinha. Kommt zum Trocknen <strong>und</strong><br />
Toasten auf tischhohe Bleche hüfthoher Öfen, wo<br />
es unter ständigem Wenden <strong>und</strong> Aufwerfen so<br />
lange erhitzt wird, bis es knusprig <strong>und</strong> knackig ist<br />
<strong>und</strong> sich wochenlang hält, jene köstliche Farinha,<br />
knusprige Farinha d´água, oder auch zu riesigen<br />
Pfannkuchen, Beijou genannt, getrocknet. Aus<br />
diesen Beijous wiederum wird zu Festtagen <strong>ein</strong><br />
Getränk vergärt, hochkomplex in der Herstellung,<br />
das die unterschiedlichsten Zusammensetzungen<br />
<strong>und</strong> Namen hat: „Tarubá“ oder „Maniquera”,<br />
“Pajuaru” oder “Caxiri”. Die ganz groben Reste, die<br />
übrig bleiben, werden auch geröstet <strong>und</strong> dann im<br />
Mörser zu hauchf<strong>ein</strong>em Pulver, „Cruera“ genannt,<br />
zerstoßen.<br />
Übrigens – <strong>ein</strong> letzter Tipp: Haben Sie sich aber in<br />
der Schärfe des hier allgegenwärtigen Pfeffers getäuscht?<br />
Es gibt k<strong>ein</strong> besseres Gegenmittel, als<br />
<strong>ein</strong>e Handvoll Farinha. Schon ist das Brennen<br />
gebannt.<br />
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Das Haus der Farinha<br />
Im Hinterland haben viele Leute <strong>ein</strong> Haus der<br />
Farinha, „uma Casa de farinha“, in dem sie für den<br />
Eigenbedarf <strong>und</strong>/oder zum Verkauf Farinha<br />
herstellen. Normalerweise ist es etwas vom<br />
Haupthaus zurückversetzt, eigentlich mehr <strong>ein</strong><br />
Pavillon, ohne Trennwände, nur mit Palmblättern<br />
überdacht. Der Ofen ist <strong>ein</strong>fach, r<strong>und</strong> oder<br />
rechteckig gemauert, <strong>und</strong> wird von hinten mit<br />
Holz befeuert.<br />
Heute kann ich zum ersten Mal den ganzen<br />
Prozess mitverfolgen. Das Anwesen ist <strong>ein</strong>fach,<br />
die Frauen des Hauses lassen sich nicht blicken,<br />
sind in der offenen Küche am Geschirr spülen.<br />
Werfen uns hie <strong>und</strong> da <strong>ein</strong>en misstrauischen Blick<br />
zu. Auch die drei H<strong>und</strong>e, <strong>ein</strong>ige in erbarmungswürdigem<br />
Zustand, wie so viele hier, bleiben auf<br />
Distanz. Aber der Hausherr ist ganz in s<strong>ein</strong>em<br />
Element. Er produziert fast wöchentlich Farinha.<br />
Auf der nackten Erde des Hofes picken frei<br />
laufende Hühner <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e kurzb<strong>ein</strong>ige Ente<br />
schnappt sich geschickt Fruchtfleisch aus <strong>ein</strong>er<br />
herumliegenden Mango. Weiter hinten hängen<br />
leere Säcke auf <strong>ein</strong>er L<strong>ein</strong>e zum Trocknen.<br />
Ist die Maniokwurzel reif, für jedes Endprodukt<br />
gibt es nicht nur die perfekte Wurzel, sondern<br />
auch den richtigen Zeitpunkt, kann es losgehen.<br />
Für Farinha werden die ungeschälten Knollen<br />
St<strong>und</strong>en oder Tage lang <strong>ein</strong>geweicht. Die Schale<br />
lässt sich danach, es hat <strong>ein</strong> Gärungsprozess<br />
<strong>ein</strong>gesetzt, ohne Probleme abstreifen. Verwendet<br />
man süße, ungiftige Maniok, so fällt das Wässern<br />
weg <strong>und</strong> die Knollen werden wie hier, im Kreis <strong>und</strong><br />
im männlichen Kollektiv geschält <strong>und</strong> dann<br />
gerieben. Dann wird der ganze Segen durch die<br />
mechanisierte Reibe getrieben. Die Hände halten<br />
die Knollen ganz nah an die scharfen Messer. Es<br />
gibt k<strong>ein</strong>en Schutz für die Finger oder er wurde, zu<br />
unpraktisch, abmontiert. Das entstandene Mus<br />
wird in recycelte Mehlsäcke gefüllt <strong>und</strong> in der<br />
ebenfalls mechanisierten Holzpresse so lange<br />
ausgepresst, bis es fast trocken ist. Der Saft wird<br />
nicht verwendet. Er versickert, von <strong>ein</strong>em Rohr<br />
weggeleitet, in der nackten Erde.<br />
Die ausgepresste Masse wird in <strong>ein</strong>en riesigen<br />
hölzernen Zuber geleert. Immer wieder geht <strong>ein</strong>er<br />
der Hilfskräfte hinters Haus <strong>und</strong> feuert das hoch<br />
lodernde Feuer im Ofen nach, schiebt noch <strong>ein</strong>en<br />
Ast ins züngelnde Feuer. Denn nun kommt der<br />
letzte Schritt. Mit dem leeren Panzer <strong>ein</strong>er armen<br />
zum Festbraten gewordenen Schildkröte schöpft<br />
<strong>ein</strong>er der beiden Gehilfen die Masse auf <strong>ein</strong><br />
viereckiges Sieb. So werden gröbere, nicht<br />
zerkl<strong>ein</strong>erte Stücke aussortiert. Lage um Lage siebt<br />
das viereckige Gitter Maniokmehl aufs heiße Blech<br />
des hüfthohen Holzherdes. Zwei oder drei<br />
Hilfskräfte wenden, stoßen <strong>und</strong> schieben das Mehl<br />
ständig hin <strong>und</strong> her. Werfen es dazwischen in<br />
hohem Bogen mit den riesigen Schabern auf, <strong>ein</strong><br />
richtiger Tanz, so dass es von allen Seiten gut<br />
geröstet wird. Das ständige Durchmischen <strong>und</strong><br />
Aufwerfen verhindert, dass sich zu dicke<br />
Klumpen bilden, lässt die Farinha gleichmäßig<br />
toasten <strong>und</strong> trocknen. Auch das letzte<br />
Gift verflüchtigt sich, von der Bruthitze<br />
verdampft. Gut gelüftet <strong>und</strong> ausgekühlt, ist die<br />
Farinha nun fertig für den Konsum. Sie wird in<br />
riesige Säcke abgefüllt. Die selben, die ich später<br />
in langen Reihen auf dem Markt wieder finde.<br />
Ach, <strong>und</strong> die unappetitlich über den Zaun<br />
gehängten Fettstreifen? Das ist Talg. Damit wird<br />
der Ofen in regelmäßigen Abständen neu<br />
<strong>ein</strong>gefettet.<br />
Nun fehlt nur noch <strong>ein</strong>e Farinhadegustation.<br />
Wohl das Exotischste, Trockenste, das man sich<br />
denken kann. Kann ihnen aber aus eigener<br />
Erfahrung versichern, dass man auf den<br />
Geschmack kommt. Je frischer <strong>und</strong> knackiger,<br />
desto besser!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 724
Heute ist Farinha-Tag<br />
Im Hinterland weiß jeder, welcher Wochentag der<br />
Farinha-Tag ist. Hier in Obidos ist es der<br />
Donnerstag. Der Hausherr, hier geht der Mann<br />
des Hauses zu Markte, bestellt mich früh, am<br />
besten vor sieben, zum Marktbesuch, auch wenn<br />
die Markthalle sozusagen um die Ecke, drei<br />
Straßen abwärts Richtung Hafen liegt. Am Abend<br />
vorher, wir sitzen versammelt auf den betonen<br />
Treppenstufen vor dem Eckhaus, biegen immer<br />
wieder hochbeladene Lastwagen um die steil<br />
abfallende Kurve. Ganz oben auf den zu Bergen<br />
aufgetürmten Säcken liegen <strong>und</strong> sitzen auch<br />
immer <strong>ein</strong> paar Personen. Sie bringen ihre<br />
wöchentliche Farinhaproduktion in die große<br />
Stadt. Ein Teil davon wird direkt weiterverkauft,<br />
der riesige Rest geht nach Manaus, den Amazonas<br />
hoch. Was Eingeweihten klar ist, muss ich erst<br />
lernen. Je frischer, desto besser ist die Farinha.<br />
Und sozusagen vom Blech weg schmeckt sie<br />
nochmal so gut.<br />
Der frühe Morgen lässt die Tageshitze<br />
zwar ahnen. Die leise Brise macht die<br />
Atmosphäre aber noch erstaunlich angenehm.<br />
Unter <strong>ein</strong>em behelfsmäßigen Dach der Markt,<br />
ziemlich improvisiert. Ist, trotz der frühen St<strong>und</strong>e,<br />
schon in vollem Gange. Wie stumme Soldaten<br />
stehen die weißen, schritthohen Säcke in Reih<br />
<strong>und</strong> Glied. Die sorgsam herunter gerollten Ränder<br />
geben <strong>ein</strong>e Idee von Überfluss <strong>und</strong> Fülle. Oben<br />
auf dem fast überschwappenden Berg thront <strong>ein</strong><br />
Maßbecher, der “Liter”, stellt den Inhalt des<br />
Sackes zur Schau. Blütenweiße, staubf<strong>ein</strong>e Goma,<br />
kugelr<strong>und</strong> knackige Tapioca <strong>und</strong> überall, grob- <strong>und</strong><br />
f<strong>ein</strong>körnigere Farinhas, appetitlich eidottergelb<br />
oder cremefarben <strong>und</strong> bleicher warten auf<br />
K<strong>und</strong>en. Es gibt tausenderlei Typen, gröbere <strong>und</strong><br />
f<strong>ein</strong>ere, aber nur hier im Norden gibt es die<br />
leckeren, knackigeren oder knusprigen „Farinhas<br />
d’água“ (Wassermehl, weil die Maniokwurzel in<br />
fließendem Wasser fermentiert). Wer kosten will,<br />
bevor er kauft, steckt s<strong>ein</strong>e Hand in den gelben<br />
Hügel, nimmt sich mit drei Fingern etwas Farinha<br />
heraus <strong>und</strong> wirft es sich, was durchaus<br />
wortwörtlich zu verstehen ist, in den M<strong>und</strong>. Kaut<br />
<strong>und</strong> kostet <strong>und</strong> wenn es schmeckt, kauft er <strong>ein</strong>en<br />
Liter oder mehr davon, denn abgemessen wird in<br />
leeren Soyaöldosen. Willkommen sind sie alle,<br />
jeder hat so s<strong>ein</strong>e Vorlieben, aber immer davon im<br />
Haus, denn sie kommt fast zu jeder Mahlzeit auf<br />
den Tisch.<br />
Da es sich um <strong>ein</strong> echtes Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />
handelt, so wichtig wie Brot oder Kartoffeln in<br />
Europa, kaufen <strong>und</strong> verspeisen manche Familien<br />
mehrere Liter, <strong>ein</strong>en ganzen Sack Farinha pro<br />
Woche. Farinha kann monatelang gelagert<br />
werden, ohne s<strong>ein</strong>en Geschmack zu verändern.<br />
Wird so zum unverzichtbaren Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />
<strong>und</strong> der perfekte Reiseproviant.<br />
Probiere auch all die von anderen Märkten längst<br />
verschw<strong>und</strong>enen kl<strong>ein</strong>geschnittene Streifen aus<br />
Farinhafladen. Die dunklen Punkte lasse ich mich<br />
belehren, sind geriebene Paranusssprenkel. Halt<br />
<strong>und</strong> diese r<strong>und</strong>en Fladen da? Auch aus Farinha?<br />
Ja, das sind die trockenen Beijous, <strong>ein</strong>e Art<br />
luftgetrocknete, st<strong>ein</strong>harte Tapiocas, w<strong>und</strong>erbar<br />
säuerlich, die man monatelang aufbewahren<br />
kann. Beijou mole, weiche Beijous türmen sich,<br />
von <strong>ein</strong>em Plastik geschützt, daneben auf. Auch<br />
sie sind mit Paranüssen gesprenkelt. Auch “Pé de<br />
Moleque”, der Jungenfuß wird verkauft. Im<br />
Bananenblatt gebacken, wird er aus der Masse<br />
der vergorenen Maniok hergestellt. Das macht<br />
ihn w<strong>und</strong>erbar säuerlich. Flach, etwa fingerdick,<br />
die Oberfläche etwas glasig oder gummig, ist er<br />
deutlich weniger süß als die traditionellen<br />
Maniokkuchen. Letztere werden mit Kokosmilch<br />
hergestellt.<br />
Ich kaufe von allem. Der Hausherr greift nur <strong>ein</strong>,<br />
um zu garantieren, dass der Liter, das Schöpfgefäß,<br />
besonders bei den Beijous, “<strong>ein</strong>en<br />
großzügigen Kopf kriegt”, das heißt, so hoch <strong>und</strong><br />
voll geschöpft wird, dass k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Eckchen<br />
mehr r<strong>ein</strong> passt. Wupps dann <strong>ein</strong>fach in noch<br />
<strong>ein</strong>e weiße Plastiktüte gekippt. Zum Schluss noch<br />
<strong>ein</strong> paar hochzerbrechlicher Kekse, die es in allen<br />
Formen gibt, sie erinnern an kl<strong>ein</strong>e Kissen, dazu<br />
gesteckt. Am leckersten schmeckt die<br />
angenehme, delikate Säure der Beijous, die,<br />
obwohl stocktrocken <strong>und</strong> ungesalzen, eigenartig<br />
ihren Eigengeschmack wahren.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 725
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 726
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 727
Açaípflücker, hoch oben im Baum<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 728
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Roter Açaí – weißer Açaí<br />
Die trockenen, matt-blau-schwarz wie Lakritze<br />
schimmernden Bällchen heben sich scharf von<br />
den saftgrünen Bananenblättern ab, mit denen<br />
die luftigen Körbe ausgeschlagen sind. Es ist früh,<br />
noch sehr früher Morgen. Noch wird es dauern,<br />
bis der Tag graut. Aber der Açaí-Markt, hier auf<br />
der anderen Seite des Hafens mitten im Zentrum<br />
von Belém ist schon länger in vollem Gange. Es<br />
herrscht <strong>ein</strong> emsiges Treiben. Am Kai legt gerade<br />
noch <strong>ein</strong> gedrungenes Boot an, gießt<br />
Menschenmassen auf die Promenade. Männer<br />
tragen, buckeln, hiefen Korb um Korb, randvoll,<br />
an Land. Reihen sie säuberlich <strong>ein</strong>er neben den<br />
anderen auf. Die w<strong>und</strong>erschönen Körbe sind<br />
altmodisch geflochten, so kann die Luft<br />
ungehindert zirkulieren, der Inhalt, Açaí, auch<br />
weißer Açaí ist darunter <strong>und</strong> Bacaba, bleibt frisch.<br />
Manche haben kunstvolle, turbanartige<br />
Aufbauten, mit Pflanzenstängeln genauso<br />
kunstvoll abgesichert.<br />
Gleich bei der Ankunft wird mir klar, wie es hier zu<br />
<strong>und</strong> her geht. Zimperliches ist für andere. Der<br />
Taxifahrer hat mal wieder k<strong>ein</strong> Wechselgeld.<br />
Nichts <strong>ein</strong>facher als das. Haue den nächststehenden<br />
Mann an. Der zieht ohne Zögern <strong>ein</strong><br />
fünf Zentimeter dickes Bündel Sch<strong>ein</strong>e aus der<br />
Hosentasche. Zählt <strong>ein</strong> paar kl<strong>ein</strong>ere Noten ab.<br />
Hier wird noch bar <strong>und</strong> sicher ohne Quittung<br />
bezahlt. Wie man es mit den Steuern hält, bleibt<br />
Betriebsgeheimnis. Açaí ist in Belém <strong>ein</strong> wichtiger<br />
Wirtschaftsfaktor. Der Markt funktioniert so gut,<br />
dass es hier, im Gegensatz zu anderen Teilen des<br />
Amazonas, das ganze Jahr über frischen Açaí gibt.<br />
Auch <strong>ein</strong>e richtige Börse, die täglich den<br />
Handelspreis festlegt, gibt es. Der Tagespreis des<br />
Açaís wird auch jeden Tag in allen Zeitungen <strong>und</strong><br />
im lokalen Radio veröffentlicht. Hier am Hafen<br />
kaufen Großhändler <strong>und</strong> Supermärkte genauso <strong>ein</strong><br />
wie all die kl<strong>ein</strong>en Hinterhofbüdchen, die jeden<br />
Tag aufs neue frischesten Açaí produzieren. Das<br />
geheimnisvolle System der Produzenten, die<br />
ihrerseits von <strong>ein</strong>em Netz der Händler <strong>und</strong><br />
Zwischenhändler, „Atravessadores“, abhängig<br />
sind, ist für Außenstehende <strong>und</strong>urchschaubar.<br />
Alles noch so, wie ehemals, als Açaí noch<br />
bezahlbar war <strong>und</strong> noch nicht zum Modegetränk<br />
avanciert. Es war, zusammen mit Farinha, das<br />
tagtägliche Brot des Caboclos, die die Technik der<br />
Zubereitung mit Sicherheit von den Indios lernten.<br />
Beliebt ist Açaí auch bis heute noch oder wieder zu<br />
<strong>ein</strong>em guten Stück Fleisch oder Fisch, die können<br />
altmodischer Weise auch <strong>ein</strong>gesalzen s<strong>ein</strong>.<br />
Moderne <strong>und</strong> stättische Haushalte essen Açaí eher<br />
als Nachspeise, dann auch gesüßt.<br />
Açaí ist nichts anderes, als die hauchf<strong>ein</strong>e,<br />
dunkelschwarze Schale <strong>ein</strong>es kl<strong>ein</strong>en<br />
Kokosnüsschens von der Größe <strong>ein</strong>er Kichererbse.<br />
Es wächst in lockeren Dolden am „Açaízeiro“, <strong>ein</strong>er<br />
dünnstämmigen Palmenart. Diese Schale wird<br />
abgerieben <strong>und</strong> in Wasser aufgelöst, bis <strong>ein</strong> dicker<br />
Brei entsteht. Wer das erste Mal von der<br />
dunkelroten, dickflüssigen Masse isst, lokal <strong>und</strong><br />
pur, staunt. Erdig, hölzern, so dick, dass der<br />
Löffel fast darin stecken bleibt. Vom Leckersten,<br />
was es gibt!<br />
Auf die ganze Stadt verteilt signalisieren<br />
<strong>ein</strong>fachere, abgerissenere oder kitschig grelle<br />
Fahnen <strong>und</strong> Tafeln, dass man hier Açaí verkauft.<br />
Nur.... Traditionelerweise stellen kl<strong>ein</strong>e,<br />
halbindustrialisierte Handwerksbetriebe Açaí her.<br />
Oft nicht mehr als kl<strong>ein</strong>e Verschläge <strong>und</strong><br />
Hinterhöfe, <strong>ein</strong> fensterloser Raum mit Tür. Sie<br />
verarbeiten hier die morgens in aller<br />
Herrgottsfrühe frischestens angelieferten<br />
Kokosnüsschen. Açaí ist sehr verderblich.<br />
Morgens abgerieben ändert sich nachmittags<br />
schon der Geschmack, abends ist er sauer <strong>und</strong><br />
damit unverkäuflich. Frischen Açaí gibt es<br />
deshalb nur so lange es hat, normalerweise bis<br />
14h00 Uhr oder so. Bleibt was übrig, kann man<br />
es mit Glück tiefgefroren nach Hause<br />
mitnehmen.<br />
Will man Açaí genießen, lohnen sich <strong>ein</strong> paar<br />
Vorsichtsmaßnahmen. Leisten Sie den<br />
misstrauischen Instruktionen Einheimischer<br />
Folge. Nicht alle Verkaufsstellen sind ausreichend<br />
hygienisch, benutzen gefiltertes Wasser usw…<br />
Heute steht gar in der Zeitung, dass die lokale<br />
Ges<strong>und</strong>heitsaufsichtsbehörde gestern<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 734
verschiedene Açaí-Verkaufsstellen in der Stadt<br />
wegen Hygienemängel geschlossen habe.<br />
Dank der großen Nachfrage <strong>und</strong> dem hohen Preis<br />
gibt es aber immer mehr blitzsaubere, modern<br />
ausgestattete Verkaufsstellen.<br />
Auch der Ausspruch – „M<strong>ein</strong> Großvater war der<br />
letzte, der Fisch zum Açaí gegessen hat!“ – ist<br />
nicht mehr aktuell. Neue Generationen von<br />
F<strong>ein</strong>schmeckern entdecken ihre eigene Kulinaria<br />
neu. Heute wird auch in <strong>ein</strong> paar wenigen<br />
schicken Restaurants <strong>ein</strong> Halbliterkrug Açaí zum<br />
gebratenen Fisch serviert. Probieren Sie auch die<br />
haselnussfarbene Bacaba! Ziemlich anders im<br />
Geschmack, noch kalorienreicher <strong>und</strong> fetter,<br />
Achtung, dosieren, aber <strong>ein</strong> naher Verwandter<br />
<strong>und</strong> lecker. Am besten schmeckt wohl der weiße<br />
Açaí. Er kommt, zu m<strong>ein</strong>er totalen Verblüffung,<br />
schlammfarben trüb an – <strong>und</strong> schmeckt!<br />
W<strong>und</strong>erbar! Sehr viel knusprige Tapiocaflocken<br />
darunter gemischt <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>en Spruch Lügen<br />
gestraft: Nur <strong>ein</strong> wirklicher Caboclo isst Açaí ohne<br />
Zucker!<br />
für die Sicherheit der Pflücker getan. Niedrigere<br />
Varianten der Açaípalmen zu züchten oder die<br />
Pflanze überhaupt zu domestizieren, dauert <strong>ein</strong><br />
Weilchen. Die Erntearbeiter stehen halt ganz<br />
unten auf der sozialen Leiter <strong>und</strong> haben k<strong>ein</strong>e<br />
Lobby.<br />
Ein Nachtrag. Açaí ist gerade groß in Mode. Dass<br />
das Açaí-Pflücken aber <strong>ein</strong>e ziemlich gefährliche<br />
Sache ist, sch<strong>ein</strong>t k<strong>ein</strong>en zu kümmern. Immer<br />
wieder kommt es vor, dass <strong>ein</strong>er der Erntearbeiter<br />
vom Baum fällt, <strong>ein</strong>er der hoch<br />
aufgeschossenen Stämmchen <strong>ein</strong>fach abbricht.<br />
Darüber spricht man nicht. Wenig wurde bisher<br />
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Der frischeste Fische der Welt!<br />
Fischmärkte sind gewöhnungsbedürftig. Sie<br />
finden früh, sehr früh statt. Je früher man kommt,<br />
desto besser, frischer <strong>und</strong> vielfältiger ist die<br />
Auswahl. Am besten geht man noch vor oder<br />
gleich nach dem Frühstück. Ein Fischmarkt, der<br />
was auf sich hält, schließt pünktlich um 12h00,<br />
noch vor dem Mittagessen. Später gibt’s Fisch nur<br />
noch im Supermarkt.<br />
Kommt man früh, merkt man, dass so <strong>ein</strong><br />
Fischmarkt, wie alle Märkte, <strong>ein</strong>en eigenen<br />
Kosmos bildet. Es beginnt bei den Parkplatzzuweiser,<br />
alle inoffiziell <strong>und</strong> selbst ernannt. Aber<br />
sie tun mir immer irgendwie <strong>ein</strong>en Parkplatz auf,<br />
manchmal auch in der dritten Reihe. Sie nennen<br />
mich anbiedernd “Tia!” Tante, helfen mir mit der<br />
schweren Kühlbox voller Fische <strong>und</strong> ich<br />
revanchiere mich, indem ich ihnen auch mal die<br />
Autoschlüssel anvertraue, zum Umparken, siehe<br />
oben, dritte Reihe.<br />
M<strong>ein</strong> Fischmarkt bietet viel. Natürlich den<br />
frischesten Fisch der Welt. Fre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong><br />
kompetente Fischverkäufer, die nur allzu gerne zu<br />
<strong>ein</strong>em Schwatz aufgelegt sind. Genauso wie die,<br />
sozusagen die Hilfskräfte, deren Beruf es ist, die<br />
Fische, die ich soeben gekauft habe, ausnehmen<br />
<strong>und</strong> je nach K<strong>und</strong>enwunsch pfannenfertig her zu<br />
richten. Die schenken mir auch mal leckeren<br />
Fischlaich. Der würde sonst weggeworfen <strong>und</strong><br />
erklären mir die Anatomie der Fische <strong>und</strong><br />
anderes. Sie wissen wie alle hier, welche Fische<br />
wie <strong>ein</strong>geschnitten werden müssen. So kann man<br />
sie, trotz der vielen f<strong>ein</strong>en Geräten problemlos<br />
verspeisen. Machen daraus <strong>ein</strong>e Meisterleistung.<br />
Reihen drei, vier Fische vor sich auf <strong>und</strong> schneiden<br />
sie dann so routiniert <strong>und</strong> blitzschnell <strong>ein</strong>, <strong>ein</strong><br />
Schnitt haarscharf neben dem anderen, das<br />
Messer von der Fingerkuppe geleitet, so virtuos<br />
<strong>und</strong> routiniert, dass sie dabei nicht mal mehr auf<br />
die Finger schauen müssen. Das Einschneiden<br />
heißt “ticar”, <strong>ein</strong> Verb, das nur für diese Arbeit<br />
verwendet wird.<br />
Zusammen mit den nicht so <strong>ein</strong>fachen Namen der<br />
Fische lerne ich auch <strong>ein</strong> ganz neues,<br />
hochspezifisches Vokabular. Eigne mir nicht nur all<br />
die komplizierten Namen der Fische, sondern auch<br />
das Wissen an, wie man Fisch <strong>ein</strong>kauft. Sehe beim<br />
Salzen zu, beim Einpökeln <strong>und</strong> Trocknen der<br />
Fische. Unhygienisch, schauerlich <strong>und</strong> faszinierend.<br />
Das ganze gewürzt mit kl<strong>ein</strong>en Geschichten,<br />
Anekdoten, wie dieser der “Traira”. Die Frau, die<br />
sie gerade ausnimmt, weist auf ihre spitzen Zähne<br />
<strong>und</strong> erzählt mir, dass sie doch mal von <strong>ein</strong>er, sie<br />
war so frisch, dass sie noch lebte, gebissen wurde.<br />
Es ist k<strong>ein</strong> edler Fisch, wie die vielen anderen, die<br />
sie auf der anderen Straßen-seite verkaufen. Aber<br />
hier weiß jeder, was es bedeutet, wenn man von<br />
jemandem sagt, er sei “Traira”, hinterhältig eben.<br />
Bew<strong>und</strong>ere den Stolz <strong>und</strong> das Wissen der<br />
Fischverkäufer. Sie alle sind m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung, dass<br />
es hier im amazonischen Hinterland wohl den<br />
frischesten Fisch der Welt, wenigstens der Welt,<br />
die wir beide kennen, gibt. Im Angebot sind nur<br />
Süßwasserfische, <strong>ein</strong>mal gefangen, landen sie<br />
st<strong>und</strong>en später im Topf. Und so will ich heute nur<br />
noch den allerfrischesten Fisch. Gelernt ist gelernt.<br />
K<strong>ein</strong> Problem, ich versichere Ihnen, schwöre, wie<br />
es hier Brauch ist, mit zusammengeschlagenen<br />
Knöcheln (jurar de pés juntos), dass der Fisch, den<br />
man hier kauft, garantiert k<strong>ein</strong>en “Pitiu” (lokales<br />
Wort für Fischgeruch) hat. Dennoch, die Verkäufer<br />
haben sich daran gewöhnt, dass ich die Kiemen<br />
der Fische sehen will, <strong>und</strong> dass ich alle Fische, auch<br />
die lokalen, kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> die mit den vielen Gräten<br />
esse. Und dass ich bis heute nicht so genau weiß,<br />
wie man die Frische <strong>ein</strong>es Fischbauchs beurteilt,<br />
denn den halten sie mir immer wieder zum<br />
Überprüfen derselben hin. Am Bauch kann man<br />
übrigens auch sehen, wie fett so <strong>ein</strong> Fisch ist.<br />
Fette Fische mögen sie hier traditionellerweise am<br />
liebsten. Und starken Eigengeschmack oder<br />
Persönlichkeit sollen sie auch haben, so wie der<br />
„Tambaqui“. Heute mehrheitlich aus Fischzuchten<br />
geliefert, was den Bestand wohl rettet, kommt<br />
s<strong>ein</strong> fettes Fleisch, perfekt zum Grillen, von all den<br />
Kokosfrüchten, Kastanien <strong>und</strong> anderen<br />
Baumfrüchten, die dem Pflanzenfresser sozusagen<br />
ins Fischmaul fallen. Delikate Fische, wie ich sie<br />
aus Europa gewohnt bin, gelten hier als<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 741
uninteressant, als Schon- oder Krankenkost.<br />
Letztere werden gerne für Fischsuppen<br />
verwendet oder traditionellerweise ausgebacken.<br />
Es muss ja nicht gerade in Butter s<strong>ein</strong>, wie es mir<br />
<strong>ein</strong>er der Händler mal vorgeschlagen hat. Sicher<br />
göttlich! Wie wär´s mit <strong>ein</strong>er „Caldeirada“, der<br />
traditionellen Fischsuppe? Mit großzügigen, fast<br />
grätenlosen Fischtranchen, klassisch sind<br />
„Filhote“, „Pescada amarela“ oder „Tucunaré“,<br />
drei der fünf oder sechs am meisten geschätzten<br />
Fische? Zusammen mit <strong>ein</strong>er Handvoll<br />
Süßwasserkrabben in <strong>ein</strong>er leckeren Brühe in der<br />
neben Paprika, Tomaten, Kartoffeln <strong>und</strong> anderen<br />
Gemüsen hart gekochte Eier nicht fehlen dürfen,<br />
gar gezogen. Auch in Tucupi pochiert schmecken<br />
sie nochmal so gut.<br />
Aber das ist nur <strong>ein</strong>e Kostbrobe - es gibt mehr als<br />
1.200 Arten essbare Fische im Amazonas! Wie<br />
wäre es mit „Pirarucú“, dem Amazonischen<br />
Bacalhão (Stockfisch)? Jedem F<strong>ein</strong>schmecker, der<br />
schon die Ehre hatte, dürften schon all<strong>ein</strong> beim<br />
Lesen die Speicheldrüsen angeregt worden s<strong>ein</strong>.<br />
Der „Pirarucu“, <strong>ein</strong> urtümlicher Riesenfisch, heute<br />
unter Schutz gestellt, <strong>und</strong> auch schon aus<br />
Fischzuchten erhältlich, ist <strong>ein</strong> kulinarisches<br />
Heiligtum. Er kann, k<strong>ein</strong> Fischerlat<strong>ein</strong>, mehr als<br />
drei Meter lang werden, <strong>und</strong> erreicht <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb<br />
Meter Umfang. Oft wird er, in lange „Mantas“,<br />
Riesenfilets geschnitten, nach dem Vorbild des<br />
berühmten portugiesischen Stockfisches st<strong>ein</strong>hart<br />
<strong>ein</strong>gesalzen <strong>und</strong> in Rollen verkauft.<br />
Fisch<strong>ein</strong>kaufen auf dem Markt lehrt mich auch,<br />
dass nicht alle Fische immer verfügbar sind, <strong>und</strong><br />
dass Fischen <strong>ein</strong>e Tätigkeit ist, die man als<br />
Extrativismus bezeichnet. So gilt es immer zu<br />
Improvisieren. Der ach so leckere „Mapará“ taucht<br />
nur auf, wenn s<strong>ein</strong>e Fischschwärme gerade<br />
vorbeiziehen. Und mit den steigenden Wassern<br />
werden die Fische rarer. Dieses Jahr sind die<br />
Wasser besonders schnell gestiegen. Noch fehlen<br />
drei Wochen bis zur Karwoche, aber schon ist das<br />
Angebot dürftig. Der Fischverkäufer hat dazu<br />
folgende Anektote: „M<strong>ein</strong>e Liebe, Sie können es<br />
mir glauben oder nicht, aber in der Karwoche<br />
verschwinden die Fische. Die K<strong>und</strong>en denken ja,<br />
dass wir sie verstecken, aber das stimmt nicht.<br />
Erinnere mich noch sehr gut, <strong>ein</strong>mal, als ich noch<br />
Kind war, hieß mich m<strong>ein</strong> Vater fischen gehen.<br />
Einen lecken Fisch auf den Ostertisch sollte es<br />
schon s<strong>ein</strong>. Aber Sie können es mir glauben, nicht<br />
mal <strong>ein</strong>e Piranha hat angebissen! Wir mussten<br />
doch wirklich <strong>ein</strong> Huhn kaufen, damit wir was auf<br />
dem Tisch hatten!“<br />
Sind die Wasser tief, werden tonnenweise Fische<br />
angeliefert. Die größten <strong>und</strong> leckersten, m<strong>ein</strong><br />
Rekord ist <strong>ein</strong> Filhote, der 16 kg auf die Waage<br />
brachte, werden in luftigen Körben her gebuckelt,<br />
von geheimnisvollen Händlern auf hohen,<br />
tronartigen Stühlen, die ihnen wohl den<br />
Überblick garantieren, in geheimnisvollen<br />
Schulheften notiert <strong>und</strong> verschwinden dann<br />
gleich in den Kühlwagen, die sie ins restliche<br />
Brasilien bringen. Zusammen mit den vielen<br />
anderen Fischen, die in Küstennähe auch aus<br />
dem Meer oder aus jenen Wassern, die weder<br />
salzig noch süß sind, gefischt werden.<br />
Endlich wage ich mich auch an den vorsintflutlichen<br />
Acari-Bodó, <strong>ein</strong>er der vielen Fische<br />
zweiter, oder dritter Klasse. Er hat statt Gräten<br />
<strong>ein</strong>en Knochenpanzer, was ihm <strong>ein</strong> sehr<br />
gewöhnungsbedürftiges Aussehen verleiht.<br />
Zudem hat er <strong>ein</strong>e Lunge, was ihm erlaubt, auch<br />
auf dem Trockenen st<strong>und</strong>enlang zu überleben.<br />
Schauerlich, wenn die Plastiktüte noch vor sich<br />
hin zuckt, wenn man ihn gekauft hat. Aber er<br />
schmeckt! Gebraten oder gegrillt findet man ihn<br />
in k<strong>ein</strong>em Restaurant. Nur gleich hier am Hafen<br />
grillen sie ihn gleich im Dutzend.<br />
Lerne, dass der Preis <strong>ein</strong>es Fisches proportional<br />
zu s<strong>ein</strong>em Aussehen ab oder zunimmt <strong>und</strong><br />
davon, wie viele Gräten er hat, <strong>und</strong> dass s<strong>ein</strong><br />
Geschmack erst an zweiter Stelle kommt.<br />
Überaus gewöhnunsgbedürftig sind auch die<br />
Krebse, „Caranguejos“. In küstennahen Städten<br />
werden sie lebend angeboten, auch mal aus<br />
<strong>ein</strong>em Einkaufswagen heraus. Sie wurden in<br />
mühevoller Handarbeit aus den schwarzlehmigen<br />
Mangrovensümpfen gefischt <strong>und</strong> schmecken<br />
742
w<strong>und</strong>erbar. Besonders die „Casquinha de<br />
caranguejo“, das „Krebspanzerchen“ ist <strong>ein</strong>e<br />
w<strong>und</strong>erbare Vorspeise, besonders weil schon<br />
jemand anders die mühevolle Arbeit des<br />
Panzerausnehmens übernommen hat. Die „Pata“<br />
oder „Unha de carangejo“, <strong>ein</strong>e fettausgebackene<br />
Kalorienbombe, fehlt in k<strong>ein</strong>em nördlichen<br />
Schnellimbiss oder den improvisierten Ständen,<br />
gar bei den „Tabuleiros“, auf deren<br />
Bauchladentabletts traurig mit <strong>ein</strong>gebackenen<br />
Zangen den hungrigen Käufern schon<br />
frühmorgens zuwinken.<br />
Xxxxx<br />
Zum Schluss kaufe ich mir noch etwas von den<br />
winzigen „Avium“, den kl<strong>ein</strong>sten, nur etwa 8mm<br />
langen Shrimps. Die sind gerade frisch erhältlich<br />
<strong>und</strong> werden schon bald wieder verschwinden, von<br />
geheimnisvollen Strömungen davon getragen. Es<br />
gibt sie dann noch <strong>ein</strong>e Weile <strong>ein</strong>gesalzen, wie so<br />
viele Fische <strong>und</strong> Krustentiere hier, dann aber<br />
verschwinden sie bis zum nächsten Februar, oder<br />
dann, wenn die Strömungen gerade günstig sind.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 743
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 744
Remoso <strong>und</strong> andere Tabus<br />
M<strong>ein</strong>e Schwiegermutter, Gott sei ihrer Seele<br />
gnädig, wurde uralt. Aber sie schien ständig an<br />
etwas zu leiden. Und sie war voller Tabus,<br />
ständigem Nicht-Dürfen, besonders wenn es ums<br />
Essen ging. Schokolade zum Beispiel, gab ihr<br />
dummerweise Durchfall. Berühmt war ihr “Peixe<br />
de doente”, der Fisch für Kranke, <strong>ein</strong> Fisch,<br />
natürlich nur <strong>ein</strong>er mit Schuppen, sehr schonend<br />
<strong>ein</strong>zig mit <strong>ein</strong> paar aromatischen Kräutern gegart.<br />
(Es wird hier im Norden zwischen Fischen mit<br />
Schuppen <strong>und</strong> solchen mit dicker Lederhaut<br />
unterschieden.) Fische mit Lederhaut, “Peixes de<br />
couro” gelten als “remoso”, <strong>ein</strong>e Art Tabu.<br />
Speisen, die “remoso” sind, dazu gehören auch<br />
Krustentiere, verschlimmern etwelche, schon<br />
vorhandenen Leiden, Allergien oder Anfälligkeiten<br />
im Körper <strong>und</strong> sollten von allen, die sich nicht<br />
perfekt ges<strong>und</strong> fühlen, gemieden werden. Stellt<br />
man sich gegen das Gebot, kann das schlimme,<br />
gar tödliche Folgen haben. Denn wahr, erf<strong>und</strong>en<br />
oder überliefert – Essentabus sind <strong>ein</strong> Wissen, das<br />
sich unserer Zivilisationsignoranz entzieht. Eine<br />
Weisheit, die ich respektiere.<br />
Irgendwann holen auch mich die Tabus, <strong>ein</strong>e<br />
komplizierte Reihe von Geboten <strong>und</strong> Verboten,<br />
r<strong>und</strong> ums Essen, <strong>ein</strong>. Beim Mittagessen entspinnt<br />
sich über m<strong>ein</strong>en Kopf hinweg folgendes<br />
Gespräch. Alle sind sich <strong>ein</strong>ig: “Heute muss sie auf<br />
den Mangosaft verzichten!” Zum Nachtisch gibts<br />
nämlich Açaí. Zucke die Schultern <strong>und</strong> schicke<br />
mich höflich ins Unwiderrufliche. Mango <strong>und</strong><br />
„Açaí“, das weiß hier jedes Kind, vertragen<br />
sich nicht! Bilden <strong>ein</strong>e absolut tödliche<br />
Kombination, wenigstens für die Einheimischen<br />
oder für die, die daran glauben. Schon steht die<br />
schwarze Halbkalebasse vor mir. „Açaí“. Die<br />
dickflüssige Creme dunkelroter Farbe schmeckt<br />
leicht rauchig, fruchtig, fremd.<br />
Wahrsch<strong>ein</strong>dlich kennen alle Völker<br />
Ernährungstabus. Hier im Amazonas treffen wir<br />
auf die Spuren so ganz unterschiedlicher Kulturen<br />
wie die der Indigenen, der Portugiesen, <strong>ein</strong> Teil<br />
davon geflohne Juden, zum Christentum<br />
konvertiert, der Libanesen <strong>und</strong> der Leute aus dem<br />
Brasilianischen Nordosten, die sich in <strong>ein</strong>em<br />
unerwarteten Schmelztiegel mischen. Wahr oder<br />
nicht, bewiesen oder nur geglaubt, aus<br />
Beobachtungen abgeleitet oder aus religiösen<br />
Gründen etabliert, in alle ihren Tabus liegt wohl<br />
<strong>ein</strong> Korn Wahrheit.<br />
Ironischerweise gesellen sich zu den überlieferten<br />
Tabus neuere, von modernen Medien fabrizierte.<br />
Sie verkörpern wohl Fortschritt <strong>und</strong> Moderne.<br />
Butter ist in ganz Brasilien verpönt, als unges<strong>und</strong><br />
verschrien. Wurde durch die ach so viel gesündere<br />
<strong>und</strong> natürlich auch viel billigere Margarine oder<br />
noch Schlimmeres ersetzt. Bei der Milch habe ich<br />
die Wahl zwischen flüssiger Milch <strong>und</strong> Milch in<br />
Pulverform. In vielen Haushalten kommt nur die<br />
ach so praktische Pulvermilch auf den Tisch. Und<br />
auch ohne die stark gezuckerte Kondensmilch<br />
überlebt hier k<strong>ein</strong>er. Nur dem Zucker wird hier<br />
noch unverblümter, in geradezu unanständigen<br />
Mengen zugesprochen.<br />
Wie man <strong>ein</strong> Tabu auch ganz listig zu s<strong>ein</strong>en<br />
Gunsten auslegen kann, erklärte mir kürzlich <strong>ein</strong>e<br />
Wissenschaftlerin. Sie besucht aus beruflichen<br />
Gründen immer wieder indigene Stämme. Isst<br />
da, die Höflichkeit gebietet das, was in <strong>und</strong> aus<br />
den Töpfen kommt. Das kann auch mal <strong>ein</strong> Affe<br />
s<strong>ein</strong>. Indigene Stämme glauben fest daran, dass<br />
wir alle von irgend<strong>ein</strong>em Tier abstammen. Das<br />
Tier, von dem man abstammt, ist allerdings tabu.<br />
Man darf es nicht essen. Man ist ja k<strong>ein</strong> Kanibale.<br />
Unsere Wissenschaftlerine erklärt nun immer<br />
ganz zu Anfang, dass sie vom Affen abstamme.<br />
Bekommt deshalb glücklicherweise alles<br />
mögliche, nur k<strong>ein</strong>e Affen vorgesetzt. K<strong>ein</strong>er<br />
würde ihr zumuten, dass sie <strong>ein</strong>en ihrer<br />
Vorfahren oder Verwandten verspiese! Bedauern<br />
höchstens, dass sie das für sie tabuisierte<br />
Festmahl, leider, leider, wie schade, nicht teilen<br />
kann!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 745
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 748
Vom Salz<br />
Das scharf geschliffene Messer schneidet<br />
regelmäßige Furchen in den Fisch, es ist <strong>ein</strong> lang<br />
gezogener, flacher Aruan. Ein traditionelles<br />
Muster aus längs <strong>und</strong> Quer<strong>ein</strong>schnitten, die<br />
Erfahrung diktiert den Abstand <strong>und</strong> die Tiefe<br />
derselben. Die Kerben bereiten den Fisch aufs<br />
Einsalzen vor. Einpökeln, die uralte Konservierungsmethode<br />
wird hier auf dem amazonischen<br />
Fischmarkt tagtäglich praktiziert. Die Furchen<br />
erlauben dem Salz ganz tief ins Fleisch des Fisches<br />
<strong>ein</strong>zudringen <strong>und</strong> da s<strong>ein</strong>e dörrende Wirkung zu<br />
entfalten. Nun greift s<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>e Hand tief in die<br />
Tüte mit dem Salz. Reibt es großzügig über das<br />
Fleisch, knetet es richtig tief r<strong>ein</strong>, bringt es in jede<br />
Spalte. Der Rest wir der Osmose überlassen. Die<br />
entzieht dem Fisch alles Wasser <strong>und</strong> unterbindet<br />
auch gleichzeitig die Zerstörungsaktion jeglicher<br />
Mikroorganismen. Der ganze Prozess wird von<br />
Sonne <strong>und</strong> Wind unterstützt <strong>und</strong> verstärkt.<br />
Geschockt, sprachlos bin ich nur das erste Mal.<br />
Dann nämlich, wenn der ältere Mann in der<br />
weißen Kittelschürze, <strong>ein</strong>e Matrosenmütze auf<br />
dem Haar noch <strong>ein</strong>en der vielen gesalzenen<br />
Fische wendet. Die sind, bunt gemischt, hier auf<br />
dem schmalen Bürgersteig <strong>ein</strong>er Zufahrtsstraße<br />
zum Hafen zum Trocknen ausgebreitet. Verteilen<br />
sich auf <strong>ein</strong> paar Wellpappen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />
hochkannt aufgestellte Styroporkisten,<br />
normalerweise zum Transport von Fisch<br />
verwendet. Das Klima ist gerade günstig. Die<br />
Sonne brennt unbarmherzig.<br />
So war es immer schon <strong>und</strong> wir noch <strong>ein</strong>e gute<br />
Weile weitergehen. Bis dann auch hier die<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbehörde der Tradition irgendwann<br />
irgendwelche Schranken setzt. K<strong>ein</strong>e Angst. Gegen<br />
das Salz hat k<strong>ein</strong>e Bakterie, k<strong>ein</strong>e Fliege, höchstens<br />
der Fressinstinkt der Aasgeier <strong>ein</strong>e Chance. Riesige<br />
Fische wie der Pirarucu werden regelrecht<br />
aufgefaltet. Nur so ist gewährleistet, dass das Salz<br />
s<strong>ein</strong>e Magie zaubern kann <strong>und</strong> der Fisch auch bei<br />
tropischen Temperaturen gut durchtrocknet -<br />
knochenhart, monatelang haltbar.<br />
Das Salz würzt nicht nur, trocknet <strong>und</strong> pökelt,<br />
sondern vollbringt andere kl<strong>ein</strong>e W<strong>und</strong>er,<br />
überlebenswichtig in den Zeiten Vor-Kühlschrank<br />
oder wenn man, wie wir, am Ende der Welt lebt,<br />
wo uralte Traditionen noch immer überdauern.<br />
Lerne von m<strong>ein</strong>er Hausangestellten, dass <strong>ein</strong><br />
frischer Fisch, den ich heute kaufe, aber erst<br />
morgen zubereiten will, mit <strong>ein</strong>er f<strong>ein</strong>en<br />
Salzschicht bedeckt, auch im Kühlschrank<br />
w<strong>und</strong>erbar frisch bleibt <strong>und</strong> bis zum nächsten Tag<br />
nicht den geringsten fischigen Geruch entwickelt.<br />
Das Salz konserviert <strong>und</strong> verstärkt gar s<strong>ein</strong><br />
Eigenaroma. Das wissen auch die Fischverkäufer.<br />
Fische, die nicht mehr ganz taufrisch sind,<br />
schwimmen in <strong>ein</strong>e Salzlauge. Die konserviert ihn<br />
auch ohne Eis oder Kühlschrank noch für <strong>ein</strong> paar<br />
Tage.<br />
Interessanter nur das Fischmehl, „Piracui“. Eine<br />
pre-cabralianische Methode, von der indigenen<br />
Bevölkerung entwickelt, die es ihnen erlaubte,<br />
den Fisch auch ganz ohne Salz über mehrere<br />
Monate zu konservieren. „Piracui“ wird hier, es<br />
ist voller kl<strong>ein</strong>er Knochenteile <strong>und</strong> Gräten <strong>und</strong><br />
hat den typischen Geruch <strong>ein</strong>gesalzenen Fisches,<br />
auf dem ganzen Markt verkauft. Es gehört<br />
unbedingt zu m<strong>ein</strong>er Notration, mit der ich<br />
immer <strong>ein</strong>e leckere Suppe oder Fischbällchen<br />
zaubern kann. Gewonnen aus verschiedenen<br />
billigen Fischen, hinter vorgehaltener Hand sagen<br />
sie auch aus Krokodilen, wird das Rohmaterial,<br />
der Fisch zuerst gut durchgegrillt, ja fast<br />
getrocknet. Dann wird es im Mörser zerstoßen<br />
<strong>und</strong> an der Sonne weiter getrocknet, wie seit<br />
Urzeiten schon.<br />
Will man davon kaufen, empfiehlt sich <strong>ein</strong>e<br />
kl<strong>ein</strong>e Kostprobe, da gleich vor Ort….. .<br />
Schauerlicher wohl nur jene Begegnung der<br />
älteren Dame mit deutlich indigenen Zügen, die<br />
ihren Zeigefinger an dem riesigen, schon<br />
<strong>ein</strong>gesalzenen Fischgerippe rieb, ihn sich in den<br />
M<strong>und</strong> steckte <strong>und</strong> dann gutgeheißen zwei Kilo<br />
davon kaufte. Was genauso wie die riesigen<br />
Köpfe großer Speisefische, auch die gelten als<br />
Delikatesse, gar nicht etwa billig verkauft wurde!<br />
Auch Shrimps, auf dem Markt werden sie, in<br />
riesigen, rosafarbenen Haufen nach Größe<br />
sortiert, von mehreren Verkäufern angeboten,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 749
<strong>und</strong> Fleisch werden <strong>ein</strong>gepökelt. Neben der<br />
langen Haltbarkeit bereichert das Salz Fleisch,<br />
Fisch <strong>und</strong> Meeresfrüchte um interessante<br />
Geschmacksnuancen. Fleisch wird sogar<br />
unerwartet zart. Klar, dass das Salz vor dem<br />
Weiterverarbeiten entfernt werden muss. So<br />
schwimmt der Fisch oder das Fleisch <strong>ein</strong>e Nacht<br />
lang im Wasser, das mehrmals gewechselt<br />
werden muss. Wer es ganz edel mag, <strong>ein</strong>e<br />
portugiesische Erfindung, verwendet auch mal<br />
Milch zum Entsalzen. Fertig ist dann der köstliche<br />
Sonntagsfisch, geschätzter <strong>und</strong> teurer als frisches<br />
Fischfilet….. .<br />
Xxxxx<br />
Übrigens, apropos Einsalzen…. Kürzlich musst ich<br />
zur Post. Es war um die Mittagszeit, da sind die<br />
Schlangen w<strong>und</strong>erbarerweise kürzer, als der<br />
Postbote, der mich bediente, s<strong>ein</strong>e „Marmitex“,<br />
s<strong>ein</strong> in Alufolie <strong>ein</strong>geschweißtes Mittagessen an<br />
den Schalter geliefert bekam. Ich weiß wirklich<br />
nicht mehr, wie es dazu kam, aber zum Schluss<br />
erklärte mir der Koch, er war es, der das Essen<br />
auch austrug, wie er s<strong>ein</strong> eigenes Fleisch <strong>ein</strong>salze.<br />
Nur das garantiere die ausgezeichnete Qualität.<br />
Von dieser, wie er sie soeben über den Schalter<br />
geschoben habe. Hörte sich gar nicht so<br />
kompliziert an. Muss es wirklich auch mal<br />
versuchen. Oder vielleicht zuerst mit <strong>ein</strong>em Fisch?<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 750
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 751
Bin doch k<strong>ein</strong>e Schildkröte!<br />
Aus Ges<strong>und</strong>heitsgründen empfiehlt es sich ja, je<br />
näher man dem Äquator kommt, desto weniger<br />
rohe Speisen zu sich zu nehmen. Man vermeidet<br />
so unerwartete unangenehme Folgen. M<strong>ein</strong><br />
Schwiegervater aber, Gott hab ihn selig, <strong>und</strong> viele<br />
s<strong>ein</strong>er Zeitgenossen gingen <strong>und</strong> gehen noch<br />
weiter. S<strong>ein</strong> Kommentar war: “Bin doch k<strong>ein</strong>e<br />
Schildkröte, die nur Blätter frisst!” Sprach sich<br />
kategorisch gegen alles aus, was grün oder roh<br />
