Neue Szene Augsburg 2018-07
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ZOOM<br />
29<br />
Wenn <strong>Augsburg</strong> ein Wohnzimmer hat, ja, dann ist es angeblich<br />
der Rathausplatz, aber wenn es eine Küche hat, dann ist<br />
es sicher der Stadtmarkt. Und jetzt gerade bin ich sozusagen<br />
am Herd der Küche, in der Fleischhalle. Das ist der „augsburgerischste“<br />
Ort unserer Stadt. Der <strong>Augsburg</strong>er ist ja immer noch<br />
ein für viele unbekanntes Wesen, eine Art Phantom, wie der Deutsche oder der<br />
Schwabe. Man hat zwar ein ungefähres Bild von ihm, eine Vorstellung, eine<br />
Ahnung, ja, vielleicht sogar ein Ideal. Aber Ideale und Phantome sind bekanntlich<br />
flüchtig und vor allem oft Behauptungen statt harter Fakten.<br />
Aber ich glaube, hier und jetzt vor einem Teller Grießknödelsuppe sitzend,<br />
die ich unauffällig löffle, ich erahne die Seele der <strong>Augsburg</strong>er. Seele –<br />
ein großes Wort, ich weiß. Aber ich scheue mich nicht, es zu benutzen. Wenn<br />
ich mal wieder länger weg war und hier sitze, gegenüber dem Stand der<br />
Metzgerei Kranzfelder, spüre ich das, was ich als Gefühl eigentlich furchtbar<br />
rührselig, pathetisch, nervig und ausgelutscht finde, aber es ist eben wie es<br />
ist: Heimatgefühl. Angeblich ist Heimat ja kein Ort, was natürlich völliger<br />
Schwachsinn ist. Kaum etwas lässt sich so gut lokalisieren wie Heimat. Heimat<br />
ist überall da, wo man gerührt ist, wenn man die heimische Suppe löffelt<br />
und den Rentnern am Nebentisch zuhört. Gerade erläutert ein Rentner mit<br />
einem Blouson mit Picasso-Motiv einem anderen würdevoll und mit unterdrückter<br />
Erregung, welches Thema ihn heute besonders beschäftigt:<br />
Picasso: Bläsle hab i gern!<br />
Rentner : Ja, Bläsle, hmhm.<br />
Picasso: Ja, i muss sagn, Bläsle iss i gern!<br />
Rentner 2: Ja, Bläsle is scho guat.<br />
Picasso: Hab i friar net so gern gessa, aber heit scho.<br />
Rentner 2: Friar net, ha?<br />
Picasso: Friar net, abr heit ganz gern, so a guats Bläsle is was ganz was Feins!<br