war. Auch Gemüse kam ihm nur untergejubelt<br />
über die Zunge. In den tagtäglichen Bohnen<br />
versteckt vielleicht, in der Fischsuppe oder als<br />
Vinaigrette getarnt. Klitzekl<strong>ein</strong>, wirklich winzig<br />
gehackt <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlang geschmacklos gekocht,<br />
reichte <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Winzsalat für die ganze<br />
zahlreiche Familie.<br />
Wie dramatisch das ganze ist, wird mir erst im<br />
sehr schicken Restaurant klar, als mich Gäste aus<br />
Europa fragten, ob es dann zu all dem Fisch gar<br />
k<strong>ein</strong> Gemüse gäbe..... . Der Kellner zaubert dann<br />
<strong>ein</strong>en vegetarischen Teller her, mit Karotten,<br />
sicher aus São Paulo importiert, Erbschen,<br />
garantiert tiefgefroren, <strong>und</strong> was weiß ich noch<br />
internationalem ... . Ernährungsberaterinnen<br />
haben es hier schwer. Essgewohnheiten ändert<br />
man nur langsam. Ansich ges<strong>und</strong>e Gewohnheiten<br />
wie der Nachmittagskaffee, der von Palmfrüchten<br />
wie “Pupunhas” oder leckeren Knollen wie die lila<br />
“Carás” begleitet werden, “Açaí” das man zum<br />
Fisch isst <strong>und</strong> Maniokwurzeln zum Frühstück,<br />
werden durch industrialisiertes Essen ersetzt. Dass<br />
alle Tuberkel als Gemüse <strong>und</strong> nicht als Kohlehydrate<br />
gelten <strong>und</strong> deshalb neben Reis <strong>und</strong><br />
Farinha am liebsten in Form von Pommes auf den<br />
Teller kommen, hinterfragt k<strong>ein</strong>er. Dass man<br />
daraus leckere Salate macht, so wie m<strong>ein</strong>e, finden<br />
alle höchst exotisch, besonders wenn ich die<br />
Zutaten nicht so lange zerkoche, bis man sie<br />
unisono mit dem Suppenlöffel essen kann.... .<br />
Schlendere ich allerdings über den Markt, stechen<br />
mir immer wieder w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> liebevoll<br />
zusammengestellte Gemüsebouquets ins Auge.<br />
Echte Esskunstwerke, appetitlich, farbig, lecker.<br />
Altmodisch in Zeitungspapier <strong>ein</strong>gerollt gibt es hier<br />
lokalen Spinat genauso wie <strong>ein</strong> Stück Rote Bete,<br />
den obligaten Kohl <strong>und</strong> den Kürbis. Frage ich nach,<br />
sagt man mir, dass sie am besten mit <strong>ein</strong>em guten<br />
Stück <strong>ein</strong>gesalzenem Fisch schmecken würden,<br />
oder auch im Eintopf, da kommen gar noch<br />
Kochbananen dazu, finden sie traditionellerweise<br />
Verwendung, hier im Norden auch in den<br />
tagtäglichen Bohnen.<br />
All das sind Zeichen <strong>ein</strong>er Gesellschaft im<br />
Umschwung. Mit <strong>ein</strong>em Fuß in den Traditionen,<br />
mit dem anderen in <strong>ein</strong>er ungewissen Moderne, in<br />
der das industrialisierte Essen mit all s<strong>ein</strong>en<br />
leckeren Verlockungen <strong>und</strong> den unschlagbaren<br />
Preisen winkt. Nicht mal Arbeit gibt es. Muss<br />
weder geschält, noch kl<strong>ein</strong> geschnitten werden.<br />
Eigentlich schade.<br />
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Der Brei<br />
Die Kinder, <strong>ein</strong> Junge, <strong>ein</strong> Mädchen, die Haut<br />
olivenfarben getönt, die kurzdunklen Haare<br />
glattglänzend wie Seide, springen vorne weg.<br />
Lachen, fröhlich, jeglicher Stopp ist ihnen <strong>ein</strong><br />
neues Spiel wert. Die Mutter, den Körper<br />
bremsend zurückgelegt, sichert mit beiden<br />
Händen die zum Bauchladen umgebaute<br />
Schubkarre. Soeben hat sie <strong>ein</strong>e der unzähligen<br />
Verkäuferinnen vor deren Lädchen bedient, deren<br />
hochstehender Bauch das gelbe Blüschen in<br />
starkem Gelb weit <strong>und</strong> hoch wölbt. Es ist gleich<br />
unter der Brust geschnürt. Lachend kommentiert<br />
sie, die Zwei-Realnote schon in der Hand, dass der<br />
kl<strong>ein</strong>e Extraimbiss ihnen, ihr <strong>und</strong> dem Kind in<br />
ihrem Bauch, helfen werde, das Stehen bis zur<br />
Mittagspause durchzuhalten.<br />
Ich verfolge gebannt den magischen Schöpflöffel<br />
aus blauem Plastik, sehe, wie er geschickt <strong>ein</strong>e<br />
weiße, dicklich dampfende Flüssigkeit in den<br />
dünnen Plastikbecher tropft <strong>und</strong> schon ist´s um<br />
mich geschehen. Unwiderstehlich! „Mingau“!!! –<br />
Hunger??? oder ganz <strong>ein</strong>fach Fressgelüste? Sie<br />
hat heute „Mingau de Tapioca“ im Topf. Dicklich<br />
in der Konsistenz, wird er aus Wasser,<br />
Kokosmilch, <strong>ein</strong>er Prise Salz <strong>und</strong> natürlich<br />
Tapiocaflocken, crispe, lockerluftige Crunchs aus<br />
Maniok, zusammengerührt. Die cremige Süße<br />
verleiht im die, Nestlé sei Dank, obligate<br />
Kondensmilch, von der Köchin/Verkäuferin unter<br />
dem fesch rot-grün karierten Hut mit der kurzen<br />
Krempe <strong>und</strong> dem unwiderstehlichen Lächeln<br />
großzügigst im Plastikbecher verteilt. Eine Lage in<br />
den halb vollen Becher, die zweite als ultrasüße<br />
Kuvertüre - Halt! Stop, nicht so süß, bitte! -<br />
obenauf. Schmeckt <strong>ein</strong>fach göttlich, heiß <strong>und</strong><br />
köstlich!<br />
Sie dirigiert Kinder <strong>und</strong> Schubkarre straßabwärts,<br />
das auf Maß zurechtgeschnittene Holzbrett<br />
sch<strong>ein</strong>t die drei riesigen, grauen, tecnogestylten<br />
Thermoskrüge, die Verschlüsse sorgfältig mit<br />
<strong>ein</strong>em Handtuch geschützt, gut aufrecht <strong>und</strong> an<br />
Ort <strong>und</strong> Stelle zu bewahren.<br />
Schaufle mir Plastiklöffelchen hinter Plastiklöffelchen<br />
der Breisuppe in den M<strong>und</strong>. Die fast<br />
transparenten Kügelchen sind al-dente,<br />
widerstehen dem Biss im genau richtigen Maß.<br />
Altmodisches Komfortessen. Warum nur haben<br />
die Spitzenköche dieses W<strong>und</strong>ergericht noch nicht<br />
in ihr Repertoire aufgenommen?<br />
Lustigerweise ist der Verkauf von Brei hier im<br />
Hinterland Männersache. Da ich sozusagen<br />
Stammk<strong>und</strong>in bin, hat mir der geschäftstüchtige<br />
Mann sogar s<strong>ein</strong> Kochrezept, diesmal des<br />
Maisbreis verraten. Klagte, dass m<strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>fach<br />
nie so gut sei. Alles beginnt am Vortag. Die ganzen,<br />
weißen Maiskörner müssen <strong>ein</strong>e Nacht lang<br />
<strong>ein</strong>geweicht werden. Werden dann am Vorabend<br />
gekocht, zuerst mit Wasser, dann mit der ewig<br />
präsenten Kondensmilch <strong>und</strong> Kokosmilch. Er<br />
betont, dass er nur die beste Marke, Nestlé<br />
verwende. Das merke man am Endresultat. Dann<br />
köchelt der Brei zusammen mit den restlichen<br />
Zutaten st<strong>und</strong>enlang vor sich hin, um dann am<br />
nächsten Morgen wieder aufgewärmt, verkauft zu<br />
werden. Köstlich!<br />
Ach, übrigens, im hintersten Hinterland gab es gar<br />
<strong>ein</strong>en Disc-Mingau. Per Handy kann der<br />
gewünschte Brei, Mais, Tapioca, Reis mit Kürbis<br />
oder am allerleckersten, grüne Kochbananen<br />
bestellt werden <strong>und</strong> wird sogleich per Motorrad<br />
geliefert. Wenn nur die vielen Plastikbecher nicht<br />
wären…. .<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 755
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 756
Ein regionales Frühstücksbankett<br />
Die Politesse löffelt genüsslich den „Mungunzá“,<br />
<strong>ein</strong> köstlicher Brei aus weißem Mais, St<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
St<strong>und</strong>en gekocht, bis er dicklich wird, cremig, mit<br />
oder ohne Zimt, gleich neben <strong>ein</strong>em anderen aus<br />
grünen Bananen! noch cremiger <strong>und</strong> mit kl<strong>ein</strong>en<br />
Fruchtstückchen, die <strong>ein</strong>em im M<strong>und</strong> zergehen!<br />
Beide im Plastikbecher serviert. Ihr Kollege, die<br />
Uniform sitzt etwas eng, isst <strong>ein</strong>e dicke „Tapioca“,<br />
f<strong>ein</strong>e, weiße hauchf<strong>ein</strong>e Pfannkuchen, ganz leicht,<br />
von der aufmerksamen Budenbesitzerin, <strong>ein</strong>er<br />
von vielen an<strong>ein</strong>ander gereihten, genau nach<br />
Wunsch gebacken <strong>und</strong> gefüllt. Frugal nur mit<br />
Butter? Oder vielleicht die regionale Variante?<br />
„Queijo qualha“, <strong>ein</strong> Fastkäse, in Scheiben oder in<br />
großzügige Späne gerieben, passt er ausgezeichnet<br />
zu den f<strong>ein</strong>en orangefarbenen Spiralen<br />
der Schale des „Tucumã“. Mit <strong>ein</strong>em Spiegelei<br />
oder Kokosflocken pulverisiert, vor Kurzem von<br />
Hand gerieben? Wie wär´s mit <strong>ein</strong>er Tapioca mit<br />
Bananen- oder Goiavenmus serviert, ausgiebigst<br />
mit Kondensmilch bekleckert, mit flüssiger<br />
Schokolade oder Karamell gefüllt? Man muss nur<br />
den Wunschzettel ausfüllen, den Kugelschreiber<br />
bringt die Kellnerin gleich mit <strong>und</strong> dann etwas<br />
warten.<br />
Das lokale Frühstück, <strong>ein</strong>e ganze Frühstückskultur,<br />
ist m<strong>ein</strong> Geheimtipp. Magere Putenbrust <strong>und</strong><br />
quadratisch bleicher Schinken, Brötchen, die fast<br />
wie Papier schmecken <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Käse, der so jung<br />
wie bleich ist in Geschmack <strong>und</strong> Aussehen, kann<br />
ich in jedem Hotel essen. Verwässerter, mit Eis<br />
<strong>und</strong> Zucker verdünnter Orangensaft? Danke, da<br />
gehe ich lieber um die Ecke auf den lokalen Markt.<br />
Angepriesen als „Café regional“, gibt es das reiche<br />
Frühstück heute sogar in schicken Bäckereien.<br />
Aber auf dem Markt ist es authentischer <strong>und</strong> am<br />
Nebentisch verpflegt sich gerade Herr jedermann<br />
oder eben die Polizei. Zudem gibt’s da alles, was<br />
m<strong>ein</strong> Herz begehrt. Cashewsaft, vanilliefarbenes<br />
Gelb, leicht <strong>und</strong> immer <strong>ein</strong> bisschen rau auf den<br />
Zähnen, es ist gerade Saison. „Cupuaçu“, exotische<br />
Gaumenfreuden, die mich bei jedem Schluck<br />
säuerlich parfümiert entzücken, nur vom delikaten<br />
„Bacuri“ übertroffen werden. Ohne Eis bitte. Das<br />
verwässert. Nehme lieber die Zimmertemperatur<br />
in Kauf. Kekse, weich <strong>und</strong> nur leicht süß, die<br />
Tapiokaflocken springen kugelr<strong>und</strong> <strong>und</strong> lecker aus<br />
der Kruste. Eine kl<strong>ein</strong>e Portion „Cuscuz“, aus<br />
Maisflocken, eidottergelb, mit Kokosmilch,<br />
perfekt, leicht - m<strong>ein</strong> Lieblingsfrühstück! Ach, es<br />
gibt auch die ewig lange Bananen! K<strong>ein</strong>e kann ihr<br />
das Wasser reichen, mit oder ohne Schale<br />
gebraten oder frittiert. Hier landen sie, zusammen<br />
mit dem erdig schmeckenden Tucumã <strong>und</strong> Käse in<br />
der doppelten Tapioca. Alles garantiert gekocht,<br />
sehr lange, bei sehr hohen Temperaturen<br />
gebraten, damit sind auch hygienische Bedenken<br />
vom Tisch. Nur Kaffeesüchtige müssen sich an die<br />
brasilianische Variante gewöhnen: Zuckersüß <strong>und</strong><br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich aus dem Thermoskrug. Auch Tee<br />
ist kompliziert. Der wird hier nur getrunken,<br />
wenn man krank ist. So gibt es nur bleiche<br />
Kamille <strong>und</strong> gallebitteren „Boldo“. Gekochte,<br />
fettglänzende „Pupunhas“ gefällig? Auch die<br />
haben gerade Saison <strong>und</strong> werden, das halbe<br />
Dutzend genau abgezählt, schon fertig gekocht<br />
auch die im Plastikbecher angeboten. Auch lila<br />
„Carás“, <strong>ein</strong>e Art Tuberkel <strong>und</strong> in Bananenblättern<br />
gebratener Kuchen aus Maniok <strong>und</strong><br />
„Pamonhas“, Maisschnitten, appetitlich in<br />
Maisblätter <strong>ein</strong>gefaltet, locken sorgsam in<br />
Plastikfolie <strong>ein</strong>gepackt, von der Theke. Andere<br />
Länder, andere Frühstückssitten.<br />
Ganz radikalen empfehle ich die Essstände des<br />
Ver-o-pesos. Da gibt es noch Breie, die an<br />
anderen Orten längst vergessen, ausgestorben<br />
sind. Wie wäre es denn mit Brei aus Kürbis <strong>und</strong><br />
Reis oder gar mit Açaí oder Buriti <strong>und</strong> Reis? Die<br />
kommen interessanterweise ohne Zucker aus.<br />
Nur <strong>ein</strong>e tüchtige Prise Salz gehört dazu. Kl<strong>ein</strong>e,<br />
f<strong>ein</strong>e Kalorien <strong>und</strong> Fettbomben – nur starke<br />
Mägen können da mithalten! - Regionale<br />
Frühstückbuffets füllen Augen <strong>und</strong> Magen, das<br />
Limit ist r<strong>ein</strong> körperlicher Art zeigen das Land<br />
aber von <strong>ein</strong>er ungewohnten Seite.<br />
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Köstliche Straßenkost<br />
Heute nennt man sie auch in Brasilien Foodtrucks.<br />
Hier im Norden gab es sie schon viel<br />
länger, wohl seit immer. Und Trucks sind sie auch<br />
nicht, dafür sind sie zu wenig gestylt. Dafür aber<br />
schießen sie jede Nacht heraus, gleich nach dem<br />
Eindunkeln, dann wenn die Sonne sich etwas<br />
ausgekühlt hat, werden wie von <strong>ein</strong>em<br />
Zauberstab <strong>ein</strong>fach aus dem Asphalt geschlagen.<br />
Da wo tagsüber <strong>ein</strong> öffentliches Amt funktioniert,<br />
installiert sich abends „Seu Rosário“,<br />
stadtbekannt, heiß geliebt <strong>und</strong> dreckbillig. Ein<br />
Wägelchen aus Blech, wie tausend andere. Rechts<br />
<strong>und</strong> links zwei endlose Reihen blauer<br />
Plastikstühle, die von <strong>ein</strong>er Horde fliegender<br />
Kellner bedient werden. Es gibt „Hot-Dog“, halt,<br />
n<strong>ein</strong> „Cachorro quente paraense“. Aus Hackfleisch<br />
zubereitet, zweite Qualität, die schmeckt, dank<br />
höherem Fettanteil sehr viel leckerer, mit Kreuzkümmel,<br />
winzig kl<strong>ein</strong> geschnittenen Tomaten <strong>und</strong><br />
viel frischem Koriander. Die Alternative ist der<br />
Schw<strong>ein</strong>eschinken, am Stück, so lange gebraten,<br />
bis er buchstäblich in leckere, fleischige<br />
Faserstreifen zerfällt. Auch er kommt ins<br />
Brötchen, auch er bekommt <strong>ein</strong>en Schuss kl<strong>ein</strong><br />
geschnittener Tomaten <strong>und</strong> viel gehackten<br />
Koriander. Bestelle, wie m<strong>ein</strong> Nachbar, <strong>ein</strong>en<br />
Nachschlag. Schmeckt <strong>ein</strong>fach zu gut. Er kam im<br />
Auto. Hat wie viele, die halbe Stadt durchquert,<br />
nur um hier zu lunchen.<br />
Auch der Standort der „Tacacazeira“ ist<br />
stadtbekannt <strong>und</strong> mit Fingerspitzengefühl<br />
ausgewählt. Ihre kl<strong>ein</strong>e Bude steht ebenfalls auf<br />
öffentlichem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> vom freien Himmel<br />
trennt sie nur <strong>ein</strong>e Plastikplache. Direkt vor <strong>ein</strong>em<br />
der wenigen Straßenkinos, die hier noch ums<br />
Überleben kämpfen. Und die vier oder fünf<br />
wackligen Stühlchen ohne Rückenlehne sind<br />
immer besetzt. Zu Stoßzeiten entstehen<br />
Warteschlangen. Tagaus, tag<strong>ein</strong> sitzen die K<strong>und</strong>en<br />
vor ihren schwarz lackieren Kalebassen <strong>und</strong><br />
nehmen, wie es der Brauch will, ihr „Tacacá“. Das<br />
kocht sich <strong>ein</strong>fach gar k<strong>ein</strong>er zu Hause! Alle essen<br />
es im Stehen, unterwegs. Auch ich bin absoluter<br />
Fan! Die Suppe ist, des milchig-transparenten<br />
Schleims wegen, zugegebenermaßen etwas<br />
exotisch. Schon schöpft mir die so gar nicht<br />
<strong>ein</strong>geborene Blondine aus der ersten Pfanne<br />
säuerlich-würzigen, gelbgrünen „Tucupí“, lässt aus<br />
der nächsten Alupfanne <strong>ein</strong>en großzügigen Löffel<br />
„Goma“, Schleim, hin<strong>ein</strong>gleiten. Noch mehr Tucupi<br />
obenauf. Dann, noch <strong>ein</strong>e Pfanne abgedeckt, <strong>ein</strong>e<br />
Gabel leckeren „Jambús“, <strong>ein</strong> lokales Gemüse <strong>und</strong><br />
als Krönung <strong>ein</strong> paar im Salz getrocknete Shrimps.<br />
Zur Krönung <strong>ein</strong> paar Tropfen wohlriechenden<br />
Pfeffers draufgetröpfelt. Schlürfe, Löffel wären <strong>ein</strong><br />
Sakrileg, das dampfend parfümierte Gebräu direkt<br />
aus der Kalebasse. Heilige Stille. Ich hebe ab. Im<br />
Hintergr<strong>und</strong>, das emsige Auf-<strong>und</strong> Zuklappern der<br />
Topfdeckel, <strong>ein</strong> nervöses Hupen, Motorengeräusch.<br />
Fische die Shrimps, vielleicht auch<br />
etwas Gemüse, mit dem mitgelieferten<br />
Zahnstocher heraus. Salzig, sauer, aromatisch,<br />
pfeffrig <strong>und</strong> vom neutralen Schleim w<strong>und</strong>erbar<br />
zu <strong>ein</strong>em Ganzen gefügt, kenne ich kaum <strong>ein</strong>e<br />
exotischere, besser schmeckende Suppe, als die<br />
hier am Straßenrand.<br />
Als Nachspeise vielleicht <strong>ein</strong>e „Tapioca“, <strong>ein</strong>e Art<br />
knuspriger Pfannkuchen? Weiß, an <strong>ein</strong>er anderen<br />
Straßenecke in <strong>ein</strong>er Minute abwechslungsweise<br />
in zwei kl<strong>ein</strong>en Teflonbratpfannen auf <strong>ein</strong>em<br />
Gaskocher gebacken? Es ist <strong>ein</strong> Ehepaar, das<br />
bedient <strong>und</strong> ihre sind f<strong>ein</strong>er, reichlicher, s<strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong> wenig dicker <strong>und</strong> nicht so üppig gefüllt. Auf<br />
die mit Käse <strong>und</strong> Kokos, nicht im Angebot,<br />
verzichte ich ungern. Beide machen sie promt, er<br />
verrechnet aber, ganz schlau, gleich mal 50<br />
Centavos mehr. Besser wohl nur die<br />
Manauarische Variante. Neben Käse kommt auch<br />
Tucumã <strong>und</strong> Banane r<strong>ein</strong>. Unvergleichlich <strong>und</strong> in<br />
zwei Minuten frisch zubereitet.<br />
Eine Frau nähert sich. Unschlüssig bleibt sie<br />
stehen. Fragt, ob es wohl welche mit Kokos gebe.<br />
Erfahrene Marktfrau fragt die Tapioqueira, auch<br />
Analphabeten sind gute K<strong>und</strong>en, aufs Angebot<br />
zeigend, sogleich: - „Möchten Sie, dass ich es<br />
Ihnen vorlese?“ –<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 761
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 762
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 763
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 764
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 765
X-alles inklusive<br />
Ein junger, hoch aufgeschossener <strong>und</strong> mit dem<br />
gesegneten Appetit <strong>ein</strong>es Büffels versehener<br />
Deutscher, musste jetzt sogleich, sozusagen<br />
sofort, etwas essen. Ein <strong>ein</strong>faches Sandwich gleich<br />
um die Ecke, Schickeres hätte ihm wohl zu lange<br />
gedauert, würde wohl dieses unaufschiebbare<br />
Loch im Magen füllen, mindestens solange, bis ihn<br />
der Hunger das nächste Mal anfiele.<br />
Er war mit dem robusten Magen <strong>ein</strong>es Aasgeiers<br />
ausgestattet <strong>und</strong> bestellte, experimentierfreudig<br />
<strong>und</strong> lokalbewandert, <strong>ein</strong>en X-Caboclo. „X-tudo“,<br />
das X steht für Cheese, gibt es in ganz Brasilien. In<br />
<strong>ein</strong>en X-tudo wird <strong>ein</strong>fach alles, was die<br />
Speisekammer hergibt, gepackt. Die amazonische<br />
Variante, nur in Manaus erhältlich, umfasst neben<br />
den klassischen Xs natürlich Käse, gerne<br />
zerlaufen, das üblichen Fleisch oder Schinken,<br />
Salat, Tomaten, Oliven, winzige <strong>und</strong><br />
potenzfördernde Perlhuhneiern <strong>und</strong> was weiß ich<br />
noch was, <strong>ein</strong>fach alles, was in <strong>ein</strong> Brötchen passt,<br />
auch die f<strong>ein</strong>e Rinde des Tucumãs. Wird<br />
sozusagen zum „X-local“. Ein orangegelbes<br />
Kokosnüsschen von der Größe <strong>ein</strong>er Kirschtomate,<br />
dessen f<strong>ein</strong>e, fettreiche Schale man<br />
runterschneidet <strong>und</strong> isst, pur oder mit Reis, im<br />
Sandwich, überraschenderweise auch als Eis. Der<br />
ganz leicht süßliche Geschmack von Tucumã<br />
erinnert <strong>ein</strong> wenig an öliges Holz oder Rinde, ich<br />
mag die ungewöhnliche Note, er verleiht dem<br />
Sandwich ganz sicher <strong>ein</strong>en exotisch-lokalen<br />
Akzent. Der „X-local“ kam umgehend, des<br />
auf<strong>ein</strong>ander getürmten Inhalts wegen aber<br />
abenteuerlich hoch. Man brauchte drei oder vier<br />
der Winzserviettchen, um ihn <strong>ein</strong>igermaßen sicher<br />
festzuhalten, aber sogar so war das kräftig<br />
R<strong>ein</strong>beißen alles andere als <strong>ein</strong>fach.<br />
Im Nachhin<strong>ein</strong> ließ es sich nicht mehr so richtig<br />
rekonstruieren, wie es dann zur Katastrophe kam.<br />
Handelte es sich um <strong>ein</strong>en dem Heißhunger<br />
zuzuschreibenden plötzlichen Schwächeanfall oder<br />
war der Deutsche von Natur aus <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong><br />
bisschen tapsig <strong>und</strong> ungeschickt? Vielleicht hatte<br />
ihn auch das hungrige Warten ungeduldig werden<br />
lassen – wie auch immer. Als er nämlich so richtig<br />
kräftig in den „X-tudo“ beißen wollte, löste sich<br />
derselbe, wie infam, ganz <strong>ein</strong>fach in s<strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>zelnen Bestandteile auf! Die Eier flogen auf die<br />
<strong>ein</strong>e Seite, rechts bildete der Käse <strong>ein</strong> bleiches,<br />
wildes Häufchen, Tucumã ringelte sich von der<br />
Theke <strong>und</strong> <strong>ein</strong> entscheidender Teil platschte ganz<br />
<strong>ein</strong>fach auf den Boden. Ungeschickt - aber kann ja<br />
jedem Mal passieren! Nur dass k<strong>ein</strong>er der<br />
Anwesenden mit dem Hunger <strong>und</strong> den<br />
unbekümmerten Hygienevorstellungen des<br />
Deutschen gerechnet hatte! Der zögerte nicht den<br />
winzigsten Augenblick, las <strong>ein</strong>fach alle wild<br />
verstreuten Teile zusammen, auch die vom Boden,<br />
türmte sie wieder ins Brötchen, <strong>und</strong> biss unbekümmert<br />
aufs Neue zu!<br />
Den Brasilianern, die schon ansetzten, den<br />
nächsten Straßenköter zu rufen, um den<br />
gröbsten Schaden wegzuputzen, <strong>und</strong> dann den<br />
Putzmann, gleich gefolgt vom Kellner, um <strong>ein</strong>e<br />
neue Bestellung aufzugeben, gefror das Wort in<br />
der Kehle. Höflich kaschierter Ekel wich allgem<strong>ein</strong>er<br />
Verw<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> gar Bew<strong>und</strong>erung,<br />
denn dem Deutschen wurde im Nachhin<strong>ein</strong><br />
weder übel noch erkrankte er an Durchfall oder<br />
litt er, soweit man das verfolgen konnte, an<br />
irgendwelchen anderen Spätfolgen.<br />
Um jenen lokalen Hinterwäldler zu zitieren, der<br />
zu dem ganzen Vorkommnis wohl nur gesagt<br />
hätte: Also, wenn das mit uns passiert wäre,<br />
wären wir sicher daran gestorben! Bis heute<br />
fragen sich alle, ob deutsche Mägen wohl<br />
resistenter gegen Bakterien, Viren, Amöben oder<br />
noch schrecklicheres Getier seien! Vielleicht liegt<br />
die Erklärung aber ganz <strong>ein</strong>fach im rigorosen<br />
brasilianischen Sauberkeitsfimmel, der es<br />
erlaubt, auch in <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>fachen Lokal<br />
wortwörtlich vom Boden zu essen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 766
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Von wilden Genüssen <strong>und</strong> Dschungelgourmets<br />
Gepäck des Fluges von Belém, Laufband III. Hätte<br />
es auch ohne Leuchtanzeige leicht herausgef<strong>und</strong>en.<br />
Denn was sich auf dem Laufband dreht,<br />
sind neben <strong>ein</strong>zelnen Koffern vor allem<br />
Styroporkisten, identisch, nur die Größen <strong>und</strong> die<br />
Meter des verwendeten Klebebandes variieren.<br />
K<strong>ein</strong> Paraense reist ohne. Schon stürzen sich alle<br />
darauf, denn es ist alles andere als <strong>ein</strong>fach, die<br />
<strong>ein</strong>zige, die eigene, die so sorgfältig gefülle<br />
Styroporkiste zu erkennen, herauszufischen,<br />
herab zu stemmen.<br />
Identisch, oder zumindest ähnlich ist sich auch<br />
deren Inhalt. Denn wer aus Belém kommt, will<br />
auch in Südbrasilien auf die lockalen Leckerbissen<br />
von A wie Açaí, C wie Cupuaçu, über F wie Farinha<br />
<strong>und</strong> Fisch, frisch oder <strong>ein</strong>gesalzen, obligate<br />
Notration, <strong>und</strong> T wie Tapioca, als Pulver oder als<br />
Crunchs, nicht verzichten. Auch Jambu, Tucupi<br />
<strong>und</strong> vielleicht Pupunhas gehören dazu.<br />
Verständlich. Die Küche <strong>Amazonien</strong>s, besonders<br />
die von Pará, ist wohl die wildeste, ursprünglichste<br />
Brasiliens, direkt <strong>und</strong> ohne große<br />
Anpassungen von den Töpfen der indigenen<br />
Ur<strong>ein</strong>wohner in in die modernen Winzküchen von<br />
heute gesprungen. Neben der afrikanisch<br />
inspirierten von Bahia, der Küche aus dem<br />
Nordosten, die wirklich für alles <strong>ein</strong>e Verwendung<br />
findet, <strong>und</strong> der deftig-altmodischen aus Minas<br />
Gerais, wohl die exotischste <strong>und</strong> vielleicht auch<br />
für manche, was ihr Aussehen betrifft,<br />
gewöhnungsbedürftigste Küche Brasiliens. Nicht<br />
nur ihre Zutaten sind absolut lokal, original <strong>und</strong><br />
ausgefallen. Geht es um perfekte Kombinationen<br />
von süß-sauer-parfümiert-scharf, ist sie<br />
ohnegleichen. Göttlich, zugleich rustikal <strong>und</strong> edelf<strong>ein</strong>,<br />
was man schon an den typischen Gefäße<br />
sehen kann, die „Panela de barro“ (Schwarzer oder<br />
brauner Tontopf, der die Hitze sehr lange<br />
bewahrt) <strong>und</strong> die „Cuia“ (Schale aus der Frucht des<br />
Kürbisfruchtbaums), bis heute nicht vom<br />
allgegenwärtigen Plastik vertrieben.<br />
Neben der etablierten Standardküche mit ihren<br />
Stargerichten wie Ente in Tucupi, Reis mit Jambu,<br />
Pirarucu mit Farinha <strong>und</strong> Bananen, bewahrt sie<br />
sich <strong>ein</strong>e wirklich wilde Seite. In jeder Familie gibt<br />
es den <strong>ein</strong>en Onkel oder Schwager, der <strong>ein</strong>fach<br />
alles, was kreucht <strong>und</strong> fleucht isst. Hinter<br />
vorgehaltener Hand natürlich als <strong>ein</strong>e Art Barbar<br />
verschrienen. Wie wäre es zum Beispiel mit den<br />
knusprig gebratenen Hinterteilen fliegender<br />
„Cupins“, Termiten? Die werden nur <strong>ein</strong>mal im<br />
Jahr „geerntet“, dann wenn ihnen zu<br />
Abertausenden Flügel wachsen <strong>und</strong> sie<br />
ausschwärmen. Auch größeres endet im Kochtopf.<br />
Das Fleisch der Riesenechsen mit ihrem gefährlich<br />
peitschenden Schwanz soll an Huhn erinnern,<br />
genauso das von den kl<strong>ein</strong>eren Kaimanen <strong>und</strong> den<br />
größeren Krokodilen, etwas faserig, viele halten es<br />
für lecker. Alle kl<strong>ein</strong>eren Wildtiere, auch das<br />
Gürteltier, die „Paca“, das wilde Schw<strong>ein</strong> landen<br />
im Kochtopf. Jagen ist der lokalen ländlichen<br />
Bevölkerung zur Selbstversorgung erlaubt.<br />
Als absolut kulinarischer Höhepunkt gelten die<br />
verschiedenen Schildkröten <strong>und</strong> deren Eier.<br />
Beide stehen eigentlich unter schärfstem<br />
Naturschutz. Was für <strong>ein</strong>e Kindheitserinnerung,<br />
in der der Schildkrötenkopf, nur kurz vor der<br />
Zubereitung abgeschnitten, als brutalschauerliches<br />
Spielzeug herumgereicht wurde,<br />
weil er auch ganz entkörpert noch nach St<strong>und</strong>en<br />
kräftig zubeißen kann! Die Eier übrigens sollen<br />
leicht sandig schmecken…. . Zwar gibt es immer<br />
wieder Farmer, die Schildkröten züchten,<br />
wenigen soll es aber gelungen s<strong>ein</strong>, die<br />
gezüchteten, schlachtreifen Tiere zum Verkauf<br />
frei zu bekommen. Der Kreuzzug durch den<br />
lokalen Dschungel der Bürokratie ließe sich<br />
manchmal nicht mal mit <strong>ein</strong>er schönen<br />
Bestechungssumme gewinnen.<br />
Die anderen Schildkröten, wie die vom <strong>Foto</strong>,<br />
kommen aus der freien Wildbahn. Gestehe, dass<br />
sie mir überhaupt nicht schmeckten. Schlimmer<br />
wohl nur gegrillter Affe. Gegen den herrscht auch<br />
hier <strong>ein</strong> gewisses Vorurteil. Zu sehr erinnere er<br />
an <strong>ein</strong> am Spieß geröstetes Kl<strong>ein</strong>kind!<br />
Den „Turu“, <strong>ein</strong> bleicher, ziemlich langer Wurm,<br />
der in ins Wasser gefallenen Baumstrünken lebt,<br />
würde ich wohl doch versuchen. S<strong>ein</strong> Fleisch soll<br />
nach Austern schmecken…..<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 772
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 773
Der verspeiste Panther<br />
Mensch, war die zäh! Hat überhaupt nicht<br />
geschmeckt!“ - Sie war nicht weniger als <strong>ein</strong>e<br />
w<strong>und</strong>erschöne, gefürchtete „Onça“, <strong>ein</strong>e wilde,<br />
furchterregende Raubkatze, <strong>ein</strong> brasilianischer<br />
Panther. Wer am bestens gedeckten Tisch im<br />
leichtesten Gesprächston von diesem Blutopfer<br />
berichtet, ist k<strong>ein</strong> primitiver oder <strong>ein</strong>facher Mann.<br />
N<strong>ein</strong>, er ist <strong>ein</strong> reicher Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong><br />
Viehhalter. Er ist, um <strong>ein</strong>en lokalen Begriff zu<br />
benutzen, <strong>ein</strong> „instruierter“ Männer, aber nicht<br />
weniger Macho, als die anderen Machos, die die<br />
reale Realität des endlos weiten Amazonasdschungels<br />
leben.<br />
Die ach so clevere Raubkatze dachte, dass der<br />
Farmer s<strong>ein</strong> Vieh ganz all<strong>ein</strong> für sie hielte. Dass es<br />
ihm sicher nichts ausmachte, wenn sie <strong>ein</strong> oder<br />
zwei Tiere riss, wie es ihre Instinkte forderten.<br />
Instinkt gegen Instinkt - „Mensch, hatte ich <strong>ein</strong>e<br />
Wut auf sie! Befahl, sie zu fangen, zu töten <strong>und</strong><br />
aus ihr Ragout zu kochen!“ So starb das edle Tier<br />
als primitives, amazonisches Blutopfer. Das<br />
Verspeisen als <strong>ein</strong>en Akt der totalen Dominanz. Es<br />
reicht nicht, s<strong>ein</strong>en F<strong>ein</strong>d zu fangen <strong>und</strong> zu töten.<br />
N<strong>ein</strong>, auch gleich <strong>ein</strong>verleibt musste er werden.<br />
Nur so konnte die Wut gesühnt werden. Als ob es<br />
nur so gelänge, wirklich mit diesem F<strong>ein</strong>d fertig zu<br />
werden, endgültig <strong>und</strong> definitiv, ihn sozusagen<br />
von der Oberfläche der Erde zu tilgen.<br />
Unterschwellig schwingt bei dieser blutigen Art<br />
des Sieges sicher auch mit, dass der Sieger sich,<br />
zusammen mit dem Fleisch des Panthers, auch<br />
dessen Kräfte <strong>ein</strong>verleibte. Sie gingen mit dem Akt<br />
sozusagen auf ihn über. Einzelne Indigene Stämme<br />
verfahren bis heute so.<br />
Und trotzdem bleibt es beim kläglichen Versuch,<br />
<strong>ein</strong>e mögliche Erklärung zu finden, für das<br />
biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn! - Arme<br />
Raubkatze! Versteigt sich der elegante Räuber, im<br />
Prinzip hochgeachtet, sehr gefürchtet <strong>und</strong> so sehr<br />
respektiert, dass es an Mythos grenzt, doch dazu,<br />
das Vieh des übermächtigen Fazendeiros zu<br />
reißen! Welcher sich, gleichzeitig überlegen <strong>und</strong><br />
herausgefordert fühlt, vielleicht nähme s<strong>ein</strong>e<br />
Männlichkeit Schaden oder gar, wer weiß,<br />
schwände s<strong>ein</strong>e Macht, wenn er sie nicht töten<br />
ließe.<br />
Aber nicht nur vom verspiesenen Panthern weiß<br />
ich zu berichten. Das selbe schreckliche Schicksal<br />
erreichte auch andere, noch unschuldigere Tiere,<br />
<strong>ein</strong>en Aasgeier, <strong>ein</strong>en „Urubú“, <strong>und</strong> auch <strong>ein</strong>e ganz<br />
gewöhnliche Hauskatze. Wer traute schon solch<br />
sch<strong>ein</strong>bar harmlosen, friedlichen Tieren, die so<br />
sorglos mit den Menschen zusammenleben zu,<br />
solche ungeheure Wellen von Hass <strong>und</strong> Wut<br />
auszulösen? Den Aasgeier mit s<strong>ein</strong>em majestätischen<br />
Flug vielleicht ausgenommen? Wellen, die<br />
nur mit <strong>ein</strong>em anderen bluttriefenden, brutalen<br />
Akt, dem Aufessen, vergelten werden können?<br />
Aber beginnen wir beim Anfang. Der Chef <strong>ein</strong>er<br />
Gruppe von Waldrodearbeitern, mitten in <strong>ein</strong>em<br />
unwirtlich unbekannten Sertão, dem Hinterland,<br />
irgendwo im endlosen Nirgendwo, weit ab, noch<br />
mit wenigen gerodeten Flecken, da, wo man die<br />
reale Realität des Landesinnern des Amazonas<br />
lebt, gibt es Fazendas, die, wie man lässig hören<br />
kann, nicht sehr abgeschieden liegen, nur <strong>ein</strong><br />
paar Tagreisen weit (!) mit dem Boot. Da, wo<br />
alles gigantisch ist, wild, böse <strong>und</strong> endlos fern,<br />
fern ab von allem. Da, wo es vor allem Wasser<br />
<strong>und</strong> noch mehr Wasser gibt, <strong>und</strong> die Boote oder<br />
Linienschiffe, immer hoch über die erlaubte<br />
Kapazität hinaus vollgeladen, das übliche<br />
Transportmittel sind. Es gibt auch das Flugzeug.<br />
Es landet zweimal pro Woche auf schlecht<br />
geräumten <strong>und</strong> signalisierten Landepisten, auch<br />
mal voller „Urubus“. Jemand hat mal wieder die<br />
Piste als Abfallhalde missbraucht.<br />
Da sind Männer noch Männer, Machos, so richtig<br />
böse, männlich <strong>und</strong> wild. So männlich, wie es<br />
nicht mal der am weitesten gefasste Wortsinn<br />
auszudrücken vermag. Ein urbrasilianischer<br />
Wilder Westen, ohne Zweifel <strong>ein</strong> anderer Planet,<br />
voller unerwarteter <strong>und</strong> unberechenbarer<br />
Gefahren, mit eigenen Regeln <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er sehr<br />
eigenwilligen Logik. Die Größe der Fazenda, des<br />
Gr<strong>und</strong>besitzes, illustriert, dass man zu Pferd (!)<br />
gut <strong>ein</strong>en ganzen Tag, (!) brauchte, um vom<br />
<strong>ein</strong>en Ende der Fazenda bis zum Haupt<strong>ein</strong>gang<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 774
zu gelangen <strong>und</strong> das auch nur, weil der<br />
Fazendeiro eben diesen Pfad mitten durch den<br />
Regenwald “öffnen” ließ, “varrido”, sauber gefegt,<br />
wie es der Chef der Rodungsgruppe so treffend<br />
ausdrückt.<br />
Man stelle sich all<strong>ein</strong> schon die brachiale Logistik<br />
vor, <strong>ein</strong>en Trupp aus zehn Männern auf ihrer<br />
wilden Arbeit mit Essen zu versorgen! Laut<br />
Bericht waren all<strong>ein</strong> zwei der zehn für die Jagd<br />
verantwortlich. Jagten alles, was ihnen vor die<br />
Flinte kam, normalerweise „Jabutí“, Landschildkröten,<br />
hochgeschützt. Trotzdem war das<br />
Dschungelmenu ziemlich <strong>ein</strong>tönig. Zum Frühstück,<br />
jeden Tag auf Neue, <strong>ein</strong>e Art <strong>ein</strong>gedickter<br />
Maisbrei, in deftige Stücke geschnitten, dazu<br />
Kaffee. Zum Mittag- <strong>und</strong> Abendessen der selbe<br />
Maisbrei, dann zusammen mit der Jagdbeute<br />
gekocht. Damit der Kaffee nicht schwarz<br />
getrunken werden musste, wurde er mit dem<br />
milchigen Saft <strong>ein</strong>es Strauches, der „Amapá“<br />
heißt, er ist auch als Heilpflanze bekannt,<br />
vermischt. Während des Tages legte man beim<br />
Fällen die entsprechenden Büsche zur Seite, ritzte<br />
sie am Abend an, worauf sie bis zum Morgen<br />
Eimer um Eimer ihres milchigen Saftes w<strong>ein</strong>ten.<br />
Mit dem Löffel schaumig geschlagen, wurde er am<br />
nächsten Morgen zusammen mit dem Kaffee<br />
getrunken.<br />
Und irgendwo da ereilt auch den Aasgeier s<strong>ein</strong><br />
Schicksal, das er unglücklicherweise gerade<br />
deshalb besiegelte, weil er genau das machte,<br />
wofür er bestimmt ist. Er landete in der Pfanne,<br />
weil er <strong>ein</strong> Aas fressen wollte. Unglücklicherweise<br />
fiel s<strong>ein</strong>e Wahl, welch schrecklicher Zufall, auf <strong>ein</strong>e<br />
Jagdbeute, <strong>ein</strong> Reiher oder <strong>ein</strong> anderer Vogel,<br />
schon gerupft <strong>und</strong> damit noch appetitanregender,<br />
aufgehängt, um abzuhängen. Als der Jäger der<br />
unerwarteten Konkurrenz ansichtig wurde, stieg in<br />
ihm <strong>ein</strong>e solche Wut hoch, er sah Rot, griff zur<br />
Flinte <strong>und</strong> machte umgehend den Urubu zu s<strong>ein</strong>er<br />
nächsten Jagdbeute. Auch dieses Essen, respektive<br />
der Racheakt, soll nicht sonderlich gut geschmeckt<br />
haben. Wie weit auch Vorurteile mitspielen, kann<br />
nicht mehr rekonstruiert werden.<br />
Am unglücklichsten aber war die Katze, <strong>ein</strong>e<br />
streunende, simple Hauskatze. Gefitzt <strong>und</strong> clever<br />
stahl sie <strong>ein</strong> paar leckere Hühnereier, mit deren<br />
Verkauf der Bauer japanischer Abstammung schon<br />
gerechnet hatte. Auch er hegte nicht den leisesten<br />
Zweifel. Ließ das Tier abschießen <strong>und</strong> zubereiten.<br />
Der Mann, der das Opfer vollstreckte, erzählte,<br />
dass er, zu Tische gebeten, damit nicht recht froh<br />
wurde. Der erste Bissen des Bratens schien ihm im<br />
M<strong>und</strong> anzuschwellen, wurde groß, größer, ja so<br />
gigantisch, dass er sich genötigt sah, vom<br />
Vorhaben abzusehen.<br />
Wer darin <strong>ein</strong>e Art Fluch oder Rache sehen<br />
möchte, befindet sich in guter Gesellschaft. Nicht<br />
nur die Indios, auch alle anderen Einheimischen,<br />
Caboclos oder nicht, glauben, dass jetwelches Tier<br />
oder Pflanze aus dem endlosen Dschungel <strong>ein</strong>e<br />
Seele hat, wie nicht nur die reichen Mythen <strong>und</strong><br />
Lenden bezeugen. Eine der schönsten rankt sich<br />
um die Riesenschlange. Tagsüber unsichtbar stoße<br />
man nur auf ihre gigantische, fast <strong>ein</strong>en Meter<br />
breite <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Handspanne tiefe Spur, die sich<br />
von <strong>ein</strong>em Flussufer zum nächsten lang zöge.<br />
Nachts, unheimlich <strong>und</strong> geheimnisvoll, könne man<br />
ihre Augen sehen, zwei Lichter mit intensivem,<br />
wenn auch unregelmäßigem Glanz, die schwebend<br />
über den Fluss glitten. Man erzählt sich, dass sie,<br />
von <strong>ein</strong>er „Sucuri“ (Riesenschlange) gezeugt <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>er India geboren, sich ohne den leisesten Laut,<br />
aber mit großer Geschwindigkeit über die Oberfläche<br />
des Flusses fortbewege.<br />
Eine andere Version erzählt, dass die Riesenschlange<br />
in der Erde lebe. Wenn sie sich dann mal<br />
wieder bewege, löse sie damit leichte Erdstöße<br />
aus. Wie auch immer. Für mich wird sie zu <strong>ein</strong>er<br />
Art Racheengel-Reptil. Rächt all die, aus purer Wut<br />
getöteten <strong>und</strong> verspeisten, Tiere. Rächt sich durch<br />
ihre unheimliche Unsichtbarkeit. Ist sie unsichtbar,<br />
kann sie auch nicht getötet oder gar verspiesen<br />
werden! Womit die Angst, die sie verbreitet, auch<br />
unaustilgbar bleibt. Als letzte Frage bleibt<br />
allerdings das Rätsel, warum ausgerechnet ihr<br />
nachgesagt wird, dass sie unschuldige Fischer<br />
verschlinge, besonders solche, die es<br />
unvorsichtigerweise wagen, nachts zu fischen!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 775
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Von den Maß- <strong>und</strong> Mess<strong>ein</strong>heiten<br />
Ich sammle sie alle, die liebevoll angeschlagenen<br />
Maßbecher, die eigentlich leere Soyaöldosen sind,<br />
die „Litros“, Litermess<strong>ein</strong>heiten, mit oder ohne<br />
Henkel oder Bügel, die mir so vieles abmessen,<br />
Kastanien genauso wie Pefferkörner, Farinha,<br />
Bohnen, Beijou sica natürlich <strong>und</strong> flockige<br />
Tapioca, alles wird auf dem Markt per Liter<br />
verkauft. Zu m<strong>ein</strong>er Überraschung allerdings<br />
werden Okraschoten <strong>und</strong> „Maxixe“, <strong>ein</strong> kugliges<br />
Gemüse aus der Familie der Gurken abgezählt,<br />
fünf für <strong>ein</strong>en Real oder so <strong>und</strong> gleich zu<br />
w<strong>und</strong>erbar dekorativen Büscheln zusammen<br />
geflochten. Dass man allerdings Flüssigkeiten wie<br />
Tucupi <strong>und</strong> Açaí, gar Eiswürfel in die<br />
allgegenwärtigen Plastiktüten abfüllt, daran<br />
werde ich mich wohl nie gewöhnen. Die K<strong>und</strong>en<br />
wollen es nun mal so. Wie sollen sie es sonst nach<br />
Hause bringen?<br />
wie verschw<strong>und</strong>en. Sie wurden von Zeitungspapier,<br />
Plastiknetzchen oder halt den allgegenwärtigen<br />
Plastiktüten abgelöst. In denen werden die besten<br />
Früchte sogleich zu Matsch.<br />
Am liebsten habe ich allerdings die schon vorgedachten,<br />
vorsortierten Gemüsebouquets, <strong>ein</strong> paar Blätter Kohl,<br />
<strong>ein</strong> Stück Kürbis, Rote Beete <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />
Schlangenbohnen als Paket gefällig? Oder die für die<br />
Fischsuppe nötigen Tomaten, Pfefferschötchen,<br />
Zwiebeln <strong>und</strong> vielleicht gar noch <strong>ein</strong>e Zitrone mit dabei<br />
um den Fisch zu waschen, zusammen angeboten?<br />
Appetitanregender nur die Gewürzsträußchen, in Belém<br />
gleich mit den drei oder vier nötigen scharfen<br />
Pfefferfrüchtchen. Ohne die, <strong>ein</strong>fach mit der Gabel<br />
zerdrückt, schmeckt hier k<strong>ein</strong> Essen.<br />
Eine Petflasche ohne Hals, <strong>ein</strong> Plastikbecher oder<br />
<strong>ein</strong> altes Glas dienen als Maß<strong>ein</strong>heit für die<br />
unterschiedlichsten Gewürze, Colorau, Açafrão,<br />
Kreuzkümmel <strong>und</strong> Koriander, ohne die hier<br />
niemand kocht. Zusammen sind sie für<br />
Geschmack <strong>und</strong> appetitliche Farbe der Speisen<br />
verantwortlich. Kalebassen, „Cuias“ genannt,<br />
schöpfen getrocknete Krabben in noch <strong>ein</strong>e<br />
Plastiktüte. Angeliefert werden sie aber noch in<br />
den w<strong>und</strong>erschönen, handgeflochtenen Körben,<br />
die sich aber leider sehr schnell abnützen. Auch<br />
die Bananenblätter zum Einwickeln sind so gut<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 781
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 785
Padres Büchse<br />
“Halt! Finger weg! N<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>! ” – Sie ist<br />
kategorisch! Probiert werden darf erst am<br />
Geburtstagsfest. Die Versuchungen, <strong>ein</strong>e köstlicher<br />
als die andere, nicht weniger als sorgfältig<br />
abgezählte 1.000 Stück winzigen Konfekts werden<br />
hier, in <strong>ein</strong>er ganz normalen Küche, unter<br />
Einbezug der halben Länge des Wohnzimmertisches,<br />
<strong>und</strong> damit direkt unter m<strong>ein</strong>er begierigen<br />
Nase, produziert.<br />
Noch <strong>ein</strong> Blech kommt an. Der Inhalt der winzige<br />
Förmchen ist delikat, zartbräunlich <strong>und</strong> krümelig.<br />
Die f<strong>ein</strong>e Oberfläche von winzigen Luftblasen<br />
aufgebrochen, mit <strong>ein</strong>em f<strong>ein</strong>en dunkleren Rand.<br />
Der signalisiert, dass die “Nha Bentas” schon ganz<br />
durchgebacken sind. Sogleich werden die<br />
Förmchen, <strong>ein</strong>s hinter dem anderen, umgestürzt.<br />
Puh! Die sind aber heiß! Spitze Fingern stürzen<br />
<strong>und</strong> klopfen die kl<strong>ein</strong>en, süßen Dinger heraus,<br />
direkt in <strong>ein</strong>e Schale mit mittelf<strong>ein</strong>em Zucker.<br />
Werden darin, noch immer fast dampfend heiß,<br />
von geschickten, sch<strong>ein</strong>bar hitzeunempfindlichen<br />
Händen um <strong>und</strong> um gewälzt. Die Süße bildet <strong>ein</strong><br />
delikates Zuckerkrüstchen, das nur dann hält,<br />
wenn man die Küchl<strong>ein</strong> gleich nach dem Backen<br />
dem süßen Prozedere unterwirft. Nun wird jedes<br />
<strong>ein</strong>zelne Biskuithügelchen in <strong>ein</strong> rosafarbenes<br />
Papierförmchen, es ist <strong>ein</strong> Mädchengeburtstag,<br />
gesetzt. Zum Schluss bekommt es noch <strong>ein</strong>e<br />
Rosine auf den Hintern geklebt. Schon werden<br />
alle, total ausgekühlt, in die unzähligen, bereit<br />
-stehenden Papierschachteln geschichtet.<br />
Noch <strong>ein</strong> Trennpapier darüber <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Lage<br />
Biskuits obenauf.<br />
Die Hälfte der Frauen des Clans <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Hilfskraft<br />
sind aufgeboten, alle bis spät in die Nacht in die<br />
Produktion involviert. Denn die Liste der Sorten ist<br />
lange. Schon wieder wird, Brille aufgesetzt, <strong>ein</strong><br />
neues Rezept nachgeschlagen, Zutaten<br />
abgewogen, durchgerührt, Schüsseln ausgekratzt.<br />
Der Ordner ist gut organisiert, alle Rezepte auf<br />
<strong>ein</strong>er Schreibmaschine getippt, f<strong>ein</strong> säuberlich in<br />
Plastiktüten gesteckt. So kann man auch mal mit<br />
<strong>ein</strong>em etwas klebrigen Finger die Seiten wenden,<br />
ohne dass gleich <strong>ein</strong>e Katastrophe geschieht. Den<br />
vom vielen Bücken schon etwas steifen Rücken<br />
aufs Neue durchgedrückt, das leichte Top<br />
zurechtgerückt, <strong>und</strong> schon geht´s wieder los. Nun<br />
sind die Maracujá-Rauten an der Reihe. Das f<strong>ein</strong>e<br />
Biskuit bekommt <strong>ein</strong>en dunkelorangen Guss,<br />
dessen zuckrige Süße die Säure des Maracujásaftes<br />
gut ausbalanciert. In kl<strong>ein</strong>e Rauten<br />
geschnitten, bekommt auch davon jedes s<strong>ein</strong><br />
papierenes Förmchen <strong>und</strong> mittendrauf <strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>zelne silberne Zuckerperle.<br />
Die ganze Herstellung wird, nur die Hände sind<br />
überaus emsig beschäftigt, mit viel Klatsch, Tratsch<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong>igen launigen Kommentaren <strong>und</strong><br />
Erinnerungen angereichert. Hin <strong>und</strong> wieder<br />
unterstreicht <strong>ein</strong> Löffel voller Füllung <strong>ein</strong>en<br />
besonders wichtigen Satz. Bleibt, kurze Sek<strong>und</strong>en<br />
nur, untätig in der Luft stehen.<br />
Für die mit Guavenpaste gefüllten “Rocamboles”,<br />
winzige Biskuitrouladen, werden unzählige Lagen<br />
Biskuitboden gebacken, gefüllt <strong>und</strong> noch heiß in<br />
f<strong>ein</strong>e Röllchen gerollt. Aufgeschnitten enthüllen<br />
sie ihre zweifarbene Schneckenform. Noch <strong>ein</strong>e<br />
neue Packung f<strong>ein</strong> rosafarbener Papierförmchen<br />
aufgerissen: Kl<strong>ein</strong>e rote Herzen auf rosa Gr<strong>und</strong>.<br />
Die Förmchen, <strong>ein</strong>s nach dem anderen<br />
aus<strong>ein</strong>ander gezupft, aufgereiht <strong>und</strong> nach <strong>und</strong><br />
nach, wie am Fließband, nun mit “Beijinhos” <strong>und</strong><br />
“Brigadeiros” gefüllt, beide mit üppigen<br />
Kondensmilchbächen hergestellt. Weder<br />
“Brigadeiros” noch “Beijinhos” dürfen bei <strong>ein</strong>em<br />
Kindergeburtstag fehlen. Erstere werden in<br />
dunklen Schokostreußeln gewendet. Die<br />
eigentlich weißen “Beijinhos” sind rosa<br />
durchgefärbt. Ihre Form ist ganz untraditionell<br />
birnenförmig. Sie werden zum Schluss nur in<br />
Zucker <strong>und</strong> nicht in den obligaten Kokosflocken<br />
gewendet. An Stelle des Fruchtstempels<br />
bekommt jede <strong>ein</strong>zelne <strong>ein</strong>e Gewürznelke<br />
gesteckt.<br />
Sie sind, zusammen mit den schokoladigultrasüßen<br />
“Brigadeiros” <strong>und</strong> den “Cajuzinhos”,<br />
sogenannte Süßigkeiten aus dem Topf, denn sie<br />
werden nicht gebacken, sondern die wenigen<br />
Zutaten werden zusammen so lange <strong>ein</strong>gekocht,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 786
is sie von Hand geformt werden können. Das<br />
“Cajuzinho”-Rezept ist <strong>ein</strong>fach. Gemahlene<br />
Erdnüsse <strong>und</strong> Kondensmilch, <strong>ein</strong>gedickt <strong>und</strong> dann<br />
von Hand, noch <strong>ein</strong>s <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>s, zu kl<strong>ein</strong>en,<br />
identischen Bällchen gerollt <strong>und</strong> in Zucker<br />
gewälzt. Fehlen nun nur noch Cupuaçu-Schiffchen,<br />
die dem ganzen jenen definitiv amazonischen<br />
Touch geben.<br />
Das Rührgerät läuft immer noch auf Hochtouren.<br />
Töpfe, Schüsseln, Schälchen die unterschiedlichsten<br />
Spachtel, Bleche, Formen <strong>und</strong> Förmchen sind<br />
alle in Gebrauch. Kaum ausgelöst, werden sie<br />
schon wieder <strong>ein</strong>gefettet, in den Ofen geschoben.<br />
Die Süßigkeiten in Zucker gewendet, dekoriert<br />
<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e perfekt ausgerichtete Lage<br />
Papierförmchen füllt die nächste, schon<br />
bereitstehende Schachtel. Die Hitze des Ofens<br />
konkurriert mit amazonischen Hitzen. Hin <strong>und</strong><br />
wieder fällt <strong>ein</strong> wohlverdienter Schweißtropfen zu<br />
Boden.<br />
Ultra, mega zuckersüß, fast klebrig, aber doch<br />
delikat, jedes <strong>ein</strong>zelne <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Zuckerkunstwerk.<br />
Konditorkunst, altmodisch, aus besten<br />
Zutaten <strong>und</strong> mit noch mehr Liebe <strong>und</strong> Hingabe<br />
hausgemacht. Eine Liebe <strong>und</strong> Hingabe, wie sie<br />
wohl bald k<strong>ein</strong>er mehr aufbieten wird. Heutzutage<br />
bestellt man fertige Cupcakes, oder zu ganz<br />
speziellen Anlässen hochstilisierte, perfekte<br />
Winzigkeiten, die in chiffonen, gazegestärkten<br />
Wiegen ruhen, fast zu schön, um berührt,<br />
geschweige denn gegessen zu werden.<br />
Persönlich halte ich es da lieber mit des Padres<br />
Büchse – <strong>und</strong> Sie?<br />
Aber endlich wird die Massenproduktion<br />
unterbrochen. Ein Kaffee ist fällig. Auch er äußerst<br />
wohl verdient. Und da kommt endlich auch die<br />
“Schachtel oder Büchse des Padres” zum Zug. Sie<br />
enthält <strong>ein</strong>e sozusagen technische Reserve aller<br />
Süßigkeiten. Es sind all die, die nicht ganz 100 %<br />
perfekt herauskamen. Und von denen darf nun<br />
auch ich, nicht nur der Padre, vor der angezeigten<br />
Zeit naschen!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 787
An den, der mich liest oder Der Jesuit<br />
Es war m<strong>ein</strong> Schwiegervater, in dessen<br />
Aufzeichnungen ich das erste Mal über den<br />
Amazonas las. Und über <strong>ein</strong>en „Jesuiten“, den<br />
nämlich hatte er für s<strong>ein</strong>e Angebetete <strong>und</strong><br />
spätere Frau gekauft. Eine süße Art, um sie zu<br />
werben.<br />
Später, sehr viel später, Gott habe ihn selig, aß ich<br />
selber <strong>ein</strong>en. Einen währschaften „Jesuiten“, <strong>ein</strong>e<br />
Schnitte aus Blätterteig mit Zuckerguss. Bis heute<br />
fällt es mir schwer, mich zwischen „Himmelsschwarten“<br />
oder „Engelsbäckchen“, „Bischofsschnitten“,<br />
„Nonnenbäuchen“ oder „Mönchsküssen“<br />
zu entscheiden, wenn sie überhaupt,<br />
außerhalb Portugals, noch im Angebot sind.<br />
Gem<strong>ein</strong>sam haben sie alle, dass nicht nur die ach<br />
so liebevoll katholischen Namen, sondern auch<br />
die Süßigkeiten portugiesischer nicht s<strong>ein</strong><br />
könnten.<br />
Belém hatte historischerweise <strong>ein</strong>e sehr enge<br />
Beziehung zu Portugal, war es über Meer,<br />
widrigen Strömungen zufolge, <strong>ein</strong>fach nach<br />
Portugal zu gelangen als nach Rio de Janeiro, dem<br />
damaligen Brasilien <strong>und</strong> vize versa. Und so<br />
genieße ich, die ewig Nostalgische, m<strong>ein</strong> Konfekt,<br />
welches mich jedes mal auch an m<strong>ein</strong>en<br />
Schwiegervater erinnert.<br />
jungen Jahre, beschreibt er in den liebevollsten<br />
Details, wie er zum Militär <strong>ein</strong>gezogen werden<br />
sollte. Und wie s<strong>ein</strong>e Mutter auf s<strong>ein</strong>e Bitte hin mit<br />
dem verantwortlichen Militärkommandanten<br />
sprach. Welcher ihn dann mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />
Federstrich <strong>und</strong> <strong>ein</strong>igem Hin <strong>und</strong> Her<br />
dienstuntauglich erklärte. Eine Praxis, die übrigens<br />
bis heute funktioniert!<br />
Beschreibt, wie er sich in m<strong>ein</strong>e Schwiegermutter<br />
verliebte, obwohl sie behindert war. Die Kinderlähmung<br />
hatte ihr das <strong>ein</strong>e B<strong>ein</strong> verkürzt, was aber<br />
ihrer Attraktion k<strong>ein</strong>erlei Abbruch tat. Im<br />
Gegenteil. Sie wurden <strong>ein</strong> unzertrennliches Paar<br />
<strong>und</strong> m<strong>ein</strong>e Schwiegermutter, <strong>ein</strong>e dominante<br />
Persönlichkeit, wachte bis ins höchste Alter<br />
eifersüchtig darüber, wer ihrem Mann nahe<br />
kommen durfte.<br />
Ja, wozu so <strong>ein</strong> Jesuit doch alles gut ist….<br />
In s<strong>ein</strong>en Aufzeichnungen, „A quem me lê“ – „An<br />
den, der mich liest“, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Bericht über s<strong>ein</strong>e<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 788
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 789
Caboclos<br />
Kultur<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 790
Caboclos Kultur<br />
Gerüche, Düfte, Parfüms 793/794<br />
Vom magischen Bad voller Düfte oder “Cheiro cheiroso” 797/798<br />
Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern 801<br />
Uschi, die Duftende 803<br />
Chico, der Schlangenflüsterer 805-808<br />
Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen Verwandlung 809<br />
Vom Schönheitskult 815/816<br />
Der rosafarbene Delfin 819/820<br />
Grauer Delfin gegen den rosafarbenen - Sairé Alter do Chão 844/845<br />
Carimbó, Musik mit Humor / Guitarrada 849/850<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 792
Gerüche, Düfte, Parfüms<br />
Es ist wohl der hohen Luftfeuchtigkeit<br />
zuzuschreiben, die 90 % erreicht, dass sich bei der<br />
geringsten Friktion Wellen <strong>und</strong> Wellen von<br />
Duftwolken freisetzen. Ob sie auch daran schuld<br />
ist, dass sich hier alle Gerüche <strong>und</strong> Parfüms<br />
verstärken, überzeichnen, konzentrieren, bis zu<br />
dem Punkt, wo sie penetrant werden, schwer<br />
oder gar abstoßend, mich gar verfolgen? Oder<br />
liegt es gar an den lokalen Gewohnheiten? Nur<br />
hier in Brasiliens Norden begleiten mich so viele<br />
besondere Gerüche <strong>und</strong> Düfte. Duftende Partikel,<br />
die alles hergeben, was sich die Tropen so<br />
ausgedacht, zusammengebraut <strong>und</strong> vergoren<br />
haben, <strong>und</strong> das ist viel. Ist es der Vorliebe der<br />
Caboclos wegen, auch alle Männer, sich zu<br />
parfümieren <strong>und</strong> bitte gerne großzügig? Werde<br />
weiter riechen, schniefen, schnuppern oder mir<br />
die Nase zuhalten, ohne es je wirklich heraus zu<br />
finden.<br />
Da! Der Duft <strong>ein</strong>es Cupuaçus, noch in der Schale,<br />
irgendwo auf der Straße zum Verkauf aufgetürmt,<br />
schlägt er mich von weitem in s<strong>ein</strong>en Bann!<br />
Bildet, Fleisch <strong>und</strong> Geruch, <strong>ein</strong> sehr spezielles,<br />
untrennbares Gespann. Wie nur den intensiven,<br />
säuerlich-fruchtigen Geruch <strong>ein</strong>er Araçá<br />
beschreiben? Eine Frucht aus der Familie der<br />
Guaven, nicht die domestizierten weißen oder<br />
hellroten, die fast wie Katzenpipi riechen. Die<br />
wilden, kl<strong>ein</strong>kuglige oder ovalen, die man nur in<br />
den altmodischen Hinterhofgärten findet?<br />
Fantastisch die orangengroße, eidottergelbe <strong>und</strong><br />
pfirsichhäutige Schwester mit dem vollm<strong>und</strong>igen<br />
Namen „Araçá da Califórnia“, so w<strong>und</strong>erbar sauer<br />
parfümiert, schärfer <strong>und</strong> noch akzentuierter, dass<br />
es mir all<strong>ein</strong> schon beim Daran-Denken das<br />
Zahnfleisch wonnig zusammenzieht oder das<br />
Hemd aus der Hose, wie m<strong>ein</strong>e Großmutter wohl<br />
gesagt hätte.<br />
Auch andere Früchte hier riechen raumfüllend,<br />
kitzeln den Gaumen, betäuben die Zunge,<br />
Geschmack-Geruch, ver<strong>ein</strong>nahmen alle m<strong>ein</strong>e<br />
Sinne. Hände, Augen <strong>und</strong> Nase essen mit. Purstes<br />
Vergnügen, an sechs, sieben voll ausgereiften<br />
Mangos zu riechen, jede mit dem ihr ganz eigenen<br />
Geruch, mal halb harzig, halb herb, mal blumig<br />
oder zitronig. Düfte, die sich noch verstärken, die<br />
Palette der fremdartigen Geschmack-Gerüche<br />
bereichern, wenn man <strong>ein</strong> Stück des<br />
Fruchtfleisches runter schneidet; Fleisch <strong>und</strong><br />
Geruch, Nase <strong>und</strong> M<strong>und</strong> <strong>ein</strong> untrennbares<br />
Gespann.<br />
Der grün-holzige Duft, den der Tropenwald<br />
nach dem Regen ausdünstet, schimmlig, faulig <strong>und</strong><br />
doch frisch. So anders die vor sich hin rottende<br />
Fäulnis der Städte, deren Geruch-Gestank schwer<br />
aus den Abwasserkanälen hochsteigt, in denen<br />
überreife Mangos zusammen mit süßlich<br />
stinkendem Abfall verfaulen. Schwaden stinkender<br />
Fäulnis, von ständigen Regen genährt, gegärt <strong>und</strong><br />
zelebriert, die mir in unappetitlich<br />
unregelmäßigen Wellen in die Nüstern steigen.<br />
Der Blumen-, Kräuter-, Heilmittel- <strong>und</strong><br />
Gewürzmarkt wird zum r<strong>ein</strong>en Delirium, wenn<br />
mir der eifrige Verkäufer die verschiedensten<br />
frischgrünen Ästchen von s<strong>ein</strong>en Kräuterstauden<br />
herunterbricht, sie zwischen den Fingern zerreibt<br />
<strong>und</strong> mir unter die schnuppernde Nase hält. Sie<br />
sind für die unterschiedlichsten Dinge gut. Man<br />
braut aus ihnen Tees <strong>und</strong> Badeaufsude. Es muss<br />
wohl tausenderlei Typen „Manjericão“, die selbe<br />
Familie wie Basilikum <strong>und</strong> „Alfavaca“ geben.<br />
Jedes fleischig üppige Blatt hat s<strong>ein</strong>en eigenen,<br />
ganz speziellen Duft, pfeffrig, grün oder gar<br />
menschlich, nicht von ungefähr heißt es „Catinga<br />
da Mulata“, Mulattenausdünstung/-schweiß.<br />
Ich erinnere mich an den halb antiquierten, halb<br />
exotischen Geruch der Kleider, die hier mit<br />
Sachés oder „Amarrados“ (Wurzelbüscheln in<br />
verschiedenen Formen, auch als Puppen) aus<br />
Vetiverwurzel aufbewahrt wurden. Es sind<br />
emotionelle, dramatisch-starke Düfte. Sie reißen<br />
die Herrschaft an sich, balgen sich um die<br />
Vorherrschaft. Jeder hat s<strong>ein</strong>e eigene<br />
Persönlichkeit, jeder erzählt tausenderlei<br />
Geschichten, amazonische Geschichten.<br />
Sie haben alles, was altmodische Parfüms<br />
auszeichnet, <strong>und</strong> können <strong>ein</strong>em deshalb auch<br />
ganz schön auf den Nerv gehen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 793
Wie extrem emotionell Düfte sind, allerneueste<br />
Forschungen bestätigen das nur, <strong>und</strong> dass sie gar<br />
Heimweh mildern können, beweist die Geschichte<br />
<strong>ein</strong>er während der Militärdiktatur exilierten<br />
Brasilianerin.<br />
Immer wenn sie es vor lauter Heimweh fast nicht<br />
mehr aushielt, nahm sie <strong>ein</strong> Bad. Schälte die<br />
sorgfältig aufbewahrte Rosenholzseife aus der<br />
Verpackung <strong>und</strong> hüllte sich <strong>und</strong> ihr Heimweh,<br />
zusammen mit sehr viel, sehr heißem <strong>und</strong><br />
prickelndem Wasser in jene Duftwolke aus<br />
Rosenholz, wohl mehr <strong>ein</strong> parfümiertes Meer. Ein<br />
langes, endlos langes Bad. Es dauerte so lange, bis<br />
sie sich allen Staub des Heimwehs ab- <strong>und</strong> weg<br />
gewaschen <strong>und</strong> sie selber sich wieder gefangen<br />
hatte. Gestärkt <strong>und</strong> mit neuem Elan gelang es ihr<br />
wieder dem Leben <strong>und</strong> dem Exil in die Augen zu<br />
sehen. Auch so kann man s<strong>ein</strong>e duftenden<br />
Erinnerungen zelebrieren.<br />
Ich m<strong>ein</strong>erseits bringe sie alle mit mir mit, in m<strong>ein</strong><br />
Duftgedächtnis <strong>ein</strong>gegraben, <strong>ein</strong> flüchtiger Akkord<br />
unvergesslicher Erinnerungen an den Norden, an<br />
den Amazonas.<br />
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Vom magischen Bad voller Düfte oder “Cheiro cheiroso”<br />
Es war <strong>ein</strong>mal, damals, in den guten alten Zeiten.<br />
Da hatte das Jahr noch zwei Höhepunkte, beide<br />
umhüllt von Wohlgerüchen, den Wohlgerüchen<br />
<strong>ein</strong>es „Banhos de Cheiro“, <strong>ein</strong>es Duftbades. So <strong>ein</strong><br />
Bad voller Düfte brachte Glück <strong>und</strong> Segen <strong>und</strong><br />
verschloss gleichzeitig den Körper. Ein Ritual: Im<br />
Juli, um den Tag des heiligen São João (24.6.<br />
Johannes der Täufer) <strong>und</strong> zum Jahreswechsel,<br />
nahmen alle ihr duftendes, gesegnetes Bad. Es<br />
gibt Quellen, die sagen, dass das Ritual des<br />
Johannesbades ursprünglich aus Portugal<br />
stamme. Da die indigene Bevölkerung aber <strong>ein</strong>e<br />
intime Beziehung zur R<strong>ein</strong>igung <strong>und</strong> <strong>ein</strong> tiefes<br />
Faible für gute Gerüche hat <strong>und</strong> von deren<br />
magischer Kraft überzeugt ist, wird sich alles in<br />
<strong>ein</strong>em multikulturellen Schmelztiegel vermischt<br />
haben.<br />
Pünktlich zu den Festen tauchten <strong>und</strong> tauchen<br />
auch heute noch in den Straßen an jeder Ecke<br />
ambulante Verkäufer auf. Sie bieten aus Kesseln,<br />
Körben oder von türblattgroßen, zweirädrigen<br />
Ziehkarren all das an, was gut riecht, den bösen<br />
Blick abhält <strong>und</strong> gute Geister anzieht: Rosmarin,<br />
Lavendel, Patchuli, Priprioca, Casca Preciosa,<br />
Cumaru (Tonkabohne), Myrre <strong>und</strong> Catinga de<br />
Mulata. Früher kündeten sie sich mit ihrem Ruf<br />
“Cheiro cheiroso! Cheiro cheiroso!” (Duftender<br />
Duft!) von weitem an.<br />
Genauso wie bei den Traditionen des Duftbades<br />
weiß auch bei den Düften k<strong>ein</strong>er mehr so genau,<br />
welche lokal sind <strong>und</strong> welche übers Meer hierher<br />
fanden, auf ihrem langen Weg köstlich verschimmelten<br />
wie das Patschuli mit s<strong>ein</strong>en köstlich<br />
fauligen Noten, antik, verstaubt <strong>und</strong> immer<br />
dominant. Es wurde zwischen die kostbaren Stoffe<br />
gelegt, mit dem Ziel die Motten fernzuhalten.<br />
Am Tag des duftenden Bades erinnerte sich jede<br />
Familie an ihre alten, überlieferten Hausrezepte.<br />
Die verlangen, neben den obligaten glückbringenden<br />
Wohlgerüchen, auch immer <strong>ein</strong>e<br />
Portion Magie. Es gilt drei Wurzeln mit drei mal<br />
drei Ästchen zu sieden oder das Duftgebräu muss<br />
sieben Mal mit <strong>ein</strong>em nigelnagelneuen Kochlöffeln<br />
umgerührt werden. Einmal zubereitet,<br />
unterwerfen sich alle Familienmitglieder, ganze<br />
Dynastien, von der Urgroßmutter bis zum Baby,<br />
dem Ritual des „Banho de cheiro“, jeder für sich<br />
oder gar <strong>ein</strong>em kollektiven. Dazu verwandelten die<br />
Familien, die es sich leisten konnten, ihren<br />
Swimming-Pool in <strong>ein</strong>e Art Glücks- oder gar<br />
Jungbrunnen mit amazonischen Dimensionen.<br />
Füllten ihn mit dem schlammiggrünen,<br />
parfümierten Wasser. Daraus stiegen dann alle<br />
ger<strong>ein</strong>igt, gestärkt <strong>und</strong> mit geschlossenen Körpern<br />
hervor.<br />
Auch das Haus wurde <strong>ein</strong>em Bad oder <strong>ein</strong>er<br />
Räucherung unterworfen, die die selben Zwecke<br />
verfolgt. Das ganze Haus wird so lange <strong>und</strong> so<br />
ausgiebig gefegt, gebürstet, gewaschen, bis es<br />
endlich p<strong>ein</strong>lich sauber war. Dann gilt es alle<br />
Fenster <strong>und</strong> Türen weit zu öffnen, um dann<br />
mithilfe <strong>ein</strong>es Straußes, geb<strong>und</strong>en aus aromatischen<br />
Zweigen, jenen parfümierten Aufsud in<br />
alle Ecken <strong>und</strong> Kanten zu verspritzen. Oder es<br />
werden in improvisierten Gefäßen auf glühenden<br />
Kohlen magische Mixturen aus trockenen Kräutern<br />
<strong>und</strong> Harzen verbrannt, deren Rauch so s<strong>ein</strong>e<br />
r<strong>ein</strong>igende Funktion entfalten kann. Beim<br />
Versprühen des Wassers oder dem r<strong>ein</strong>igenden<br />
Räuchern muss darauf geachtet werden, dass nicht<br />
nur alle Türen <strong>und</strong> Fenster offen sind, sondern es<br />
muss auch vom Hausinnern zu den Türen in<br />
verspritzt oder geräuchert werden. Das erlaubt<br />
den aufgeschreckten, bösen Geistern zu fliehen.<br />
Die guten Geister, magisch angezogen, können<br />
ungehindert <strong>ein</strong>treten <strong>und</strong> werden willkommen<br />
geheißen. Unentschieden wankelmütigen Geistern<br />
helfen die Gerüche, sich besser zu orientieren.<br />
Das Ritual des Banho de Cheiro hat bis heute<br />
überlebt. Es soll neuerdings nicht nur in der<br />
Kräuterecke des Ver-o-Peso <strong>ein</strong> großer Hit s<strong>ein</strong>.<br />
Manche Verkäufer setzten gar auf <strong>ein</strong> Kit mit<br />
zweierlei Bädern. Das erste wäscht alle negativen<br />
Energien davon, das zweite parfümiert, regeneriert<br />
<strong>und</strong> lädt mit positiven Energien auf. Es zieht das<br />
Glück an, öffnet die Wege <strong>und</strong> wer weiß was sonst<br />
noch alles. Ach ja, nicht vergessen: Damit das<br />
Duftbad erfolgreich ist, sollte k<strong>ein</strong>e Seife<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 797
verwendet <strong>und</strong> der Körper nach dem Bad<br />
k<strong>ein</strong>esfalls abgetrocknet werden.<br />
Wer selber <strong>ein</strong> Duftbad brauen will, hier das<br />
Rezept: Ein sauberes Gefäß wird mit<br />
parfümierten Kräutern, Wurzeln <strong>und</strong> Hölzern<br />
gefüllt. Die Hölzer <strong>und</strong> Wurzeln müssen vorher<br />
zerstoßen oder gerieben werden. Dann wird das<br />
ganz mit Wasser bedeckt <strong>und</strong> ausgekocht. Bald<br />
schon erhebt sich der exotische Duft<br />
jungfräulichen Waldes. Der grünlichbraune<br />
Aufguss wird dann mithilfe <strong>ein</strong>er Kalebasse über<br />
den ganzen Körper gegossen.<br />
Wer möchte, kann mit den Göttern auch <strong>ein</strong>en<br />
ganz speziellen Wunsch ausmachen.<br />
Komplizierter zu erfüllende Begehren können<br />
durch die Verwendung kl<strong>ein</strong>er Zauberseifen oder<br />
magischen Parfüms unterstützt werden. Ihre<br />
Verpackungen garantieren nicht nur <strong>ein</strong>en neuen<br />
Boyfriend oder Liebhaber, zwingen jenen, der<br />
fremd geht zurück, vor <strong>ein</strong>em auf die Knie, binden<br />
ihn auf’s Neue ganz fest, ziehen zahlkräftige<br />
K<strong>und</strong>schaft oder garantieren ganz generell<br />
Wohlstand.<br />
Alle das beteuert, beschworen <strong>und</strong> besiegelt<br />
durch das jahrh<strong>und</strong>ertealten Wissen der lokalen<br />
Kräuterk<strong>und</strong>igen, die <strong>ein</strong>em gerne in allen<br />
Lebenslagen beraten <strong>und</strong> immer in der Lage sind,<br />
<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>en Ausweg aufzeigen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 798
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 799
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 800
Von Handelsreisenden <strong>und</strong> Hausierern<br />
Kenne sie nur aus nostalgischen Erzählungen.<br />
Aber im abgelegenen Hinterland gibt es sie bis<br />
heute. Der „Regatão“ oder „Mascate“, <strong>ein</strong><br />
schwimmender Krämerladen/Hausierer/<br />
Postbote/Nachrichten- <strong>und</strong> Bestellungen-<br />
Überbringer, der natürlich per Boot überall, oder<br />
wenigstens fast überall hinkommt.<br />
S<strong>ein</strong>e Waren sind <strong>ein</strong> wichtiger Teil des Geschäfts.<br />
Aber fast noch wichtiger ist s<strong>ein</strong>e Kunst. Die Kunst<br />
den <strong>ein</strong>tönigen amazonischen Alltag mit <strong>ein</strong> paar<br />
Farbklecksen zu unterbrechen, aufzuhellen, gar zu<br />
verzaubern. Die Kunst, <strong>ein</strong>en Hauch der großen,<br />
weiten Traumwelt da draußen in die hinterste<br />
Hinterstube im Norden zu bringen. Streichel<strong>ein</strong>heiten<br />
für die Seele, Komfort für den Körper.<br />
Glitzer, Glamour in Form von billigen Stoffen <strong>und</strong><br />
Kleidchen <strong>und</strong> etwas zu grellem Schmuck, billige,<br />
etwas ordinäre Parfüms, Lippenstifte, wohlriechende<br />
Seifen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar leckere<br />
Süßigkeiten.<br />
Wer in der Stadt wohnte, zu dem kam der<br />
„Caixeiro viajante“, <strong>ein</strong> Hausierer in Düften,<br />
spezialisiert auf Parfümrohprodukte. Es war<br />
Brauch, sich neben <strong>ein</strong> paar Tinkturen für die<br />
Hausapotheke auch das eigene Parfüm selber<br />
herzustellen. Stelle mir vor, wie das clever<br />
charmante Männchen mit s<strong>ein</strong>em Bauchladen vor<br />
der Haustür in die Hände klatscht. In die gute<br />
Stube gebeten, den Bauchladen mitten auf den<br />
Tisch wuchtet. Langsam, k<strong>ein</strong> magischer Moment<br />
darf vergeudet werden, es gilt <strong>ein</strong>e Zeremonie zu<br />
vollführen, öffnet sich die Kladde in Zeitlupe.<br />
Augenblicke genug, damit sich die geheimnisvolle<br />
Duftwolke im Raum ausbreiten kann. Ein<br />
unwiderstehlich geheimnisvoller Geruch, bitterfaulig-würzig.<br />
Noch <strong>ein</strong>e Seite des Kastens<br />
runtergeklappt bis endlich der fleckig-grüne Samt<br />
sichtbar wird, mit dem die Kladde ausgelegt ist.<br />
Effektvoll sinnlicher Hinter- <strong>und</strong> Untergr<strong>und</strong> für<br />
unzählige Fläschchen, Döschen <strong>und</strong> Röhrchen, die<br />
alles enthalten, was man zur hauseigenen Parfümproduktion<br />
braucht.<br />
Viele der unterschiedlichsten, wohlriechenden<br />
Ingredienzen, Tinkturen, Öle, Harze, Samen<br />
stammen aus dem Amazonas. Reiht dann<br />
Fläschchen neben Fläschchen, so dass die<br />
Flüssigkeiten in allen Farben gut zur Geltung<br />
kommen, die <strong>ein</strong>en dicklich, die anderen ölig oder<br />
wässrig, den Inhalt des <strong>ein</strong>en oder anderen<br />
aufschüttelt, <strong>ein</strong>em hier an <strong>ein</strong>em Fläschchen<br />
riechen lässt, <strong>ein</strong> anderes schüttelt, um s<strong>ein</strong>en<br />
Geruch noch betäubender zu machen, da <strong>ein</strong><br />
Tröpfchen voller Geheimnisse zerreibt. Die Nasen<br />
mit zwischen zwei Fingern verriebenem Pulvern<br />
oder Ölen in Versuchung führt <strong>und</strong> nie mit leeren<br />
Händen davon geht.<br />
Der Hausherr höchstpersönlich erneuert s<strong>ein</strong>e<br />
Reserven. Ingredienzen, aus denen er s<strong>ein</strong>e<br />
persönlichen Duftwasser, die „Águas de Cheiro“<br />
zusammenbraut, wie es die Tradition will. Gibt <strong>ein</strong><br />
paar bittermandlige „Cumarusamen“ ins Glas,<br />
Späne der Rinde des „Macacaporangabaumes“,<br />
leicht, zitrig, <strong>und</strong> betörend-sinnliches Patschuli,<br />
faulig <strong>und</strong> exotisch. Lässt alles in Alkohol gut<br />
durchziehen, in der Sonne oder in strengster<br />
Dunkelheit, um nach der richtig bemessenen Zeit<br />
sich dann jeden Tag nach jedem der<br />
verschiedenen tagtäglichen Bäder üppig damit zu<br />
parfümieren.<br />
Bis heute kann man die nach alten Rezepten<br />
nachproduzierten, grünlich transparenten Düfte,<br />
in denen echte Wurzeln <strong>und</strong> Samen schwimmen,<br />
finden. Duftwasser, die ihre Parfüms wie früher<br />
aus dem amazonischen Regenwald extrahieren,<br />
<strong>und</strong> helfen <strong>ein</strong>e ganze lokale Kultur zu bewahren.<br />
Auch wenn sie nicht mehr vom Hausierer, sondern<br />
aus dem Shopping stammen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 801
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 802
Uschi, die Duftende<br />
-“Ach, Sie sind Ausländerin! Deutscher<br />
Muttersprache?!“ –sogleich erinnert sich<br />
mindestens <strong>ein</strong>er in der R<strong>und</strong>e an <strong>ein</strong>e andere<br />
Deutsche, <strong>ein</strong>en anderen Landsmann, aus dem<br />
Bekanntenkreis. Wenn sie überhaupt das Wort an<br />
mich richten: Vielleicht spricht sie ja gar k<strong>ein</strong><br />
Portugiesisch!<br />
Deutsch-s<strong>ein</strong>, Deutsch-sprechen wird so<br />
automatisch zum gem<strong>ein</strong>samen Nenner zwischen<br />
mir <strong>und</strong> jenen Personen, die ich soeben kennen<br />
lerne. Wohl urmenschlich, wenn man Entzücken<br />
erwartet, wenn man in <strong>ein</strong>em stockfremden Land<br />
auf so etwas Vertrautes wie auf <strong>ein</strong>en anderen Ex-<br />
Patrioten, wenn auch nur vom Hörensagen, stößt.<br />
Leider splittert dann beim persönlich Kennenlernen<br />
oft etwas vom Lack ab. Spätestens dann<br />
nämlich, wenn man zwar Land- oder<br />
Sprachgenossen findet, aber zum x-ten Mal<br />
feststellt, dass man außer dem fremden Land<br />
oder der Sprache <strong>und</strong> dem selbst gewählten Exil<br />
nicht viel gem<strong>ein</strong>sam hat. Würde diesen<br />
Mitbürger zu Hause wohl höchstens höflich<br />
grüßen, ihn mir sich aber nie zum Fre<strong>und</strong><br />
aussuchen. Im Exil erwarten aber alle<br />
umstehenden immer <strong>ein</strong>e sofortige<br />
Verbrüderung.<br />
Mit Uschi, der Duftenden, Name geändert, verhält<br />
es sich ebenso. Die unterschiedlichsten Leute<br />
erzählen mir sogleich von ihr. Sie muss bekannt<br />
s<strong>ein</strong>, wie <strong>ein</strong> bunter H<strong>und</strong>, oder das Dorf ist so<br />
kl<strong>ein</strong>, dass hier jeder jeden kennt. Wie dumm nur,<br />
dass ich, als sie uns besuchen kommt, oder besser<br />
vorbeikommt, um ihr Selber<strong>ein</strong>gemachtes zu<br />
verkaufen, ausgerechnet nicht da bin.<br />
Wir, die aus dem deutschsprachigen Raum<br />
kommen, lerne ich hier, können alle sehr gut<br />
kochen <strong>und</strong> noch besser Einmachen. Das wurde<br />
uns, <strong>ein</strong>e Art Nationalheiligtum, sozusagen in die<br />
Wiege gelegt. Gebe zu, dass m<strong>ein</strong>en Einweckkünsten<br />
k<strong>ein</strong> Früchtesegen entkommt. Habe mir<br />
gar schon <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Fankreis damit erkocht,<br />
manche Fre<strong>und</strong>e sind ganz wild auf m<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>en<br />
Aufmerksamkeiten, besonders da ich ganz<br />
europäisch nicht so tief in den Zuckertopf greife<br />
wie die Einheimischen.<br />
Doch der Vergleich hinkt. Die Mehrheit der<br />
brasilianischen Mittelklassefrauen lässt nun mal<br />
kochen. Es ist die Hausangestellte, die die von<br />
perfekt organisierten Hausfrauen wöchentlich<br />
geplanten <strong>und</strong> <strong>ein</strong>gekauften Menüs zubereiten.<br />
Die tagsüber abwesende Familie wärmt sie dann,<br />
Mikrowelle sei Dank, abends <strong>ein</strong>fach auf. Sie<br />
hygienisiert <strong>und</strong> wäscht auch Salat <strong>und</strong> Früchte,<br />
schnitzelt das sterile Obst in m<strong>und</strong>gerechte<br />
Happen, wenn überhaupt welches auf den Tisch<br />
kommt. Da viele Familien jeden Tag Reis <strong>und</strong><br />
Bohnen, Bohnen <strong>und</strong> Reis essen, variiert eigentlich<br />
nur das Fleisch, heute Hühnchen, morgen Rind,<br />
immer hauchf<strong>ein</strong> <strong>und</strong> schuhsohlentrocken<br />
durchgebraten.<br />
Aber zurück zu Uschi, Uschi, der Duftenden.<br />
Endlich hilft mir jemand, <strong>ein</strong>es tropisch-heißen<br />
Tages, auf die Sprünge: Uschi ist Deutsche <strong>und</strong><br />
damit, entschuldigen Sie das perfekte Vorurteil,<br />
daran gewohnt, höchstens alle zwei oder drei<br />
Tage zu duschen. Trägt ihre Kleider, auch bei<br />
amazonischen Höchsttemperaturen, mehrmals<br />
hinter<strong>ein</strong>ander. Schwört gar, noch schlimmer,<br />
auf billige Synthetiks. Wird so für die sensiblen<br />
brasilianischen Nasen, zu Uschi, der Duftenden.<br />
Letzteres natürlich ironisch gem<strong>ein</strong>t.<br />
Aus Erfahrung kann ich dazu nur sagen: Es fehlt<br />
ihr ganz <strong>ein</strong>fach noch der richtige brasilianische<br />
Fre<strong>und</strong>. Einige von Uschis Landsleuten, ganz<br />
krass war es bei <strong>ein</strong>em jungen Mann, haben sich<br />
sozusagen über Nacht in wohlriechende<br />
Mitbürger verwandelt. Der junge Mann verliebte<br />
sich, wupps, noch <strong>ein</strong> Vorurteil, in <strong>ein</strong>e<br />
w<strong>und</strong>erschöne, immer äußerst wohlriechende,<br />
frisch geduschte, zierliche Mulattin. Heiratete sie<br />
dann auch <strong>und</strong> folgte ihr in den Nordosten. S<strong>ein</strong>e<br />
Duftwolke verbesserte sich sozusagen<br />
schlagartig. Und wenn sie nicht gestorben sind,<br />
so leben sie bis heute glücklich <strong>und</strong> überaus<br />
wohlriechend, jeden Tag frisch geduscht, bis an<br />
ihr Lebensende weiter.<br />
Was aus der duftenden Uschi geworden ist?<br />
Entzieht sich leider m<strong>ein</strong>er Kenntnis. Des doch<br />
sehr prekären <strong>und</strong> alternativen Lebens wohl<br />
überdrüssig, arbeitet sie heute vielleicht<br />
irgendwo in der guten alten Heimat auf der Bank<br />
oder im Supermarkt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 803
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 804
Chico, der Schlangenflüsterer<br />
Mit den Schlangen, die ihm s<strong>ein</strong>en Namen geben,<br />
<strong>und</strong> anderen hochgiftigen Tieren hat Francisco,<br />
Chico das cobras, nur indirekt Kontakt. Doch Chico<br />
kennt sich aus. Mit Schlangenbissen genauso wie<br />
mit den Stichen der Stachelrochen, Spinnen oder<br />
Skorpionen. Chico heilt sie alle. Er hat <strong>ein</strong>en<br />
Zaubertrank, <strong>ein</strong>e Garrafada, das Gegenmittel.<br />
Orangefarben, etwas trübe füllt sie, die<br />
geheimnisvolle Flüssigkeit die Styroporkiste. Sei<br />
sehr lange haltbar, unfehlbar, <strong>ein</strong> Familienrezept,<br />
streng gehütet, vom Vater auf Chico, Francisco,<br />
den Schlangenflüsterer übergegangen.<br />
Die Liste der giftigen Tiere im Amazonas ist lange,<br />
komplex <strong>und</strong> verheerend. Darin sind sich alle<br />
<strong>ein</strong>ig, die Caboclos <strong>und</strong> auch die Schulmediziner.<br />
Letzteren hat Chico viel voraus, will man s<strong>ein</strong>en<br />
Erzählungen Glauben schenken. Er zeigt offizielle<br />
Statements vor, Bittschriften <strong>und</strong> Petitionen<br />
voller Stempel <strong>und</strong> prunkvollen Unterschriften.<br />
Der offiziellen Anerkennung steht allerdings eben<br />
jenes Familienrezept im Weg. Es wirke, aber<br />
offenlegen will er die Zusammensetzung, die<br />
Kräuter, die es enthält um nichts in der Welt. In<br />
s<strong>ein</strong>en Erzählungen schwingt Trotz mit <strong>und</strong> man<br />
hört Frustration heraus. Zu viele Hürden trennen<br />
den „ungebildeten“ Kräuterdoktor <strong>und</strong><br />
Medizinmann vom instruierten Mediziner.<br />
Die Begegnung mit Chico, dem Schlangenflüsterer<br />
wirft ethische, ethnische, medizinische <strong>und</strong><br />
ethnologische Fragen auf. Fakt ist: Bei Bissen oder<br />
Stichen in freier Wildbahn hoch im Amazonas ist<br />
die Schulmedizin bis heute eher schlecht gerüstet.<br />
Jede Schlangenart z.B. hat ihr ganz individuelles<br />
Serum, das nur wirkt, wenn das Tier richtig<br />
identifiziert wird. Und es dem Patienten gelingt,<br />
bis ins nächste Krankenhaus zu gelangen. Sticht<br />
<strong>ein</strong> Stachelrochen zu, ist das zwar nicht tödlich,<br />
aber extrem schmerzhaft. Die Schulmedizin kann<br />
dann nur abwarten, den Schmerz unterdrücken<br />
<strong>und</strong> die Schwellung medikamentös zum Abschwellen<br />
bringen.<br />
Und genau da kommt Chico ins Spiel. Er lebt in<br />
Obidos, <strong>ein</strong>em jener Vorposten der amazonischen<br />
Welt. Bis hier ist die Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge noch<br />
nicht mit ihrem ganzen Spektrum vorgedrungen.<br />
Und mancher war schon froh, dass es ihn gibt.<br />
Chicos Geschichte erinnert in vielem an „Específico<br />
pessoa“, <strong>ein</strong> Kräuteraufguss der genauso wie der<br />
von Chico, neben Schlangenbissen <strong>und</strong><br />
Skorpionstichen noch viel mehr heilen soll. In den<br />
brasilianischen Hinterlanden fehlt „Específico<br />
pessoa“ in k<strong>ein</strong>er Hausapotheke. Einfache Leute<br />
aus dem Amazonas <strong>und</strong> aus Brasiliens Nordosten<br />
schwören darauf.<br />
Daraus hat sich <strong>ein</strong> Zweifronten Krieg entwickelt,<br />
der Ethnobotanik wohlbekannt: Chemiker <strong>und</strong><br />
Ärzte beweisen, dass der Trank k<strong>ein</strong>erlei Wirkung<br />
habe. Einfache Leute erzählen von den unvorstell-<br />
barsten <strong>und</strong> w<strong>und</strong>ersamsten Heilungsverläufen.<br />
Wie auch immer. Ein weiterer Fakt ist, dass die<br />
Biodiversität der südamerikanischen<br />
Regenwälder <strong>ein</strong> unbekannter, ungehobener<br />
Schatz ist . Der tropische Wald ist reich an<br />
aromatischen <strong>und</strong> medizinischen Pflanzen, deren<br />
Gebrauch von Generation zu Generation<br />
überliefert wurde. 1993 hat Brasilien in Rio,<br />
zusammen mit 192 anderen Ländern, <strong>ein</strong>e<br />
Biodiversitäts-Konvention unterzeichnet, <strong>ein</strong><br />
weltweiter Akkord der nachhaltigen Nutzung.<br />
Eine Regelung der Nutzung ist umso wichtiger,<br />
als bis heute nur 11 % der in Brasilien<br />
existierenden Flora <strong>und</strong> Fauna, des technisch als<br />
genetisches Erbe klassifiziert, katalogisiert sind.<br />
Das wirft unendlich viele unbeantwortete Fragen<br />
auf. Chico, Nachfahre von Idigenen, sagt er heile<br />
Schlangenbisse <strong>und</strong> die W<strong>und</strong>en anderer giftiger<br />
Tiere mithilfe <strong>ein</strong>es nur ihm bekannten Gebräus.<br />
Er ist nicht bereit, s<strong>ein</strong> Wissen offen zu legen. Er<br />
reagiert, wie viele Heiler <strong>und</strong> Kräuterk<strong>und</strong>igen<br />
mit Misstrauen. Bei der Heilung <strong>ein</strong>es<br />
Schlangenbisses handelt es sich um <strong>ein</strong>e Art<br />
Tabuthema, <strong>ein</strong>e Grenzerfahrung, hochemotionell,<br />
gem<strong>ein</strong>nisumworben <strong>und</strong> auch nicht frei<br />
von Sensationslust.<br />
Das ganze lässt sich auf <strong>ein</strong> paar Gr<strong>und</strong>fragen<br />
reduzieren. Wem gehört <strong>ein</strong>e Pflanze <strong>und</strong> das<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 805
Wissen über ihre Heilkraft? Welchen Wert hat<br />
<strong>ein</strong>e Pflanze aus dem Regenwald überhaupt? Wer<br />
darf damit arbeiten, respektive daraus<br />
potenziellen Nutzen ziehen? Wie weit vertraut<br />
man der Ethnobiologie, wenn es um neue Wege<br />
der Forschung geht? Und last, but not least –<br />
wem gehört das „Wissen“ über Kräutermedizin?<br />
Das brasilianische Gesetz, im Moment in<br />
wissenschaftlichen Kreisen heiß diskutiert, hat<br />
<strong>ein</strong>e klare Antwort. Nur wer <strong>ein</strong>e Bewilligung der<br />
Regierung hat, darf unter Androhung riesiger<br />
Bußen mit den Pflanzen forschen. Was in Realität<br />
die meisten Forschungsprojekte sozusagen<br />
„tiefgefriert“. Auch wenn Firmen, wie<br />
brasilianische Kosmetikfirma Natura <strong>ein</strong>en Teil<br />
des Problems mit <strong>ein</strong>em Über<strong>ein</strong>kommen den<br />
Kräuterverkäufern des berühmten Ver-o-peso in<br />
Belém abschließt <strong>und</strong> ihnen für ihr „Wissen“<br />
<strong>ein</strong>en nicht bekannt gegebenen Betrag bezahlt, ist<br />
das Problem so gut wie ungelöst.<br />
Chicos grüne Paste enthält alle Dokumente.<br />
Fünfzehn Jahre dauert s<strong>ein</strong> Kampf schon. Eine<br />
Reihe von Bürgermeistern hat ihm <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>em<br />
Trank mit Stempel <strong>und</strong> schön geschwungenen<br />
Sätzen s<strong>ein</strong>e Heilkraft attestiert. Jemand hat gar<br />
<strong>ein</strong> Projekt geschrieben, R$ 15.000 für <strong>ein</strong> Haus,<br />
<strong>ein</strong> Behandlungszimmerchen. Bis ihm dann die<br />
Marina <strong>ein</strong> Boot geschenkt hat. Die, die er intim<br />
<strong>und</strong> zärtlich Marina nennt, ist Marina Silva, die<br />
Umweltaktivistin <strong>und</strong> –ministerin, Ex-Präsidentschaftskandidatin.<br />
Die hat er da in Brasilia<br />
getroffen. Das Boot? Das hat er gerade verkauft<br />
<strong>und</strong> lässt sich nun <strong>ein</strong> noch schöneres, größeres<br />
bauen. Den Bau verfolgt er mit Argusaugen. Hat<br />
alles stehen <strong>und</strong> liegen lassen, um dem<br />
Bootsbauer zuzusehen.<br />
Hier lernen wir Chico kennen. Kunstvoll verklemmt<br />
der Bootsbauer noch <strong>ein</strong> lang gezogenes Brett in<br />
den malerisch hochgezogenen Rippen. Kühn<br />
geschw<strong>und</strong>en sticht der Bug in den blauen<br />
Himmel. Dunkel, fast schwarz hebt sich das<br />
Gerippe gegen das grüne Gras ab, kaum h<strong>und</strong>ert<br />
Meter vom Wasser entfernt. Chico nimmt uns, die<br />
instruierten, neugierigen Ausländer, sogleich mit<br />
in s<strong>ein</strong> Haus. Gleich da oben sei es. Ein kurzer<br />
Fußmarsch nur. Er wohne am schönsten Ort der<br />
Welt. Hoch über dem Wasser. Manchmal komme<br />
da gar <strong>ein</strong>e Schildkröte oder <strong>ein</strong> Kaiman zu Besuch.<br />
Sorgfältig zirkeln wir über die Bretterbrücke. Die<br />
zwei fre<strong>und</strong>lichen H<strong>und</strong>e müssen auf der anderen<br />
Seite bleiben. Es ist <strong>ein</strong>es jener Stelzenhäuser, die<br />
sich hier im Norden Brasiliens über Hochwasser<br />
<strong>und</strong> Sümpfe erheben. Nachzufragen, wohin das<br />
Abwasser <strong>und</strong> die Fäkalien der Toilette fließen,<br />
unterlässt man besser. Ja, das ganze Haus hier hat<br />
er eigenhändig erbaut. Baut es noch immer weiter<br />
aus. Dann, wenn die große Familie durch noch<br />
<strong>ein</strong>en Schwiegersohn oder <strong>ein</strong>e Schwiegertochter<br />
oder <strong>ein</strong>en Enkel erweitert wird. Stolz zeigt er<br />
uns den Fahnenmast <strong>und</strong> die Galionsfigur für das<br />
neue Boot. Denn Schr<strong>ein</strong>er, <strong>ein</strong> wahrhaft<br />
talentierter, ist er nämlich auch.<br />
N<strong>ein</strong>, das Schlangenflüstern werde wohl k<strong>ein</strong>er<br />
von s<strong>ein</strong>en Söhnen weiterführen. Er selber habe<br />
alles, was er wisse, von s<strong>ein</strong>em Vater, <strong>ein</strong>em<br />
waschechten Indigenen aus Mato Grosso erlernt.<br />
Immer wieder kommt er zum Ausgangspunkt<br />
zurück. S<strong>ein</strong> Trank helfe gegen alle Arten von<br />
Bissen, Stichen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>en, die von giftigen<br />
Tieren verursacht würden. Den Biss <strong>ein</strong>er<br />
Schlange könne er all<strong>ein</strong> schon an den<br />
Symptomen vom nicht weniger erschreckenden<br />
Stich <strong>ein</strong>er Spinne oder <strong>ein</strong>es Skorpions<br />
unterscheiden. Was den studierten Doktoren oft<br />
eher schwer falle. Schon oft habe er <strong>ein</strong>em von<br />
ihnen widersprochen. Eine gänzlich falsche<br />
Diagnose richtig gestellt.<br />
Leider kämen die meisten Betroffenen erst dann<br />
zu ihm, wenn sie die Medizin, die Doktoren<br />
schon aufgegeben habe. Und er heile sie alle. Mit<br />
<strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Trank. Die Ärzte könnten es sich<br />
nicht erklären. Sie schössen nur viel <strong>Foto</strong>s.<br />
Vorher <strong>und</strong> nachher <strong>und</strong> begännen dann, ihn<br />
wirklich zu respektieren. S<strong>ein</strong>e Söhne erschrecke,<br />
ekle es, wenn die Menschen hier ankämen.<br />
Schreiend, außer sich vor Schmerzen,<br />
Gliedmaßen in Verwesung, das halten nur sehr<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 806
starke Nerven durch.<br />
Schon in der bis heute bew<strong>und</strong>erten „Flora<br />
brasiliensis“ vom deutschen Naturforscher,<br />
Botaniker <strong>und</strong> Ethnograf Carl Friedrich Philipp von<br />
Martius, erschienen in den Jahren 1840 bis 1906,<br />
findet sich <strong>ein</strong> Hinweis auf <strong>ein</strong>e Pflanze, die<br />
Schlangenbisse heile. Populär „Cayapiá“ genannt,<br />
ist sie als „Dorstena brasiliensis“ identifiziert. Von<br />
Martius beschreibt sie als Gegengift gegen alle<br />
Arten von Giften, am wirkungsvollsten gegen<br />
Schlangenbisse. Ethnobotanisches Wissen,<br />
Hochkomplex, schwer zu überprüfen.<br />
Chico ist nicht mehr jung, wenn auch vom<br />
sehnigen Stamm derer, die gut <strong>und</strong> gerne h<strong>und</strong>ert<br />
werden können. N<strong>ein</strong>, im Moment könne <strong>und</strong><br />
wolle s<strong>ein</strong>e Gabe, s<strong>ein</strong> Wissen nicht weitergeben.<br />
Gott habe ihm bis jetzt noch k<strong>ein</strong>en geschickt, der<br />
dazu bestimmt sei. Initiieren könne er nur<br />
jemanden, der <strong>ein</strong>en Ruf verspüre. Heiler s<strong>ein</strong><br />
wolle. Dem Schmerz direkt ins Auge sehen könne.<br />
Die Einzige, die k<strong>ein</strong>e Angst verspüre, sei s<strong>ein</strong>e<br />
Enkelin. Wir sitzen im Kreis auf Holzstühlen, <strong>ein</strong><br />
Nachbar schaut zu <strong>ein</strong>em Plausch her<strong>ein</strong>, am<br />
großen Mittagstisch verzehren sie gerade <strong>ein</strong><br />
zweites Frühstück, als sie sich in respektvollem<br />
Abstand dazu setzt. Ob es denn möglich sei, dass<br />
<strong>ein</strong>e Frau <strong>ein</strong>geführt werde? Die Antwort kommt<br />
ausweichend. Durch die Blume bejahend. Denn<br />
<strong>ein</strong>es ist klar - <strong>ein</strong>em jener Doktoren will er s<strong>ein</strong>e<br />
Geheimnisse dann doch nicht anvertrauen. Was er<br />
sucht, bleibt verschwommen. Anerkennung<br />
natürlich, aber welcher Art? Respekt, der sich<br />
vielleicht auch materiell ausdrückt?<br />
Die Initiationsriten seien drastisch. Nach der<br />
langen Lehrzeit nämlich, nachdem der Zögling<br />
alles, was er wissen muss, aufgenommen <strong>und</strong><br />
gelernt habe, komme der entscheidende Moment.<br />
Er wisse nun, wie man die Kräuter erkenne, wo<br />
man sie finde <strong>und</strong> welche anderen Zutaten, unter<br />
anderem Zucker, man dem Gebräu zusetze. Der<br />
bringe den Trank zum Fermentieren. Dann sei es<br />
an der Zeit, dass der Zögling s<strong>ein</strong>en ersten,<br />
geheimnisvollen Trank selber, für sich selber<br />
ansetze! Ein Trank, mit dem er sich selber heilen<br />
wird! Die brutale Logik dahinter ist schwer zu<br />
widerlegen: Nur wer den Schmerz kenne, die<br />
Qualen am eigenen Leib erfahren habe, könnte<br />
dieselben später bei anderen erfolgreich heilen.<br />
Sei der Eingeweihte dann soweit, lasse er sich<br />
beißen oder stechen. Von <strong>ein</strong>er Giftschlange,<br />
<strong>ein</strong>em Skorpion oder <strong>ein</strong>er der gefürchteten<br />
Spinnen. Bei Schlangenbissen tritt der Effekt<br />
sozusagen fast gleichzeitig mit dem Biss auf. Wie<br />
<strong>ein</strong> Blitz fahre der Schmerz <strong>ein</strong>. Die Stelle <strong>und</strong> das<br />
betroffene Glied beginnen anzuschwellen. Die<br />
Haut verfärbt sich bläulich, spannt, ist extrem<br />
schmerzanfällig. Wird nichts unternommen, treten<br />
schnell Nebenwirkungen auf. Der Betroffene fühlt<br />
sich elend <strong>und</strong> überaus schwach, ist aber zugleich<br />
hochgradig erregt. Er beginnt unter Todesängsten,<br />
Schwindel <strong>und</strong> unsäglichen Schmerzen zu leiden.<br />
R<strong>und</strong> um die W<strong>und</strong>e entstehen Blutgerinnsel, der<br />
ganze Körper ist extrem schmerzempfindlich <strong>und</strong><br />
an Schlaf ist nicht zu denken. Manche beginnen<br />
alles doppelt zu sehen. Das Zahnfleisch <strong>und</strong> andere<br />
Körperstellen beginnen zu bluten. Das Gift senkt<br />
den Blutdruck <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e starke Blutgerinnung setzt<br />
<strong>ein</strong>. Weitere unangenehme Details kann man sich<br />
heutzutage problemlos im Internet zusammen<br />
recherchieren.<br />
In dieser Situation also soll Chicos Trank wahre<br />
W<strong>und</strong>er bewirken. Spinnenbisse sind noch<br />
heimtückischer. Entgegen der landläufigen<br />
M<strong>ein</strong>ung sind es nicht die riesigen, bepelzten<br />
Spinnen, die gefährlich sind. Die werfen höchstens<br />
<strong>ein</strong> paar Nesselhaare nach ihrem F<strong>ein</strong>d. Die tun<br />
zwar lokal verdammt weh, aber der Schmerz klingt<br />
nach <strong>ein</strong>er Weile von selbst ab. Die kl<strong>ein</strong>en,<br />
unsch<strong>ein</strong>bar brauen Spinnen sind gefährlicher.<br />
Zusammen mit dem oft unbemerkten Biss spritzen<br />
sie <strong>ein</strong> Betäubungsmittel <strong>ein</strong>. So entfaltet das Gift<br />
s<strong>ein</strong>e Wirkung erst nach <strong>und</strong> nach. Aber auch hier<br />
kommt Chicos Trank unfehlbar zum Zug. Gerne<br />
zeigt er uns s<strong>ein</strong> Lager in <strong>ein</strong>er großen<br />
Styroporkiste. Sorgfältig durch Zwischenwändchen<br />
getrennt stehen hier recycelte Cachaça- <strong>und</strong><br />
andere Glasflaschen in Reih <strong>und</strong> Glied. Alle sind sie<br />
sorgfältig verkorkt. Als er zwei herausnimmt <strong>und</strong><br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 807
gegen das Licht hält, zeichnet sich <strong>ein</strong> trüber<br />
Bodensatz in der orangefarbenen Flüssigkeit ab.<br />
Chicos Kinder haben studiert. Eine Tochter ist<br />
Englischlehrerin. Zum Schluss bittet er mich,<br />
vorzulesen. Das ledergeb<strong>und</strong>ene Buch sch<strong>ein</strong>t<br />
ihm viel zu bedeuten. Er behandelt es wie <strong>ein</strong>e Art<br />
Bibel. Es sind in Abschnitte aufgeteilte Zitate. Sie<br />
handelt von den Propheten. Von Propheten, an<br />
die nur wenige glauben. Propheten, deren Wissen<br />
nicht mal mit Geld aufgewogen werden kann.<br />
Still, fast unsichtbar <strong>und</strong> doch sehr präsent sitzt<br />
s<strong>ein</strong>e Enkelin in respektvollem Abstand auf der<br />
Brüstung. Ihre Füße sind bloß. In Reichweite<br />
stehen <strong>ein</strong> paar herausfordernd hohe Sandalen<br />
mit Plateausohlen. Ob es ihr wohl beschieden ist,<br />
die zwei Welten, die so viel Schmerz, Macht,<br />
Irrationales <strong>und</strong> Überlieferungen b<strong>ein</strong>halten,<br />
zusammenzubringen?<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 808
Von der Kraft, die heilt <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er w<strong>und</strong>ersamen Verwandlung<br />
Sie ist für kurze Zeit bei uns zu Gast. Eine Frau in<br />
mittleren Jahren. Irgendwann beim Frühstück<br />
zieht sie mich ins Vertrauen. Klagt mir ihr Leid. Sie<br />
fühle sich, die könne es selber nicht in Worte<br />
fassen, <strong>ein</strong>fach irgendwie unwohl. K<strong>ein</strong>e wisse es<br />
besser als sie, dass es dafür nicht den mindesten<br />
Gr<strong>und</strong> gäbe. Sie habe doch alles, <strong>ein</strong>e tolle<br />
Karriere, <strong>ein</strong>en überaus erfolgreichen Mann <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbare Familie. Aber doch, irgendetwas<br />
bedrücke sie. Sitze ihr auf der Seele. Ob es hier in<br />
Brasiliens Norden vielleicht jemand gäbe, der ihr<br />
helfen könne?<br />
Muss nicht lange überlegen. Hatte nicht der<br />
Taxifahrer mir mal erzählt, dass s<strong>ein</strong> Onkel das<br />
“dom”, (“o dom da cura”) habe? Die Macht, <strong>ein</strong><br />
Geschenk, die Kraft, andere zu heilen. Er selbst<br />
habe sie auch. Wolle sie aber nicht ausüben.<br />
Ein Anruf genügt. Gleichzeitig nachgefragt, wie<br />
man sich verhalte, ob <strong>und</strong> wie, wann <strong>und</strong> wie viel<br />
man denn bezahle. Schicke sie, gut aufgehoben,<br />
im Taxi des Neffen los.<br />
Schon mit anderem Alltagskram beschäftigt, kann<br />
ich m<strong>ein</strong>e Überraschung kaum zügeln, als sie<br />
wieder zurückkommt. Eine Art w<strong>und</strong>ersamer<br />
Verwandlungsprozess hat stattgef<strong>und</strong>en. Es<br />
kommt <strong>ein</strong>e andere Frau zurück! Sie sch<strong>ein</strong>t<br />
mindestens drei Zentimeter größer! Sie ist gelöst,<br />
befreit, umgekrempelt. Es ist, wie wenn jemand<br />
<strong>ein</strong>en Hebel umgelegt hätte, <strong>ein</strong>en Zauberspruch<br />
gesprochen oder so ähnlich. Hätte wohl doch<br />
mitfahren sollen, um das W<strong>und</strong>er aus nächster<br />
Nähe mitverfolgen zu können. Die drei 2-Liter PET-<br />
Flaschen voller “Garrafadas”, extra für sie<br />
zurechtgemixt, trinkt sie religiös wie<br />
vorgeschrieben. Nimmt den Rest gar mit nach<br />
Amerika, getarnt als Guaraná. Die beiden Getränke<br />
haben ja ungefähr die selbe Farbe.<br />
Und ist sie nicht gestorben, so hält die<br />
unerklärliche, unfassbare Wirkung des Zaubers wie<br />
es sch<strong>ein</strong>t bis heute an! Ganz nach dem Motto,<br />
wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen<br />
hätte, hätte ich es nie geglaubt!<br />
Hier im Amazonas sind Rezedeiros, Benzedeiras<br />
<strong>und</strong> Puxadores noch nicht arbeitslos. Sie segnen,<br />
beten für die Kranken oder rücken die<br />
ausgerenkten Knochen jener zurecht, die um die<br />
Wirksamkeit ihrer Arbeit <strong>und</strong> ihres “Dons” wissen.<br />
Ihre Heilkraft wird aus Ebenen gespeist, zu denen<br />
die moderne Zeit <strong>und</strong> unsere Kultur k<strong>ein</strong>en Zugang<br />
mehr hat. Viele hier, auch manch aufgeklärter<br />
Doktor, halten es mit beiden. Ist <strong>ein</strong> Knöchel<br />
verdreht, gehen sie zur Puxadora, deren<br />
fachk<strong>und</strong>ige Hände, Öle <strong>und</strong> Massagen sogleich<br />
Linderung versprechen. Fällt <strong>ein</strong> Kind aus der<br />
Hängematte oder schreit es überdurchschnittlich<br />
viel oder ist es sonst auffällig, lohnt es sich, es<br />
<strong>ein</strong>mal mit <strong>ein</strong>er Rezedeira oder Benzadeira <strong>und</strong><br />
ihren Gebeten <strong>und</strong> Segenssprüchen zu versuchen.<br />
Die heilt oder vernäht auch die unsichtbaren<br />
W<strong>und</strong>en, die so <strong>ein</strong> Sturz wohl auch mit verursacht<br />
hat.<br />
Auffallend ist, dass alle, die heilen, betonen, dass<br />
diese Macht <strong>ein</strong> Geschenk sei. Dass die Kraft,<br />
andere zu heilen, angeboren <strong>und</strong> gottgegeben sei.<br />
Manche entdecken oder entwickeln sie selber,<br />
anderen wird es von Vorfahren vererbt oder<br />
überliefert. Traditionellerweise wird das Heilen mit<br />
<strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Geschenk vergolten, <strong>ein</strong> Heiler<br />
nimmt dafür k<strong>ein</strong> Geld an.<br />
Und wie es sch<strong>ein</strong>t, gibt es bis heute genug<br />
K<strong>und</strong>en, auch Leute aus der modernen Zivilisation,<br />
die ihre Dienste in Anspruch nehmen, gar aus der<br />
Kur drei Zentimeter größer <strong>und</strong> geheilt<br />
hervorgehen! Den Benzedeiros <strong>ein</strong> langes Leben!<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 809
Göttin der Schönheit<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 814
Vom Schönheitskult<br />
Sie sind mit haarf<strong>ein</strong>em Pinsel extra-bunt bemalt.<br />
Liebevoll <strong>ein</strong>er hinter den anderen auf <strong>ein</strong>en rosa<br />
Musterkarton montiert, erinnern sie an die<br />
ausgerissenen Flügel exotischer Schmetterlinge<br />
sind aber nur künstliche Nägel, Fingernägel<br />
natürlich. Bew<strong>und</strong>ere den Karton hinter dem Glas<br />
der Eingangstür. Er wirbt hier für neue<br />
K<strong>und</strong>innen.<br />
Bleibe auch vor dem nicht gerade unauffälligen<br />
Plakat stehen, das all die Dienstleistungen<br />
anbietet, denen man sich hier unterziehen kann.<br />
Neben dem üblichen Waschen – Schneiden –<br />
Legen – Tönen – Färben, Strähnchen inklusive, ist<br />
auch das überaus populäre Strecken, <strong>ein</strong>e<br />
sozusagen umgekehrte Dauerwelle, die krauses<br />
Haar auf chemischem Weg wupps in glatteste<br />
Schnittlauchlocken verwandelt, zu haben. Wie<br />
wär‘s mit Maniküre <strong>und</strong> Pediküre? Gar <strong>ein</strong>em<br />
Mondbad? Das bleicht alle ungewollten <strong>und</strong> nicht<br />
depilierten Haare. Depiliert allerdings wird fast<br />
alles. Das halbe <strong>und</strong> das ganze B<strong>ein</strong>, Damenbart,<br />
Achseln <strong>und</strong> natürlich die Intimzone, mit<br />
Schokolade, Wachs oder für immer.<br />
M<strong>ein</strong> Salon ist lila. Lila auch der Stamm der Palme<br />
vor dem Geschäft, allerdings nur bis auf<br />
Brusthöhe. Lila sind die Eisenverstrebungen der<br />
vollverglasten Fensterfront. Die K<strong>und</strong>schaft kann<br />
ungeniert hinter der Fensterfront betrachtet<br />
werden: Maniküre, Pediküre, strähnig nasses<br />
Haar, Haarwickler, Überwürfe, Trockenhauben,<br />
Nägel im Wasserbad.<br />
Muss es besonders schnell gehen, legen gleich drei<br />
oder vier Fachleute ihre geschickten Händchen an<br />
<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigen K<strong>und</strong>en. Nur die obligaten<br />
verschiedenen Haarentfernungsprozeduren, doch<br />
etwas intimer, sind an diskretere Orte verbannt.<br />
Lila die griechischen Säulen mit den falschen,<br />
gipsernen Kapitellen, die den Eingang flankieren.<br />
Lila auch das Firmenzeichen des Salons. Soviel Lila<br />
ist wohl nur <strong>ein</strong>em Schönheitssalon erlaubt.<br />
Lilafarben auch die Eingangstür <strong>und</strong> die<br />
synthetischen Uniformschürzen der ungezählten<br />
jungen Mädchen. Sie verdienen sich hier<br />
nagellakierend ihr Brot. Zwei, drei handverlesene<br />
Mitarbeiter dürfen in weißem Hemd oder Bluse<br />
<strong>und</strong> schwarzer, formeller Hose bedienen.<br />
Der Besuch <strong>ein</strong>es, s<strong>ein</strong>es Schönheitssalons ist hier<br />
in Brasilien <strong>ein</strong> allwöchentliches Muss. Geht bei<br />
den Berufstätigen die Mittagszeit, natürlich<br />
freitags drauf, so opfern ganz Schönheitsbewusste<br />
oft auch gleich den halben Samstagmorgen.<br />
Verbringen ihn auf dem auf Monate hinaus<br />
reservierten Stuhl: Nägel, wöchentlich erneuern,<br />
monatlich Haareschneiden, bei besonderen<br />
Gelegenheiten nur frisieren, in regelmäßigen<br />
Abständen auch das rituelle Nachfärben des ach so<br />
verräterischen grauen Haaransatzes. Ein <strong>ein</strong>ziges,<br />
graues Haar ist imstande, <strong>ein</strong>e Frau/<strong>ein</strong>en Mann um<br />
Jahre, Jahrzehnte, altern zu lassen! Je älter <strong>und</strong><br />
traditioneller die K<strong>und</strong>schaft, desto höher die<br />
Ansprüche, komplizierter die Vorlieben.<br />
- Also m<strong>ein</strong>e Nägel vertraue ich nur der kl<strong>ein</strong>en ....<br />
an! Für die Füße hingegen, ja da kommt nur die .....<br />
in Frage! Sie wissen schon! Nur sie weiß genau, wie<br />
ich es haben will! -<br />
M<strong>ein</strong>em lila Salon fehlt allerdings die in <strong>ein</strong>facheren<br />
Stadtteilen omnipräsente Liste. Unendlich lang,<br />
preist all die Dienste an, denen man sich im Salon<br />
unterwerfen darf <strong>und</strong> kann. Schließe daraus, dass<br />
diese hässliche Hauptgeschäftsstraße hier wohl als<br />
ziemlich schick gilt.<br />
Worüber allerdings k<strong>ein</strong>er spricht, was k<strong>ein</strong>e zu<br />
stören sch<strong>ein</strong>t – die meisten der Prozeduren tun<br />
tierisch weh! Sich die Nagelhaut r<strong>und</strong> um den Nagel<br />
herunter schneiden zu lassen – hier das Normalste<br />
der Welt! Die Bikinizone oder noch intimeres mit<br />
Wachs depilieren? Klaglos hingenommen, dass sich<br />
die so misshandelte Haut auch mit den beruhigsten<br />
Cremes nur nach Tagen beruhigt. Wahre Schönheit<br />
muss erlitten werden, erkämpft, denn nur kommt<br />
man in den Genuss der Gegenleistung. Erst nachher<br />
kann man jenes Gefühl so richtig auskosten, sich so<br />
unbeschreiblich sauber, leider für kurze Zeit nur, so<br />
glatt <strong>und</strong> gut riechend wie <strong>ein</strong> frisch gewaschener<br />
Kinderpopo zu fühlen. Der ganze Körper gepflegt<br />
vom Scheitel bis zum glänzend künstlichen Nagel.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 815
Apropos Nägel - Männer bevorzugen bis heute für<br />
ihre bitte eckig gefeilten diskret transparenten<br />
Lack, hier Gr<strong>und</strong>ierung genannt. Eine sehr<br />
spezielle Welt, in der <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>gerissener Nagel<br />
Gesprächsstoff für drei Tage hergibt. Mit der<br />
raueren Hausarbeit wird sowieso die<br />
Hausangestellte beauftragt. Um die unausweichliche<br />
Haarentfernung, gilt es doch auch im<br />
Winter im kl<strong>ein</strong>sten Bikini immer perfekt<br />
auszusehen – <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges, vorwitziges Schamhaar<br />
würde den ganzen, so sorgfältig aufgebauten<br />
Sexappeal sofort <strong>und</strong> unwiderruflich zerstören.<br />
Halte die meisten Prozeduren für r<strong>ein</strong>es Placebo.<br />
Wo sonst wird <strong>ein</strong>em solch un<strong>ein</strong>geschränkte<br />
Aufmerksamkeit zuteil, gewürzt mit dem<br />
neuesten Klatsch? All die Zuwendung, die<br />
entspannende Massage, das warm-weiche<br />
Wasser, die allzeit bereiten Hände <strong>und</strong> die<br />
w<strong>und</strong>erbar duftenden Shampoos <strong>und</strong> Cremes!<br />
Und vergessen Sie ja nicht die Stange Geld, die<br />
dieser Aufwand kostet. Wie gut, all da ganz all<strong>ein</strong><br />
für sich selbst auszugeben! Besser wohl nur, wenn<br />
die Maniküre für alle diese Prozeduren zur<br />
verabredeten Zeit nach Hause kommt. Nur leider,<br />
leider kann ich dann k<strong>ein</strong>es der lila gewandeten,<br />
dienstbereiten Mädchen nach <strong>ein</strong>em Kaffee<br />
schicken <strong>und</strong> mir auch nicht die w<strong>und</strong>erbar<br />
dicken, w<strong>und</strong>erbar kitschigen Klatschmagazine<br />
r<strong>ein</strong>ziehen. Dann, wenn ich auf die Feenhand<br />
m<strong>ein</strong>es Friseurs warte, der natürlich immer<br />
St<strong>und</strong>en zu spät ist. So was gibt es leider nur da,<br />
im lilafarbenen Schönheitssalon gleich um die<br />
Ecke!<br />
Ja, auch m<strong>ein</strong>e Nachbarin hat die Qual der Wahl<br />
hinter sich. Mit unendlicher Geduld strichelt <strong>ein</strong>er<br />
der noch geduldigeren Schönheitssklavinnen mit<br />
haarf<strong>ein</strong>em Pinsel <strong>ein</strong>es jener winzigen Wegwerfkunstwerke<br />
aus Nagellack auf jeden ihrer<br />
krallenartigen Nägel. Wird wohl noch etwas<br />
dauern…..<br />
immer<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 818
Der rosafarbene Delfin<br />
Einladend werden sie den hungrigen Kinderaugen<br />
präsentiert: Rosafarbene Delfine, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />
springender Fischschwarm, der nicht nur die<br />
Kinder in zuckersüße Versuchung führt. Sorgfältig<br />
<strong>ein</strong>er hinter den anderen auf glänzende Alufolie<br />
aufgespießt, von <strong>ein</strong>er Plastikhaube beschützt.<br />
Auf der <strong>ein</strong>en Seite flankieren in perfekter Reihe<br />
ultrarote Erdbeeren <strong>und</strong> links locken saftig gelbe<br />
Cashewfrüchtchen. Dazwischen täuschend echt<br />
bis auf die Kerne nachempf<strong>und</strong>ene Wassermelonen-Minischnitze.<br />
Alles aus künstlich<br />
gefärbter, unendlich süßer Zucker-Pulvermilch-<br />
Masse von geschickten Händen nachmodelliert.<br />
Schon trägt <strong>ein</strong> Junge stolz s<strong>ein</strong>en Minidelfin<br />
davon. Hat ihm, schwupps, auch gleich den Kopf<br />
abgebissen.<br />
Rosafarbene Delfine, pinkfarben wie Schw<strong>ein</strong>e,<br />
„Botos cor de rosa“ gibt es im Amazonasgebiet<br />
wirklich. Auch wenn die grauen, der Tuxuci,<br />
bekannter sind. Die Fischverkäufer in Santarém<br />
halten sich <strong>ein</strong> paar, sozusagen als Maskottchen.<br />
K<strong>ein</strong>er isst Delphinfleisch. Solange es der<br />
Wasserstand zulässt, tauchen sie elegant <strong>und</strong><br />
wendig zum Entzücken der Touristen den Fischen<br />
nach, die man ihnen an <strong>ein</strong>em Seil zum Fraß<br />
vorwirft. Sie stehen nicht nur im guten Ruf,<br />
Schiffbrüchigen zu helfen, schwimmend das<br />
rettende Ufer zu erreichen. Sie lieben es auch,<br />
vorbeiziehende Boote <strong>ein</strong> Stück zu begleiten.<br />
Entzücken Schiffer <strong>und</strong> Passagiere mit ihren<br />
fröhlichen Sprüngen <strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>en die Menschen<br />
ganz generell nicht zu fürchten.<br />
Was man allerdings von den Menschen nicht<br />
behaupten kann. Sie begegenen den Delphinen<br />
mit viel Respekt. Sie halten Delphine für mytische<br />
Tiere. Nicht wenige der Fischverkäufer, <strong>und</strong> nicht<br />
nur sie, sind sich sicher, dass „o Boto encanta“, die<br />
Delphine verzaubern. Mehr als <strong>ein</strong>mal haben sie<br />
mich darauf aufmerksam gemacht. Sie gelten als<br />
sagenumworbene Wesen, verehrt <strong>und</strong> gefürchtet,<br />
viel mehr als <strong>ein</strong> Säugetier in Form <strong>ein</strong>es Fisches.<br />
Die Indios nennen den Delfin nicht von ungefähr<br />
kraftvoll „Pirajaguara“ - fischgewordener Panther.<br />
Dass irgendetwas daran s<strong>ein</strong> muss, kann ich mit<br />
<strong>ein</strong>en Augen bezeugen. Der Sonnenuntergang im<br />
Hafen ist stimmungsvoll. Die Wasser ruhig. Da<br />
draußen schwimmt gerade jemand Crauwl.<br />
Crauwl? Hier schwimmt k<strong>ein</strong>er Crauwl! Wir alle<br />
haben ihn gesehen. Es war k<strong>ein</strong> Mensch. Es war<br />
<strong>ein</strong> Delphin. Willkommen im Kreis derer, die an<br />
Delphine in Menschengestalt glauben!<br />
Die amazonischen Delphine sind mit magischen<br />
Kräften ausgestattet. Schöne junge Delphinmännchen<br />
verwandeln sich nachts, magischerweise<br />
immer dann, wenn sie <strong>ein</strong>e schöne Jungfrau<br />
vor sich sehen, die, aus was für Gründen auch<br />
immer, gerade ohne väterlichen oder männlichen<br />
Schutz oder maskuline Begleitung ist, in stattliche<br />
Männer. Von Kopf bis Fuß ganz in Weiß<br />
gekleidet, hochsympathisch, tragen sie,<br />
sozusagen als Erkennungszeichen, <strong>ein</strong>en<br />
schwarzen Hut, der <strong>ein</strong>zig dazu diene, das Loch<br />
hoch oben auf dem Kopf zu verdecken, durch das<br />
<strong>ein</strong> jeder Delfin nun mal atmet.<br />
Die w<strong>und</strong>ersam Verwandelten mischten sich<br />
ungeladen <strong>und</strong> unbemerkt unter die Leute, unter<br />
die Gäste <strong>ein</strong>es Festes. Versprühten, <strong>ein</strong>e Art<br />
tropischen Don Juans, <strong>ein</strong>en unwiderstehlichen<br />
Zauber. Betörten, hypnotisierten, brächten die<br />
Herzen der allerschönsten Mädchen sogleich in<br />
ihren Besitz. Die arglos- jungfräulichunschuldigen<br />
Geschöpfe merkten allerdings erst<br />
Wochen später, dass sie guter Hoffnung seien.<br />
Die Frage, wie <strong>und</strong> von wem sie geschwängert<br />
worden waren, bleibt unbeantwortet. Als<br />
<strong>ein</strong>zigen Ausweg führten sie, hilflos <strong>und</strong><br />
überrumpelt, jenen Delfin als Kindsvater an.<br />
Der Fragliche aber sei längst vom Schauplatz Fest<br />
verschw<strong>und</strong>en. Zeichne sich am Horizont das<br />
Morgenrot ab, tauche er so unauffällig wie er<br />
aufgetaucht sei wieder ab, lautlos <strong>und</strong> endgültig.<br />
Den wenigen, denen es bestimmt war, ihn dabei<br />
zu beobachten, schwören, dass er auf kürzestem<br />
Weg zum Ufer laufe <strong>und</strong> <strong>ein</strong>fach in den Fluten<br />
verschwinde. K<strong>ein</strong>em ist es gelungen, ihn wieder<br />
auftauchen zu sehen.<br />
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Gegenmittel? Unbeschützt reisenden Frauen wird<br />
empfohlen, auf unvermeidlichen, tagelangen<br />
Bootsreisen, auch auf kürzeren Überfahrten, auf<br />
rote Kleider zu verzichten. Rot sei nun mal Don<br />
Juan Delphins Lieblingsfarbe. Rot ziehe ihn<br />
sozusagen magisch an. Empfohlen wird auch<br />
Knoblauch. Dessen magische Kräfte würden den<br />
ungebetenen Gast abschrecken.<br />
Wer allerdings denkt, der Delfin stelle nur<br />
Mädchen <strong>und</strong> Frauen nach, hat nicht mit den<br />
w<strong>und</strong>erschönen Delfinmädchen gerechnet! Sie<br />
singen, nicht anders als die Sirenen, so<br />
bezaubernd <strong>und</strong> überaus betörend, so<br />
überwältigend schön, dass sich immer wieder<br />
unschuldige Fischer bezirzt <strong>und</strong> betört zu ihnen<br />
ins Wasser stürzen, wo sie von den Delfininnen<br />
sogleich bis auf den Gr<strong>und</strong> der Flüsse gezogen<br />
werden! Von wo sie niemals wieder zurück<br />
finden.<br />
alle<br />
Kreuz<br />
820
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 843
Grauer Delfin gegen den rosafarbenen – Sairé, Alter do Chão<br />
Früh um fünf Uhr morgens gehen die ersten<br />
Kracher los. Noch <strong>ein</strong> Böller <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>er. Hier<br />
im Norden muss jedes Fest mit ohrenbetäubenden<br />
Knallern angekündigt werden. Je lauter,<br />
desto besser. Und dieses, der Sairé ist der<br />
Höhepunkt, das Mammutereignis des Jahres. Er<br />
findet immer im September statt <strong>und</strong> gilt als die<br />
größte religiös-folkloristische Manifestation der<br />
Region. Der kl<strong>ein</strong>e Badeort Alter do Chão, nahe<br />
Santarém, vibriert.<br />
Schon Wochen vorher kann man die<br />
Vorbereitungen sehen. Die kl<strong>ein</strong>en palmstrohgedeckten<br />
Baracken bekleiden sich, bekommen<br />
<strong>ein</strong> neues Dach, Wände, genauso wie das große<br />
Gem<strong>ein</strong>schaftshaus. Der „Puxirum“, die<br />
Gem<strong>ein</strong>schaftsarbeit ohne Bezahlung mit der man<br />
sich gegenseitig hilft oder eben wie hier etwas für<br />
das Gem<strong>ein</strong>wohl errichtet, mobilisiert das Dorf.<br />
Viele Freiwillige schlagen das nötige Holz <strong>und</strong> die<br />
Palmwedel in den Wäldern der Umgebung.<br />
Frauen <strong>und</strong> Männer legen, <strong>ein</strong>e hinter der<br />
anderen, die langen Fransen der Palmwedel um,<br />
so dass sie im rechten Winkel zur Mittelrippe<br />
stehen. Dann werden sie in Zehnerbüscheln an<br />
der Sonne getrocknet bis sie die Farbe wechseln,<br />
gelblich werden. Im Gerüst des Gem<strong>ein</strong>schaftshauses<br />
stehen die Männer schon in luftiger Höhe,<br />
empfangen die hoch gereichten Wedel <strong>und</strong><br />
binden sie in dichten Lagen über<strong>ein</strong>ander fest.<br />
Andere Handwerker bauen oder recyclen die<br />
riesigen Figuren. Die werden die Schaulustigen<br />
empfangen <strong>und</strong> erzählen vom diesjährigen Motto<br />
des Festes. Dieses Jahr muss gespart werden. Es<br />
sind Steuergelder der Stadt, die das Fest, die<br />
Shows <strong>und</strong> alle Künstler, Handwerker <strong>und</strong> die<br />
anderen Teilnehmer bezahlen.<br />
Als nächstes findet die Prozession der kl<strong>ein</strong>en<br />
Ruderboote statt, derselben, die sonst die<br />
Touristen bis zur Insel fahren. Es gilt, die zwei<br />
„Mastros“, <strong>ein</strong>e Art Maibäume auf der<br />
gegenüberliegenden Seite des Sees holen. Einer<br />
für die Männer, der andere für die Frauen, schon<br />
gefällt, irgendwo im Wald. Die zwei Gruppen, <strong>ein</strong>e<br />
der Frauen, <strong>ein</strong>e der Männer, sie sind die<br />
„Mordomos“, die Buttler des Festes, machen sich<br />
auf. Wer s<strong>ein</strong>en „Mastro“ zuerst zu den kl<strong>ein</strong>en<br />
Schiffen bringt, hat gewonnen. Das ganze wird von<br />
sehr viel Gelächter, Witzen <strong>und</strong> „Tarubá“, dem aus<br />
Maniok fermentierten Getränk <strong>und</strong> noch mehr<br />
Erinnerungsfotos begleitet.<br />
Die zwei „Mastros“ werden dann am Strand<br />
gelagert <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e Woche später in feierlicher<br />
Prozession geholt <strong>und</strong> auf dem Festplatz<br />
geschmückt. Zur Prozession ist das halbe Dorf auf<br />
den B<strong>ein</strong>en, auch der dreib<strong>ein</strong>ige, falbe H<strong>und</strong> fehlt<br />
nie. Er ist mal vorne, mal hinten dabei. Für jeden<br />
Mast ist <strong>ein</strong> männlicher <strong>und</strong> <strong>ein</strong> weiblicher<br />
Richter,“Juiz” <strong>und</strong> “Juíza” verantwortlich. Die<br />
Masten werden üppig geschmückt, die dazu<br />
verwendeten Früchte symbolisieren den<br />
Reichtum <strong>und</strong> die Fülle des Ortes. Dann werden<br />
sie unter viel Hin <strong>und</strong> Her aufgerichtet.<br />
In der darauf folgenden Woche geht es dann<br />
richtig los. Abends versammelt sich die<br />
Gem<strong>ein</strong>de für den religiösen Teil des Festes, ganz<br />
der heiligen Dreifaltigkeit gewidtmet, im<br />
Gem<strong>ein</strong>dehaus. Begleitet von der lokalen<br />
Musikgruppe „Espanta Cão“, deren Name,<br />
„Vertreib den H<strong>und</strong>“ schon <strong>ein</strong>e gute Idee vom<br />
lokalen Witz gibt, singen die Anwesenden<br />
feierliche Ladainhas, katholische Litaneien, <strong>ein</strong>ige<br />
in Lat<strong>ein</strong>. Auch der Priester der lokalen<br />
katholischen Kirche nimmt teil. Hält <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />
Andacht. Dann schreitet die Prozession,<br />
angeführt vom „Capitão“, ganz in Weiß. Ihm folgt<br />
die „Saipora“, <strong>ein</strong> Ehrenamt, der das Symbol des<br />
Festes anvertraut wird. Der „Arco“, <strong>ein</strong><br />
zugespitzter Halbkreis, symbolisiert die Arche<br />
Noah. Die drei Kreuze stehen für die „Moças das<br />
fitas”, die bändertragenden Mädchen. Sie kleiden<br />
jungfräuliches Weiß <strong>und</strong> halten die Bänder, die<br />
vom Kreuz ausgehen. Die Ladainhas <strong>und</strong> die<br />
Prozession wiederholen sich mehrere Tage<br />
hinter<strong>ein</strong>ander, immer abends.<br />
Bis dann vom Samstag auf den Sonntag der<br />
folkloristische <strong>und</strong> sehr profane Teil des Festes<br />
s<strong>ein</strong>em Höhepunkt zustrebt. Die beiden Botos,<br />
die Delphine, der rosa <strong>und</strong> der graue, der Tucuxi,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 844
treten auf dem riesigen Festplatz in Aktion,<br />
spielen ihren Kampf um Verführung, Leben <strong>und</strong><br />
Tod. Treten in <strong>ein</strong>em aufwendig choreografierten,<br />
karnevalesken Theaterspiel gegen <strong>ein</strong>ander an,<br />
rivalisieren um den Titel.<br />
Der Ablauf des Festes schreibt bestimmte Figuren,<br />
unter ihnen die unterschiedlichsten Königinen<br />
<strong>und</strong> dem “Curandeiro”, den Medizinmann vor, die<br />
in <strong>ein</strong> buntes Schauspiel mit vielen riesigen<br />
Wagen <strong>und</strong> Showeffekten <strong>ein</strong>geb<strong>und</strong>en werden.<br />
Als absoluter Höhepunkt gilt die Verführung der<br />
Cabocla durch den w<strong>und</strong>erschönen, unwiderstehtlichen<br />
Delphin. Nachdem der Vater der vom<br />
Don Juan Delphin „geschändeten“ Tochter<br />
denselben hat töten lassen, wird er von bösen<br />
Geistern heimgesucht <strong>und</strong> bereut die Tat. Er<br />
bittet den „Pajé“, den Stammeshäuptling, ihn<br />
wieder ins Leben zurückzurufen <strong>und</strong> so leben alle<br />
glücklich bis an ihr Lebensende. Glücklicher wohl<br />
nur die vielen tausenden von Zuschauern, die alle<br />
schon beim Eintrittskarten-Kaufen Partei ergriffen<br />
haben. Sie stehen sich in zwei Halbr<strong>und</strong>en<br />
gegenüber, links sind die Fans des Rosa Delphins,<br />
rechts feuern sie den Tuxuci an. Mit viel<br />
Leidenschaft <strong>und</strong> Feuer, bringen die Holzplanken<br />
der Tribünen mit ihrem Stampfen zum Vibrieren,<br />
wiegen die Fische aus Pappkarton <strong>und</strong> vieles<br />
mehr. Später, sehr viel später, am frühen Morgen<br />
schon, gibt‘s noch <strong>ein</strong>e Show, Carimbó vielleicht,<br />
der nochmals alle von den Bänken reißt.<br />
Irgendwann am nächsten Tag wird dann in <strong>ein</strong>em<br />
komplizierten System bewertet. Irgendwann steht<br />
der Gewinner fest, demokratisch ausbalanciert,<br />
man will ja k<strong>ein</strong>e der beiden Parteien der anderen<br />
vorziehen. Alles so, wie man es hier gewohnt ist.<br />
Das Ende der Festlichkeiten beginnt, wenn in <strong>ein</strong>er<br />
letzten, viel beklatschten <strong>und</strong> bejubelten Aktion<br />
die beiden Masten gefällt werden. Die<br />
bänderbestückten Stöcke, die Fahnen mit der<br />
heiligen Taube <strong>und</strong> alle anderen Elemente werden<br />
sorgfältig weggeschlossen. Ein neuer Zyklus<br />
beginnt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 845
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 848
Carimbó, Musik mit Humor<br />
Gestehe es ungern <strong>ein</strong>, aber wirklich auf den<br />
Geschmack gebracht haben mich zwei Sampler,<br />
Raubkopien, die ich zu m<strong>ein</strong>er Schande sei‘s<br />
gesagt, beim Straßenhändler kaufte. Die<br />
schreienden Farben der fotokopierten Hüllen<br />
versprechen großspurig die besten Carimbós aller<br />
Zeiten. Gleich hier auf dem Bürgersteig, zwischen<br />
zwei Regen, spielt er mir <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Kostprobe<br />
vor, nur so zum R<strong>ein</strong>hören. Folge der Empfehlung<br />
<strong>und</strong> entdecke den wirklichen Carimbó! Eine kl<strong>ein</strong>e<br />
Kostbarkeit, ursprünglich, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es, originales<br />
<strong>und</strong> wirklich volkstümliches musikalisches<br />
Schmuckstück.<br />
Je mehr ich höre, desto breiter wird m<strong>ein</strong><br />
Schmunzeln. Carimbó hat Humor <strong>und</strong> was für<br />
<strong>ein</strong>er! Schöpft aus dem prallen Leben. Jeder kriegt<br />
s<strong>ein</strong>en Carimbó ab: Es gibt <strong>ein</strong>en für den „Gago“,<br />
den Stammler, <strong>und</strong> natürlich fehlt auch der nicht,<br />
der nicht zu s<strong>ein</strong>en Hörnern stehen will. Alles wird<br />
zu Musik, liefert kuriosen Anstoß zu <strong>ein</strong>em höchst<br />
mitreißenden Lied, im charakteristisch schnellen<br />
Rhythmus, der Alt <strong>und</strong> Jung buchstäblich nach<br />
zwei Minuten von den wackligen Klappstühlen<br />
reißt. Es gibt <strong>ein</strong> Lied über den „Piolho“, die Laus.<br />
Das nächste ist über Inesens Ziegenbock <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
anderes über <strong>ein</strong> gestandenes, sozusagen in die<br />
Jahre gekommenes Krokodil. Was für <strong>ein</strong>e skurrile<br />
Welt, in der auch der ins Gemüsebeet verirrte<br />
Aasgeier nicht fehlt! Unverbraucht original <strong>und</strong><br />
lüpfig gelänge es ihm wohl gar Tote zu animieren,<br />
<strong>und</strong> das nicht nur der hillarischen Texte wegen.<br />
Schon sehe ich die bloßen Füße der lokalen<br />
Schönheiten den Takt auf den nackten Boden<br />
klatschen. Ihre grellbunten Blumenröcke aus<br />
preiswerter Baumwollchita zeichnen wilde Kreise<br />
in die Luft, die schlanken Armpaare fliegen: Ihre<br />
männlichen Tanzpartner drehen <strong>und</strong> wenden sich,<br />
<strong>ein</strong>mal nach vorne, dann wieder zurück. Ein<br />
<strong>ein</strong>ziges Vibrieren <strong>und</strong> Schütteln, das nicht nur die<br />
bloßen Oberkörper der Vortänzer sogleich in<br />
Schweiß badet. Bald tun es ihnen auch die<br />
Touristen gleich.<br />
Die raue, ungekünstelte Stimme Verequetes, des<br />
Carimbó-Altmeisters, bis heute bew<strong>und</strong>ert <strong>und</strong><br />
referenziert, schallt aus dem Lautsprecher, lässt<br />
k<strong>ein</strong>en verschnaufen, weiter <strong>und</strong> weiter zieht er in<br />
atemlosem Rhythmus den Bogen <strong>ein</strong>es neuen<br />
Liedes. Bis heute gelingt es k<strong>ein</strong>em anderen, die<br />
Verse so kunstvoll zu zerkauen, genießerisch im<br />
Rhythmus mit den Zähnen zu zermahlen. S<strong>ein</strong>e<br />
überaus witzigen Texte besingen immer <strong>und</strong><br />
immer wieder dieselben Themen, erzählen voller<br />
Sehnsucht <strong>und</strong> verstecktem Heimweh von <strong>ein</strong>em<br />
unkompliziert <strong>ein</strong>fachen Leben auf dem Land, <strong>ein</strong><br />
unterentwickeltes Hinterland, inexistent, in der<br />
Erinnerung verklärt. Ein Leben, dessen <strong>ein</strong>tönig<br />
steter Fluss nur durch den Kalender religiöser <strong>und</strong><br />
profaner Feste unterbrochen wird.<br />
Die Instrumente des Carimbós sind <strong>ein</strong>fach,<br />
sch<strong>ein</strong>en direkt von der lokalen Blaskapelle<br />
ausgeliehen zu s<strong>ein</strong>. Sind fast alle leicht<br />
mitzutragen, damit sie die Musikanten weder<br />
beim Marschieren vor der Prozession noch beim<br />
Totenzug behindern: Flöte, Querflöte, Banjo,<br />
Tamburin <strong>und</strong> Rabecas, brasilianische<br />
Streichinstrumente, Geigen nachempf<strong>und</strong>en. Nur<br />
die Tambore, die den Rhythmus des Tanzes<br />
markieren, sind so großmächtig, dass sich die<br />
Spieler rittlings auf sie setzen, um sie zu<br />
schlagen. Sie stammen, aus <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen<br />
Baumstrunk geschnitzt, wohl von Instrumenten<br />
ab, die die Sklaven aus Afrika mitbrachten. All<strong>ein</strong><br />
schon ihre Namen verraten etwas von ihrem<br />
Rhythmus: Reco-reco, Maracás <strong>und</strong> Afochê –<br />
typisch brasilianische Schlag- <strong>und</strong><br />
Rhythmusinstrumente, die auf die<br />
unterschiedlichen Wurzeln der Populär- <strong>und</strong><br />
Volksmusik hinweisen.<br />
Die Gesänge der Ur<strong>ein</strong>wohner fließen genauso in<br />
den Mix <strong>ein</strong> wie afrikanisches Erbe <strong>und</strong> die<br />
Musikkultur aus dem portugiesisch-iberischmaurischen<br />
Raum. Beim Carimbó erinnert der<br />
<strong>ein</strong>fache Rhythmus, zwei nach links, zwei nach<br />
rechts, deutlich an <strong>ein</strong>en „Vira-vira“ aus Portugal,<br />
allerdings in <strong>ein</strong> neues, amazonisch-tropisches<br />
Kleid gesteckt, was sich vor allem in der puren,<br />
naiven Lebensfreude <strong>und</strong> aus dem Herzen<br />
kommende Fröhlichkeit, <strong>ein</strong>em Urvergnügen am<br />
Musizieren, ausdrückt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 849
Später kaufe ich auch aktuellere Carimbós, der<br />
absolute Superstar ist Pinduca, der s<strong>ein</strong>e Lieder<br />
überaus witzig <strong>und</strong> schlingelhaft durchpeitscht.<br />
Sehe ihn, <strong>ein</strong> älterer Herr schon, er geht auf die<br />
80ig zu, trägt aber noch die selben satinen<br />
Hemden mit den Ballonärmeln wie in den<br />
1950ern <strong>und</strong> den berühmt breitrandigen Hut<br />
voller kl<strong>ein</strong>er „Cuias“.<br />
Der absolute Superstar aber ist Dona Onete,<br />
heute die große Lady des Carimbós. Eine<br />
pensionierte Gr<strong>und</strong>schullehrerin, auch sie schon<br />
weit fortgeschrittenen Alters, nimmt k<strong>ein</strong> Blatt<br />
vor den M<strong>und</strong>. In „Feitiço Cabolco“, Caboclos<br />
Zauber gibt sie jenem Mann, der sie betrügt,<br />
misshandelt oder schlimmeres, <strong>ein</strong>fach „Chá de<br />
Tamaquaré”, Tee aus “Tamaquaré”, <strong>ein</strong>er<br />
Eidechse, getrocknet <strong>und</strong> zu Pulver verarbeitet.<br />
Das mache ihn so zahm <strong>und</strong> doof, dass er ihr aus<br />
der Hand fresse. Ob eigene Erfahrung daraus<br />
spricht? Spät, erst nach <strong>ein</strong>er Scheidung <strong>und</strong><br />
schon in Rente begann sie endlich ihre eigene<br />
Musik zu komponieren <strong>und</strong> zu singen. K<strong>ein</strong>e<br />
schlägt sie, wenn es um witzige oder auch<br />
traurig-sehnsüchtige Texte zu überaus<br />
<strong>ein</strong>schlägiger Musik geht.<br />
W<strong>und</strong>erbar ihre Musik vom nichtsnutzigen<br />
„Urubu Malandro“, dem Tu-nicht-gut-Aasgeier,<br />
der <strong>ein</strong>en Ausflug nach Marajó machte <strong>und</strong> es<br />
dort <strong>ein</strong>fach nur stinklangweilig findet. Wirft sich,<br />
zurück in Belém, genüsslich ins schlimmste<br />
Gewimmel voller Pitiu (Fischgestank). Balgt sich<br />
mit allen anderen um übrig gebliebenes Gedärm,<br />
mit dem <strong>ein</strong>en Flügel die Balance haltend, mit dem<br />
anderen sich verteidigend. Nicht mal die „Garça<br />
Namoradeira“, das flitterhafte Reiherfräul<strong>ein</strong>,<br />
kann ihn abhalten.<br />
Traurig-weise wird die Musik Dona Onetes dann,<br />
wenn sie ihr Herz zu <strong>ein</strong>em „Brechó“, <strong>ein</strong>em<br />
Second-Hand-Laden erklärt. Echt <strong>und</strong> anrührend<br />
wie Weniges, echter Carimbó eben.<br />
Guitarrada<br />
Die Gitarren sprechen mit drei, vier Stimmen,<br />
lassen die Musik kunstvolle Bögen erklimmen,<br />
finden endlich am Ausgangspunkt wieder<br />
zusammen, um sogleich zu <strong>ein</strong>er noch<br />
komplexeren Schleife durchzustarten.<br />
Die lokale Musik, “Guitarrada” genannt, ist das<br />
anspruchsvolle Pendant zum Carimbó. Auch sie<br />
ist im Staat Pará geboren, inspiriert sich am<br />
amazonischen <strong>und</strong> karibenischen Rhythmen,<br />
<strong>ein</strong>e Fusion des brasilianischen Choro mit<br />
Merengue, Mambo, Bolero <strong>und</strong> natürlich der<br />
Lambada. Es war Mestre Vieira, der den<br />
instrumentalen Genre kreierte, nachdem er in<br />
den 1970er Jahren die elektrische Gitarre<br />
entdeckte.<br />
Heute ist der Altmeister Sebastião Tapajós <strong>ein</strong>er<br />
der bekanntesten Guitarrada-Spieler <strong>und</strong><br />
Komponist. Meisterlich steigen s<strong>ein</strong>e<br />
Melodienbögen auf <strong>und</strong> runter, alles im<br />
mitreißenden Rhythmus <strong>ein</strong>er Guitarrada.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 850
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 851
Hinterland<br />
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Hinterland<br />
Urbe Amazonas 861/862<br />
Santarém oder Vom Ende der Welt 871-873<br />
Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong> 888/889<br />
Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum Henry Fords 896-898<br />
Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden 901<br />
Der Wasserturm 908/909<br />
Vom Festival der Früchte 915<br />
Se vira! – Hilf dir selbst! 919<br />
Herzblatt 921<br />
Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“ 925-927<br />
Obidos, die Kehle des Amazonas 938/939<br />
Para Inglês ver 942-944<br />
Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen 946/947<br />
Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland 951<br />
Marajó 958/959<br />
Bragança 964<br />
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<strong>Amazonien</strong> urban<br />
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Urbe Amazonas<br />
Still <strong>und</strong> leise, von der Welt <strong>und</strong> vom restlichen<br />
Brasilien fast unbemerkt, verwandelt sich<br />
<strong>Amazonien</strong>. Die Wildnis wird immer urbaner. Ein<br />
überaus rascher, unkontrollierter Verstädterungsprozess<br />
ist im Gang <strong>und</strong> sorgt für<br />
tiefgreifende Veränderungen. Heute lebt um die<br />
80 % der amazonischen Bevölkerung in urbanen<br />
Zentren. Und sie lebt schlecht. Vegetiert irgendwo<br />
am Rande der Geschichte. Eine große Reportage,<br />
<strong>ein</strong> aktuelles Porträt des Tropenwaldes, des<br />
Estado de São Paulo, <strong>ein</strong>er renommierten Zeitung<br />
titelt: Favela Amazônia. Die Reportage geht noch<br />
tiefer. Ein Drittel der lokalen Bevölkerung lebe in<br />
Gebieten, die die Menschenrechte missachten<br />
oder vom Drogenhandel kontrolliert würden.<br />
Zwar war es seit der Kolonisation so, dass den<br />
Städten <strong>ein</strong>e strategische Funktion zukam, wenn<br />
es galt, sich den Tropenwald anzueignen. Neu ist<br />
aber die Attraktion, die die Städte auch auf jene<br />
Unsichtbaren ausüben, Indigene <strong>und</strong> andere, die<br />
früher weitab im Wald ihr Leben fristeten. Deren<br />
Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder ziehen an die<br />
Peripherien auf der Suche nach <strong>ein</strong>em besseren<br />
Leben. Sie lassen alles zurück, entwurzeln sich,<br />
wie schon so viele vor ihnen. Bekommen wenig<br />
oder gar nichts als Gegenleistung für <strong>ein</strong>e ganze<br />
Kultur, die unterschiedlichsten Gewohnheiten, die<br />
sie hinter sich gelassen haben. Einmal in der<br />
Stadt, sind sie mit Armut <strong>und</strong> Gewalt konfrontiert,<br />
bezahlen <strong>ein</strong>en hohen Preis.<br />
Die Städte ihrerseits, entstanden aus purer<br />
Notwendigkeit, folgen weder gesetzlichen Normen<br />
noch städtebaulichen Vorschriften. Es sind Städte<br />
wie Santarém, wo jede dritte Querstraße mitten<br />
im Zentrum, beim Bürgermeisteramt gleich um die<br />
Ecke, auf <strong>ein</strong>e f<strong>ein</strong>e Decke Asphalt wartet <strong>und</strong><br />
viele Einwohner noch immer ohne Trinkwasser<br />
sind. Oder wie Belém, wo die offenen Abwasserkanäle<br />
voller Favelas, bunt gemischt mit Luxushochhäusern<br />
zum Himmel stinken. Ein altbekanntes<br />
Problem. Infrastruktur, die man nicht<br />
sieht, die irgendwo im Boden <strong>ein</strong>gegraben wird, ist<br />
generell bei Politikern unbeliebt. Die lassen sich so<br />
schlecht vorzeigen…. Nach wie vor gilt es in<br />
Brasiliens Norden als <strong>ein</strong> Kavaliersdelikt, von der<br />
Mehrheit der Hausbesitzer praktiziert, s<strong>ein</strong> Haus,<br />
s<strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>stück nicht ins Gr<strong>und</strong>buch <strong>ein</strong>zutragen<br />
<strong>und</strong> dadurch auch k<strong>ein</strong>e Gr<strong>und</strong>stücksteuer zu<br />
bezahlen.<br />
Die Liste ist endlos <strong>und</strong> die Ursachen für die<br />
Miserie so komplex wie vielfältig. Nur wer<br />
tagtäglich mit jenen „Vergessenen“ in Kontakt<br />
kommt, kann ahnen, was es bedeutet, theoretisch<br />
zwar <strong>ein</strong>e Schule besucht zu haben, in der Praxis<br />
aber so gut wie nichts gelernt zu haben. Kann aber<br />
auch den Professor verstehen. S<strong>ein</strong>e Autorität<br />
wird weder von den ihm übergeordneten Organen<br />
noch von den Studenten respektiert. Hinter den<br />
Kulissen ziehen obskure Gewerkschaften <strong>und</strong><br />
Interessenverbände die Fäden oder wie man hier<br />
sagt die Sardinen auf ihre Glut hinüber. Man<br />
muss k<strong>ein</strong>e Statistik lesen, um zu sehen, was das<br />
für junge Leute bedeutet. Wie <strong>ein</strong>fach ist es, sich<br />
in Alkohol oder Drogen zu flüchten oder gar in<br />
<strong>ein</strong>e Kinderehe. Der Staat Pará hat <strong>ein</strong>e der<br />
höchsten Raten von Kindern die Kinder<br />
bekommen. Für viele Mädchen, Teenager noch,<br />
ist das Kinderkriegen <strong>ein</strong> Weg, aus <strong>ein</strong>em<br />
Zuhause zu flüchten, das sie als Hölle empfinden.<br />
Ein Weg, der sich natürlich sehr schnell als<br />
Sackgasse entpuppt. Damit aber die ewige<br />
Spirale intakt halten. Ein Kind, in solchen<br />
Verhältnissen aufgewachsen, ist fast dazu<br />
verdammt, da capo, später alles genauso zu<br />
wiederholen.<br />
Eine Gesellschaft, in der sich die Allersensibelsten<br />
in den Tod flüchten, weil sie gar k<strong>ein</strong>e Zukunft für<br />
sich sehen. Andere werden von wütenden<br />
Nachbarn nackt ausgezogen <strong>und</strong> dann brutal<br />
verprügelt. Währen wohl gar gelyncht worden,<br />
hätte nicht <strong>ein</strong>e andere Nachbarin <strong>ein</strong>gegriffen.<br />
Und all das nur wegen <strong>ein</strong>es Baumes, dessen<br />
Blätter den Nachbargarten „verunr<strong>ein</strong>igte“.<br />
Explosionen, die von Druck zeugen, der von der<br />
Armut kommt <strong>und</strong> vom Zu-Nahe-Zusammen<br />
leben, von der jahrh<strong>und</strong>ertealten Ungerechtigkeit<br />
genauso wie von der kulturellen<br />
Rücksichtslosigkeit <strong>und</strong> Nichtachtung, mit der<br />
hier die Menschen behandelt werden. Auch von<br />
jenen Intellektuellen, die es ja so gut m<strong>ein</strong>en.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 861
Jede beschäftigt mindestens <strong>ein</strong>e Hausangestellte<br />
<strong>und</strong> Kindermädchen, die sie nur dann nach Hause<br />
gehen lassen, wenn all die unangenehme Arbeit<br />
getan ist. Überst<strong>und</strong>en bezahlt k<strong>ein</strong>er. Ist sie<br />
gebührend registriert, gehört sie zu den<br />
glücklichen Ausnahmen. Ein ganzes Volk, das von<br />
jenen Parteien beklaut wird, die sich selber zum<br />
Retter der Nation erklärten, den <strong>ein</strong>zig r<strong>ein</strong>en <strong>und</strong><br />
puren. Dann aber sogar persönlichen Profit aus<br />
ihrer Macht ziehen.<br />
Das alles spiegelt sich in den amazonischen<br />
Dörfern, Städten <strong>und</strong> den Metropolen ab. Sie alle<br />
tragen der immer weiter um sich greifenden<br />
Gewalt, der Umweltverschmutzung in großen<br />
Dimensionen <strong>und</strong> der stetig wachsenden<br />
Bevölkerungszahlen in k<strong>ein</strong>er Weise Rechnung.<br />
Die fehlende oder defizitäre Infrastruktur, die<br />
nicht existierende Präsenz des Staates <strong>und</strong> der<br />
fehlende Zusammenhalt der Bevölkerung tragen<br />
da ihre dazu bei.<br />
Favela <strong>Amazonien</strong>.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 862
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Santarém oder Vom Ende der Welt<br />
Fast 300.000 Einwohner, <strong>ein</strong> wichtiger Hafen, <strong>ein</strong><br />
Flughafen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen Gepäckband, <strong>ein</strong>e<br />
brandneue staatliche Universität, <strong>ein</strong> Theater, <strong>ein</strong><br />
Kino <strong>und</strong> zwei Shoppingcenters – die Stadt<br />
Santarém ist wohl typisch für das brasilianische<br />
Hinterland.<br />
Die Stadt Santarém könnte Ausgangspunkt<br />
traumhafter Schiffsreisen auf dem Tapajós s<strong>ein</strong>.<br />
Aber im Moment liegt sie wohl noch immer eher<br />
irgendwo an <strong>ein</strong>em Ende der zivilisierten Welt.<br />
Bildet <strong>ein</strong>e Art allerletzter Grenze zu noch<br />
hinteren Hinterländern. Ausreichend hässlich <strong>und</strong><br />
gesichtslos dazu ist sie auf alle Fälle. Wer<br />
allerdings zweimal hinschaut, findet auch hier<br />
Reste <strong>ein</strong>er glanzvolleren Vergangenheit. Es gibt,<br />
neben <strong>ein</strong> paar gut erhaltenen schmucken<br />
Häusern aus der Kolonialzeit, gar zwei kl<strong>ein</strong>e<br />
Museen. Sicherlich <strong>ein</strong>e Art heroischer Akt, hier<br />
im Amazonas <strong>ein</strong> lokales Museum ins Leben zu<br />
rufen, zu unterhalten <strong>und</strong> damit der Nachwelt <strong>ein</strong><br />
Stück Geschichte zu bewahren.<br />
Das im Titel erwähnte Ende der Welt sch<strong>ein</strong>t <strong>ein</strong>e<br />
der lokalen Ironien zu s<strong>ein</strong>. Es gibt <strong>ein</strong> Buch von<br />
Joe Jackson, das dem cleveren Dieb, dem<br />
Engländer, Henry Wickham <strong>ein</strong> Denkmal setzt. Er<br />
war es, der 1876 von Santarém aus die<br />
Gummibaumsamen verbotenerweise außer Land<br />
schmuggelte <strong>und</strong> damit den Niedergang der<br />
Kautschukproduktion veranlasste. Auch s<strong>ein</strong> Titel,<br />
“The Thief at the End of the World” nimmt aufs<br />
Weltende Bezug.<br />
Als gute Kulturtouristin tue ich das Stadtmuseum<br />
João Fona eher zufällig auf. Ein beflissener junger<br />
Mann, dem Buch nach zu urteilen, das er in der<br />
Hand hält, studiert er „Letras”, Portugiesisch, führt<br />
mich durch die spärlichen Räume. Ich erfahre, dass<br />
ich beileibe nicht die <strong>ein</strong>zige schweizer Besucherin<br />
sei. N<strong>ein</strong>, hier in Santarém gebe es viele<br />
ausländische Touristen. Die wöchentlich hier<br />
andockenden Kreuzfahrtschiffe bezeugen das. Das<br />
Museum sei im Gebäude des antiken Rathauses<br />
untergebracht. Alles sei restauriert worden. Nur<br />
leider, leider fehle jetzt wieder das Geld – m<strong>ein</strong><br />
Blick streift über <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Wasserschaden. Im<br />
ersten Raum kann ich den Holzboden bew<strong>und</strong>ern,<br />
abwechselnd <strong>ein</strong>e Diele gelbes Edelholz, <strong>ein</strong>e Diele<br />
dunkles Tropenholz, in der Mitte <strong>ein</strong>e kunstvolle<br />
Intarsie. Dann die Wandbilder, die <strong>ein</strong> anderes<br />
Santarém, zu Zeit des Kautschuks zeigen, fast<br />
europäisch, zivilisiert. Auf dem <strong>ein</strong>en balanciert im<br />
Vordergr<strong>und</strong> <strong>ein</strong> Reiher <strong>ein</strong>b<strong>ein</strong>ig auf dem riesigen<br />
Blatt <strong>ein</strong>er „Vitória Régia”. Ihr Durchmesser<br />
beträgt wohl <strong>ein</strong>en halben Meter, <strong>ein</strong>e Seerose in<br />
amazonischen Dimensionen. Vorbei geht es an der<br />
obligaten Galerie der Bürgermeister, alle, auch<br />
zwei Frauen, mehr oder weniger kunstvoll<br />
künstlich in Öl festgehalten. Jeder schaut aus<br />
<strong>ein</strong>em anderen Winkel aus den dunklen Rahmen,<br />
<strong>ein</strong>e Anhäufung von Bärten, Schnäuzen,<br />
Schnurrbärten.<br />
1661 gründete hier der Jesuit João Felipe<br />
Bettendorf <strong>ein</strong>e Missionsstation, aus der sich<br />
dann die Stadt Santarém entwickelte. Die wurde<br />
schon bald zu <strong>ein</strong>er wichtigen Zwischenstation<br />
auf dem Weg von Manaus nach Belém. Gar <strong>ein</strong>en<br />
Baron, der Barão do Tapajós, des Barons vom<br />
Tapajós, des Flusses, gab es hier. F<strong>ein</strong>e Ironie<br />
oder brutaler Kolonialismus? Auf alle Fälle war es<br />
<strong>ein</strong> Portugiese, der sich mit dem indigenen<br />
Namen im Titel schmückte. Weiter geht es mit<br />
vielen Fragmenten indigener Töpferkunst,<br />
„Ceramica Tapajoara“. Sie hatte ihre Hochblüte<br />
vor der „Entdeckung” Brasiliens durch Cabral. Es<br />
gibt Anzeichen dafür, dass es hier, wie an vielen<br />
Stellen im Amazonas, hochstehende Kulturen mit<br />
komplexen Ritualen gegeben hat. Die Graburnen<br />
sind w<strong>und</strong>erschön geschwungen <strong>und</strong> die<br />
Keramikfragmente zeigen reiche Verzierungen,<br />
Tierköpfe, kl<strong>ein</strong>e töpferne Menschenfiguren. Ein<br />
kl<strong>ein</strong>er, leider zu wahrer politischer Diskurs des<br />
Führers lamentiert, dass die schönsten Stücke<br />
natürlich alle geraubt wurden. In den Völkerk<strong>und</strong>lichen<br />
Museen von Belém, São Paulo <strong>und</strong> im<br />
Ausland seien.<br />
Die Hand- <strong>und</strong> Fußeisen für die Sklaven, der<br />
„Pelorinho”, <strong>ein</strong>e Art Schandpfahl sind heute ins<br />
Depot verbannt. Ich lerne, dass es hier in<br />
Santarém viel Sklavenhandel gab. Bis heute gibt<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 871
es hier ganze „Quilombos“, Dorfgem<strong>ein</strong>schaften,<br />
in denen Nachkommen von geflüchteten Sklaven<br />
leben <strong>und</strong> irgendwo, weitab, mit primitiven<br />
Methoden <strong>und</strong> zu fast den selben Bedingungen<br />
wie vor h<strong>und</strong>ert Jahren, zurückgezogen,<br />
selbstversorgend <strong>ein</strong> Stück Land bearbeiten, um<br />
dessen Besitz sie vielleicht gerade kämpfen.<br />
Auch die gigantischen Sägen, kunstvoll<br />
geschmiedet, sie mussten von zwei gestandenen<br />
Männern bedient werden, sind heute aus den<br />
Ausstellungsräumen verschw<strong>und</strong>en. Sicher haben<br />
sie viel des begehrten Brasilholzes geschnitten.<br />
Auch die komplex gew<strong>und</strong>ene Zeichnung ist nicht<br />
mehr da. Magisch, es war <strong>ein</strong> Stammbaum!<br />
gezeichnet von <strong>ein</strong>em der Gründer des Museums.<br />
Einmal wurde ich ihm, vielleicht weil ich soviel<br />
fragte, – welche Ehre! –João Fona Laurimar Leal<br />
vorgestellt; <strong>ein</strong> dunkelhäutiger, alter Mann,<br />
Mulatte mit deutlich indigenen Zügen. Stolz<br />
erzählt er mir, dass er in Frankreich studiert habe.<br />
Er ist s<strong>ein</strong>er Herkunft nachgegangen <strong>und</strong> brachte<br />
s<strong>ein</strong>e Forschungen zu Papier. Auf der <strong>ein</strong>en Seite<br />
sind es marokkanische Juden, auf der anderen<br />
Sklaven aus Angola, die sich in <strong>ein</strong>em reich<br />
verzweigten Gebilde, historische Genauigkeit <strong>und</strong><br />
Fantasie verbündeten sich wohl im Prol der Sache,<br />
in Brasilien ankamen <strong>und</strong> Familie gründeten,<br />
Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder zeugten. Die<br />
Nachkommen sind im Astwerk des Stammbaumes<br />
mit Vornamen aufgeführt. Woher wohl die<br />
indigenen Züge kommen, bleibt unerklärt.<br />
M<strong>ein</strong> Unglauben wird später, ich sehe im improvisierten<br />
Kirchenmuseum das Kirchenbuch, Lügen<br />
gestraft. Die aufgeschlagene Seite datiert vom Jahr<br />
1775. Die Schrift ist eigenartigerweise w<strong>und</strong>erbar<br />
leserlich: Der Besitzer, <strong>ein</strong> portugiesischer Name,<br />
hat am fünf<strong>und</strong>zwanzigsten Juni siebzehnh<strong>und</strong>ertfünf<strong>und</strong>siebzig<br />
die folgenden Sklaven verheiratet:<br />
Es folgt <strong>ein</strong>e lange, ausführliche Liste mit Namen.<br />
Bei vielen Sklaven ist hinter dem Namen in<br />
Klammern das Herkunftsland in Afrika aufgeführt.<br />
Auch hier bleibt m<strong>ein</strong>e Frage nach der indigenen<br />
Bevölkerung im Raum stehen.<br />
Der Führer dieses Museums, des „Museu de Arte<br />
Sacra“, ist noch geselliger. Erzählt, dass das Kruzifix<br />
der gleich daneben liegenden Kirche vom<br />
deutschen Naturwissenschaftler Karl Friedrich<br />
Philip von Martius gestiftet wurde. Eine<br />
Danksagung an die Nossa Senhora de Conceição,<br />
die Jungfrau mit dem schwarzen, offenen<br />
Wallehaar. Von Martius entkam, gleich hier vor<br />
Santarém, <strong>ein</strong>em schweren Unwetter <strong>und</strong><br />
Schiffsunglück. Kam nur weil es Gottes Wille war<br />
oder weil ihn die Jungfrau erhörte mit dem Leben<br />
davon, was er mit dem Kreuz vergalt.<br />
Der Führer macht mich auf <strong>ein</strong>e andere Kuriosität<br />
aufmerksam: Im Kirchenbuch steht unter vielen<br />
anderen Namen weiblicher Sklaven <strong>ein</strong>e<br />
„Branquinha”, <strong>ein</strong> „Schneeweißchen”. Was für<br />
Ironien <strong>und</strong> Schicksale sich dahinter verbergen!<br />
Das Buch ist von „Traças”, kl<strong>ein</strong>en papierfressenden<br />
Tierchen, durchlöchert, die Seiten<br />
ausgefranst. Ob es denn davon <strong>ein</strong>e Kopie gebe,<br />
oder <strong>ein</strong>en Mikrofilm, frage ich unschuldig. -<br />
„N<strong>ein</strong>, wo denken Sie denn hin!” - Der Führer ist<br />
entsetzt. – „Wenn wir das Buch <strong>ein</strong>mal weggeben,<br />
kommt es nie mehr hierher zurück! So<br />
viele andere Ausgrabungsstücke <strong>und</strong> anderes<br />
haben sie mitgenommen, verschleppt <strong>und</strong> nie<br />
mehr zurückgegeben!“ - Geld gäbe es ja. - „Aber<br />
der Pater hat gesagt, dass ich es nur persönlich<br />
zum Restaurieren bringen darf! Stellen Sie sich<br />
vor, die wollten doch, dass ich es per Post<br />
schicke. Also wirklich, nur wenn ich es persönlich<br />
überbringen kann.“ - da ist es wieder, dieses<br />
unausrottbare Misstrauen, auf das man hier im<br />
Amazonas immer wieder stößt.<br />
Und dabei war Santarém vor h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
schon mal sozusagen international vernetzt.<br />
1867 kamen Konföderierte aus Nordamerika<br />
hierher, um hier <strong>ein</strong>e Kolonie zu gründen, sich<br />
die W<strong>und</strong>en des schauerlichen, verlorenen<br />
Krieges zu lecken. Und hier noch etwas länger<br />
von ihren Sklaven zu profitieren.<br />
1928 landeten hier Männer <strong>und</strong> Maschinen,<br />
ausgeschickt vom Autobauer Henry Ford, um im<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 872
Auftrag der American Rubber Mission in<br />
Fordlândia <strong>und</strong> später in Belterra die Companhia<br />
Ford Industrial do Brasil aufzubauen. Sie sollte in<br />
großem Stil Kautschuk anbauen <strong>und</strong> war <strong>ein</strong><br />
<strong>ein</strong>ziges, riesiges Fiasko.<br />
Heute kann man im Hafen den riesigen Arm des<br />
amerikanischen Multi Cargill sehen, der seit 2003<br />
Soja in die ganze Welt verschifft. Sonst aber<br />
schläft die Stadt <strong>ein</strong>en amazonischen<br />
Dornröschenschlaf. Wer es nicht glaubt, der<br />
schaue sich doch das Geschäft mit dem<br />
klingenden Namen “Fim do M<strong>und</strong>o”, Weltende<br />
an. Leider will der Inhaber den Gr<strong>und</strong> für den<br />
Namen nicht verraten.<br />
Ach, <strong>und</strong> noch <strong>ein</strong> Nachtrag. Im Garten in <strong>ein</strong>em<br />
Haus in Alter do Chão, <strong>ein</strong>e halbe Autofahrst<strong>und</strong>e<br />
von Santarém, hat unser Mann für das Grobe<br />
beim Ausgraben <strong>ein</strong>es Loches für die Grünabfälle<br />
Keramikreste gef<strong>und</strong>en. Er warf sie achtlos zur<br />
Seite. Nur beiläufiges Nachfragen brachte uns<br />
zufällig auf ihre Spur. Sie sind heute Teil des<br />
F<strong>und</strong>us des kl<strong>ein</strong>en santarener Stadtmuseums.<br />
Und der arme Mann fürs Grobe. Er kann es sicher<br />
bis heute nicht verstehen, warum ich so<br />
schockiert war. Ihm an den ahnungslosen Kopf<br />
warf, dass er die Töpferkunstwerke s<strong>ein</strong>er<br />
Vorfahren achtlos weggeworfen habe!<br />
„Mmh... –<br />
Plastiklatschen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 873
Dieses <strong>und</strong> die zwei nächsten Bilder<br />
Sozialer Wohnungsbau in Brasilien<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 887
Zum Kaffee im Mütterver<strong>ein</strong><br />
Man trifft sich, immer am letzten Samstag des<br />
Monats. Der Mütterver<strong>ein</strong> lädt <strong>ein</strong> zum<br />
Kaffeeklatsch, reihum in <strong>ein</strong>s der Häuser <strong>ein</strong>er der<br />
Beteiligten. Wie es sich für <strong>ein</strong>en Mütterver<strong>ein</strong><br />
schickt, nehmen alle sozialen Schichten daran teil,<br />
in Brasilien doch eher ungewöhnlich. Normalerweise<br />
beschränken sich die außerberuflichen<br />
Kontakte hier auf die eigene soziale Klasse. Aber<br />
im Mütterver<strong>ein</strong> treffen sich die Professorinnen,<br />
die Hausfrauen, ihre Hausangestellten, Besitzerinnen<br />
von Hotels genauso wie Freischaffende<br />
<strong>und</strong> solche, die von Gelegenheitsjob leben zum<br />
Kaffee. Diesmal ist der Kreis kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> intim.<br />
Vielleicht spricht man deshalb offen über so<br />
vieles, über Gott <strong>und</strong> die Welt.<br />
Zuerst wird zum x-ten Mal über den geplanten<br />
Ver<strong>ein</strong>shausneubau <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />
ungeheuerlichen Kosten gesprochen. Der<br />
Mütterver<strong>ein</strong> ist zweigeteilt. Der Ver<strong>ein</strong> besitzt,<br />
<strong>ein</strong>e Schenkung, <strong>ein</strong> relativ großes Gr<strong>und</strong>stück an<br />
<strong>ein</strong>er privilegierten Lage im Dorf. Ein Teil der<br />
Frauen will, wie schon zweimal vorher praktiziert,<br />
<strong>ein</strong>en Teil des Gr<strong>und</strong>stückes verscherbeln. Mit<br />
dem Erlös soll der so ersehnte Neubau finanziert<br />
werden. Dummerweise soll ausgerechnet an<br />
jenes Baugeschäft verkauft werden, dessen<br />
Inhaber der Bruder jenes Mitglieds ist, das den<br />
Verkauf unbedingt durchziehen will. Die andere<br />
Hälfte es Ver<strong>ein</strong>s steht diesem doch eher<br />
<strong>ein</strong>seitigen Interessen gehorchenden Vorschlag<br />
skeptisch gegenüber. So sind die ver<strong>ein</strong>sinternen<br />
Beziehungen im Moment etwas gestresst.<br />
Ob es an dem weißen, brasilianischen W<strong>ein</strong>,<br />
Inhaltsstoffe: Traubensaft <strong>und</strong> Zucker, den außer<br />
mir alle lieben, liegt? Nach dem diskreten<br />
Waschen schmutziger Wäsche wird es<br />
zunehmend privater <strong>und</strong> immer happiger. Das<br />
harmlos dahin plätschernde Gespräch unter<br />
Fre<strong>und</strong>innen wird zum hautnahen Anschauungsunterricht.<br />
Reale Realitäten werden<br />
durchgesprochen, Statistiken bekommen Haut,<br />
Nägel, Haar, <strong>ein</strong> Gesicht. Füllen sich mit Herzblut<br />
<strong>und</strong> Leid. All die verworrenen Lebensgeschichten,<br />
die ich höchstens aus den Novelas, den Soaps<br />
kenne, spielen sich hier gleich vor m<strong>ein</strong>er Nase<br />
ab, anschaulich, glaubwürdig <strong>und</strong> roh.<br />
Die reale Realität erzählt von den endlosen<br />
Spiralen, in denen Generationen von <strong>ein</strong>fachen<br />
Leuten gefangen sind. Kreisen, in denen die<br />
heutigen Generationen wie unter Zwang all das<br />
wiederholen, was die vorhergehenden falsch<br />
gemacht haben. Wie soll es ihnen so je gelingen,<br />
aus Elend <strong>und</strong> Armut heraus zu kommen?<br />
- «Wie viele Enkel hast Du denn nun, zusammen<br />
mit dem Neugeborenen?» - «Dieses <strong>ein</strong>e von<br />
m<strong>ein</strong>er Tochter <strong>und</strong> drei von m<strong>ein</strong>em Sohn. Drei<br />
Enkel, jedes mit <strong>ein</strong>er anderen Frau…». - Einen<br />
der Enkel kenne ich. Er lebt mit ihr, der<br />
Großmutter. Nennt sie, mehr oder weniger<br />
respektvoll, Mutter. Sie versucht ihn aufzuziehen,<br />
neben der Schwiegermutter mit Alzheimer <strong>und</strong><br />
dem neu angefangenen Studium an <strong>ein</strong>er<br />
Privatuniversität. Um die Uni <strong>und</strong> sich selbst zu<br />
finanzieren, arbeitet sie auch noch in <strong>ein</strong>em<br />
Restaurant. Als sie nun kürzlich von der Geburt<br />
der Enkeltochter in <strong>ein</strong>em anderen Staat zurück<br />
kommt, findet sie ihr Haus leergeräumt. Der<br />
Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebt, hat<br />
sogar die Toilettendeckel mitgenommen, wie sie<br />
mir erst im Auto unter vier Augen gesteht.<br />
Das Gespräch geht weiter, als sich eher zufällig<br />
herausstellt, dass das kl<strong>ein</strong>e, clevere Mädchen,<br />
das gerade mit der Tochter des Hauses spielt, gar<br />
nicht die leibliche Tochter <strong>ein</strong>er zweiten<br />
Anwesenden ist. Sie zieht das Kind ihrer Nichte<br />
auf. Die Nichte war selber noch <strong>ein</strong> Kind, als sie<br />
schwanger wurde, <strong>und</strong> fühlte sich nicht bereit für<br />
<strong>ein</strong> Kind. So hat es die Anwesende, zusammen<br />
mit ihrem zweiten, dritten, oder was weiß ich wie<br />
vielten, Lebensgefährten sozusagen in Pflege. Der<br />
Lebensgefährte s<strong>ein</strong>erseits ist als Vater des<br />
Kindes registriert. Die leibliche Mutter des Kindes<br />
ihrerseits hat soeben <strong>ein</strong> weiteres Baby<br />
bekommen. Das zieht sie nun selber auf.<br />
Die selbe Frau, die das kl<strong>ein</strong>e Mädchen ihrer<br />
Nichte aufzieht, ihre eigenen drei Kinder sind<br />
schon erwachsen, erzählt freimütig, dass sie<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 888
selber mit 15 das erste Mal schwanger wurde.<br />
Heiraten allerdings habe sie nicht wollen. Sie<br />
schlug das großzügige Angebot des Kindsvaters<br />
<strong>und</strong> s<strong>ein</strong>er Familie, die Geld hatten, <strong>ein</strong> Haus<br />
vorbereiteten <strong>und</strong> alles über ihren Kopf hinweg<br />
beschlossen hatten, aus. Heiraten sei ihr wie <strong>ein</strong><br />
Gefängnis vorgekommen. So habe sie das Kind<br />
mithilfe ihrer Mutter all<strong>ein</strong>e aufgezogen. Das sei<br />
nicht <strong>ein</strong>fach gewesen. Sie habe nicht mehr<br />
ausgehen können, musste neben der Schule<br />
immer zum Kind schauen. Ihre Mutter habe ihr<br />
die Verantwortung nur sehr selten abgenommen.<br />
Eine andere in der Gesprächsr<strong>und</strong>e, auch sie<br />
schon Großmutter, hält es genau anders rum. Sie<br />
nimmt ihre Enkeltochter überall hin mit, kümmert<br />
sich rühren um sie, auch wenn sie weder mit der<br />
Enkelin noch mit ihren sehr limitierten<br />
Ökonomien, die sie hat, wirklich zurande kommt.<br />
Das Ganze ist vielleicht <strong>ein</strong>e Kompensation für<br />
den Sohn, der sich das Leben nahm. Jährt sich der<br />
Jahrestag des Selbstmordes, fällt sie jedes Mal in<br />
<strong>ein</strong> tiefes Loch.<br />
Dass es allerdings noch schlimmer geht, zeigt die<br />
Familie, deren Sohn sich immer tiefer in den<br />
Drogenhandel stürzte. Sich dann auch mit irgend<br />
welchen anderen Dealern überwarf. Wird, von<br />
mehreren Schüssen verw<strong>und</strong>et, zum Sterben<br />
nach Hause geschickt. Im Krankenhaus kann man<br />
nichts mehr für ihn tun.<br />
Wie faszinierend, dass Mutterschaft hier als<br />
etwas so Erstrebenswertes, Alleserfüllendes<br />
dargestellt wird. Alle jungen Mädchen träumen<br />
nur von <strong>ein</strong>em eigenen Baby <strong>und</strong> der sozialen<br />
Position, die es ihnen bringen wird. Ist das Kind<br />
<strong>ein</strong>mal da <strong>und</strong> die Situation dann doch etwas<br />
komplizierter als erwartet, so funktionierte das<br />
Baby doch wenigstens als Gr<strong>und</strong> zur Flucht aus<br />
<strong>ein</strong>em Elternhaus, in dem der gerade angesagte<br />
Stiefvater ungeliebte Regeln aufstellt oder<br />
Schlimmeres.<br />
Die Geschichten aus der weiteren Familie nehmen<br />
sich dagegen geradezu heiter aus. Da gibt es die<br />
Geliebte, die immer mal wieder die betrogene<br />
Ehefrau anruft, um nach dem Geliebten/Ehemann<br />
zu fragen. Der ist nach <strong>ein</strong>em Hirnschlag<br />
pflegebedürftig, was natürlich der Ehefrau<br />
zukommt. Hinter vorgehaltener Hand erzählen sie,<br />
dass die betrogene Ehefrau als Kind <strong>und</strong> junges<br />
Mädchen miterlebte, wie ihr Vater ihre Mutter<br />
schonungslos betrug.<br />
Oder, nur am Rande miterlebt, der Fall der<br />
all<strong>ein</strong>stehenden Frau, die in Kinder vernarrt war.<br />
Sie adoptierte das Baby ihrer Empregada. Und so<br />
wuchs das Kind mit drei Müttern auf. Einer<br />
leiblichen, denn sie arbeitete weiter im selben<br />
Haushalt, <strong>ein</strong>er Adoptivmutter <strong>und</strong> deren<br />
Schwester. Der Einfachheit halber nannte sie alle<br />
Mutter. Um dann die Sache noch Verzwickter zu<br />
machen, flüchtete sie sich in die Arme <strong>ein</strong>er<br />
Nachbarin in Rente, auf deren Kosten sie dann<br />
zum Schluss jahrelang lebte, zusammen mit ihren<br />
zwei eigenen Kindern. Ob es auch diesen<br />
beschieden ist, die Familiengeschichte endlos zu<br />
wiederholen?<br />
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Belterra/Fordlândia, der gespenstische Traum Henry Fords<br />
Die grün abgesetzten, weißen Holz<strong>ein</strong>familienhäuschen,<br />
<strong>ein</strong>s <strong>ein</strong>e Kopie des nächsten, säumen<br />
noch immer die schnurgerade Hauptstraße.<br />
Zeitzeugen <strong>ein</strong>es amerikanischen Kapitalistentraums<br />
oder wohl besser Deliriums, irgendwie<br />
hier in Belterra, nahe bei Santarém mitten im<br />
Dschungel gestrandet. Das Bürgermeisteramt<br />
wird immer noch von den unendlich hohen<br />
Palmen gesäumt. Nur die Fenster sind<br />
verbarikadiert, der Klimaanlage wegen.<br />
Belterras Hochblüte als amerikanische Musterstadt,<br />
<strong>ein</strong>e goldene Zeit, dauerte nur zwei kurze<br />
Jahre, von 1938 bis 1940. Während dieser zwei<br />
Jahre stand die heute verschlafene Stadt im<br />
Zentrum des Weltgeschehens. War nichts weniger<br />
als der Standort der größten unabhängigen<br />
Kautschukproduktion der Welt. Belterra war<br />
voller Ausländer, Amerikaner <strong>und</strong> Abenteurer aus<br />
der restlichen Welt. Es soll der Autobauer <strong>und</strong><br />
Millionär Heny Ford höchst persönlich gewesen<br />
s<strong>ein</strong>, der Belterra, Schöne/es Erde/Land s<strong>ein</strong>en<br />
klangvollen Namen verlieh <strong>und</strong> hier versuchte,<br />
s<strong>ein</strong>e reformistischen Ideen zu verwirklichen.<br />
Alles begann 1921. Die USA war der größte<br />
Autohersteller der Welt. Mehr als die Hälfte aller<br />
neuen Wagen, die auf den Markt kamen,<br />
stammten aus Henry Fords Produktion. Der in<br />
Asien angebaute Kautschuk war sehr wichtig für<br />
die amerikanische Reifenfabrikation.Gr<strong>und</strong> genug,<br />
noch <strong>ein</strong>en s<strong>ein</strong>er megalomanischen Träume in die<br />
Realität umsetzen. Es galt, das Monopol der<br />
Engländer zu brechen, die als <strong>ein</strong>zige in Asien<br />
Kautschuk ernten, der in Plantagen angebaut <strong>und</strong><br />
nicht wie im Amazonas noch immer direkt aus<br />
dem Regenwald gewonnen wurde, unter<br />
menschenunwürdigsten Umständen <strong>und</strong> mit<br />
primitivsten Methoden. Was da funktionierte,<br />
konnte auch hier im Amazonas Wirklichkeit<br />
werden.<br />
Bald verschärfte sich auch die politische Situation.<br />
Mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges wurden die<br />
Gummiplantagen vom japanischen Heer besetzt.<br />
Japan aber war erklärter F<strong>ein</strong>d der USA <strong>und</strong> so sah<br />
sich Heny Ford bald schon in <strong>ein</strong>em Engpass. Mit<br />
s<strong>ein</strong>er American Rubber Mission wollte er sich<br />
daraus befreien. Sie sollte s<strong>ein</strong> Unternehmen<br />
unabhängig machen, <strong>und</strong> dem Marktführer der<br />
amerikanischen Automobilindustrie erlauben,<br />
s<strong>ein</strong>e immer stärker werdende Nachfrage nach<br />
Gummi für die Reifen <strong>und</strong> andere Autoteile der<br />
Fordmobile zu befriedigen. Ein Abkommen mit der<br />
Brasilianischen Regierung abgeschlossen, <strong>und</strong> bald<br />
schon bekam er alle nur nötige Unterstützung,<br />
auch in Form von Krediten, um am ausgewählten<br />
Ort Fordlândia zu errichten. Da wollte er neben<br />
<strong>ein</strong>er Gummiplantage auch <strong>ein</strong>e Forschungsstation<br />
<strong>ein</strong>richten. Fordlândia liegt 3-4 Schiffsst<strong>und</strong>en<br />
flussabwärts von Santarém. Das Unternehmen<br />
erwies sich schon bald als R<strong>ein</strong>fall, <strong>ein</strong> wahres<br />
Fiasco. Der zweite Boom der <strong>Amazonien</strong> ins<br />
Zentrum der globalen Wirtschaft rückte, blieb <strong>ein</strong><br />
kläglicher Versuch. Der Traum, auch hier Latex in<br />
großem Stil anzubauen dauerte nur von 1934 bis<br />
1945. Fordlândia wurde 1936 aufgegeben <strong>und</strong><br />
gegen Belterra getauscht. Heny Fords<br />
Monokulturen mit aus Asien importierten<br />
Gummibaumsetzlingen hielten vor Ort verschiedenen,<br />
nicht vorhersehbaren Krankheiten, unter<br />
anderem <strong>ein</strong>em Pilzbefall, nicht Stand. Die 1,5<br />
Millionen Gummibäume der Plantage starben ab.<br />
Aber so schnell gab sich der Amerikaner nicht<br />
geschlagen. Die klimatischen <strong>und</strong> logistischen<br />
Bedingungen in Belterra versprachen Besseres.<br />
Die Böden seien fruchtbarer, der Zugang per<br />
Schiff um <strong>ein</strong>iges <strong>ein</strong>facher <strong>und</strong> so entstand über<br />
Nacht <strong>ein</strong>e amerikanische Musterstadt mitten im<br />
Dschungel. Amerikanische Führungskräfte sollen<br />
hier aus ungebildeten Caboclos <strong>und</strong> Abenteurern<br />
aus der halben Welt <strong>ein</strong> Team zusammen<br />
schweißen, alles unter den klaren Vorstellungen<br />
Fords reformistischen Ideen von Hygiene <strong>und</strong><br />
Moderne. Er will der Welt <strong>ein</strong>e Art futuristischer<br />
Modellstadt vorstellen <strong>und</strong> stattet deshalb s<strong>ein</strong>e<br />
Schöpfung mit aller nötigen Infrastruktur aus.<br />
Angestellten <strong>und</strong> Arbeiter bekommen<br />
Krankenhäuser <strong>und</strong> Kirchen, ihre Kinder Schulen<br />
<strong>und</strong> zum Wohnen werden ihnen die vielen<br />
schmucken, fast identischen Holzhäuser im<br />
amerikanischen Stil zur Verfügung gestellt.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 896
Für jemand, der wie <strong>ein</strong> Teil der Arbeiter vor den<br />
Hungers- <strong>und</strong> Dürrezeiten aus dem Nordosten<br />
hierher flüchtete, <strong>ein</strong>e Art surreales Paradies,<br />
paternalistisch, durchorganisiert, das sich aber in<br />
relativ kurzer Zeit auch als <strong>ein</strong>e Art Gefängnis,<br />
<strong>ein</strong> goldener Käfig entpuppt. Alkoholkonsum zum<br />
Beispiel ist strickte untersagt. Zur Freizeitgestaltung<br />
verfügt die Stadt, in nur fünf Jahren<br />
hochgezogen, über Sportplätze, Geschäfte, Clubs,<br />
Billardclub <strong>und</strong> gar <strong>ein</strong> Kino, für die Gegend<br />
extrem ungewöhnlich. Aber dem methodischen<br />
Henry Ford entgeht nicht das kl<strong>ein</strong>ste Detail im<br />
kontrollierten Leben s<strong>ein</strong>er Angestellten/<br />
Untergebenen. Auch der Inhalt der Kochtöpfe ist<br />
strickte amerikanisiert. Das führt nach kurzer Zeit<br />
zur sogenannten “Revolte der Kochtöpfe oder der<br />
Farinha”. Die mitten im Dschungel festgehaltenen<br />
Arbeiter streiken für <strong>ein</strong>e ihren Gewohnheiten<br />
angepasstere Verpflegung. Sie wollen auch in<br />
Belterra jeden Tag Farinha <strong>und</strong> Fisch essen. Zum<br />
Teufel mit dem von Ford auferzwungene Spinat<br />
<strong>und</strong> anderem exotisch-importierten Essen! Wohl<br />
der Anfang vom Ende.<br />
Noch <strong>ein</strong>e in den Sand gesetzte Investition.<br />
Weitere, bis dahin unbekannte Krankheiten<br />
verwüsteten die riesigen Monokulturen. Nicht nur<br />
das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern<br />
auch die Entwicklung des synthetischen<br />
Kautschuks, gewonnen aus Erdölderivaten,<br />
setzten dem Traum <strong>ein</strong> jähes Ende. Henry Ford<br />
verkaufte die Stadt nach <strong>ein</strong>em Verlust von mehr<br />
als 100 Millionen USD in aktueller Währung für<br />
umgerechnet 250 Tausend Dollar an den<br />
brasilianischen Staat. Wer heute hierherkommt,<br />
kann die Geschichte nur ahnen, auch wenn sie<br />
uns viel über die glorreiche <strong>und</strong> auch nicht so<br />
glorreiche Vergangenheit des Amazonas zu<br />
erzählen hätte.<br />
Das Motto der Gr<strong>und</strong>schule Darcy Vargas, hoch<br />
unters Dach geschrieben: – Von Herzen dienen<br />
wir Belterra – ist wie Vargas <strong>und</strong> auch Belterra<br />
selbst, ziemlich aus der Mode gekommen. Mitten<br />
im Zentrum erinnert <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er Pavillon daran,<br />
dass hier wohl ehemals Musikkapellen<br />
aufspielten. Nur <strong>ein</strong>e halbe Autost<strong>und</strong>e von<br />
Santarém, exakte 48 km, rechts <strong>und</strong> links von<br />
end- <strong>und</strong> end- <strong>und</strong> endlosen Sojafeldern<br />
gesäumt, liegt das Dorf Belterra. W<strong>und</strong>ersamerweise<br />
ist noch viel von der <strong>ein</strong>stigen Musterstadt<br />
übrig. Viel erinnert ans amerikanische Vorbild. Auf<br />
der schnurgeraden Hauptstraße, auf der k<strong>ein</strong>e<br />
Fords Ts (berühmtes Automobil Fords) mehr<br />
fahren, erinnert nichts an die unglückliche<br />
Verknüpfung misslicher Umstände, Unfähigkeiten<br />
in Administration <strong>und</strong> Organisation, die neben<br />
dem Kulturschock das ehrgeizige Projekt scheitern<br />
ließen.<br />
Die schmucken Holzhäuser in Weiß <strong>und</strong> Grün mit<br />
ihren kl<strong>ein</strong>en Veranda <strong>und</strong> der offenen Küche im<br />
amerikanischen Stil bewohnen heute die<br />
Nachfahren jener, die vor Hunger <strong>und</strong> Dürren aus<br />
dem gep<strong>ein</strong>igten Nordosten hierher flüchteten,<br />
Tür an Tür mit den aktuellen Zuwanderern, den<br />
Südbrasilianern. “ Tche Variedades”, noch <strong>ein</strong><br />
Gaúcho, <strong>ein</strong>en Südbrasilianer aus den endlosen<br />
Pampas hat hier <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Laden<br />
aufgemacht.<br />
Aber was für <strong>ein</strong> säuerlich verführerischer Duft<br />
drängt sich auf? Unvergleichliches Parfüm,<br />
unverkennbar Cupuaçu! Da drüben hängen <strong>ein</strong><br />
paar Bäume voller ovaler, wohl unterarmlanger<br />
Riesenfrüchte, samtbraun <strong>und</strong> duftend. In der<br />
Zwischenzeit spricht uns <strong>ein</strong> älterer Herr an, die<br />
Augen wach <strong>und</strong> blank, die schon ergrauten<br />
Haare straff zurückgekämmt. Der bloße<br />
Oberkörper zeigt <strong>ein</strong>en leichten Bauchansatz.<br />
Wie jeder Landbewohner ist ihm <strong>ein</strong> Schwatz mit<br />
den wild herumfotografierenden Touristen, <strong>ein</strong>e<br />
hier wohl eher rahre Spezies, mehr als<br />
willkommen. Lädt uns zuerst <strong>ein</strong> auf s<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />
Veranda, die dem grün-weißen Häuschen<br />
vorgebaut ist. Sie bietet gerade mal zwei Bänkchen<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong>er diagonal ausgehängten<br />
Hängematte Platz. Erzählt uns von der jungen<br />
Generation, die es erfolgreich bis São Paulo<br />
geschafft hat, <strong>und</strong> dann von jenden anderen<br />
Touristen, Amerikanern, die kürzlich hier waren.<br />
Sie sch<strong>ein</strong>en hier, <strong>ein</strong> Millionenprojekt, <strong>ein</strong>e Art<br />
Freilichtmuseum errichten zu wollen, zur<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 897
Erinnerung an Henry Ford. Ob daraus etwas<br />
werden wird, wird wohl nur die Zeit weisen.<br />
Stolz führt er uns ins Innere des Holzhauses, wo<br />
sich der Duft intensiviert, die Luft gerdezu<br />
schwängert. Als er uns in die schmucke, nach allen<br />
Seiten offene Küche winkt, wo auch s<strong>ein</strong> Papagei<br />
haust, entführt er uns unfreiwillig in jene alten<br />
Zeiten.<br />
S<strong>ein</strong>e Frau sitzt, in der <strong>ein</strong>en Hand <strong>ein</strong>e Schere,<br />
direkt auf dem gefießten Boden, auf den sie <strong>ein</strong><br />
altes Wachstuch gebreitet hat. Zwischen ihren<br />
gespreizten B<strong>ein</strong>en ruht <strong>ein</strong> riesiges Aluminiumbecken,<br />
darin wohl etwa zehn aus der hölzernen<br />
Schale gebrochenen Cupuaçus, cremeweiß <strong>und</strong><br />
duftend. Geschickt schnippelt die Schere noch<br />
<strong>ein</strong>en Kern frei. Das Fleisch fällt auf das schon<br />
ansehnliche Häufchen vor ihr. Der freigeschnittene<br />
Kern fällt mit leisem Plop in <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>eres<br />
Blechbecken zu ihrer Linken. Eine Geduldsarbeit<br />
<strong>und</strong> nicht zu sagen die Arbeit <strong>ein</strong>er Sklavin, die<br />
wohl noch St<strong>und</strong>en dauern wird. In aller Ruhe <strong>und</strong><br />
vorindustriellem Rhythmus schnippeln ihre Hände<br />
weiter. Das Fruchtfleisch wird sie, wie immer<br />
schon, für <strong>ein</strong> paar Münzen, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er<br />
Nebenverdienst, an ihre Stammk<strong>und</strong>en<br />
verkaufen. Denn mit oder ohne Ford geht das<br />
Leben im Amazonas s<strong>ein</strong>en eigenen Gang.<br />
Gehorcht wieder jenem Rhythmus, von <strong>ein</strong>igen<br />
lokalen Intellektuellen auch als <strong>ein</strong>e Art Rache des<br />
Caboclos bezeichnet. Ein Leben, wie sie es wohl<br />
schon vor Fords Visionen lebten.<br />
Die Sojafelder allerdings auf dem Rückweg, endlos,<br />
in regelmäßigen Abständen von <strong>ein</strong>sam<br />
mahnenden Paranussbäumen durchbrochen,<br />
erinnern mich daran, dass auch hier der Fortschritt<br />
längst angekommen ist. Noch koexistiert<br />
Altmodischstes mit Hochmodernstem, da wo vor<br />
Ford noch unberührter Regenwald war.<br />
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Aus St<strong>ein</strong>en Milch winden<br />
Alles beginnt mit <strong>ein</strong>er Straßenverbreiterung. Die<br />
Millionen dazu hat, die Plakate verkünden es<br />
jedem, der es lesen will, der Abgeordnete<br />
Chapadinho, jeder kennt ihn, der Nachname<br />
genügt, er gehört zur lokalen Elite, irgendwo in<br />
Brasilia losgeeist. Und so bekommt nun der<br />
Badeort Alter do Chão <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbar<br />
asphaltierte Straße, <strong>ein</strong>e Autobahn fast. Auch <strong>ein</strong><br />
Fahrradweg sei geplant, wenigstens versprechen<br />
die Plakate das. Für all die Fußgänger <strong>und</strong><br />
Fahrradfahrer, die tagtäglich ihr Leben aufs Spiel<br />
setzen, wenn sie auf dem schmalen Streifen<br />
Asphalt gehen oder ohne Licht <strong>und</strong> Leuchtstreifen<br />
nachts nach Hause fahren. Pannenstreifen waren<br />
ja bei der alten Straße nicht <strong>ein</strong>geplant <strong>und</strong> die<br />
Straßenborde werden vom Dschungel gefährlich<br />
schnell zurückerobert.<br />
winden werden! («Tirar leite de pedras») Mit der<br />
Milch ist natürlich etwas so nahrhaftes wie Geld<br />
gem<strong>ein</strong>t. Denn die St<strong>ein</strong>e sind gratis, man muss sie<br />
nur zusammensuchen.<br />
Die Verkaufsplakate sind genauso kreativ wie die<br />
St<strong>ein</strong>hügel. Lese: «Vende-se», Zu verkaufen». Bald<br />
auch «Vendido» - «Verkauft», zusammen mit dem<br />
Namen des glücklichen neuen Besitzers. Manche<br />
St<strong>ein</strong>haufen überdauern <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Weile. Andere<br />
verschwinden sozusagen über Nacht. Man<br />
brauche solche St<strong>ein</strong>e für das F<strong>und</strong>ament <strong>ein</strong>es<br />
Hauses oder vielleicht auch für <strong>ein</strong>e Sickergrube,<br />
lasse ich mich belehren.<br />
Und da sage mir doch noch <strong>ein</strong>er, dass man aus<br />
St<strong>ein</strong>en k<strong>ein</strong>e Milch gewinnen kann!<br />
Zusammen mit den großen Maschinen wird auch<br />
Erde hin gekarrt. Tonnenweise <strong>und</strong> voller St<strong>ein</strong>e.<br />
Da die natürlich nicht alle verbaut werden, kann<br />
man emsig gebückte Männer sehen, die die<br />
St<strong>ein</strong>e aufheben, sortieren, sie am Straßenrand<br />
aufschichten. Je nach Temperament <strong>und</strong> Talent<br />
sind die Hügel eher ungeordnet oder extrem<br />
exakt gebaut.<br />
Und dann bekommen die St<strong>ein</strong>hügel plötzlich<br />
Verkaufsplakate aus Pappe! Hätte mir nie<br />
vorstellen können, dass man, wie sie es hier<br />
vorzeigen, wortwörtlich Milch aus den St<strong>ein</strong>en<br />
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Der Wasserturm<br />
Es dreht sich alles um den Wasserturm. Er bringt,<br />
<strong>und</strong> das im Jahre 2017, etwas Fortschritt, sprich<br />
fließend <strong>und</strong> kaltes Wasser in <strong>ein</strong>en, sagen wir<br />
etwas abgelegerenen Teil des Amazonas. Genau<br />
genommen gar nicht so weit weg, <strong>ein</strong>e Bootsst<strong>und</strong>e<br />
nur den Tapajós überquert. Wenn man<br />
Glück hat, ohne Sturm <strong>und</strong> viel Geschaukel.<br />
Plupps, schon ist man in <strong>ein</strong>er anderen Welt.<br />
Befindet sich sozusagen im Hinterhof des<br />
Hinterlandes.<br />
Ein Dorf, w<strong>und</strong>erbar säuberlich gepüschelt, k<strong>ein</strong><br />
Abfall, propere Häuschen. Ein Dorfteil oder wohl<br />
besser Teil des Weilers, heißt "Paciência" -<br />
"Geduld". Die Tafel, die den Namen verkündet, ist<br />
sozusagen mit viel Geduld in den Baum hin<strong>ein</strong>gewachsen.<br />
Und dann, da oben, strategisch auf<br />
dem zweiten der kl<strong>ein</strong>en Hügel hier, steht er, der<br />
brand-nigelnagelneue Wasserturm. Auf dem<br />
ersten Hügel thront die Kirche. Der Wasserturm<br />
auf hochb<strong>ein</strong>igen Stelzen, eigentlich <strong>ein</strong><br />
Infrastrukturprojekt, das dem Staat, dem Land<br />
oder der Gem<strong>ein</strong>de zukäme, errichtet von <strong>ein</strong>er<br />
lokalen Hilfsorganisation mit der Hilfe<br />
internationaler Gelder. Wie gut, denn die Armut<br />
<strong>und</strong> Misswirtschaft dominieren.<br />
Zur Einweihung sind alle da. Sicher haben sie den<br />
Tag zum Feiertag <strong>und</strong> schulfrei erklärt. Ich<br />
mittendrin, als absolut Unbeteiligte, "Papageio de<br />
Pirata", wie der Papagei des Piraten, der ihm auf<br />
der Schulter sitzt <strong>und</strong> von dieser privilegierten<br />
Position aus immer s<strong>ein</strong>en Senf dazu gibt. Ein<br />
Szenarium wie von Gabriel Garcia Marques. Am<br />
Tisch unter freiem Himmel sind die Autoritäten<br />
versammelt. Eine aus Rio von der Konrad<br />
Adenauer-Stiftung, die NGO, die das alles möglich<br />
gemacht hat. Daneben der Cacique, der Häuptling.<br />
Greift soeben, in Tennis, Bermudas, T-Shirt <strong>und</strong><br />
Federkopfschmuck, Pfeil <strong>und</strong> Bogen umgehängt,<br />
zum Mikrofon <strong>und</strong> hält die Eröffnungsrede. Die<br />
erste, gefolgt von vielen anderen Dankesreden.<br />
Dann ist es an der Gem<strong>ein</strong>de. Die indigenen<br />
Lehrerin bildet Kreise. Den innersten mit den<br />
kl<strong>ein</strong>en Kindern. Darum herum die älteren <strong>und</strong> im<br />
letzten Kreis dann Hand in Hand all die anderen<br />
Beteiligten. Eine respektable Frau der Gem<strong>ein</strong>de<br />
schreitet die Kreise ab. In der Hand <strong>ein</strong><br />
improvisiertes Räuchergefäß. Es riecht wie in der<br />
Messe, nur dass sich der Rauch bis in den blauen<br />
Himmel kräuselt. Und auch die Götter sind andere.<br />
Die Lehrerin beschwört Tupão, den Göttervater,<br />
der es gerne donnern lässt, <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar andere.<br />
Ein indigenes Ritual, <strong>ein</strong>es von jenen, die weder<br />
echt noch überliefert, aber wenigstens gut<br />
nacherf<strong>und</strong>en wurden. Auf Geheiß der Lehrerin<br />
beginnen sich die Kreise zu drehen <strong>und</strong> zu<br />
wenden. Auch die letzten Nicht-Integrierten<br />
reichen sich die Hände.<br />
Die Personen hier flößen mir Respekt <strong>ein</strong>, nicht<br />
nur die Lehrerin, k<strong>ein</strong>e "Titia", k<strong>ein</strong> Tantchen, wie<br />
in der Stadt. Man kann sehen, dass sie ihrer<br />
Arbeit mit Herzblut nachgeht. Dann kommt der<br />
unterhaltende Teil. Eine Parodie. Eine stark<br />
blondierte Indigena liest ihre selbst verfasste<br />
Satire. Liest sie vom Blatt. Zu mehr habe die Zeit<br />
nicht gereicht. An Gründen für die Satire fehlt es<br />
ihr nicht. Würde man nicht lachen, müsste man<br />
sich wohl umbringen.<br />
Die Satire erzählt vom «Doppelt genäht, hält<br />
besser». Der Stelzb<strong>ein</strong>ige hier ist nämlich schon<br />
der zweite Wasserturm, den sie nicht von der<br />
Regierung, aber aus privaten Spenden errichtet<br />
bekommen. Unvorstellbar, aber bis 2016 haben<br />
sie hier, direkt am Ufer des Flusses, ohne<br />
fließend <strong>und</strong> kaltes Wasser in den Häusern<br />
gewohnt. Tragischerweise brach der erste<br />
Wasserturm, was für <strong>ein</strong> Schicksal, aber nach nur<br />
zwei Wochen in sich zusammen. Die <strong>ein</strong>en geben<br />
<strong>ein</strong>em Blitzschlag Schuld. Tupãn wird doch wohl<br />
kaum s<strong>ein</strong>e Hand im Spiel gehabt haben! Aber es<br />
kam noch schlimmer. Senhor Joaquim, der<br />
<strong>ein</strong>zige Weiße <strong>und</strong> sichtbar Besserbemittelte<br />
hier, wohl <strong>ein</strong> Staatsangestellter in Pension, soll<br />
der Wasserturm fast mit ins Verderben gerissen<br />
haben! Glücklicherweise kam er mit <strong>ein</strong> paar<br />
Kratzern davon. Sitzt nun in Begleitung s<strong>ein</strong>er<br />
Gattin in der ersten Reihe.<br />
Nun aber sind alle glücklich. Das Fest geht noch<br />
weiter. Bald schon schneiden sie die<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 908
Abschrankung aus kunstvoll verflochtenen<br />
Mangoblättern durch, die des Informatikzentrum,<br />
auch blitzblank <strong>und</strong> strahlend neu. Nur<br />
Internet gibt’s noch k<strong>ein</strong>s. Das Ganze nennt sich<br />
«Inclusão digital», Digitales Mit<strong>ein</strong>schließen oder<br />
so.<br />
Die Allerkl<strong>ein</strong>sten erfrischen sich unter dem<br />
verschwenderisch vom Überlaufventil<br />
herunterspringenden Wasser des neuen<br />
Wasserreservoirs. Zum Abschluss werden alle mit<br />
köstlichen Wassermelonenschnitzen, noch<br />
köstlicherem Brei aus Kürbis <strong>und</strong> Reis, grünen<br />
Bananen oder weißem Mais, in riesigen Pfannen<br />
aufgetragen, bewirtet. Mittendrin immer die<br />
Dorfh<strong>und</strong>e, die zwar alle <strong>ein</strong>en Besitzer haben,<br />
aber komplett frei leben. Das nächste Mal werde<br />
ich allen <strong>ein</strong> Wurmmittel verschreiben.<br />
Und dann kommt schon das Schiff. Am Horizont<br />
steigt <strong>ein</strong>e schwarze Front auf. Unter ziemlich viel<br />
Geschaukel <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em tropischen Regenschauer<br />
geht zurück in m<strong>ein</strong>e Welt.<br />
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Vom Festival der Früchte<br />
Die leckeren Freilaufhähnchen waschen sie<br />
gerade im Igarapé. Unser Sonntagsessen ist damit<br />
gesichert. K<strong>ein</strong> Problem dass es noch etwas auf<br />
sich warten lassen wird. Freilufthuhn ist zäh. Man<br />
kocht es so lange, bis es sich ganz von all<strong>ein</strong>e vom<br />
Knochen löst <strong>und</strong> man es problemlos mit dem<br />
Löffel essen kann.<br />
Zum sonntäglichen Freilaufhühnerbraten sind wir<br />
auf Umwegen oder besser auf Naturstraßen<br />
gekommen. Das Spruchband allerdings, es<br />
verspricht <strong>ein</strong> Festival, das Festival der Früchte,<br />
hängt <strong>ein</strong>ladend schon Wochen vorher da. Hier<br />
hat jede kl<strong>ein</strong>e Gem<strong>ein</strong>de ihr eigenes Festival. Es<br />
gibt <strong>ein</strong> Fest für die Maniok genauso wie für Açaí,<br />
Charutinho, <strong>ein</strong> Fisch oder Maracujá. Traditionellerweise<br />
gibt es dann die Maniok, den Açaí,<br />
den Fisch oder die Maracujás in allen möglichen<br />
Zubereitungsarten <strong>und</strong> auch in Hülle <strong>und</strong> Fülle.<br />
Nun, hier also das Festival der Früchte. Da muss<br />
ich hin! Lasse mich - auch heute noch - vom so<br />
gängigen Titel bezirzen. In der Fantasie wird aus<br />
dem angekündigten Obst gar lokale Früchte, was<br />
weiß ich, was ich erwarte.<br />
Die Anreise mit dem Auto ist ziemlich kompliziert.<br />
Vorbei an der Spielwiese der Jeep- <strong>und</strong><br />
Motocrossfahrer, voller brummender Irren. Aber<br />
nach dem dritten Nachfragen <strong>und</strong> vielen, endlos<br />
vielen Kurven, Verzweigungen <strong>und</strong> kl<strong>ein</strong>en<br />
Irrwegen, wir sind sicher schon st<strong>und</strong>enlang<br />
unterwegs, doch wir sind auf der richtigen Straße!<br />
Irgendwann muss das Dorf ja kommen! Und schon<br />
ist es da. Der Festplatz ist gebührend geschmückt,<br />
es gibt auch <strong>ein</strong> paar Verkaufsstände <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
Barrake, das Freiluftrestaurant. Auch zwei oder<br />
drei Busse stehen irgendwo im Schatten.<br />
Nur Früchte, Obst oder etwas, was daran<br />
erinnerte, gibt es nicht. Dafür werden wir nach<br />
kurzer Zeit zur Attraktion. Schon steht die Verantwortliche<br />
der Gem<strong>ein</strong>de vor uns, schüttelt Hände,<br />
ruft noch <strong>ein</strong>en anderen Beauftragten. Alle heißen<br />
uns herzlichst Willkommen. So langsam stellt sich<br />
heraus, dass das Festival eigentlich mehr <strong>ein</strong>e<br />
Aktion unter Fre<strong>und</strong>en ist. Eingeladen zum Fest<br />
sind nämlich die Nachbargem<strong>ein</strong>den. Das sei so<br />
Brauch hier. Einmal lade diese Gem<strong>ein</strong>de die<br />
umliegenden <strong>ein</strong>, dann umgekehrt. Und dabei<br />
werde genau Buch geführt. Man dürfe sich<br />
nämlich nichts schuldig bleiben. Die Verantwortlichen<br />
des Festes notierten jeden Kasten Bier,<br />
den man austrinkt <strong>und</strong> haben dann damit das<br />
Recht, genauso viel beim Fest der Nachbarn zu<br />
bechern. Später gebe es dann <strong>ein</strong> Fußballtournier<br />
<strong>und</strong> abends werde zum Tanz aufgespielt.<br />
Das Einzige also, was dem Fest fehlt, sind die<br />
Früchte. Ja, man habe halt <strong>ein</strong> Motto gebraucht,<br />
vielleicht auch um öffentliche Gelder zu<br />
rechtfertigen. Aber es sei halt gerade<br />
Zwischensaison…. .<br />
Als wir uns gebührend verabschiedet haben,<br />
schaue ich auf die Uhr. Will wissen, wie lange wir<br />
brauchen werden. Der Weg, der uns st<strong>und</strong>enlang<br />
erschien, ist mal gute 10 Minuten lang!<br />
Die Anthropologin, die sich mit solch lokaler<br />
Festtradition auskennt, bestätigt, dass je weiter<br />
man ins Landesinnere komme, desto normaler<br />
seien solche Gepflogenheiten gut nachbarschaftlicher<br />
Begegnungen. Wie weit die Tradition<br />
allerdings indigene Wurzeln hat, diese Antwort<br />
bleibt mir der Dschungel schuldig.<br />
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Se vira! – Hilf dir selbst!<br />
Eine Putzfrau gesucht oder jemand, der das Gras<br />
schneidet? Ein Freilaufhuhn gefällig oder <strong>ein</strong><br />
gegrillter Fisch? Auch <strong>ein</strong> Haus oder <strong>ein</strong>e<br />
Betonmischmaschine kann man mieten.<br />
Ein kl<strong>ein</strong>es Panorama, womit man sich hier etwas<br />
Kl<strong>ein</strong>geld, <strong>ein</strong>en Zustupf verdienen kann. Viele<br />
andere Möglichkeiten, Ende Monat die<br />
Rechnungen zu bezahlen gibt es nicht. Denn nicht<br />
alle können auf der Gem<strong>ein</strong>de arbeiten, sind<br />
schon im Rentenalter oder bekommen <strong>ein</strong>e<br />
Unterstützung der Regierung wie die „Bolsa<br />
Família“. Der Staat oder die öffentliche<br />
Verwaltung sind in vielen Staaten des Amazonas<br />
<strong>ein</strong>er der wichtigsten Arbeitgeber, mit Gehältern,<br />
die besonders im Bereich der Justiz weit über<br />
dem Durchschnitt liegen. Im Staate Roraima sind<br />
mehr als die Hälfte aller registrierten Angestellten<br />
beim Staat angestellt, in Acre <strong>und</strong> Amapá etwas<br />
mehr als 40 %, in Tocantins <strong>und</strong> Rondônia knapp<br />
30 %. Parintins, die Stadt, die eigentlich für s<strong>ein</strong><br />
Festival der Bois bekannt ist, hat über 60 % s<strong>ein</strong>er<br />
offiziell registrierten Angestellten im öffentlichen<br />
Dienst, gefolgt von Cametá, Boa Vista <strong>und</strong> auch in<br />
Belém sind mehr als <strong>ein</strong> Drittel Staatsangestellte.<br />
Pikantes Detail – Staatsangestellte arbeiten hier<br />
nur von 7h00 bis 13h00. Wenn man Pech hat,<br />
öffnet <strong>und</strong> schließt auch das Museum oder der<br />
Stadtpark zu genau diesen Zeiten. Wem es nicht<br />
gelingt, aus diesen Pfründen zu schöpfen, ist<br />
doppelt bestraft.<br />
Im Norden Brasiliens liegt der Anteil der Arbeiter<br />
<strong>und</strong> Angestellten, die alle gesetzlich<br />
vorgeschriebenen Rechte <strong>und</strong> Pflichten haben <strong>und</strong><br />
bezahlen, also rechtsgültig registriert sind, weit<br />
unter dem schon tiefen brasilianischen<br />
Durchschnitt. Sie erreicht in der Hälfte der<br />
Gem<strong>ein</strong>den nicht mal 10 % des ökonomisch<br />
aktiven Bevölkerungsanteils <strong>und</strong> ist in k<strong>ein</strong>er der<br />
Gem<strong>ein</strong>den höher als 50 % hoch. Der große,<br />
vergessene Rest schlägt sich mehr <strong>und</strong> oft weniger<br />
als recht in der Informalität durch.<br />
Etwas verkaufen, <strong>ein</strong>e Dienstleistung anbieten,<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Garküche aufmachen, sich s<strong>ein</strong>e<br />
Fitnessakademie selber zimmern oder das<br />
fließende Wasser des Flusses nutzen – in <strong>ein</strong>er<br />
Gesellschaft, in der die Underdogs wohl erst seit<br />
dem Ende der Militärdiktatur zu begreifen<br />
beginnen, dass auch sie brasilianische Staatsbürger<br />
mit Rechten <strong>und</strong> Pflichten sind, migriert man oder<br />
lernt, sich zu organisieren, sich selbst zu helfen<br />
oder auf Portugiesisch: „se vira“! „Hilf dir selbst!“<br />
Und das geht, wie man sehen kann, mit sehr viel<br />
Kreativität <strong>und</strong> dem unverwechselbaren Humor<br />
noch viel besser!<br />
Unbekanntes Hinterland<br />
Die lokale Zeitung ist in drei Teile unterteilt. Die<br />
tragen die Titel: “Poder”, Macht, “Policia”, Polizei<br />
<strong>und</strong> “Magazine”, Gesellschaftsklatsch. Ein anderes<br />
Blatt ist schwarz-weiß, fast ganz ohne <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong><br />
die Mehrheit der Reportagen ist mindestens <strong>ein</strong>e<br />
Seite lang, nicht mal schlecht geschrieben <strong>und</strong> gut<br />
recherchiert. Ob hier die Leute noch Zeitung<br />
lesen?<br />
Treffen sich Familien <strong>und</strong> Bekannte, so werden<br />
nicht nur alle Älteren respektvoll <strong>und</strong> automatisch<br />
gesiezt, auch Vater <strong>und</strong> Mutter. Noch<br />
altmodischer bitten die jüngeren den Segen der<br />
älteren. Dabei führt man die Hand des zu<br />
Begrüßenden zum M<strong>und</strong> <strong>und</strong> küsst ihm den<br />
Ringfinger. - Unbekanntes Hinterland.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 919
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 920
Herzblatt<br />
Immer wieder entdecke ich noch <strong>ein</strong> neues, <strong>ein</strong><br />
anders gefärbtes Herzblatt. Kann mich an der<br />
Vielfalt der lanzenartigen Blätter mit ihren<br />
überraschenden Zeichnungen, den ausgefallenen<br />
Farbkombination nicht sattsehen. Blatt neben<br />
herzförmiges Blatt auf lange Stiele gesteckt, zeigt<br />
jeder Tuff neue, überraschende Farben, umfasst<br />
<strong>ein</strong>e ganze Gamme an Pinks, Rosas <strong>und</strong> rötliche<br />
Nuancen bis hin zum warmen Dunkelrot, die sich<br />
überaus effektvoll vom dunklen Blattuntergr<strong>und</strong><br />
abheben. Ton in Ton bestechen sie durch<br />
abschattierte Nuancen, die vom hellen Gras bis<br />
zum fast schwarzen Dunkelgrün gehen. Oft gesellt<br />
sich auch Weiß dazu. So entstehen die<br />
unterschiedlichsten Kombinationen. Trikolor<br />
Grün-Weiß-Rosa oder schillernd, gar Grün in<br />
Grün. Nur der Natur mit ihrem unfehlbaren<br />
Geschmack gelingt es, sie so üppig zu malen, ohne<br />
kitschig zu werden.<br />
Auch puncto die Ornamente ist die Natur<br />
unschlagbar <strong>und</strong> unerschöpflich. Dekorativ<br />
strahlen die Adern vom Blattinnern nach außen.<br />
Die Muster <strong>und</strong> Zeichnungen, immer auf grünem<br />
Untergr<strong>und</strong>, sind vielfältig: weiß-rosa getigert,<br />
gefleckt, gesprenkelt, mit Punkten überhaucht.<br />
Dunkelgrün zeichnen die Blattnerven, die wie<br />
<strong>ein</strong>geritzt sch<strong>ein</strong>en, wie wenn das Blatt von innen<br />
her nachwachsen würde. Kratzer oder gar frisch<br />
nachgewachsenes Fleisch, unterteilen die Nerven<br />
das Blatt in regelmäßige Flächen. Die Zeichnungen<br />
der Venen imitieren Marmor oder andere<br />
wertvolle St<strong>ein</strong>e. Bei den <strong>ein</strong>en wirft sich das Blatt<br />
zwischen den Blattnerven blasig auf. Manche der<br />
Tajás, so heißen sie hier, werden bei idealen<br />
Bedingungen, viel, sehr viel Wasser, bis zu zwei<br />
Handspannen lang. Setzen die Regen aus, werden<br />
sie unsichtbar. Sie ziehen sich in ihre kl<strong>ein</strong>en<br />
Knollen im Boden zurück, wo sie auf die nächsten<br />
Güsse warten. Hat man sie dann vergessen, die<br />
Trockenperioden können dauern, sie halten es<br />
sicher monatelang aus, treiben sie nach langen<br />
Regenperioden doppelt schön wieder aus. Viele<br />
der altmodischen, oft nur halbmetrigen<br />
amazonischen Vorgärten schmücken sich mit den<br />
bunten Tuffen der Tajás, <strong>ein</strong> vollwertiger,<br />
<strong>ein</strong>heimischer Ersatz für die hier so seltenen<br />
Blumen. Ihre reichen Abschattierungen <strong>und</strong><br />
Halbtöne strahlen, leuchten heraus, ziehen sofort<br />
die Aufmerksamkeit auf sich.<br />
Im Volksm<strong>und</strong> <strong>und</strong> in den Lenden der Indigenen<br />
symbolisiert die „Tajás“ das Herz. Tajás sollen<br />
Glück in der Liebe, bei Jagd <strong>und</strong> Fischfang bringen.<br />
Oder gar die Liebe, wie es <strong>ein</strong>e der vielen Lenden<br />
will. Die Mitglieder <strong>ein</strong>es Indiostammes, die weder<br />
die Liebe kannten, noch als sehr tapfer bekannt<br />
waren, erwählten <strong>ein</strong>es Tages aus ihren Reihen<br />
<strong>ein</strong>en Krieger, der das Problem lösen sollte. Es<br />
wurde beschlossen, die Mutter Wald „Mãe do<br />
Mato“ um Hilfe zu bitten. Sie riet, aus <strong>ein</strong>em<br />
Schwarm Vögel denjenigen abzuschießen, der am<br />
höchsten flog. Gesagt, getan. Der <strong>ein</strong>same Krieger<br />
legte den toten Vogel in <strong>ein</strong>en Ring aus Feuer <strong>und</strong><br />
ging, wie befohlen, schlafen. Als er erwachte, fand<br />
er sich von „Tajás“ in den unterschiedlichsten<br />
Farben <strong>und</strong> Formen umringt.<br />
Und es kam noch besser! Jede Tajá symbolisierte<br />
<strong>ein</strong>e positive Eigenschaft. Der Indio wählte die<br />
„Tajá“ der Tugend, der Arbeit, der Ges<strong>und</strong>heit, des<br />
Friedens, der Liebe <strong>und</strong> des Glücks. Grub sie<br />
behutsam aus <strong>und</strong> brachte sie s<strong>ein</strong>em Volk.<br />
Auf diese blumige Weise lernen die Indigenen<br />
nicht nur die Liebe kennen, sondern wurden nie<br />
mehr als feige bezeichnet.<br />
Dem leuchtrosafarbenen, lang gezogenen Herz<br />
<strong>ein</strong>er „Tajá“ widersteht also so schnell k<strong>ein</strong>er.<br />
Sollte ich die Herzblume amazonischer Gärten<br />
küren, wäre es zweifellos die hier, <strong>ein</strong>e der vielen,<br />
ungezählten „Tajás“, amazonischer geht´s nicht<br />
mehr.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 921
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 922
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 923
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 924
Alenquer, die “Gabs-hier-schon-mal-Stadt“<br />
Wir lassen uns nicht abschrecken. Treten <strong>ein</strong>. Der<br />
Durst ist stärker. Der Gastraum erinnert eher an<br />
<strong>ein</strong>e Garage. In der hinteren Hälfte hängt riesig<br />
<strong>und</strong> etwas streng riechend <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>gesalzener<br />
Pirarucu zum Trockenen aus. Gegen die<br />
festgezurrten, abwaschbaren Plastiktischtüchern<br />
auf wacklige Plastiktischen geklebt, die durch die<br />
verkehrt herum aufgetischten, transparenten<br />
Glasteller durchsch<strong>ein</strong>en, sind wir aber schon<br />
immun. Folgen der Empfehlung der<br />
Hotelbesitzerin. Touristen verirren sich kaum<br />
hierher.<br />
Der Kellner, er bemüht sich sichtlich, lost uns in<br />
den zubetonierten Hinterhof. Die brusthohen<br />
Wände sind alle mit Werbung beschriftet. Aber<br />
der Schatten des Mangobaumes <strong>und</strong> <strong>ein</strong> paar<br />
Tische laden <strong>ein</strong>. Lerne so, sozusagen am eigenen<br />
Magen, in der Praxis, sie dauert zwar nur <strong>ein</strong><br />
Wochenende lang, was es heißt, im hintersten<br />
Hinterland des Amazonas zu leben. –“N<strong>ein</strong>, mit<br />
Kohlensäure haben wir leider nicht, nur<br />
Mineralwasser ohne.“ – „Bier?“ – „Ja, aber nur in<br />
Dosen <strong>und</strong> nur <strong>ein</strong>e Marke.“ - „Ja, die<br />
Tomatensoße, die den w<strong>und</strong>erbaren Fisch,<br />
diesmal frischesten „Pirarucú“, begleite, sei<br />
Pomerola, industrialisierte Tomatensoße, aus der<br />
Tube, aber er könne mal sehen, ob man sie<br />
<strong>ein</strong>fach weglassen könne.“ –<br />
Dabei ist Alenquer doch immer noch <strong>ein</strong>e<br />
ansehnliche Stadt. Hat zwei, drei <strong>ein</strong>fache Hotels,<br />
<strong>ein</strong>e Bäckerei, zwei, drei Eisdielen, <strong>ein</strong> Restaurant<br />
<strong>und</strong> verschiedenen Bars. Unser Hotel hat zwar nur<br />
fließend kaltes Wasser, aber <strong>ein</strong>e laut dröhnende<br />
Klimaanlage, bitter nötig, <strong>und</strong> drei der Gratisfernsehkanäle<br />
aus dem fernen Rio de Janeiro. Es<br />
gehört, wie die meisten Geschäftsbetriebe hier,<br />
<strong>ein</strong>er Frau. Die Männer sind wohl alle aufgebrochen,<br />
den besseren Arbeitsplätzen nach.<br />
Touristenattraktionen? Es soll hier in der Nähe<br />
<strong>ein</strong>en Wasserfall geben. Aber wir bew<strong>und</strong>ern ihn<br />
nur auf <strong>ein</strong>er etwas verblichenen Wandmalerei.<br />
Schaffen es aber bis zu <strong>ein</strong>er Art Aussichtspunkt,<br />
<strong>ein</strong>e steile Treppe, oben <strong>ein</strong> schmuckloses<br />
Betonkreuz, zu dessen Füßen viele Kinder ganz<br />
ohne elterliche Aufsicht spielen. Nur die fünf<br />
himmelstrebenden Funktürme, Fernsehen,<br />
Internet <strong>und</strong> Handys wollen empfangen werden,<br />
überragen ihn noch. Einer ist sicher auch für das<br />
lokale Radio. Das hören hier alle. Auch der<br />
Musikgeschmack ist pasteurisiert, beschränkt sich<br />
auf die selbe schrill-laute, ziemlich ordinäre Musik,<br />
von Bands mit noch ordinäreren Namen gespielt.<br />
Das Radio überträgt sie bis in den letzten<br />
Hinterhof.<br />
Die Hinterhöfe allerdings sind <strong>ein</strong>e Attraktion für<br />
sich. Eine wilde Mischung aus verwildertem Nutz<strong>und</strong><br />
Obstgarten <strong>und</strong> Hühnerhof. Auf dem sandigen<br />
Boden mischen sich unter die heruntergefallenen<br />
Kokosnüsse Abfällen <strong>und</strong> trockene Palmwedel,<br />
vergammelnde Mangos. Die frei laufenden<br />
Haushühner bilden friedliche Familien inklusive<br />
Küken <strong>und</strong> stolzen Hähnen. Letztere krähen wohl<br />
alle zehn Minuten, auch zu nachtschlafener Zeit.<br />
Dazwischen wackeln auf kurzen B<strong>ein</strong>en <strong>ein</strong> paar<br />
zukünftige Festtagsbraten, schwarze oder<br />
gesprenkelte Enten herum. Das Geflügel teilt sich<br />
ihr Futter schwesterlich mit <strong>ein</strong> paar<br />
flügelschwingenden, stumpfschwarzen<br />
Aasgeiern. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied? Letztere<br />
landen nicht in der Pfanne.<br />
Da ist es wieder. Jenes typische Neben<strong>ein</strong>ander<br />
von rückständigster Rückständigkeit <strong>und</strong><br />
fortschrittlichstem Fortschritt. Einer zufällig<br />
aufgeschnappten Konversation entnehme ich,<br />
dass man hier auch puncto Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<br />
auf dem Laufenden ist. Zwei Damen diskutieren<br />
ihren, natürlich immer zu hohen, Cholesterinspiegel.<br />
Als wir <strong>ein</strong> Taxi wollen, greift das<br />
Zimmermädchen, das soeben den Patio flutet, in<br />
die Tasche ihrer knappen Shorts <strong>und</strong> zückt ihr<br />
Handy, wählt, <strong>und</strong> das Taxi ist Minuten später zur<br />
Stelle.<br />
Die lauschige Seite des Hinterlandes manifestiert<br />
sich, als die Sonne hinter den Horizont fällt.<br />
Jedermann zieht den wackligen Klappstuhl oder<br />
gar den Sessel aufs Straßenpflaster <strong>und</strong> setzt sich<br />
in Latschen <strong>und</strong> leichtester Kleidung gemütlich<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 925
vor die unvergitterte <strong>und</strong> weit offen stehende<br />
Haustür. Zeit für <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en Schwatz. Jeder, der<br />
gerade vorbeigeht, ist <strong>ein</strong>geladen. Man kennt<br />
sich. Uns, die Neugierigen, lernt man sogleich<br />
kennen. Und so endet unser Abendspaziergang<br />
vor irgend<strong>ein</strong>er Haustür beim gemütlichen <strong>und</strong><br />
oft überraschend interessanten Gespräch.<br />
Dabei hätte ich so gerne noch mehr Häuser<br />
ausspioniert! Die meisten haben, wie es früher<br />
üblich war, weder Fenstergitter noch<br />
Glasscheiben. Nachts werden die gähnenden<br />
Fensteröffnungen mit hölzernen Läden<br />
hermetisch verschlossen. Aber bis alle schlafen,<br />
steht alles, der Hitze wegen, noch lange<br />
sperrangelweit offen.<br />
Die Häuser sind direkt an die halbmeter<br />
schmalbrüstigen Bürgersteige gebaut. Die Fenster<br />
rahmen die unterschiedlichsten, immer eher<br />
spartanischen Varianten des Wohnens <strong>und</strong><br />
Einrichtens. Im Zentrum immer der Tag <strong>und</strong> Nacht<br />
laufende Fernseher. Eine Hängematte, <strong>ein</strong> Sofa<br />
<strong>und</strong> unzählige Familienfotos, drei Dutzend<br />
dekorativ hinter <strong>und</strong> neben<strong>ein</strong>ander aufgebaute<br />
Amateuraufnahmen, <strong>ein</strong> Rahmen kitschiger als<br />
der nächste, auf Regalen, Beistelltischen oder gar<br />
auf dem Kasten der Klimaanlage aufgebaut. Der<br />
ganze Clan ist abgebildet. Alle Lieben in allen<br />
Lebensphasen, vom Schulabschluss bis zur<br />
Hochzeit, gar als Erinnerungsfoto des<br />
Verblichenen, zum sieben Todestag, als<br />
Erinnerung an alle trauernden Hinterbliebenen<br />
verteilt. In <strong>ein</strong>igen Häusern sind auch die Wände<br />
mit <strong>Foto</strong>s geschmückt. Um sie zu betrachten, muss<br />
man den Kopf weit in den Nacken legen.<br />
Unser kl<strong>ein</strong>er R<strong>und</strong>gang, immer wieder<br />
unterbrochen, endet am Hafen. Der endlos<br />
zubetonierte, schattenlose Platz, tagsüber<br />
fest in den Händen der Aasgeier, die sich um die<br />
vielen Abfälle streiten, wird er abends zum lokalen<br />
Treffpunkt. Kinder haschen Seifenblasen, die <strong>ein</strong><br />
älterer Mann als Kostprobe aus s<strong>ein</strong>en überaus<br />
kreativ selbst gebastelten Speiern Probe bläst. Sie<br />
sind spottbillig. Unter den achtsamen Augen der<br />
Gesellschaft treffen die jungen Mädchen ihre<br />
ersten Verehrer. Die jüngere Schwester langweilt<br />
sich tödlich in der ihr zugedachten Rolle der<br />
Sittenwächterin. Sie hält die Kerze, wie man hier<br />
dazu sagt. Da drüben spendiert der Vater der<br />
Kl<strong>ein</strong>familie <strong>ein</strong> fruchtiges Eis. Quer über dem<br />
Platz walken die Matronen den letzten Klatsch<br />
durch.<br />
Die Gespräche bestätigen es. Alenquer ist das<br />
typische Beispiel <strong>ein</strong>er Stadt des „Gab´s-schonmal-hier“.<br />
Der Schlagfertigkeit <strong>und</strong> dem ironischen<br />
Witz <strong>ein</strong>es Ex-Einwohners entkommt hier nichts.<br />
Könnte man die Reihe der sich immer wieder<br />
erschöpfenden Wirtschaftszyklen besser beschreiben,<br />
die so typisch sind für den Amazonas? Auf<br />
den Mauern des bis heute be<strong>ein</strong>druckenden<br />
Schulgebäudes kann man lesen, wie wichtig man<br />
sich hier nahm <strong>und</strong> auch wie buchstabengläubig<br />
man ist. In jenen besseren Zeiten pinselte man:<br />
„Schule Fulgênio Simões, majestätischer Tempel<br />
des Wissens“ <strong>und</strong> gleich um die Ecke: „Du bist<br />
der Stolz unserer Generationen“.<br />
Die Generationen allerdings sind schon alle<br />
weggezogen. Hier in Alenquer gab es, es ist gar<br />
nicht so lange her, den blühenden Handel mit<br />
Paranüssen, dann mit Jutte oder später den der<br />
schwarzen Pfefferkörnern. Außerdem <strong>ein</strong>en sehr<br />
erfolgreichen Fußballklub, alles kaum mehr als<br />
<strong>ein</strong>e oder zwei Generationen her. Dann, in den<br />
80er Jahren des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, gab´s gar<br />
Goldgräber <strong>und</strong> jetzt sollen Edelst<strong>ein</strong>vorkommen<br />
entdeckt worden s<strong>ein</strong>. Bis deren Ausbeutung<br />
freigegeben wird, gammelt die Stadt unter<br />
schlimmster politischer Misswirtschaft in der<br />
tropischen Hitze vor sich hin. Die <strong>ein</strong>zige, die alle<br />
„Gabs-hier-schon-mal“ überlebt <strong>und</strong> wohl noch<br />
<strong>ein</strong>e Weile überleben wird.<br />
Die katholische Kirche allerdings hat ihre <strong>ein</strong>st<br />
unbestrittene Vormachtstellung längst gegen die<br />
wie Pilze aus dem feuchten Boden schießenden<br />
evangelischen Kirchen verloren. Sie sind die<br />
<strong>ein</strong>zigen, die hier noch neue Kirchen,<br />
Entschuldigung, Tempel hochziehen. Sie ziehen<br />
jene Gläubigen aus den hölzernen Häuschen an,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 926
viele davon der jährlich wiederkommenden<br />
Hochwasser wegen, auf Pfählen erbaut, natürlich<br />
ohne die geringsten sanitären Einrichtungen <strong>und</strong><br />
mit illegal angezapfter Elektrizität. Jene unsichtbaren<br />
Massen, die zu viel zum Sterben, nämlich<br />
<strong>ein</strong>e „Bolsa-Família“ (minime, monatliche<br />
Geldzuweisungen der Regierung) haben, <strong>und</strong><br />
doch viel zu wenig zum Leben. Diejenigen, die,<br />
<strong>ein</strong>mal zum Evangelium bekehrt, Jesus in jeden<br />
zweiten Satz <strong>ein</strong>bauen <strong>und</strong> diejenigen wählen, die<br />
ihnen ihre monatlichen Almosen garantieren.<br />
Aber wie immer in Brasilien - es ist nie alles<br />
verloren. Schon ist <strong>ein</strong>er da, der es, nicht nur wie<br />
die Kirchen, besser macht. Oder wie es <strong>ein</strong><br />
brasilianisches Sprichwort ausdrückt: im Land der<br />
Blinden ist der Einäugige König. Überall wo es <strong>ein</strong><br />
Geschäft zu machen gibt, stoßen wir entweder<br />
auf Leute aus Ceará, Nordosten Brasiliens oder<br />
auf die blonden, hellhäutigen „Gauchos“ aus<br />
Südbrasilien, die so etwas Einfaches wie das<br />
Transportproblem gelöst haben: Das Schiff des<br />
Gauchos kostet etwas mehr als die altmodischen<br />
Riesensardinenbüchsen, die hier den<br />
Linienverkehr betreiben, macht die Fahrt aber<br />
statt in sieben nachtschlafenden St<strong>und</strong>en, Abfahrt<br />
um 21h00, Ankunft um 02h00 morgens!, in 2 ½<br />
St<strong>und</strong>en. So effizient, dass er gar als Einziger an<br />
den kilometerlangen Kais sogar so etwas wie <strong>ein</strong><br />
kl<strong>ein</strong>er Trailer hat, der Schiffspassagen verkauft!<br />
S<strong>ein</strong>e „Lancha“, <strong>ein</strong> flaches Boot, hat Klimaanlage<br />
<strong>und</strong> DVD, ultraweiche, nummerierte Sitze. Nur<br />
ich sch<strong>ein</strong>e mich daran zu stören, dass ich mir,<br />
ausgerechnet hier mitten im Amazonas, den<br />
Hollywoodfilm über den Millionär aus den<br />
indischen Slums r<strong>ein</strong>ziehen muss.<br />
Beim Abendessen schwelgen sie im „Gab´s-auchmal-hier!“<br />
<strong>und</strong> erzählen von <strong>ein</strong>em traditionellen<br />
Fest oder wohl eher Theaterspiel, mit dem<br />
Thema: „Zé Matuto trifft Matutuando, gerade<br />
auf Urlaub“. Zé Matuto ist der ungebildete<br />
Hinterwäldler, oft nicht mal des Schreibens<br />
mächtig, fast automatisch Caboclo, halb Indio,<br />
Nachfahre von schwarzen Sklaven oder<br />
Quilombolas, entflohenen Sklaven, <strong>und</strong> damit<br />
höchstens bauernschlau. Matutuando im Urlaub,<br />
der Sohn des Krämers, Arztes oder Rechtsanwaltes,<br />
des Bürgermeisters, damit gut<br />
ausgebildet, sicher schon als Jugendlicher im<br />
Gymnasium ins Internat gesteckt, weit weg, wohl<br />
in die Hauptstadt Belém, wo sich ihm, wie kann<br />
es anders s<strong>ein</strong>, die große Welt auftut, sich ihm zu<br />
Füßen legt.<br />
Jeder kann sich nun die lächerlichsten<br />
Situationen ausdenken, die Gespräche, die der<br />
Weltenbürger mit dem Hinterwäldler führt. Ein<br />
währschafter Bauernschwank! Ist das Theater<br />
schon Lende, so ist das Auswandern bis heute<br />
Realität. Die junge Besitzerin der Hafenbar<br />
jedenfalls will es zumindest bis Santarém<br />
schaffen, Tourismus studieren, <strong>ein</strong>e eigene<br />
Tourismusagentur haben. Die Gr<strong>und</strong>stücke,<br />
gleich vier, hat sie, zusammen mit ihrem Mann,<br />
<strong>ein</strong>em Gaucho, daselbst schon gekauft. Er wird<br />
wohl Soja pflanzen oder Reis, der Boden ist sehr<br />
fruchtbar. Wer kann es ihnen verargen, dass sie<br />
dieselben Träume haben wie alle anderen<br />
Brasilianer? Abends mal ins Shopping gehen<br />
wollen, sich <strong>ein</strong>en überteuerten Hamburger<br />
leisten. Träume, die sich hier im Amazonas<br />
höchst selten irgendwo im Nirgendwo realisieren<br />
lassen.<br />
Der Fisch? Hat, ohne industrialisierte<br />
Tomatensoße, w<strong>und</strong>erbar geschmeckt, genauso<br />
wie das lokale Eis. N<strong>ein</strong> nicht das vom „Xequemate“,<br />
vom „Schach Matt“, dessen Blechbüchsl<strong>ein</strong>-Verkaufsstand<br />
war noch nicht hochgeklappt.<br />
Galgenhumor zeigt sich überall, auch in anderen<br />
vieldeutig humoristischen Namen.<br />
Ach, noch <strong>ein</strong> Nachtrag: Falls Sie sich vor<br />
Fröschen oder Kröten ekeln, gehen Sie besser<br />
erst im Hotel zur Toilette. Hier in der Bar sitzt<br />
nämlich, sozusagen als Türwächter, <strong>ein</strong> Prachtsexemplar<br />
mittendrin in der Damentoilette. Falls<br />
Sie ihn nicht küssen wollen, wer weiß, ob er sich<br />
in <strong>ein</strong>en dunkelhäutigen, muskulösen<br />
Indioprinzen verwandelt?! sollten Sie sich aber<br />
auch unterstehen, ihm irgendetwas anzutun –<br />
noch sind zu viele der amazonischen Amphibien<br />
unbekannt, wissenschaftlich nicht erfasst, ganz<br />
<strong>ein</strong>fach unerforscht. Damit besteht die reale<br />
Chance, dass es sich bei diesem Exemplar hier<br />
um <strong>ein</strong>e lokale, noch unbekannte Gattung<br />
handelt. K<strong>ein</strong> Witz, aber noch <strong>ein</strong>e Facette der<br />
realen amazonischen Realitäten.<br />
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Obidos, die Kehle des Amazonas<br />
Das hinterste des amazonische Hinterland ist,<br />
noch, <strong>ein</strong>e andere Welt. Das bestätigt sich hier in<br />
Óbidos immer wieder. Ob es daran liegt, dass das<br />
propere Städtchen, eigentlich nur für s<strong>ein</strong>en<br />
Karneval berühmt, etwas mehr als <strong>ein</strong>tausend<br />
Kilometer von Belém entfernt, nur per Luft oder<br />
übers Wasser erreicht werden kann? Wie wäre´s<br />
mit <strong>ein</strong>em Lufttaxi? Der Flug soll atemberaubend<br />
s<strong>ein</strong>. Etwas weniger luxuriös ist die „Lancha“, <strong>ein</strong><br />
erst kürzlich in Betrieb genommenes schnelles<br />
Passagierboot. Die Reise von Santarém den<br />
Amazonas hoch dauert etwas drei St<strong>und</strong>en.<br />
Zum hiesigen, schlecht konservierten<br />
Kolonialstilcharme von Obidos gesellt sich <strong>ein</strong>e<br />
überraschende Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong><br />
Gastfre<strong>und</strong>schaft. Sie passt zum ländlich<br />
besinnlichen Lebensstil, der nicht nur des Klimas<br />
wegen sozusagen auf der Straße vor m<strong>ein</strong>en<br />
Augen abspielt. Hier hat k<strong>ein</strong>er Angst vor der<br />
sonst allgegenwärtigen Kriminalität. Türen <strong>und</strong><br />
Fenster, Gartentore <strong>und</strong> Garagenportale stehen<br />
hier fast immer weit <strong>und</strong> <strong>ein</strong>ladend offen. Die<br />
allgegenwärtigen Schaukelstühle mit den<br />
Sitzlehnen <strong>und</strong> Sitzen aus Plastikschnüren sind<br />
immer besetzt. Abends setzt sich die ganze<br />
Nachbarschaft auf die Schwelle oder den<br />
Bürgersteig. Genießt die abendliche Frisch, den<br />
leisen Wind. Die jüngeren Semester laufen, im<br />
Sportdress natürlich, viele Male um den riesigen,<br />
baum- <strong>und</strong> schattenlosen Dorfplatz, der nun von<br />
hohen, extrastarken Straßenlaternen erleuchtet,<br />
zum kollektiven Rummel- <strong>und</strong> Fußballplatz wird.<br />
Auch der Dorfjugend ist der Platz <strong>ein</strong>e<br />
willkommene Alternative zu den Laptops, MTV<br />
<strong>und</strong> Handys. Genieße alles sozusagen aus der<br />
Vogelperspektive. Die Bar macht sich die<br />
ungewöhnliche Topografie zu Nutze.<br />
Und ungewöhnlich ist die Topografie hier in<br />
mehrfacher Hinsicht. Kurz vor dem Ende der Fahrt<br />
auf dem endlos breiten, endlos grauschlammigen,<br />
endlos verzweigten Meeren des Amazonas,<br />
schieben sich die nie mehr als strichartigen, kaum<br />
baumhohen, immer mehr oder wenig fernen Ufer<br />
des Stroms von beiden Seiten her in weit<br />
ausholendem Bogen immer näher zusammen.<br />
Türmen sich auf der rechten Seite gar zu <strong>ein</strong>em<br />
weithin sichtbaren Hügelchen auf: Es ist die Kehle<br />
oder auch die Schnalle des Amazonas, s<strong>ein</strong>e<br />
schmalste <strong>und</strong> tiefste Stelle. Sie ist „nur“ 1.890<br />
Meter breit <strong>und</strong> ungewöhnlich tief, nämlich um<br />
die 75 Meter.<br />
Ein strategisch hochinteressanter Punkt, der halbe<br />
Hügel wird von den Wassern umspielt. So haben<br />
sich hier die Portugiesen schon 1697<strong>ein</strong> Fort<br />
errichtet, das bald auch zur Missionsstation von<br />
Franziskanermönchen wurde. Später wurde dann,<br />
im Zug der von Marques de Pombal angeordneten<br />
„Verportugiesierung“ des Amazonas aus dem<br />
Indiodorf mit Missionsstation die Stadt Óbidos, in<br />
Hommage an die gleichnamige Stadt in Portugal.<br />
Auch Reste von Kolonialarchitektur, mehr oder<br />
weniger gut erhalten, gibt es hier. Öffentliche<br />
Bauten wie das Rathaus mit s<strong>ein</strong>en<br />
handbemalten Kacheln, blau auf weißem Gr<strong>und</strong>,<br />
die markanten Fenster- <strong>und</strong> Türrahmen gelb<br />
abgehoben. Óbidos ist das Zentrum <strong>ein</strong>es<br />
Bezirks, verfügt damit über verschiedene<br />
staatliche Dienstleistungen wie das Amtsgericht.<br />
Es ist ausgerechnet der hiesige Staatsanwalt, der<br />
mir das Innere des Rathauses zeigt. Gabelt mich<br />
fotografierend vor der Tür auf. Kommt wohl<br />
gerade, es ist vielleicht halb zehn Uhr morgens,<br />
zur Arbeit. Nimmt mich, gastfre<strong>und</strong>lich wie alle<br />
hier, am Arm <strong>und</strong> bittet mich, hochentzückt über<br />
m<strong>ein</strong> Interesse an s<strong>ein</strong>em Rathaus, <strong>ein</strong>fach<br />
her<strong>ein</strong>. Er führt mich, die Beamten grüßen etwas<br />
verblüfft, durch die leider schon ziemlich<br />
verfremdeten Räume.<br />
Eine Verschnaufpause im <strong>ein</strong>fachen Hotel. Unter<br />
dem strengen Blick des sicher schon<br />
verblichenen Hausherrn werfe ich in der guten<br />
Stube auf dem Buffet mit den Kristallgläsern<br />
<strong>ein</strong>en neugierigen Blick ins Gästebuch. Ein Arzt.<br />
Ach ja, da gab‘s doch <strong>ein</strong>en Aushang im Hafen.<br />
Später wird es auch lautstark vom Werbeauto<br />
verkündet, das endlos s<strong>ein</strong>e Reihen zieht: Doktor<br />
Reginaldo, Augenarzt, ist am 8. Juli im<br />
Brillengeschäft „Boa Vista“ – „Gute Sicht“. Da<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 938
nimmt er für R$ 40,00 computergestützte<br />
Untersuchungen vor. Auch <strong>ein</strong> Tierarzt, <strong>ein</strong> paar<br />
Professoren der Uni aus Santarém sind<br />
<strong>ein</strong>geschrieben. Bringen <strong>ein</strong>em Regierungsprogramm<br />
sei Dank, ihr Wissen <strong>und</strong> auch die<br />
Universitätsdiplome bis hierher. Es gilt, die<br />
Gr<strong>und</strong>schullehrer des vergessenen Hinterland zu<br />
bilden. Sie sollen etwas mehr als die<br />
obligatorischen neun Schuljahre weitergeben<br />
können. Normalerweise gehören auch Geologen<br />
<strong>und</strong> Ingenieure zu den Gästen. Hier wird nach<br />
Mineralien sondiert <strong>und</strong> es werden Wasserkraftwerke<br />
gebaut.<br />
Das Portrait, <strong>ein</strong>e w<strong>und</strong>erbar altmodische,<br />
handkolorierte Schwarz-Weiss-<strong>Foto</strong>grafie in<br />
ovalem Rahmen, fasziniert mich. Formeller Anzug,<br />
die für heutigen Geschmack wohl etwas zu breite<br />
Krawatte zieht überdeutlich nach rechts.<br />
Vielleicht hat sich aber auch nur der Rahmen<br />
etwas verschoben. Wozu wohl das kuriose<br />
Arrangement aus grobem Salz <strong>und</strong> Knoblauch<br />
gleich neben dem urkatholischen Segensspruch<br />
hier macht, wage ich die Witwe <strong>und</strong><br />
Hotelbesitzerin nicht zu fragen. Sie ist nie all<strong>ein</strong>.<br />
Drei andere Frauen in ihrem Alter leisten ihr<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> alle sch<strong>ein</strong>en sie immer überaus<br />
beschäftigt. Der Fernseher gibt den ganzen Tag<br />
s<strong>ein</strong>en Senf dazu. Es fehlt mir die Geduld,<br />
herauszuhören, ob es die immer präsente<br />
Fernsehanstalt Globo ist oder <strong>ein</strong>er der vielen<br />
evangelikalen Sender. Die Küche schließt ans<br />
Wohnzimmer an. Dunkel kann ich sie ahnen, wenn<br />
ich mir m<strong>ein</strong>en Zimmerschlüssel vom Holzbrett<br />
hole. Das Feuer im ursprünglichen Holzherd<br />
sch<strong>ein</strong>t nie auszugehen. Das Fenster gibt den Blick<br />
auf <strong>ein</strong>en betonierten Hinterhof frei. Da watscheln<br />
<strong>ein</strong> paar Hühner <strong>und</strong> Enten frei herum. Der<br />
nächste Feiertag, der Kochtopftod kommt<br />
bestimmt.<br />
Durchstreife, tropischer Hitze trotzend, die Stadt.<br />
Stoße eher zufällig auf die Reste des Forts.<br />
Kanonen von Krupp, aus denen, wie ich später<br />
nachlese, wohl nie <strong>ein</strong> Schuss abgefeuert wurde.<br />
Malerisch in <strong>ein</strong>e Mauer <strong>ein</strong>gelassen, liegen sie<br />
unter <strong>ein</strong>em Kreuz hoch über der Flussenge. Die<br />
Aussicht ist hier fast völlig zugewachsenen.<br />
Wieder unten am Hafen, da wo die Fische<br />
angeliefert werden <strong>und</strong> die Sonne besonders<br />
sticht, bew<strong>und</strong>ere ich das riesige, kopflose<br />
Pirarucufilét. Frisch <strong>ein</strong>gesalzen ist es hier lose<br />
über das Geländer gelegt, wo es um Trocknen<br />
ausgehängt ist. Draußen werden winzige Boote<br />
mit noch winzigeren Menschen von den endlosen<br />
Weiten der Wasser <strong>und</strong> der Bucht verschlungen.<br />
St<strong>und</strong>enlang sehe dem Treiben zu. Alles muss per<br />
Schiff hierher gebracht werden. Erinnere mich an<br />
<strong>ein</strong>e riesige Ladung, sicher h<strong>und</strong>ert Besen, die<br />
Besenstiele getrennt, fertig zum Verladen. Das<br />
Linienboot wartet geduldig. Noch mehr<br />
verschweißte Sechserpackungen Erfrischungs-<br />
getränke quellen ihm aus dem Bauch. Türmen<br />
sich auf dem brütenden Kai. Auch hier will<br />
k<strong>ein</strong>er auf Guaraná oder Coca-Cola verzichten.<br />
Weiter vorne rollen, pling, pling, über <strong>ein</strong>e Art<br />
Hühnersteig riesige leere Gaspatronen, die hier<br />
überall zum Kochen verwendet werden, vom<br />
Lastwagen. Pling, Metall schlägt auf Metall.<br />
Schon rollen sie direkt in den Schiffsbauch.<br />
Formen riesige blaue Türme. Zwei Männer<br />
tragen <strong>ein</strong> Maschinenungetüm, dazu haben sie<br />
die Maschine fest an <strong>ein</strong>en langen, armdicken<br />
Pfahl gezurrt, den sie sich nun über die Schultern<br />
legen, in den Schiffsbauch. Leise <strong>und</strong><br />
tonnenschwer schwingt das Ungetüm zwischen<br />
ihnen hin <strong>und</strong> her. Die Adern an den Schläfen<br />
schwellen <strong>und</strong> der Schweiß rinnt. Gelangweilte<br />
Passagiere auf Durchreise sehen ihnen vom<br />
ersten Deck aus ihren Hängematten zu. Dann<br />
werden Säcke <strong>und</strong> noch mehr Säcke mit<br />
Paranüssen angeliefert. Im Gegenlicht der<br />
Abendsonne buckelt <strong>ein</strong>e Handvoll Arbeiter Sack<br />
für Sack aus dem Schiffsbauch, reichen sie hoch<br />
auf den Lastwagen. Der Turm wird hoch <strong>und</strong><br />
höher. Als sie fertig sind, schwingen sie sich hoch<br />
auf den Berg, posieren gröhlend <strong>und</strong> lachen für<br />
<strong>ein</strong> <strong>Foto</strong> <strong>und</strong> fahren zum Schluss alle davon in die<br />
<strong>ein</strong>fallende Nacht hin<strong>ein</strong>.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 939
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 940
Drachen fliegen lassen<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 941
Pro forma oder “Para Inglês ver”<br />
Das Haus sch<strong>ein</strong>t mir <strong>ein</strong>s wie andere auch,<br />
mitten in der eher schlecht erhaltenen Altstadt.<br />
Man lost mich durch <strong>ein</strong>e Tür. Fast falle ich die<br />
paar Stufen runter, direkt in den r<strong>und</strong>um<br />
überdeckten Hof. Er ist zugepflastert <strong>und</strong> verbaut.<br />
Rechterhand gibt es <strong>ein</strong>e riesige, offene<br />
Freiluftküche. Eine großzügige Spüle, übers Eck<br />
<strong>ein</strong> enormer Kochherd mit mindestens sechs<br />
Gasbrennern. Gleich anschließend, von <strong>ein</strong>er<br />
niederen Mauer abgetrennt, <strong>ein</strong> massiver Tisch<br />
mit buntem Wachstuch. In offenen Regalen<br />
riesige Töpfe, in überraschenden Dimensionen,<br />
alle aus blitzblank geriebenem Aluminium. In<br />
solchen Pfannen kann man nur mit sehr viel Fett<br />
oder Flüssigkeit kochen, sonst brennt ganz schnell<br />
alles an.<br />
Emsiges Treiben. Gleich zwei Empregadas<br />
schneiden, rühren, brühen das Mittagessen. Es<br />
gibt leckeren Reis mit Ente, es schwimmen gleich<br />
mehrere davon im dunklen Sud, <strong>und</strong> gegrillten<br />
Pirarucu. Ein <strong>ein</strong>ziges, riesiges, grätenloses<br />
Fischfilet zischt <strong>und</strong> singt schon länger über der<br />
rot glühenden Glut <strong>ein</strong>es <strong>ein</strong>fachen Holzofengrills,<br />
linkerhand, gleich unter der Stange des<br />
w<strong>und</strong>erschön roten Papageis. Der überwacht alles<br />
mit argwöhnischem r<strong>und</strong>kugligem Blick, die<br />
Pupille steif. Fremde mag er gar nicht. Der Blick<br />
der Gastgeberin ist genauso aufmerksam, aber<br />
weniger streng. Die Jahre haben sie weicher<br />
gemacht. Sie rührt k<strong>ein</strong>en Finger, hier lässt man<br />
kochen, verfolgt das ganze Kochprozedere aber<br />
ganz genau. Auch ihre Tochter gibt Anweisungen.<br />
Vor der habe sie, gesteht mir ihre Mutter später<br />
im Geheimen, ganz viel Respekt. Die sei doch<br />
Bankfilialleiterin der brasilianischen Staatsbank<br />
gewesen, da in Rio de Janeiro, bevor sie sich mit<br />
kaum Fünfzig <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er ausgezeichneten Rente zur<br />
Ruhe setzte, <strong>und</strong> jetzt halb im Amazonas <strong>und</strong> halb<br />
in Rio lebt.<br />
Angezogen von den Kochdüften tauchen immer<br />
mehr Leute auf. Kommen durch die Tür, ganz ohne<br />
anzuklopfen <strong>und</strong> auch aus anderen Zimmern. Klar,<br />
jemand muss die Riesenportionen ja verspeisen!<br />
Die Tochter ist federführend, ist hier <strong>und</strong> heute im<br />
Haus ihrer Mutter so energisch <strong>und</strong> durchsetzungswillig<br />
wie immer. Revanchiert sich hinter<br />
deren Rücken, indem sie mir ihrerseits<br />
Geheimnisse erzählt. Ihre Mutter leide an<br />
Diabetes, sollte deshalb auf verschiedene Dinge<br />
verzichten. Aber da habe sie sie doch kürzlich<br />
dabei erwischt, wie sie ganz <strong>ein</strong>fach im<br />
Margarineschächtelchen die grausliche Margarine<br />
zur Seite geschoben habe! Das entstandene Loch<br />
füllte sie dann mit w<strong>und</strong>erbar hausgemachter<br />
Butter auf! Hier nennt man das So-Tun-Als-Ob,<br />
“Fazer para Inglês ver”, soviel wie machen, damit<br />
es vor den Engländern durchgeht.<br />
Sie habe nie geheiratet, eher ungewöhnlich, was<br />
sie aber nicht zu stören sch<strong>ein</strong>t. Flößt mit ihren<br />
klaren, modern Ansichten nicht nur der Mutter,<br />
sondern auch der ganzen Tischr<strong>und</strong>e, unter<br />
anderem <strong>ein</strong> Ex-Kultursekretär der Stadt <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Kandidat für das Bürgermeisteramt, Respekt <strong>ein</strong>.<br />
Die zwei Empregadas haben deutlich indigene<br />
Züge, wie übrigens auch der Ex-Kultursekretär,<br />
dessen Che Guevara-T-Shirt <strong>und</strong> schulterlangen<br />
Locken auf <strong>ein</strong>en späten, amazonischen 68-er<br />
schließen lassen. S<strong>ein</strong> Diskurs, genauso wie der<br />
Diskurs des Kandidaten, ist total lokaltypisch.<br />
W<strong>und</strong>erschöne Worte, die ewig nostalgisch die<br />
gute alte Zeiten heraufbeschwören. Projekte, die<br />
so gigantisch sind wie der Amazons selber, sich<br />
schon deshalb selber annullieren.<br />
Beim zweiten Besuch wird mir endlich klar, wieso<br />
mich der Taxifahrer gleich beim Nennen der<br />
Adresse um Grade respektvoller behandelte.<br />
Heute lotst man mich nämlich durch die<br />
Vordertür! Oder besser, durchs Schreibzimmer<br />
des hiesigen “Cartórios”. Dem “Cartório” kommt<br />
in jeder brasilianischen Stadt <strong>ein</strong>e Schlüsselstellung<br />
zu. Hier werden Dokumente beglaubigt,<br />
Geburten, standesamtliche Hochzeit <strong>und</strong><br />
Todesfälle offiziell registriert, Hauskäufe <strong>und</strong><br />
Verkäufe <strong>und</strong> Vollmachten <strong>und</strong> Testamente<br />
beglaubigt <strong>und</strong> hinterlegt. Alles natürlich gegen<br />
entsprechende Gebühr. Traditionellerweise wird<br />
die Pfründe “Cartório” <strong>ein</strong>er Privatperson<br />
übergeben. Es ist <strong>ein</strong> Geschäft, dessen Besitzer<br />
damit <strong>ein</strong> sozusagen staatlich garantiertes<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 942
Einkommen hat. M<strong>ein</strong>e Gastgeberin, die ältere<br />
Lady <strong>und</strong> ihre Familie sind also Besitzerin des<br />
wohl wichtigsten Organs der Stadt!<br />
Versuche mit nichts anmerken zu lassen. Zutritt<br />
für Unbefugte untersagt, kostet es mich <strong>ein</strong>ige<br />
Überwindung, die Schranke des Cartóriotresen zu<br />
ignorieren. Quetsche mich an zwei wartenden<br />
Einheimischen im Sonntagsstaat vorbei. Sie sitzen<br />
ganz gerade <strong>und</strong> unbequem auf zwei schmalen<br />
Bänkchen. Halten ihre Identitätskarten <strong>und</strong><br />
andere kostbare Dokumente steif vor sich hin.<br />
Upps, nun fre<strong>und</strong>lich nickend an den Angestellten<br />
vorbei. Der nicht so tiefe Raum ist mit Akten <strong>und</strong><br />
Papieren vollgestopft. Die eleganten Bildschirme<br />
der hochmodernen Computer stechen wie<br />
exotische Exemplare aus dem etwas improvisierten<br />
Schreibstubenmief heraus. Vermeide die<br />
scharfen Ecken zweier kl<strong>ein</strong>er Schreibtische <strong>und</strong><br />
schiebe mich durch den schmalen Durchgang.<br />
Folge den anderen hinter <strong>ein</strong>en alten Schrank, der<br />
rechts so an die Wand gestellt ist, dass er <strong>ein</strong>en<br />
schmalen Gang freilässt. Hinter dem Schrank <strong>ein</strong>e<br />
Tür, die mich direkt <strong>und</strong> übergangslos mitten in<br />
die Vorzeige-Gute-Stube der alten Dame führt.<br />
Die selten benutzten Möbel wirken zeremoniell,<br />
das Holz dunkel, fast Schwarz. Schon winken sie<br />
mich wieder hinaus. Ach, da ist er ja wieder, der<br />
zementierte, halb überdachte Hof!<br />
Auch heute ist der Tisch schon gedeckt. Auf<br />
blumigbuntem Tischtuch liegen die obligaten<br />
Glasteller, durchsch<strong>ein</strong>end bräunlichgelb, verkehrt<br />
herum, der Rand exakt über <strong>ein</strong>fache, blecherne<br />
Messer <strong>und</strong> Gabeln gelegt – der launische Wind<br />
könnte ja irgendwelchen Schmutz hin<strong>ein</strong>blasen.<br />
Sie werden nur vor dem Herausschöpfen<br />
umgedreht. Auch diesmal reagiert der Papagei<br />
ungelassen. Als Trost füllt ihm die <strong>ein</strong>e Köchin die<br />
Blechdose mit Paranüssen. Die knackt er <strong>ein</strong>e<br />
hinter der anderen mit lautem Knall auf. Wieder<br />
trödeln so nach <strong>und</strong> nach die unterschiedlichsten<br />
Leute <strong>ein</strong>. Heute gibt es Acarí, <strong>ein</strong> schuppengepanzerter<br />
Urfisch, in zwei Variationen<br />
aufgetischt, <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>gesuppt, <strong>ein</strong>mal gegrillt.<br />
Dazu Reis <strong>und</strong> wieder weder Gemüse noch Salat.<br />
K<strong>ein</strong>er hier ist <strong>ein</strong>e Schildkröte, die sowas frisst,<br />
wie man hier spöttisch sagt.<br />
Die Fische wurden schon vor dem Kochen<br />
zweigeteilt. Der Kopf des Fisches mit dem<br />
stumpfschwarzer Panzer besteht aus <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong>zigen abger<strong>und</strong>eten, unten flachen<br />
Knochenplatte <strong>und</strong> hat zwei kreisr<strong>und</strong>e Augen<strong>und</strong><br />
Nasenhöhlen, tief <strong>ein</strong>gelassen. Das Maul des<br />
Fisches findet man erst, wenn man den Kopf<br />
umdreht. Fre<strong>und</strong>lich erklärt mir m<strong>ein</strong><br />
Tischnachbar, dass der Schuppenpanzer des<br />
Fisches am besten runter geht, wenn man <strong>ein</strong>en<br />
Löffel darunterschiebt <strong>und</strong> das schwarze Ding<br />
damit gleich am Stück loslöst. Das freigelegte<br />
Fischfleisch, dunkelrosa, schmeckt w<strong>und</strong>erbar. Das<br />
Auslöffeln <strong>und</strong> Aussagen des flach gepressten<br />
Fischkopf, er soll <strong>ein</strong>e absolute Delikatesse s<strong>ein</strong>,<br />
allerdings überlasse ich den anderen.<br />
Als Nachspeise gibt es heute Açaí, toll, mit oder<br />
ohne Zucker, Tapioca oder gar ganz altmodisch<br />
mit Farinha. Das ist nicht so exotisch wie die<br />
Bohne von gestern, Ingá, von deren Kerne ich das<br />
weiße, angenehm süßliche Fruchtfleisch<br />
herunter nagte. Es gelingt mir erst, als mir<br />
jemand erklärt, dass es besser geht, wenn man<br />
es vorher mit dem Messer <strong>ein</strong>schneidet.<br />
Wieder schweifen die Gespräche weit, holen aus,<br />
hochpolitisch. Lösen mit <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong>zigen kühnen<br />
Schlag, gleich hier am Tisch, wie an vielen<br />
Stammtischen, all die Probleme Brasiliens.<br />
Vergessen auch die kl<strong>ein</strong>en Nebenhiebe zu den<br />
lokalen Politikern nicht.<br />
Sitze mit <strong>ein</strong>em Dinosaurier zu Tisch. Ein<br />
Dinosaurier, der sich seit 50, vielleicht gar 100<br />
Jahren fast nicht verändert hat <strong>und</strong> bis heute<br />
erfolgreich widersteht. Eine weiße Elite, die alle<br />
Fäden <strong>und</strong> Schlüsselstellungen fest in den<br />
Händen hält, Empregadas, deren Hautfarbe zwar<br />
auch getönt ist, aber nicht von schwarzem,<br />
sondern von Indioblut, stehen für jenes<br />
amazonische Hinterland, das schon immer so war<br />
<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>e Weile so bleiben wird.<br />
Gerade mischt <strong>ein</strong>e neue politische Bewegung<br />
die Karten auf. Ein Volksreferendum soll nämlich<br />
darüber urteilen, ob man den Riesenstaat Pará in<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 943
drei Staaten teilen soll. Für die hiesigen Politiker<br />
<strong>ein</strong> riesiges Geschäft! Das würde den ganzen<br />
lukrativen Staatsapparat <strong>ein</strong>fach verdreifachen.<br />
Alle sind alle dafür. Tapajós já! Tapajós gleich<br />
jetzt. Endlich würde dann das Zentrum, heute<br />
Belém, die Hauptstadt <strong>und</strong> damit auch das so heiß<br />
ersehnte Geld des brasilianischen Staates<br />
näherrücken. Dass zwei der drei neuen Staaten<br />
schon defizitär zur Welt kommen würden, sch<strong>ein</strong>t<br />
hier k<strong>ein</strong>en zu kümmern. Was wirklich interessiert<br />
ist das große Geld aus Brasília. Die lokalen<br />
Politiker reiben sich schon alle Hände.<br />
Das Referendum wird allerdings abgelehnt. Die<br />
Städte Obidos <strong>und</strong> Santarém reagieren mit drei<br />
Tagen offiziell dekretierter Staatstrauer.<br />
Und so bleibt alles, wie es immer war. Eine weiße<br />
Elite, die alle Fäden fest in den Händen hält mit<br />
Hausangestellten, deren Hautfarbe das indigene<br />
Blut nicht verleugnet. Und so werden sie weiter,<br />
im Kl<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> im Großen so vieles machen “para<br />
Ingles ver*”, nur so zum Sch<strong>ein</strong>, nur in der<br />
Rhetorik wegen.<br />
*Das Wortbild, der Ausdruck “para inglês ver”<br />
bedeutet, dass man etwas nur zum Sch<strong>ein</strong>, ohne<br />
Konsequenzen macht. Es entstand wohl, weil<br />
England zur Zeit des Imperiums großen Druck auf<br />
Brasilien ausübte, dem Sklavenhandel <strong>ein</strong> Ende zu<br />
setzten. Brasilien unternahm darauf <strong>ein</strong> paar<br />
falsche Anstrengungen, um dem Druck<br />
stattzugeben.<br />
die<br />
Energien<br />
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<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 945
Sant´Anas hausgemachte Nachspeisen<br />
Einen <strong>ein</strong>zigen Engel mache ich auf der Prozession<br />
aus. Später, auf halbem Weg kommt noch <strong>ein</strong><br />
zweites Engelkind, <strong>ein</strong> Mädchen, dazu. Der erste<br />
Engel, <strong>ein</strong> Junge, verheddert sich immer wieder in<br />
s<strong>ein</strong>em stahlblauen Satinkleid. Es ist ihm etwas zu<br />
groß, die Ärmelabschlüsse aus passend blau<br />
<strong>ein</strong>gefärbten Schwanenfedern fallen ihm flaumig<br />
weit übers Handgelenk. Hoch über dem kl<strong>ein</strong>en,<br />
ernsten Gesicht ruht <strong>ein</strong> Kranz mit blauen,<br />
aufgesteckten Rosen. Die breite Schärpe hat man<br />
ihm unters Kinderbäuchchen geb<strong>und</strong>en. Auf dem<br />
Rücken trägt er engelgleich zwei blautransparente<br />
Flügel. Das Engelmädchen ist identisch<br />
kostümiert, allerdings in starkem Pink, das sich<br />
vorteilhaft gegen s<strong>ein</strong>en gebräunten T<strong>ein</strong>t<br />
abhebt. Kinderengelchen lösen <strong>ein</strong> Versprechen<br />
<strong>ein</strong>. Die hochverehrte Sant´Ana, die Mutter<br />
Mariens, hat die Führbitten erhöhrt <strong>und</strong> es wird<br />
ihr nun so vergolten.<br />
Das Fest für Sant´Ana, hier hoch verehrt, dauert<br />
16 Tage, findet immer am 2. Sonntag im Juli statt.<br />
Es beginnt mit <strong>ein</strong>em aufwendigen Círio, <strong>ein</strong>e<br />
Prozession, an dem die ganze Stadt teilnimmt<br />
<strong>ein</strong>e Bestätigung des sozialen <strong>und</strong> hierarchischen<br />
Statuses der Menschen in der lokalen<br />
Gesellschaft. Wenige sehen darin den Reflex <strong>ein</strong>es<br />
Modells, das seit der Kolonisation unverändert<br />
übernommen wurde <strong>und</strong> bis heute kaum<br />
hinterfragt wird. Besonders hier im hintersten<br />
Hinterland.<br />
Während des ganzen Festes gibt es jeden Abend<br />
<strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Prozession. Dabei wird die Statue der<br />
Heiligen jeden Abend von <strong>ein</strong>em anderen Stadtteil<br />
feierlich bis zur Kirche getragen, <strong>ein</strong> festlicher Zug,<br />
mit viel laut explodierendem Feuerwerke <strong>und</strong><br />
intensive Teilnahme der lokalen Bevölkerung. Die<br />
Prozession, die ich heute mitmachen werde,<br />
beginnt weit draußen. Da wo der Asphalt, lies<br />
Fortschritt, noch nicht angekommen ist. Das<br />
Kirchl<strong>ein</strong> ist schmalbrüstig, hat aber <strong>ein</strong>e<br />
w<strong>und</strong>erschöne Kirchenglocke, eher selten hier in<br />
Brasilien.<br />
Langsam fällt die Nacht her<strong>ein</strong>. Die Hitze des Tages<br />
hat noch k<strong>ein</strong> Grad nachgelassen. Bedächtig formt<br />
sich der kl<strong>ein</strong>e Zug. Eine Vorsängerin stimmt <strong>ein</strong>es<br />
der Ave Marias an, unterbrochen von Rosenkranzgebeten<br />
<strong>und</strong> religiösen Gesängen. Alles stoppt,<br />
wenn die Heilige vorbeizieht. Respektvoll hält der<br />
spärliche Verkehr. Auch der Engeljunge geht mit.<br />
Schaut dem ganzen Treiben etwas scheu zu.<br />
Später lese ich das aufwendig gedruckte<br />
Festprogramm. Da steht nicht nur, wer für die<br />
diesjährigen Feierlichkeiten wie viel Geld<br />
gespendet hat. Oder vielleicht <strong>ein</strong>en der vielen<br />
Bingopreise, der Hauptpreis gar <strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>stück,<br />
oder die Trophäen der Versteigerung. Auch die<br />
hiesige winzige Heiligenfigur ist sehr aktiv im Geld<br />
sammeln. Vor dem Fest reist sie bis nach Manaus<br />
<strong>und</strong> Belém, wo sie die Häuser von Ex-Anwohnern,<br />
Ex-Obidensen besucht. K<strong>ein</strong>er lässt es sich<br />
nehmen, etwas zu spendieren, vom Sandwichgrill<br />
bis zum Rührgerät.<br />
Wie alle amazonisch-katholischen Feste hat auch<br />
dieses Fest s<strong>ein</strong>e urpopuläre Seite. Es ist <strong>ein</strong><br />
wirkliches Volksfest, an dem die ganze Stadt<br />
teilnimmt, zum Beispiel mit freiwilliger<br />
Fronarbeit oder <strong>ein</strong>er spendierten Nachspeise.<br />
Die werden zugunsten der Festkasse im<br />
“Clipper”, dem städtischen Festsaal verkauft. In<br />
die selbe Kasse kommt auch der Erlös der<br />
tagtäglich stattfindenden Versteigerung. Heute<br />
kann man <strong>ein</strong> gegrilltes Spanferkel, <strong>ein</strong>e<br />
Heiligenfigur, <strong>ein</strong>e Hängematte <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Set<br />
Glasdosen gewinnen. Ganz klar, dass die Preise<br />
symbolische Höhen erreichen, denn die Bieter<br />
wollen nicht nur sich selber, sondern auch die<br />
Stadt mit ihrer Finanzkraft be<strong>ein</strong>drucken. Noch<br />
großzügiger gehe es bei der Viehversteigerung<br />
zu. Da habe sich mancher in <strong>ein</strong>en größenwahnsinnigen<br />
Eifer hin<strong>ein</strong>gesteigert, den die Kuh dann<br />
am nächsten Tag nicht mehr wert war. Aber was<br />
soll´s. Der Stolz <strong>und</strong> der Ruhm bleiben <strong>und</strong> es ist<br />
alles für <strong>ein</strong>en guten Zweck, die Kirche natürlich<br />
<strong>und</strong> SantÁna. Dass alles unter Kontrolle bleibt,<br />
zeigt die Geschichte mit der kl<strong>ein</strong>en Festkönigin.<br />
Dafür wurde nicht das schönste Mädchen, wie es<br />
eigentlich angesagt <strong>und</strong> erwartet war, gewählt,<br />
sondern die Tochter dessen, der am meisten<br />
Geld spendete. Ländliche Dorffeste sind wohl auf<br />
der ganzen Welt gleich.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 946
Noch gehen wir. Jedes Fest der Heiligen steht<br />
unter <strong>ein</strong>em Motto. Dieses Jahr ist es die<br />
Ökologie. Man habe für den Círio nicht wie sonst<br />
Petflaschen mit Kerzen auf dem nächtlichen Fluss<br />
freigesetzt, sondern alles aus natürlichen<br />
Materialien hergestellt. Klar - die heutige<br />
Prozession hat das Motto: Der liebevolle Umgang<br />
mit Flüssen <strong>und</strong> Seen. Die Heiligenfigur wird auf<br />
<strong>ein</strong>em mit vielen Blumen dekorierten Wagen<br />
mitgeführt. Ein paar Kinder tragen <strong>ein</strong>e Tafel mit<br />
oben erwähnten Motto. Noch <strong>ein</strong> paar<br />
Ministranten hergerichtet <strong>und</strong> schon formt sich<br />
der Zug. Er besteht zur Mehrzahl aus Frauen.<br />
Manche tragen <strong>ein</strong>e Kerze in den Händen, <strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>en Korb mit <strong>ein</strong>er Heiligenfigur. Schon fällt die<br />
Sonne hinter den Horizont <strong>und</strong> wir setzen uns in<br />
Bewegung. An Zuschauern, die stille stehen <strong>und</strong><br />
dem Zug nachsehen fehlt es nicht.<br />
Die Straße vor der Kirche ist wie die ersten paar,<br />
die wir begehen, zwar sehr breit aber staubig. Die<br />
bräunliche Erde ist längst festgetreten <strong>und</strong> –<br />
gefahren, aber der Staub, f<strong>ein</strong> wie Mehl, ist<br />
überall, sicher auch in allen Ritzen der <strong>ein</strong>fachen<br />
Holzhäuser, die die Straße säumen. Dazwischen<br />
immer wieder <strong>ein</strong> simples Verkaufslokal, alles,<br />
was es zu kaufen gibt, auf vielen Regalbrettern<br />
ausgestellt. Daneben immer wieder <strong>ein</strong>e Bar,<br />
auch sie improvisiert, ewig gleich, alle verkaufen<br />
die selbe Marke Bier.<br />
Der Fußmarsch dauert, erklimmt <strong>ein</strong>ige<br />
Steigungen. Dann erreichen wir die <strong>ein</strong>fachen<br />
Gassen des Dorfkerns. Als wir die zentrale Kirche<br />
betreten, ist sie rappelvoll. Lieblos auf modern<br />
restauriert, oder wie es <strong>ein</strong> Hiesiger ausdrückt: Der<br />
damalige Bischof verstand die Erneuerung der<br />
Kirche vor allem auch ganz praktisch <strong>und</strong> konkret.<br />
Die Predigt ist schön. Wie erholsam, endlich mal<br />
wieder <strong>ein</strong>e traditionelle, normale Ansprache ohne<br />
Heuchelei, Firlefanz, falsch klingender Gitarrenbegleitung<br />
<strong>und</strong> sch<strong>ein</strong>heiliger Beteiligung der<br />
Gem<strong>ein</strong>de zu sehen. Fühle mich vom Glauben der<br />
Leute mitgetragen, echter Glauben, der ganz von<br />
Innen kommt.<br />
Tribut an die Kirche <strong>und</strong> die Heilige gezollt, nun<br />
geht es schräg über dem Kirchenplatz, zum<br />
Clipper. Die Attraktionen, nicht nur das Essen, sind<br />
alle hausgemacht, oder besser lokal, sind eher<br />
schwach. Auch mit der live Übertragung auf <strong>ein</strong>en<br />
riesigen Bildschirm werden sie nicht besser. Die<br />
lokale Kinderballettschule, ich habe ihnen heute<br />
beim Training auf dem freien Platz zugesehen, tritt<br />
nicht auf, dafür aber <strong>ein</strong> ziemlich missgestimmtes<br />
Jugendorchester. Da war ja die Blaskapelle, die<br />
heute im Freien marschieren <strong>und</strong> blasen trainiert<br />
hat, noch besser.<br />
Was soll´s. Bald schon kommt die Versteigerung<br />
<strong>und</strong> das Bingo. Zudem haben dann die meisten<br />
schon <strong>ein</strong> paar Biere getrunken <strong>und</strong> so steht der<br />
gehobenen Stimmung, Stant´Ana sei Dank, gar<br />
nichts mehr im Wege. Ach, wer denn heute die<br />
Nachspeise gespendet habe? Ja, die seien sicher<br />
gut. Bringen Sie doch mal drei Portionen davon.<br />
Unterdessen ist die ganze Familie <strong>ein</strong>getrudelt.<br />
Auch die immer etwas sauertöpfische<br />
Hausangestellte ist mit dabei. Merke, dass sich<br />
alle nicht nur geduscht <strong>und</strong> die Haare gewaschen<br />
haben, sondern auch in Schale gestürzt. K<strong>ein</strong>e<br />
enganliegenden Shorts <strong>und</strong> winzige Blüschen. Ein<br />
schickes Kleid auch für die Hausangestellte, die<br />
darin w<strong>und</strong>erhübsch aussieht mit ihren so<br />
ausgeprägten indigenen Zügen. Nun fehlt nichts<br />
mehr, damit <strong>ein</strong> ganz normaler Mittwochabend<br />
zum Fest wird, zum Fest Sant’Anas natürlich.<br />
*Sant’Ana, die Mutter Marias, wird in Brasilien<br />
normalerweise mit <strong>ein</strong>em Buch <strong>und</strong> in Begleitung<br />
des Kindes Maria dargestellt. Ihr ins Buch<br />
gestreckte Zeigefinger zeigt, dass sie gerade<br />
dabei ist, Maria das Lesen zu lehren.<br />
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Zeit für <strong>ein</strong>en Schwatz oder hinterstes Hinterland<br />
Eigentlich hat mich der Friedhof hierher gebracht.<br />
Habe ihn von hoch oben erblickt. Das Ufer, <strong>ein</strong><br />
paar Baumreihen, er zieht mich magisch an. Nun<br />
schaukle ich leise im ausgeliehenen Stuhl hin <strong>und</strong><br />
her. Der Stuhl ist nicht viel mehr als <strong>ein</strong><br />
Eisenstangengerüst mit f<strong>ein</strong>en Plastikschnüren<br />
überzogen, tropenklimatauglich, von so<br />
zweifelhaftem wie populärem Design. Das<br />
hochstelzige Holzhaus ist giftgrün gestrichen.<br />
Stelzen <strong>und</strong> markante Längsrippen strahlen weiß.<br />
Traditionelle, bewährte Architektur – der Wind,<br />
der unter den Stelzen durch bläst, hält das Haus<br />
kühl. Geschickt fährt die Hand m<strong>ein</strong>es Gastgebers<br />
fort, s<strong>ein</strong>e malerisch ausgehängten Netze zu<br />
flicken. S<strong>ein</strong> Arbeitspartner ist wortkarger.<br />
Eigentlich wollte ich nur <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>. Aber den extra<br />
für mich hergeschafften Stuhl, vorsorglich in den<br />
Schatten <strong>ein</strong>es Mangobaumes gestellt, kann ich<br />
nicht zurückweisen. Und das sich entspannende<br />
Gespräch ist so unerwartet wie interessant.<br />
Die unschuldige Frage, ganz zu Anfang des<br />
Gesprächs <strong>ein</strong>geflossen, verrät s<strong>ein</strong> Weltbild.<br />
Schickt ihr sogleich <strong>und</strong> vorsorglich die<br />
fre<strong>und</strong>liche Zusicherung hinterher, dass er mich<br />
trotz m<strong>ein</strong>es Akzentes bestens verstehe. - Kommt<br />
die Senhora vielleicht aus Portugal? – N<strong>ein</strong>?<br />
Mache wenig Anstalten, ihm den absolut<br />
nebensächlichen Unterschied zwischen der<br />
Schweiz <strong>und</strong> Schweden zu erklären. Das Gespräch<br />
fließt ganz natürlich. Er zeigt sich weltoffen, hat<br />
etwas zu sagen. Das hinterwäldlerische<br />
Misstrauen, die offensichtlich trennenden<br />
Klassenunterschiede <strong>und</strong> –schranken, die<br />
überlässt er s<strong>ein</strong>em Kollegen, der kaum <strong>ein</strong> Wort<br />
beiträgt.<br />
Frage ihn zum Schluss nach dem jüdischen<br />
Friedhof. Er ist durch <strong>ein</strong>en goldenen Davidstern<br />
kenntlich gemacht. Es ist der Erste, den ich hier im<br />
Norden finde. Die Gräber sind der Tradition<br />
entsprechend schmucklos. Später erfahre ich, dass<br />
es manch <strong>ein</strong>en Juden ins amazonische Hinterland<br />
verschlagen hat. Auf der anderen Straßenseite<br />
liegen die Katholischen begraben. Hier sind die<br />
Gräber deutlich prächtiger.<br />
Gehe m<strong>ein</strong>er Wege. Hinterlandcharme pur.<br />
Wieder am Hafen, die Sonne wird gleich hinter<br />
den Horizont fallen, holt sich die Frau Kapitän<br />
gerade etwas Koriander fürs Abendessen vom<br />
schwimmenden Dachkräutergarten. Es fehlt nur,<br />
dass der Hausherr zum Essen auf die wippenden<br />
Planken bittet. Er wiegt sich leise auf Deck, den<br />
Bierbauch entblößt. Weiter vorne streiten zwei<br />
junge Hähne bitterböse um Territorium. Zwei<br />
clevere Jungen verkaufen aus <strong>ein</strong>er Schubkarre<br />
Bananen. Eigentlich wollten sie erst nach Hause<br />
gehen, wenn sie alle verkauft haben. In der<br />
Zwischenzeit fährt der <strong>ein</strong>e den anderen statt der<br />
Bananen in der Schubkarre spazieren. Auf dem<br />
Polizeiposten schäkert der uniformierte Polizist<br />
heftig mit <strong>ein</strong> paar weiblichen, leicht bekleideten<br />
Verehrerinnen. Ob es sich gar um Angehörige<br />
der Insassen des voll gepferchten Gefängnisses<br />
handelt? Nur ihre Arme sind sichtbar. Die<br />
Gesichter unkenntlich hinter den Gittern. Der<br />
Gesprächston ist locker flockig. Auch sie nehmen<br />
teil am friedlich launigen Hinterwäldlerplausch.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 951
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 952
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 953
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 954
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 955
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 956
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 957
Marajó<br />
Der kl<strong>ein</strong>e Junge, der da soeben vorbei trabte, der<br />
ritt <strong>ein</strong>en Büffel! Einen Wasserbüffel! Auf den<br />
Rücken des riesigen schwarzen Ungetüms<br />
geklebt, sprengt er ganz ohne Zaumzeug <strong>und</strong><br />
Sattel vorbei! Auf der riesigen Insel Marajó<br />
sch<strong>ein</strong>t die Zeit stehen geblieben zu s<strong>ein</strong>. Oder<br />
mindestens ticken die Uhren <strong>ein</strong>en Tick<br />
gemächlicher. Noch sind die Wasserbüffel neben<br />
dem Fahrrad <strong>und</strong> dem Crossmotorrad die<br />
wichtigsten Verkehrsmittel, nach dem Schiff<br />
natürlich. Transportiert wird per Mototaxi.<br />
Gewichtigeres aber wird vom Wasserbüffel<br />
gezogen, geschleppt oder gebuckelt. Die Büffel<br />
übrigens sollen alle sehr zahm s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> geduldig.<br />
Immer wieder kann man sie treffen. Irgendwo,<br />
frei, am Strand zwischen <strong>ein</strong> paar schattigen<br />
Bäumen <strong>und</strong> natürlich in <strong>ein</strong>em Wasserloch<br />
suhlend. Es muss wohl am Klima liegen.<br />
Kreischende Touristen tragen sie auf enormen<br />
Sätteln spazieren. Die selben Touristen, die<br />
nachher w<strong>und</strong>erbaren Joghurt, Sauermilch <strong>und</strong><br />
Käse aus Büffelinnenmilch, wie man hier sagt,<br />
verspeisen werden, gar <strong>ein</strong> ausgezeichnetes<br />
Büffelschnitzel. Am liebsten mögen die Büffel<br />
aber <strong>ein</strong> ausgiebiges Bad. Und das bekommen sie<br />
tagtäglich. An der L<strong>ein</strong>e, am Nasenring<br />
festgemacht, rennt dieser hier sichtlich erfreut<br />
dem Fahrrad des Besitzers nach. Schon biegt er<br />
ab. Es geht direkt zum Strand!<br />
Dass die Büffel hier perfekt angepasst sind <strong>und</strong><br />
Teil der lokalen pittoresken Landschaft, darüber<br />
gibt es k<strong>ein</strong>en Zweifel. Sie wurden um die<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwende des 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
auf Marajó <strong>ein</strong>geführt. Ihr Vorfahren kamen aus<br />
Indien, den Philippinen <strong>und</strong> aus Italien <strong>und</strong> sie<br />
gehören vier verschiedenen Rassen an. Wie sie<br />
hierher kamen? Darüber gehen die Versionen<br />
aus<strong>ein</strong>ander. Einige erzählen von <strong>ein</strong>em Schiffbruch,<br />
der die ersten Tiere hier stranden ließ.<br />
Andere führen <strong>ein</strong>fache, kommerzielle Motive für<br />
den Import an.<br />
Marajó, der Archipel mit mehr oder weniger der<br />
Fläche der Schweiz, er besteht aus dreitausend<br />
Inseln <strong>und</strong> Inselchen, die die größte Binneninselgruppe<br />
der Welt bilden, wird gerade für den<br />
sanften Ökotourismus entdeckt. Ein paar, die<br />
wissen, wie man <strong>ein</strong> Geschäft macht, sind schon<br />
zur Stelle. Allerdings geht hier alles <strong>ein</strong> wenig<br />
langsamer. Landschaftlich <strong>und</strong> kulinarisch hat<br />
Marajó viel zu bieten. Marajó <strong>ein</strong> paar Bootsst<strong>und</strong>en<br />
von Belém entfernt, ist nur übers Wasser<br />
oder per Flugzeug zu erreichen. Kann man von<br />
<strong>ein</strong>er Insel etwas anderes erwarten?<br />
Das Wasser hat das Sagen auf Marajó. Und es ist<br />
nicht irgend<strong>ein</strong> Wasser. Die Inselgruppe wird auf<br />
der <strong>ein</strong>en Seite von den Flüssen Amazonas, Pará<br />
<strong>und</strong> Tocantins, also Süßwasser <strong>und</strong> auf der<br />
anderen vom Atlantik, Salzwasser, umspült. An<br />
den riesigen, <strong>ein</strong>samen Stränden mischt sich das<br />
Süßwasser mit dem salzigen des Meeres, sind<br />
nicht mehr süß <strong>und</strong> noch nicht ganz salzig. An der<br />
Atlantikküste dominieren die Mangues. Da<br />
werden in mühevoller, schlammiger Arbeit die<br />
Krebse aus dem Morast gepullt, bevor sie an<br />
langen Schnüren aufgefädelt lebend verkauft<br />
werden.<br />
Man kann hier nur leben, wenn man die<br />
Einzigartigkeit der Natur respektiert.<br />
Und <strong>ein</strong>zigartig ist die Natur hier wirklich. Der<br />
Westen der Insel ist <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige riesige Ebene,<br />
spärlich <strong>und</strong> niedrig bewaldet, <strong>ein</strong>e Savanne. Nur<br />
die Bacurizeiros ragen weithin sichtbar heraus.<br />
Der Westen ist mit dichtem, tropischem<br />
Regenwald bedeckt. In der Regenzeit sind 2/3<br />
der Insel überschwemmt. Neben den<br />
allgegenwärtigen Wassern, den Mündungen der<br />
riesigen Flüsse gilt es auch die Gegebenheiten<br />
des Meeres, den ständigen Wechsel zwischen<br />
Ebbe <strong>und</strong> Flut zu beachten. Manche abgelegenen<br />
Orte wie das halbvergessene Dorf Arapixi<br />
erreicht man nur bei Flut. Bei Ebbe ist der Fluss<br />
mit dem selben Namen nicht beschiffbar. Er gilt<br />
generell als schwierig, unberechenbar, denn er<br />
ist zwar ewig breit aber untief. Das führt dazu,<br />
dass er ständig s<strong>ein</strong> Bett wechselt, gar an<br />
unerwarteten Orten Sandbänke anhäuft.<br />
Ein anderes Naturphänomen, die Pororoca, <strong>ein</strong>e<br />
riesige Flutwelle, zieht heute viele Touristen an.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 958
Vor allem Surfer, besonders Verrückte<br />
veranstalten <strong>ein</strong>en Surfwettbewerb. Jener<br />
gewinnt, der sich am längsten hoch oben auf der<br />
Flutwelle halten kann.<br />
Die Pororoca tritt normalerweise bei<br />
Mondwechsel auf, bei Voll- <strong>und</strong> Leermond. Sie<br />
entsteht, wenn sich die Wasser des Atlantiks bei<br />
Flut in die Wasser der Flüsse, die sich hier ins<br />
Meer fließen, ergießen. Beim Zurückfließen<br />
entstehen Riesenwellen, die bis zu 10 Meter hoch<br />
sind <strong>und</strong> sich mit <strong>ein</strong>er Geschwindigkeit von bis zu<br />
35 km pro St<strong>und</strong>e vorwärts bewegen, dabei auch<br />
mal <strong>ein</strong> Stück der Uferböschung, <strong>ein</strong>en Baum oder<br />
so mitreißen. Das Naturphänomen macht sich<br />
durch <strong>ein</strong> dramatisches Röhren <strong>und</strong> Brüllen<br />
bemerkbar, lange bevor die Welle sichtbar ist.<br />
Minuten bevor die Pororoca durch prescht, wird<br />
es totenstill. Dann ist es besser, dem Naturschauspiel<br />
aus gebührendem Abstand zuzusehen.<br />
Ansonsten reiht sich Marajó in die lange Liste der<br />
Hinterländer <strong>ein</strong>, die schon mal bessere Zeiten<br />
sahen. Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden hier<br />
indigene Grabstädten gef<strong>und</strong>en, die auf<br />
komplexe Gesellschaften hinweisen, mit <strong>ein</strong>em<br />
hohen Entwicklungsstand. Es wird vermutet, dass<br />
die Insel schon lange vor der „Entdeckung“<br />
Brasiliens durch die Portugiesen <strong>ein</strong> reicher<br />
Handelsumschagplatz war.<br />
Zur Zeit der Kolonisation war die Insel dicht mit<br />
indigenen Völkern besiedelt, die heftigen<br />
Tauschhandel betrieben. Man glaubt, dass es um<br />
die 30 Stämme waren, die da seit 5.000 Jahren<br />
wohnten, aber schon im Ende 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
ausgerottet oder vertrieben waren. Ihre<br />
w<strong>und</strong>erschönen Töpferwaren sind in Museen in<br />
Europa, USA oder in Südbrasilen zu sehen. Auch<br />
das Museu Goeldi <strong>und</strong> das Museu do Marajo in<br />
Cachoeira do Arari besitzen Ceramica Marajoara,<br />
Zeugen <strong>ein</strong>er komplexen Kultur, noch <strong>ein</strong>er, deren<br />
Geschichte noch geschrieben werden muss.<br />
Nun gilt es also den Herausforderungen der<br />
Neuzeit in die Augen zu schauen, <strong>und</strong> aus dem<br />
Hinterland der Hinterländer <strong>ein</strong> Touristenort zu<br />
machen. Und dabei die lokale Bevölkerung weder<br />
zu überfordern noch auszugrenzen. Ihnen den<br />
ihnen zugehörenden Gr<strong>und</strong> zu garantieren <strong>und</strong><br />
dabei besonders die Ärmsten der Armen, die<br />
Ribeirinhos, Extrativisten, die Indigenen,<br />
Quilombolas, Nachfahren von Sklaven <strong>und</strong> alle<br />
anderen Vergessenen Gehör <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Ort zu<br />
verschaffen. Alles mit dem Anspruch von<br />
Nachhaltigkeit <strong>und</strong> unter dem Zeichen von<br />
„Empowering“, dem sich gerade all die NGOs so<br />
gerne annehmen. Ob die paar Büffel wohl dabei<br />
helfen können?<br />
Der<br />
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Bragança<br />
Woran erkennt man, dass <strong>ein</strong> Ort oder <strong>ein</strong>e Stadt<br />
arm ist? Vielleicht an den malerisch vergammelten<br />
Schiffen, die im Hafen voller Müll, wie alle<br />
hier, vor sich hin dümpeln? An den Krabbenverkäufern,<br />
die ihre Ware am Hafen in langen,<br />
lebenden Schnüren direkt vom Fahrrad aus<br />
anbieten?<br />
Bragança, die schön restaurierte historische Stadt,<br />
1634 als Weiler begründet, liegt malerisch am<br />
Fluss Caeté. Von der glorreichen Vergangenheit<br />
zeugen die Catedral de Nossa Senhora do Rosário,<br />
1854 von Sklaven erbaut, die Jesuitenkirche São<br />
Benedito, <strong>und</strong> der Palacete Augusto Corrêa, <strong>ein</strong>e<br />
genaue Kopie des Palastes der Braganças in<br />
Portugal.<br />
Die abgevrakten Schiffe im Hafen sind Teil <strong>ein</strong>es<br />
der größten Fischfangpools des Staates Pará.<br />
Auch wenn der Fischfang sehr viele Leute ernährt,<br />
vor allem als Eigengebrauch, im Hinterland<br />
schlägt der pro Kopf Verbrauch an Fisch den von<br />
Japan, so trägt der organisierte Fischfang<br />
überraschend wenig zur lokalen Ökonomie bei.<br />
Was nicht erstaunt, wenn man bedenkt, dass<br />
Fisch hier im Amazonas zum Vergleich mit Fleisch<br />
nicht sehr teuer ist <strong>und</strong> zudem als <strong>ein</strong>e<br />
extrativistische Tätigkeit angesehen werden muss.<br />
Ein erfolgreicher Fang kann weder geplant<br />
werden noch garantiert er dem Fischer <strong>ein</strong><br />
regelmäßiges Einkommen. Der Fangertrag hängt<br />
sehr stark von unterschiedlichen Variablen ab, von<br />
Wetter, Wasserstand <strong>und</strong> saisonalem Angebot.<br />
Manche Fische unternehmen lange Wanderungen<br />
während des Zyklus ihres Lebens oder zum<br />
Ablaichen <strong>und</strong> verschwinden so für Monate.<br />
Fischfang ist <strong>ein</strong>e Art Achterbahnfahrt.<br />
Gefischt wird noch vor allem für lokale Fischmärkte<br />
<strong>und</strong> die Fischmärkte der großen Städte<br />
oder für den Export, dann aber nur spezifische<br />
Riesenfische, die entsprechend grätenlose<br />
Fischfilets produzieren, was zwangsläufig zur<br />
Überfischung <strong>ein</strong>zelner Fischarten führt.<br />
Erschwerend kommt dazu, dass die unendlich<br />
vielen Fische, es soll über 1.200 essbare Fische im<br />
Amazonas geben, noch viel zu wenig erforscht<br />
sind. Viele amazonische Fische sind nicht nur<br />
extrem dekorativ, sondern auch extrem faszinierend.<br />
Ihre Gewohnheiten <strong>und</strong> Lebensweisen, es<br />
gibt zum Beispiel Fische, die sich sowohl in Süßwie<br />
auch in Salzwasser wohlfühlen, sind sehr<br />
exotisch. Auch wenn die Fischzucht als <strong>ein</strong>e<br />
ökonomisch sehr interessante Alternative<br />
angesehen wird, vor allem der Tambaqui kommt<br />
schon fast vollständig aus Zucht, was s<strong>ein</strong>e Art<br />
wohl retten wird, steckt sie noch in den<br />
Kinderschuhen.<br />
Und so ist es auch Bragança beschieden, auf <strong>ein</strong>en<br />
Prinzen zu warten, der es ökonomisch wachküssen<br />
wird.<br />
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Alltag in Oriximiná<br />
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<strong>Amazonien</strong><br />
feiert<br />
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<strong>Amazonien</strong> feiert<br />
Maizenaschlachten am Karneval 976<br />
Karneval an der Baía do Sol 978/989<br />
Strassenkarneval 981/982<br />
Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit 990/991<br />
Junifeste 1004/1005<br />
Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro, Santarém 1015/1016<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 974
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 975
Maizenaschlachten am Karneval<br />
Immer wieder begegnen wir über <strong>und</strong> über<br />
bemehlten Gestalten. Überall liegen die<br />
traditionellen, gelben Maizena-Schächtelchen mit<br />
den schwarzen Buchstaben herum, leer natürlich.<br />
Der Nachschub sch<strong>ein</strong>t, wie der an Bier <strong>und</strong><br />
Energiegetränken unerschöpflich. Na gut, früher<br />
soll es ja Brauch gewesen s<strong>ein</strong>, sich neben Mehl<br />
mit Blasen voller Urin <strong>und</strong> anderen<br />
Unappetitlichkeiten zu bewerfen. Hier beschränkt<br />
man sich heute auf Maizena <strong>und</strong> ganz modern,<br />
<strong>ein</strong>e Art Schnee aus der Sprühdose.<br />
Könnte auch zu Hause bleiben, aber die Neugier<br />
war stärker. Seit Tagen sind die kl<strong>ein</strong>en, improvisierten<br />
Baracken mit den Palmstrohdächern<br />
installiert, zusammen mit den Bierfässern, die<br />
wohl nur <strong>ein</strong>en Teil des Abfalles aufnehmen<br />
werden. Auch die ambulanten Verkäufer schießen<br />
wie Pilze aus <strong>ein</strong>em feuchten Waldboden. Ihre<br />
eher krakelig improvisierten Plakate verraten,<br />
dass sie Amateure sind. Trotzdem boomt das<br />
Geschäft mit eiskaltem Bier, Bier, Maizena <strong>und</strong><br />
Energiedrinks. Andere funktionieren ihre<br />
unbebauten Gr<strong>und</strong>stücke mit charmanten,<br />
orthografisch nicht immer ganz korrekten<br />
Plakaten zu Parkplätzen um. Alter do Chão ist <strong>ein</strong><br />
Touristenort <strong>und</strong> bereit fürs Fest. Echten<br />
Geschäftssinn verrät auch die Perückenverkäuferin.<br />
An <strong>ein</strong>em improvisierten Drahtgestell<br />
flattern lila <strong>und</strong> schrillgrüne Perücken im<br />
Chanelstil, daneben <strong>ein</strong> wilder Irokese <strong>und</strong> auch<br />
die Afroperücken im besten Black-Panther-Stil,<br />
wirr wie <strong>ein</strong> aufgedröseltes Wollknäuel.<br />
Improvisation <strong>und</strong> Kurz-Entschlossen-S<strong>ein</strong> ist<br />
gefragt. Alle Perücken finden Abnehmer. Der<br />
halbe Dorfplatz kostümiert sich, die Hitzen sind<br />
unerträglich, wenigstens den Scheitel. Da schau,<br />
der überdimensionierte Wollknäuel gibt dem<br />
lokalen, dunkelhäutigen Indionachfahren <strong>ein</strong><br />
überraschend echt afrikanisches Aussehen. Im<br />
kl<strong>ein</strong>en Krämerladen kauft sich <strong>ein</strong> anderer soeben<br />
<strong>ein</strong>en Nachttopf, orange oder pink? <strong>und</strong> testet<br />
auch gleich, ob er ihm wirklich bis zu den Ohren<br />
runter geht. Huch, da kommen schon die ersten<br />
Maizenabestäubten, dann nun doch lieber in die<br />
Gegenrichtung.<br />
Der Karneval ist es sich auch hier, in Alter do Chão,<br />
wert, von der Stadt aus dem Steuertopf finanziert<br />
zu werden. Den Minikarnevalsblock, alle im Besten<br />
Alter, vier überaus fröhliche, schon etwas<br />
angeheiterte Damen <strong>und</strong> zwei Kavaliere, allerdings<br />
haben sich privat in Unkosten gestürzt. Nichts hält<br />
sie mehr. Die Männer reichen den Frauen weder<br />
puncto Verkleidung noch an Aufgekratzt-S<strong>ein</strong> das<br />
Wasser. Alle vier tragen über ihren hochsynthetisch<br />
kitschige Perücken je <strong>ein</strong> Paar roter, listig<br />
blinkender Teufelshörnchen. Deren <strong>ein</strong>gebaute<br />
Lichter blinken durch den animierten Abend in<br />
teuflischem Rhythmus, <strong>ein</strong> <strong>und</strong> aus, <strong>ein</strong> <strong>und</strong> aus.<br />
Den Männern hat dazu wohl <strong>ein</strong>fach die Courage<br />
gefehlt. Auch die Kostüme sind originell.<br />
Ultrakurze Kleidchen, die sich selbstkritisch über<br />
die Trägerin <strong>und</strong> deren etwas aus den Fugen<br />
geratenen Körper lustig machen. Jedes Kleid ziert<br />
<strong>ein</strong> grazil gemaltes, lecker-köstliches<br />
Kurvenkörperchen in Front- <strong>und</strong> Hinternansicht.<br />
Die pospaltentiefen Rückendekolletés <strong>und</strong> die<br />
neckisch aufgerichteten Teufelsschwänze lassen<br />
k<strong>ein</strong>en Zweifel an den provozierenden Absichten.<br />
Das größte Vergnügen der Truppe besteht aber<br />
darin, sich zwischen <strong>ein</strong> paar wippenden<br />
Tanzschritten, mit vielen kl<strong>ein</strong>en Schlucken Bier<br />
begossen, reihum abzulichten <strong>und</strong> abgelichtet zu<br />
werden, was die ganze Sache noch um vieles<br />
pikanter zu machen sch<strong>ein</strong>t. Stacheln sich<br />
gegenseitig zu noch gewagteren, noch<br />
ordinäreren Posen an. Die werden dann alle<br />
sogleich, Digitalkamera im Handy sei Dank,<br />
reihum angesehen <strong>und</strong> quietschend<br />
kommentiert, um dann <strong>ein</strong>er noch sinnlicheren<br />
Aufnahme überboten zu werden. Lasziv<br />
hingeflätscht oder gar kompliziert um die hohe<br />
Stange gew<strong>und</strong>en, die gerade zufällig da steht.<br />
Die Männer, außen vor, nuckeln schon etwas<br />
betäubt an ihren Bierbüchsen. Ignorieren die<br />
spitzen, entzückten Schreie über noch <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong><br />
auf dem Winzmonitor, dem gleich noch <strong>ein</strong><br />
weiteres <strong>Foto</strong> nachgeschoben wird. Dann aber<br />
bläst die pinkfarbene Chanelperücke zum<br />
Aufbruch. Von Weitem kann ich nur noch ihre<br />
knackigen, leider falschen Hinterteile bew<strong>und</strong>ern<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong>mal mehr feststellen, dass dieser<br />
Karneval wohl ohne mich stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 976
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 977
Karneval an der Baía do Sol<br />
Von Weitem schon machen sich die<br />
karnevalesken Schreie bemerkbar. Alle springen<br />
herbei, k<strong>ein</strong>er will auch nur das kl<strong>ein</strong>ste Detail<br />
verpassen. Im Handumdrehen stauen sich die<br />
Sommergäste auf dem prekären Sträßchen, es<br />
windet sich <strong>ein</strong>er der vielen Buchten der Insel<br />
Mosqueiro entlang, die Belém vorgelagert ist. Nur<br />
am Strand <strong>und</strong> weit vom Alltag kann <strong>ein</strong>e solch<br />
lockere <strong>und</strong> unkomplizierte Atmosphäre<br />
aufkommen. Schon biegt <strong>ein</strong> „Trio Elétrico“,<br />
(großer Laster, auf dem <strong>ein</strong>e Musikband die<br />
Zuschauer animiert), <strong>ein</strong> umfunktionierter uralter<br />
VW-Kombi, um die Ecke. Er droht jeden Moment,<br />
in s<strong>ein</strong>e Einzelteile aus<strong>ein</strong>ander zu brechen. Dabei<br />
käme wohl die improvisierte Dekoration zu<br />
Schaden. Sie macht sich in schreiendem Gelb über<br />
<strong>ein</strong>e äußerst populäre Landekette lustig. Die ist<br />
dafür bekannt, dass sie sich ihre Waren in<br />
winzigen, aber dafür endlos abstotterbaren Raten<br />
bezahlen lässt. So kann sich auch <strong>ein</strong> fast nicht<br />
Begüterter das neueste Handy oder <strong>ein</strong>en<br />
Küchentisch kaufen. Dass man die letzte Rate<br />
schon beim Kauf aus den Augen verloren hat <strong>und</strong><br />
das Handy wohl zweimal bezahlt, rechnet k<strong>ein</strong>er<br />
nach. Die Qualität der Musik lässt mehr als zu<br />
wünschen übrig. Das stört k<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> wird durch<br />
die ohrenbetäubende Lautstärke wieder gut<br />
gemacht.<br />
Die Narren, die den „Trio Elétrico“ „ziehen“ oder<br />
wohl besser von ihm gestoßen werden, sind unter<br />
sich. Nur Männer gleichen sie die fehlende<br />
Inspiration beim Kostüm oder anderen<br />
Verkleidungen durch die unterschiedlichsten<br />
Stadien des Angeheitert-S<strong>ein</strong>s aus. Sie sind<br />
unisono, wie inspiriert, als Frauen verkleidet! Die<br />
eher strammen B<strong>ein</strong>e sind alle schon etwas<br />
wacklig, was wohl nicht nur den ungewohnten<br />
Schuhen <strong>und</strong> dem st<strong>ein</strong>igen Weg zuzuschreiben<br />
ist. Nur die äußerst animierte „Nega fulô“ tanzt<br />
aus der Reihe. Sie hat der glänzenden Schwärze<br />
mit Schuhcreme nachgeholfen <strong>und</strong> trägt zum<br />
trägerlosen Oberteil aus grell farbiger „Chita“<br />
(buntbedruckter, brasilianischer Baumwollstoff)<br />
<strong>ein</strong>en frech verwegenen Hut mit dem selben<br />
Blumenmuster. Sie tanzt außer Rand <strong>und</strong> Band.<br />
Unter der schlecht aufgetragenen Schicht<br />
schwarzer Schminke verraten stramme Schenkel<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong>e abgeflachte Nase das Indioblut des<br />
lokalen Caboclos. Die zusammengelaufene<br />
Menschenmasse begleitet, ganz wie es beim<br />
Karneval Brauch ist, den „Trio Elétrico“ <strong>ein</strong> Stück<br />
weit. Die Zuschauer werden, fröhlich vor sich hin<br />
schwitzend, mit heißen Küssen bedacht. Maskuline<br />
Lippenpaare, von ungelenken Händen schrill mit<br />
grellem Lippenstift nachgezeichnet verteilen sie<br />
vorurteilslos. Doch bald gibt man sich von der<br />
Hitze besiegt <strong>und</strong> zieht sich, immer noch leise<br />
kreischend <strong>und</strong> kiecksend, jede wieder in s<strong>ein</strong><br />
Haus zurück.<br />
Gleich setzt auch der nächste Regen <strong>ein</strong>. Er setzt<br />
s<strong>ein</strong> hinterlistiges Zerstörungswerk fort, leckt da<br />
an der Schuhcreme, wäscht hier <strong>ein</strong> wenig<br />
Schweiß von mehr oder weniger muskulösen<br />
Oberkörpern, den selben, die die ganze Zeit<br />
drohen, ihre Winzkostüme, Bikinioberteile nur,<br />
zu zersprengen.<br />
All das an <strong>ein</strong>er der vielen Buchten, an der Baía<br />
do Sol, die seit Urzeiten von den schlammigen<br />
Wassern des Amazonas gebadet wird. Überreste<br />
<strong>ein</strong>es, wie sie erzählen, glanzvollsten Karnevals<br />
Brasiliens, <strong>ein</strong> gesellschaftlicher Höhepunkt,<br />
lange im Voraus geplant, organisiert <strong>und</strong><br />
zelebriert. Die Bälle fanden in den schicken<br />
Clubs, in der ganzen Stadt verteilt, statt. Die<br />
meisten verkleideten sich als Pierrot, Kolumbine<br />
oder Harlequim, aber es gab auch Bahaianas,<br />
Türken oder gar <strong>ein</strong>en Tiroler. Das Stadtzentrum<br />
war für den „Corso“, den Umzug karnevalesk<br />
geschmückt: Masken, <strong>ein</strong>ige lustig, <strong>ein</strong> schrilles<br />
Lachen hier, andere traurig, <strong>ein</strong>e zerdrückte<br />
Träne da <strong>und</strong> viele buntfarbene Lichter. Auf der<br />
Straße war alles erlaubt, alles möglich. Es gab<br />
Umzüge mit Konfetti- <strong>und</strong> Luftschlangenschlachten<br />
<strong>und</strong> viele benutzten „Lança perfume“ (Ein<br />
Spray, der die Mischung aus chemischen<br />
Lösungsmitteln <strong>und</strong> Parfüm in <strong>ein</strong>en eisigen<br />
Strahl verwandelt, heute verboten, da als Droge<br />
missbraucht), oder Schlimmeres, um das andere<br />
Geschlecht auf sich aufmerksam zu machen.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 978
Jeder Karneval hatte s<strong>ein</strong>e „Marschinha“<br />
(Märschchen, Karnevalsmusik, oft mit lustiganzüglichen<br />
Texten), die alle auswendig kannten<br />
<strong>und</strong> mitsangen. Wer k<strong>ein</strong>e der so begehrten<br />
Einladungen zu <strong>ein</strong>em der Bälle ergatterte, behalf<br />
sich mit <strong>ein</strong>em kreativen Trick, erfand irgend<strong>ein</strong>en<br />
Kniff, um das Fest zu „löchern“, „furar a festa“,<br />
(sich ohne Einladung Eintritt verschaffen) um sich<br />
doch noch unter die närrischen Narren zu<br />
mischen.<br />
Bis heute erzählen sie davon, hochzufrieden <strong>und</strong><br />
sehnsüchtig, dann, wenn sie von Weitem <strong>und</strong><br />
über die Bierbäuche hinweg dem Umzug<br />
zuschauen. Besonders stolz sind sie, wenn es<br />
ihnen zudem noch gelang, <strong>ein</strong>e „boca livre“,<br />
(Freier M<strong>und</strong> = Essen <strong>und</strong> Trinken auf Kosten des<br />
Hauses) zu ergattern. Aber leider sind die Zeiten<br />
nun anders <strong>und</strong> die Bierbäuche oder Farinhapneus<br />
erlauben es ihnen nicht mal mehr die<br />
irgendwo ausgeliehenen Bikinioberteile hinten<br />
auch wirklich zuzuhacken. Es ist halt wirklich<br />
nichts mehr wie früher….<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 979
Der Block der Prinhas verspricht 10 St<strong>und</strong>en Karneval<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 980
Strassenkarneval<br />
Der Dresscode ist klar: Shorts, bequeme Schuhe<br />
oder gutsitzende Sandalen <strong>und</strong> <strong>ein</strong> unauffällig<br />
schlichtes Shirt. K<strong>ein</strong>e Tasche, k<strong>ein</strong>e Accessoires,<br />
nichts was irgendwie auffallen könnte! Bin zwar<br />
nur zur Generalprobe <strong>ein</strong>geladen, als unbeteiligte<br />
Statistin, aber der Karneval ist echt, die Animation<br />
<strong>und</strong> die Spannung schon fast auf dem Höhepunkt.<br />
Es fehlt nur noch <strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Woche, bis es Ernst<br />
wird <strong>und</strong> man um Aufstieg <strong>und</strong> Fall <strong>und</strong> damit<br />
natürlich viel Sponsorgeld, auch von der Stadt, im<br />
Sambódromo von Manaus mit anderen<br />
Karnevalsblocks wie dem der Piranhas rivalisiert.<br />
Heute trainiert man allerdings, wie früher, auf der<br />
Straße. Dass man auch hier im Norden <strong>ein</strong>en<br />
Karneval hat, zeigt dieser Umzug, organisiert <strong>und</strong><br />
ausrichtet von <strong>ein</strong>er der vielen Kommunen,<br />
„Comunidades“, wie sich die Bewohner populärer<br />
Stadtteile selber bezeichnen, in dem sich alle<br />
Karnevalverrückten zusammenfinden. Falls ich<br />
mich aktiver beteiligen wollte, könnte ich mir, wie<br />
nun überall, <strong>ein</strong>es der vielen buntschillernden<br />
Kostüme kaufen. Mich damit unter die wilden<br />
Narren mischen. Dir sind gar nicht so wild,<br />
sondern eigentlich sehr gut organisiert.<br />
Karneval ist, hinter den Kulissen, sehr seriös.<br />
Geprobt wird seit Wochen jeden Samstag. Es<br />
fehlen weder die Trommler der Band, der Sänger,<br />
der den Rhythmus vorgibt, noch die lokale<br />
Schönheit. Sie ist ihres perfekten Körpers wegen<br />
oder als hiesige Berühmtheit, <strong>ein</strong>e Art<br />
Maskottchen. Dazu auserkoren, leicht bekleidet,<br />
die Band mit viel Samba im Fuß <strong>und</strong> Federn überm<br />
kaum bedeckten Po zu Höchstleitungen<br />
anzufeuern. Der strahlende Chef des ganzen Zuges<br />
ist der gewitzte, öffentliche Angestellte. Der<br />
kurzkrempige Hut sitzt ihm, ganz 1950, ganz oben<br />
auf dem schon ziemlich kahlen Kopf. Das karierte<br />
Hemd spann sich etwas über dem Embonpoint.<br />
Zur gedeckten Hose trägt er f<strong>ein</strong>e, transparente<br />
Helancasocken <strong>und</strong> gut gewienerte schwarze<br />
Schuhe. S<strong>ein</strong>e sehr blonde, sehr fre<strong>und</strong>liche<br />
Gemahlin steht ihm, schon wieder ist Not am<br />
Manne, sofort zur Seite.<br />
Der Stadtteil heißt, wie passend, „Coroado“, der<br />
Gekrönte, <strong>und</strong> wir sind, klar, die aller<strong>ein</strong>zigen<br />
Gringas. Wohl auch die <strong>ein</strong>zigen, die mit dem Auto<br />
anfahren. Das Statussymbol hier ist das Motorrad.<br />
Rittlings wird es gerne zur Schau gestellt. Gleich da<br />
am Straßenrand der <strong>ein</strong>fachen Geschäfts- <strong>und</strong><br />
Wohnstraße. Alle Motos sind auf Hochglanz<br />
poliert, alle aggressiven Ecken <strong>und</strong> spitzen Kanten,<br />
direkt von japanischen Comics inspiriert,<br />
chromblitzend.<br />
Alle sind schon bereit, fiebern dem Umzug<br />
entgegen, der hier lang kommen soll. Endlich<br />
hören wir von weitem das rhythmische Trommeln.<br />
Schon tanzen sie direkt vor uns, die<br />
Fahnenträgerin <strong>und</strong> ihr Partner der „Comissão de<br />
Frente“. Dann die Gruppe junger Männer, ganz auf<br />
ihre etwas feminisierte Choreografie<br />
konzentriert. Schwingen ihre Kartonröhren <strong>und</strong><br />
Pappschilde, die wohl Waffen symbolisieren.<br />
Schwitzen ihre Shirts durch. Preschen<br />
geschlossen vor, ziehen sich zurück, stecken auf<br />
Kommando alle ihre Röhren in <strong>ein</strong>e mitgetragene<br />
Kartonschachtel <strong>und</strong> schon zieht, elektrisierend,<br />
der ganze restliche Zug, die Band an uns vorbei.<br />
Auch die Zuschauer fiebern mit. Die jungen<br />
Mädchen, alle frisch geduscht <strong>und</strong> hübsch<br />
zurechtgemacht. Die jungen Männer reiten stolz<br />
ihre Motos, gleich da auf dem Bürgersteig<br />
aufgebockt. Die Fußgänger winden sich um die<br />
scharfen Kurven <strong>und</strong> verchromt in der<br />
Dunkelheit blitzenden Zacken herum.<br />
M<strong>ein</strong>e Bedenken verfliegen. Wir fallen im wilden<br />
Getümmel gar nicht weiter auf. Das ganze Viertel<br />
ist auf den B<strong>ein</strong>en. Auch Kind <strong>und</strong> Oma, <strong>ein</strong> Baby<br />
gar im himmelblauen Kinderwagen, vielleicht <strong>ein</strong><br />
Geschenk irgend<strong>ein</strong>er Patronin. Wieder <strong>und</strong><br />
wieder lassen wir den ganzen Zug an uns<br />
vorbeiziehen. Wehe, wenn sie losgelassen! Das<br />
gazellenschlanke Mädchen, das die Schnur der<br />
Abschrankung hochhält, fällt zusammen mit den<br />
drei köstlich r<strong>und</strong>en Popozudas in den Samba.<br />
Sie rollen ihre Hintern um die Wette. Der<br />
androgyne, bis zum Gürtel nackte Travestie<br />
schüttelt s<strong>ein</strong>e strammen, festen Brüstchen noch<br />
<strong>und</strong> noch <strong>ein</strong>mal. Das Paar mit der Fahne, gelb<br />
<strong>und</strong> grün, stimmt elegant <strong>und</strong> konzentriert ihre<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 981
Tanzschritte auf<strong>ein</strong>ander ab. Lässt die goldbetresste<br />
Fahne hin <strong>und</strong> her wehen, verbeugen<br />
sich, teilen Kusshändchen aus. Die “Madrinha da<br />
Bateria”, schon im Glitzerkleid <strong>und</strong> auf extra<br />
hohen, dreifachen Plateausohlen, fegt<br />
noch <strong>ein</strong>en Samba auf den Asphalt. Die schon<br />
etwas angejahrte Dame da drüben hat ihre<br />
besten Satinshorts rausgesucht. Sie wiederholen<br />
den selben Goldton ihres üppig blondiertes<br />
Haares. Dazu trägt sie das grellfarbene Shirt <strong>ein</strong>es<br />
vergangenen Karnevals. In Pantöffelchen tanzt sie<br />
ausgelassen bei den Baianas mit.<br />
Immer wieder versperren Hindernisse den Weg.<br />
Der schmale Bürgersteig wird gerade von <strong>ein</strong>er<br />
Hähnchen- <strong>und</strong> Spießebräterei verstellt. Die<br />
fetten Happen schwitzen unter dem grellen Licht<br />
<strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zelnen Glühbirne in <strong>ein</strong>em Metallkasten<br />
vor sich hin. Die Zaungäste auf der gegenüber<br />
liegenden Straßenseite haben es sich hoch auf der<br />
Abschrankung der öffentlichen Schule bequem<br />
gemacht. Genießen das Geschehen aus<br />
privilegierter Höhe. Der „Puxador de Samba“<br />
schreit den immergleichen Samba in <strong>ein</strong>er<br />
Endlosschleife ins Mikrofon. Die Trommler <strong>und</strong><br />
Trommlerinnen geben ihr Bestes. Der Samba reißt<br />
alle mit. Die meisten singen den Text durch alle<br />
Strophen hindurch auswendig mit.<br />
Kurz vor dem Ziel, gleich um die Ecke liegt die<br />
großzügige Baracke der Gem<strong>ein</strong>schaft, haben <strong>ein</strong><br />
paar Mädchen ihre Plastikstühle auf die Straße<br />
gestellt. Sie sind, wie alle andern, im Rahmen ihrer<br />
eher beschränkten Finanzen sorgfältig <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>fallsreich nach den neuesten Trends<br />
aufgebrezelt.<br />
Erschöpft suchen wir uns <strong>ein</strong>en Ort, um uns zu<br />
erfrischen. Das <strong>ein</strong>zige Lokal, <strong>ein</strong>e Bäckerei mit<br />
Bar oder Bar mit Bäckerei, hat <strong>ein</strong>en leeren<br />
Wackeltisch. Zufrieden lassen wir uns in die<br />
Plastikstühle fallen. Das Menü ist von Hand an die<br />
Hinterwand gepinselt. Vier endlose Listen, die<br />
Buchstaben aufwendig abschattiert, rot/blau.<br />
Drüber kündet die frohe Botschaft: Jesus ist das<br />
Brot des Lebens. Zum Trinken gibt’s Guarana Baré,<br />
<strong>ein</strong>e lokale Marke, in der gläsernen Pfandflasche,<br />
oder Wasser.<br />
Nach <strong>ein</strong>em Schluck lassen wir alles nochmal<br />
Revue passieren. Am allerbesten haben uns die<br />
liebevoll designten Kostüme gefallen, alle im<br />
Clubhaus ausgestellt. Die Thematik der<br />
verschiedenen Blöcke sind überaus inspiriert. Da<br />
gibt es den Wagen, der das Licht <strong>und</strong> die<br />
Dunkelheit symbolisiert. Dann kommen Vögel <strong>und</strong><br />
ihre Eier, der Pirarucu, der Stockfisch des<br />
Amazonas, die Maul- <strong>und</strong> Klauenseuche <strong>und</strong> die<br />
Impfung <strong>und</strong>, als krönender Abschluss, die Hände,<br />
die arbeiten! Alles sozusagen wortwörtlich in<br />
bunteste Farbsymphonien <strong>und</strong> ansprechende,<br />
symbolträchtige Verkleidungen umgesetzt. Nur<br />
das eher entblößend, denn verhüllende Kostüm<br />
der Madrinha da Bateria ist Schwarz wie die<br />
Nacht.<br />
Schade, dass ich bei der Premiere nicht dabei<br />
s<strong>ein</strong> werde, denn es verspricht <strong>ein</strong> wirklich<br />
volkstümlicher, ursprünglicher Karneval zu<br />
werden, dem nichts fehlt, weder Ballett noch<br />
Travesties, weder lokale <strong>und</strong> gar überregionale<br />
Schönheiten noch Rhythmus.<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 982
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Das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit<br />
Der Festplatz ist Tage vorher schon r<strong>ein</strong> gefegt<br />
<strong>und</strong> strahlend bunt herausgeputzt. Der<br />
Gastgeber oder die Gastgeberin hat sich nicht<br />
lumpen lassen. Zwei Maste, <strong>ein</strong>er mit den<br />
traditionellen mehrfarbigen Laternen, der andere<br />
voller Früchte, kunstvoll zwischen die grünen Äste<br />
geb<strong>und</strong>en, sind schon aufgerichtet <strong>und</strong><br />
geschmückt. Das Fest kann beginnen. Die kl<strong>ein</strong>e<br />
Kapelle, sie bietet nur wenigen Gläubigen Platz,<br />
dem harten Kern sozusagen, ist <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e<br />
Palmstrohhütte. Auch sie ist feierlich hergerichtet,<br />
viel Grün, primärfarbenes Seidenpapier, kunstvoll<br />
<strong>ein</strong>geschnitten, gestaucht, gefaltet oder in fragilie<br />
Fransen gestückelt. Selber gemachte <strong>und</strong> echte<br />
Blumen mischen sich unter die grellfarbenen,<br />
künstlichen. Den Baldachin über dem Altar<br />
schmücken drei weiße Kreuzl<strong>ein</strong>.<br />
Blenden wir zurück. Da hinten, etwas zurückversetzt,<br />
die Freiluft-Gem<strong>ein</strong>schafts-Küche. Neben<br />
dem geistigen wird auch sehr gut für das leibliche<br />
Wohl gesorgt. Von der Kapelle geht’s gleich zum<br />
geselligen Festmahl. Hier werden an drei<br />
Abenden alle verköstigt, die Teil des Festes s<strong>ein</strong><br />
wollen. Noch ist das kl<strong>ein</strong>e Frühstück abgedeckt.<br />
Es gibt zu viele Fliegen. Die <strong>ein</strong>geschrumpften,<br />
zartgliedrigen Matriarchinnen sitzen wartend auf<br />
wackligen Plastikstühlen. Dann zeigen die<br />
Böllerschüsse, gleich hinter dem Festplatz<br />
abgefeuert, dass die Prozession nicht mehr weit<br />
s<strong>ein</strong> kann. Sie weisen mir den Weg. Da, über den<br />
Feldweg werden sie kommen.<br />
Die weiße <strong>und</strong> die rote Fahne sind nicht zu<br />
übersehen. Gleich dahinter das Symbol der<br />
Dreifaltigkeit, mitgetragen auf <strong>ein</strong>er reich <strong>und</strong><br />
bunt geschmückten Bahre. Eine Trompete singt,<br />
die Saxofone fallen <strong>ein</strong> <strong>und</strong> die Trommler schlagen<br />
dumpf den Takt. Schon hält die Gastgeberin mit<br />
durchgedrücktem Rücken <strong>und</strong> in sich verschlossen<br />
das mit lang flatternden Satinbändern geschmückt<br />
Heiligtum, <strong>ein</strong>e Krone, <strong>ein</strong>e winzige Taube mit<br />
offenen Flügeln über der Weltkugel <strong>und</strong> <strong>ein</strong><br />
Zepter, auf dem Schoß.<br />
Nun gilt es die Masten aufzurichten. Viele Hände<br />
haben ihn unter viel Gelächter mit frischen<br />
Zweigen, Früchten <strong>und</strong> auch Hochprozentigem<br />
geschmückt. Das Durch<strong>ein</strong>ander ist garantiert.<br />
N<strong>ein</strong>, so rum! Halt! Sich widersprechende<br />
Aufforderungen, Witze, unterschiedlichsten<br />
Einwürfe <strong>und</strong> Sprüche machen das Aufrichten<br />
nicht <strong>ein</strong>facher. Endlich übernimmt <strong>ein</strong> Einziger<br />
das Kommando. Wer ganze Mast wird um 180<br />
Grad gedreht, das halbe Dutzend kräftiger Männer<br />
steht sich allerdings immer noch auf den Füßen<br />
herum. Dann noch ganz am anderen Ende<br />
kunstvoll mit <strong>ein</strong>er Leiter nachgeholfen <strong>und</strong><br />
endlich steht er. Kerzengerade. Die silberne Taube<br />
ganz, ganz oben blitzt in der Sonne. Die weiße<br />
Fahne knallt mal, nur so zur Probe. Ein paar<br />
Gebete, die obligaten Ladainhas. Die Prozession<br />
formt sich <strong>und</strong> alle umschreitet mehrmals den<br />
Mast. Die kl<strong>ein</strong>e Zeremonie wird sich noch<br />
mehrmals wiederholen, jeden Abend. Dann wird<br />
das Frühstücksbuffet eröffnet.<br />
Abends dann, die Nacht ist dunkelbraun, ist die<br />
Stimmung andächtig. Der Singsang der<br />
Ladainhas, <strong>ein</strong>ige in Lat<strong>ein</strong>, die kl<strong>ein</strong>e Andacht,<br />
die Frömmigkeit sind echt. Ich bin die <strong>ein</strong>zige<br />
Außenstehende. Wieder formt sich die<br />
Prozession. Schreitet aus, die Fahnen an der<br />
Spitze, zieht ihre Kreise um die Masten. Kinder<br />
tragen Kerzen. Andächtig wird gesungen.<br />
Am nächsten Morgen fahre ich zufällig vorbei.<br />
<strong>Foto</strong>grafiere den w<strong>und</strong>erschönen kl<strong>ein</strong>en Stier.<br />
Weiß, s<strong>ein</strong>e sanften schwarzen Augen werden<br />
von langen Wimpern beschattet. Betrete die<br />
kl<strong>ein</strong>e Kapelle, die ich ganz für mich habe.<br />
<strong>Foto</strong>grafiere die Details, das liebevoll zurecht<br />
geschnittene Seidenpapier, die sorgfältig<br />
symmetrisch drapierten Baldachine. Die<br />
seitlichen Stützen des Baldachins sind mit farbig<br />
geringten, Seidenpapierhüllen verziert. Dazu<br />
wurde das Papier <strong>ein</strong>geschnitten <strong>und</strong> dann hoch<br />
gestaucht. Das gibt Volumen. Die kl<strong>ein</strong>en<br />
Papierröschen <strong>und</strong> die Vergissm<strong>ein</strong>nicht, so<br />
kitschblau umrahmen den Ort, wo bei der<br />
Zeremonie das Allerheiligste hingelegt wird.<br />
Spüre <strong>ein</strong>e Bewegung im Rücken. Es ist die<br />
Gastgeberin. Auf dem Arm das Dreifaltigkeitssymbol.<br />
M<strong>ein</strong>e <strong>Foto</strong>s sollen so komplett<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 990
wie möglich werden. Lichte die Satinbänder in<br />
Primärfarben ab, den kl<strong>ein</strong>en Baldachin mit den<br />
blauen Papierfransen, noch schriller <strong>und</strong><br />
w<strong>und</strong>erbarer im klaren Licht des Tages.<br />
Dann nehmen sie mich in die Küche mit. Da wird<br />
gerade <strong>ein</strong> Schw<strong>ein</strong> geschlachtet. Auf freiem Feld,<br />
der Tisch ist improvisiert. Kunstfertig wird es<br />
zerteilt. Aus den klitzekl<strong>ein</strong> geschnittenen<br />
Innereien, Herz, Lunge, die Nieren, macht man<br />
hier „Sarapatel“, <strong>ein</strong> gut gewürzter, mit Tomaten<br />
<strong>und</strong> viel Paprika lange geschmorter Eintopf. Auch<br />
dem Stier ist es ans Lebendige gegangen. Auch<br />
s<strong>ein</strong> nicht gerade zartes Fleisch wird langsam<br />
geschmort, st<strong>und</strong>enlang, viele, viele Gäste gilt es<br />
heute Abend satt zu kriegen.<br />
ausmachen, gut durchmischt <strong>und</strong> durchgeschüttelt,<br />
sind da <strong>und</strong> faszinieren nicht nur die<br />
ausländische Zuschauerin.<br />
Nächstes Jahr bin ich wieder da, die Dreifaltigkeit<br />
erwartet mich.<br />
Es ist immer der selbe reduzierte Kreis, der sich<br />
trifft. Ein paar Altchen, die Enkel, viele Frauen<br />
aber auch überraschend viele Männer. Beten die<br />
Ladainhas herunter, gefasst, in sich gekehrt. Knien<br />
nieder <strong>und</strong> küssen die Bänder, die am Allerheiligsten<br />
festgeb<strong>und</strong>en sind. Folgen den Fahnen,<br />
der weißen <strong>und</strong> der roten, feierlich um den Mast<br />
herum. Noch <strong>ein</strong> Kreis. So, wie es immer schon<br />
war.<br />
Der Nachwuchs ist unter ihnen. Wer weiß, ob sie<br />
die Traditionen der Heiligen Dreifaltigkeit<br />
weiterführen. Die Gr<strong>und</strong>zutaten jedenfalls, die<br />
religiösen <strong>und</strong> die weltlichen, die <strong>ein</strong> Fest<br />
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Junifeste<br />
Eine prominent angebrachtes Spruchband kündigt<br />
es seit <strong>ein</strong>er Woche an. Am Samstag ist Junifest!<br />
Hier im Norden <strong>ein</strong> Großereignis. Seit früh<br />
morgens ist die schmale Hauptstraße gesperrt.<br />
Schon flattern quer über die Straße gespannt die<br />
vielen Reihen bunter Wimpel im Wind. Aber nur<br />
nach dem Einfallen der Nacht kommt so recht<br />
Betrieb auf. Die tagsüber hingestellten<br />
Eisenkonstruktionen bekommen Farbe,<br />
Holzkohlengrills werden angefacht, rechts <strong>und</strong><br />
links die Straße hoch bereiten sich die kl<strong>ein</strong>en<br />
Baracken auf den Ansturm vor. Handgeschriebene<br />
Speisekarten bieten die traditionellen<br />
Junifestspeisen an: Weißer Maisbrei, Liebesäpfel,<br />
Vatapá, Freilaufhühnchen <strong>und</strong> viele andere. Aber<br />
auch kl<strong>ein</strong>e Fleischspießchen, liebevoll<br />
Katzenbarbecue genannt <strong>und</strong> Tapiocas, sorgfältig<br />
<strong>ein</strong>zeln in Bananenblätter <strong>ein</strong>gerollt, dürfen nicht<br />
fehlen. Da, auf der kl<strong>ein</strong>en Bühne wird die<br />
Musikgruppe spielen. Sie spielt ausgezeichnet.<br />
Das ist bemerkenswert, denn ihre Mitglieder<br />
gehen die restliche Zeit des Jahres ganz normalen<br />
Berufen nach. Ein Teil des Asphalts füllt sich mit<br />
Tischen <strong>und</strong> Stühlen, der Rest bleibt frei. Hier<br />
werden verschiedene Gruppen tanzen.<br />
Ganz Brasilien feiert die Junifeste, <strong>ein</strong>e Tradition<br />
aus Portugal mitgebracht, heute auch deutlich<br />
modifiziert, modernisiert <strong>und</strong> adaptiert. Die Feste<br />
werden zu Ehren dreier Heiligen gefeiert, jeweils<br />
am Namenstag deselben. São António am 13. Juli,<br />
São João am 24. <strong>und</strong> São Pedro am 29. Juli. In<br />
manchen Städten oder Dörfern ist es nur die<br />
Nachbarschaft, die zusammen feiert, aber in<br />
anderen gibt es <strong>ein</strong>en richtigen Tanzwettbewerb<br />
mit Gewinnern, die von <strong>ein</strong>er Jury ausgesucht <strong>und</strong><br />
prämiert werden. Hier im Norden, wo sie sehr<br />
gerne <strong>und</strong> kompetent feiern, ist so <strong>ein</strong> Fest immer<br />
<strong>ein</strong> Erlebnis.<br />
Das ganze Dorf ist auf den Füßen. Viele Kinder sind<br />
kostümiert. Der Brauch will, dass die Junifeste<br />
bäuerliche Feste sind, Feste der Hinterwäldler. Die<br />
Mädchen tragen Affenschaukeln mit großen<br />
Maschen <strong>und</strong> Blumenkleider, die Jungen Schnauzbart<br />
mit Brauenstift aufgemalt, Karohemden <strong>und</strong><br />
<strong>ein</strong>fache Strohhüte. Die <strong>ein</strong>fallsreichen, raffiniert<br />
ironischen Kostümierungen der Tänzer <strong>und</strong><br />
Tänzerinnen aber überstrahlen alles. Noch sind die<br />
Röcke hochgeschürzt. Weit wie Räder werden ihre<br />
wallenden Säume bald den Asphalt wischen.<br />
Andere Gruppen setzen auf üppig Kniekurzes,<br />
gestärkt <strong>und</strong> tüllverstärkt stehen die Röckchen<br />
weit ab. Wichtig ist, dass die Kostümierung<br />
farbenfroh ist, reich bestickt <strong>und</strong> viele Volants,<br />
Rüschen oder Spitzen hat. Im Kontrast dazu die<br />
hautengen Tops oder Boleros, oft bauchfrei, auch<br />
die der Männer. Halb Hinterwäldler, halb barocke<br />
Disneyprinzessin oder Prinz, Knappen, ganz wie‘s<br />
beliebt, hauptsächlich schreiend, fröhlich,<br />
ausgelassen. Die Frauen tragen die Haare kunstvoll<br />
hochgesteckt, w<strong>und</strong>erbare Arrangements, Tiaras,<br />
Kronen. An Perlen, Glanz <strong>und</strong> Glitzer wird nicht<br />
gespart. Die Männer in den traditionellen kurzen<br />
Jacken über nackter Brust <strong>und</strong> Dreiviertelhosen.<br />
Auch die ursprünglichen Strohhüte dürfen nicht<br />
fehlen, natürlich auch überaus farbenfroh<br />
verziert. Das Kostüm der Tanzgruppe wird von<br />
der Jury neben der Tanzdarbietung mit beurteilt.<br />
Wer am meisten Aplaus, die verrückt-buntkitschigsten<br />
Kostüme <strong>und</strong> natürlich die beste<br />
Tanzdarbietung auf den Asphalt legt, gewinnt.<br />
Die Musik legt los, die komplizierte Choreografie<br />
sitzt, wogt hin <strong>und</strong> her, alle haben sie im Kopf,<br />
verinnerlicht bis in die Finger- <strong>und</strong> Zehenspitzen.<br />
Manche tanzen Carimbó andere <strong>ein</strong> paar von den<br />
traditionellen Junifestmelodien. Die Röcke<br />
fliegen, drehen <strong>und</strong> bauschen sich im sinnlichen<br />
Tanz. Auch die jungen Männer lassen sich nicht<br />
lumpen. Alle Tanzgruppen sind aus Laien<br />
zusammen gesetzt. Jeder kann mitmachen.<br />
Jüngere, Molligere, die meisten mit indigenen<br />
Zügen, alle mit viel Talent, Verve, Rhythmus. Im<br />
normalen Leben sind sie Maurer oder Elektriker,<br />
Bootsführer oder Verkäufer. Schau, da hat sich<br />
schon der obligate Straßenköter, n<strong>ein</strong>, diesmal<br />
ist es <strong>ein</strong>e Katze! zwischen die stampfenden<br />
B<strong>ein</strong>e verlaufen.<br />
Auch der Humor hat s<strong>ein</strong>en Platz. Dann nämlich,<br />
wenn die „Vaca Lusa“, die Lusitanische Kuh<br />
auftritt. Sie bringt <strong>ein</strong>e riesige Schar Kinder mit,<br />
alle kostümiert. Und nicht nur als traditionelle,<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1004
hochschwangere Braut <strong>und</strong> heiratsunwilliger<br />
zukünftiger Schwiegersohn. N<strong>ein</strong> auch als<br />
messerschwingender Vater der Braut, der gleich<br />
den Priester mitgebracht hat. Das Bräutchen ist<br />
perfekt besetzt <strong>und</strong> verkleidet. Spindeldürr <strong>und</strong><br />
hoch aufgeschossen geben ihr zwei Ballone, <strong>ein</strong>er<br />
vor den Bauch geb<strong>und</strong>en, der andere als kurviger<br />
Hintern die nötige Glaubwürdigkeit.<br />
Für lokalen Kontext sorgen der „Urubu Malando“,<br />
der Nichtstuer-Aasgeier, verliebt in die „Garça<br />
Namoradeira“ die flitterhafte Frau Reiher. Sie<br />
tragen w<strong>und</strong>erbar zerzauste Federkleider, das<br />
ihre entsprechend knapp bemessen, <strong>und</strong><br />
schnäblige Masken. Beide tanzen wie zwei<br />
Wirbelwinde. Nur der „Curandeiro“, der Heiler<br />
mit s<strong>ein</strong>em furchterregenden Make-up <strong>und</strong> den<br />
effektvollen Sprüngen stellt sie alle in den<br />
Schatten. Aber da kommt sie schon, die<br />
Lusitanische Kuh, die „Vaca Lusa“. Weiß, schwarz<br />
gefleckt, an den gekrümmten Hörnern Glitter, die<br />
B<strong>ein</strong>e des Mannes, der sie trägt, von <strong>ein</strong>em<br />
schrillgrünen Volant mehr schlecht als recht<br />
versteckt, vollführt sie ihre tollen Hüpfer, bis sie<br />
dann vom Bauer, was für <strong>ein</strong> Unglück,<br />
niedergestreckt wird. Die Frau des Bauers ist<br />
schwanger <strong>und</strong> nichts gelüstet sie mehr als <strong>ein</strong>e<br />
frische Rinderzunge. Aber kaum ist ihr Tod<br />
betrauert, kommt schon die w<strong>und</strong>ersame<br />
Rettung. Sie wird unter den anfeuernden Rufen<br />
des Ansagers wiedererweckt <strong>und</strong> tanzt noch <strong>ein</strong>e<br />
lustige R<strong>und</strong>e, zusammen mit dem ganzen<br />
Kinderreigen <strong>und</strong> den schwarzen Fre<strong>und</strong>innen,<br />
auch sie Kühe, schwarz, weiß gescheckt.<br />
Irgendwann, sehr viel später gilt es dann Abschied<br />
zu nehmen. Aber das Jahr hat noch <strong>ein</strong> paar<br />
andere Festlichkeiten auf Lager. Schon sieht man<br />
sich wieder.<br />
Lädt<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1005
Feierlichkeiten zu Ehren São Pedros des Heiligen der Fischer<br />
29. Juni - Santarém <strong>und</strong> Alter do Chão<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1006
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1007
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1008
São Pedro 2015, Santarém<br />
<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 1009
São Pedro, Alter do Chão<br />
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São Pedro 2016, Alter do Chão<br />
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São Pedro 2017, Alter do Chão<br />
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Prozession der Fischer zu Ehren von São Pedro, Santarém<br />
Endlich legt die Manelito II ab. In ihrem Bauch<br />
reiht sich der Chor der Sänger <strong>und</strong> Sängerinnen,<br />
alle Fischer, Mitglieder der Fischerkooperative<br />
Z 20 auf. Schon legt <strong>ein</strong>es der Saxofone klagend<br />
los, die Trompete fällt <strong>ein</strong>. Die Trommel <strong>und</strong> die<br />
mächtige Pauke schlagen den Takt. Frei schwingt<br />
sich die ungebildete Stimme über die k<strong>ein</strong>e<br />
Menschenmenge. Singt ab Blatt <strong>ein</strong>es der vielen<br />
Lieder zu Ehren des Schutzpatrons São Pedro, des<br />
heiligen Petrus, dessen Tag, den 29. Juni, sie<br />
heute zu Wasser feiern. Lustig flattern die<br />
schwalbenschwänzigen Fähnchen, aus billigem<br />
blauem <strong>und</strong> weißem Stoff an holzige Stöckchen<br />
genagelt, über die Reling, langsam von Hand zu<br />
Hand über´s Hauptschiff verteilt.<br />
Die Manelito II führt die Prozession zu Wasser an.<br />
Bedächtig nur, zögerlich bekommt der Umzug<br />
mehr Körper, mehr Substanz. Die Tage des<br />
heiligen Petrus sch<strong>ein</strong>en gezählt. Fischer ist k<strong>ein</strong><br />
erstrebenswerter Brotberuf mehr, es fehlt an<br />
Nachwuchs. Zudem sind viele der Bootsbesitzer<br />
evangelisch geworden, wie es <strong>ein</strong> anderer<br />
ausdrückt, <strong>und</strong> jagen damit anderen Mythen<br />
nach. Aber noch sind sie dabei, die São Pedro II,<br />
die Luara I <strong>und</strong> die Malouvida genauso wie die<br />
Veloso, die Aliança II <strong>und</strong> auch die Hafenfeuerwehr.<br />
Auch die Calypso Fashon, genauso mit<br />
Schreibfehler, lässt sich nicht lumpen. Die meisten<br />
Schiffe schmücken sich hoch auf dem Dach im<br />
Dreieck mit den traditionellen Wimpeln oder<br />
Papierstreifen. Die winzige Malouvida, nicht viel<br />
mehr als <strong>ein</strong> Ruderboot mit Motor, ist gar mit<br />
unendlich vielen lamettaglänzenden Streifen<br />
hochgeputzt, überragt von <strong>ein</strong>er Heiligenfigur, von<br />
<strong>ein</strong>er brasilianischen Flagge begleitet.<br />
Zum Schluss fahren im Kielwasser der Manelito II<br />
mehr als 60 weiße, blau abgesetzte Schiffe, Boote<br />
<strong>und</strong> Bötchen, die meisten festlich geschmückt.<br />
Alle folgen sie der kl<strong>ein</strong>en, holzgeschnitzten Heiligenfigur.<br />
Sie wurde, mit ziemlichem Aufwand,<br />
unter Stoßen <strong>und</strong> Ächzen ganz nach oben aufs<br />
Oberdeck buxiert. Steht da, stolze Kühlerfigur, nur<br />
von zwei nicht weniger stolzen Männern bewacht<br />
<strong>und</strong> den beiden Standarten flankiert, hoch oben<br />
über dem mächtigen Steuerrad des Kapitäns.<br />
In weitem Bogen geht es im Konvoi den Kais<br />
entlang, an den gesichtslosen Hochhäusern vorbei.<br />
Soeben fahren wir an der Fischerkolonie vorbei,<br />
wo von <strong>ein</strong>er riesigen Treppe aus viele bunt<br />
gewandete Menschen herüberwinken. Es geht an<br />
der antiken Kirche vorbei, dann hinaus auf den<br />
Fluss, breit wie <strong>ein</strong> Meer. Schon schneidet der<br />
Konvoi das braungraublaue Wasser, sticht noch<br />
weiter hinaus, da wo sich die blauen Wasser des<br />
Tapajós mit den schlammigen des Amazonas<br />
treffen, neben<strong>ein</strong>ander her fließen, sich irgendwo,<br />
viel weiter flussabwärts, ver<strong>ein</strong>igen. Noch<br />
unterhalten sich die Chorknaben <strong>und</strong> -mädchen<br />
über Gott <strong>und</strong> die Welt, tragen die strahlend roten<br />
Chorgewänder zusammengefaltet in den Händen.<br />
Das Kruzifix <strong>und</strong> die Glocken liegen ungebraucht<br />
auf <strong>ein</strong>em Brett. Bald schon, schon sind auf dem<br />
Rückweg, werden sie sie überstreifen. Sie helfen<br />
sich gegenseitig. Schon ziehen sie sich die<br />
Chorhemden über den weißen Kutten zurecht.<br />
Einer steckt das Kruzifix hoch auf <strong>ein</strong>e schmucklose<br />
Stange. Ein letztes <strong>Foto</strong> mit dem gezückten<br />
Handy.<br />
Auf der schmalen Bank hat sich das kl<strong>ein</strong>e<br />
Mädchen mit dem festlichen roten Satinkleid<br />
schon hingelegt, zu viel Fahrtwind, Hitze <strong>und</strong><br />
Sonne. Die Großmutter mit den indigenen<br />
Gesichtszügen streicht ihr leise das Kleidchen<br />
zurecht, am Arm die pinkfarbene Kindertasche in<br />
Tierform.<br />
Wieder am Kai folgen sie alle der kl<strong>ein</strong>en,<br />
holzgeschnitzten Heiligenfigur, nach <strong>ein</strong>igem hin<br />
<strong>und</strong> her wieder auf die Straße buxiert. Am Kai<br />
sorgt gar <strong>ein</strong>e Politesse in engem, grauem<br />
Uniformrock <strong>und</strong> Bluse für Ruhe <strong>und</strong> Ordnung.<br />
Der Aufwand lohnt kaum; zur Prozession sind<br />
fast nur Alte, Frauen <strong>und</strong> Kinder gekommen.<br />
Stolz warten sie auf die kl<strong>ein</strong>e Figur. Aber vorher<br />
kommen noch die Bannerträger, es sind zwei<br />
bestickte Banner, <strong>ein</strong>er der Cooperative, der<br />
andere die brasilianische Nationalflagge. Dann<br />
kommt auch das blau-weiße, <strong>ein</strong>seglige<br />
Miniaturboot. Es ist liebevoll <strong>und</strong> naturgetreu<br />
nachgebaut, mit <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>zigen Blumengirlande<br />
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verschönt, am Bug <strong>ein</strong>e Schnur mit aufgereihten<br />
schwalbenschwanzigen Fähnchen. Auf dem<br />
großzügigen Segel der heilige Petrus aufgedruckt.<br />
S<strong>ein</strong>e Statue, gleich dahinter mitgetragen, ragt<br />
kl<strong>ein</strong> <strong>und</strong> ernst aus dem Meer grellbunter<br />
Plastikblumen, hochsynthetisch, um so vieles<br />
bunter <strong>und</strong> damit um so viel schöner als echte. Er<br />
ist bärtig, mit Tonsur oder Glatze, s<strong>ein</strong>e Kutte<br />
sticht gegen die üppigen Girlanden ab, die vorne<br />
aus dem Tragegestell quellen <strong>und</strong> auch vom<br />
feierlichen Satinband, das sie ihm um den Saum<br />
gelegt haben. Schon im abendlichen Kupferlicht<br />
zieht dann die Prozession zur Kirche zur<br />
abschließenden Messe. Hin <strong>und</strong> wieder löst sich<br />
<strong>ein</strong>er, kniet nieder, küsst das Satinband vom Saum<br />
der Heiligenfigur, geht wieder in der Menge auf.<br />
Vor der Kirche, türkisblau, lauschen alle den aufbauenden<br />
Worten des vollständig versammelten<br />
lokalen Klerus. Die wartende Menge hat sich stark<br />
vergrößert. Auch die schwarze Getränkeverkäuferin<br />
<strong>und</strong> der Zuckerwattehändler mit s<strong>ein</strong>er<br />
grellbunten Ware halten ehrfürchtig still.<br />
für<br />
In der Erinnerung verschwimmt die gleißend aufs<br />
Kielwasser brechende Abendsonne mit den<br />
weißen, schwalbenschwänzigen Fähnchen <strong>und</strong><br />
den unzähligen Booten. Im Gegenlicht bilden sie<br />
<strong>ein</strong> gleichschenkliges Dreieck <strong>und</strong> verwischen sich<br />
zusammen mit den glitzernden Wassern zu <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong>zigen weiß-silbernen Symphonie.<br />
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Nationalfeiertag 7 de Setembro mit Parade<br />
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Immer Freitags<br />
Chorinho<br />
bei Dona Glória<br />
Alter do Chão
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Allerseelen, 2017<br />
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Der Tag nach Allerseelen, 2016<br />
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Círio de Nossa Senhora da Conceição<br />
Santarém, Pará<br />
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Tropische Weihnachten<br />
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<strong>Amazonien</strong><br />
Konzept, Recherche, <strong>Foto</strong>s <strong>und</strong> Texte <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> –<br />
susangeba@gmail.com<br />
Alle Rechte vorbehalten, copyright <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong><br />
Danke an alle, die mich zu diesem Werk inspirierten <strong>und</strong> sich in<br />
irgend <strong>ein</strong>er Form darin wiederfinden.<br />
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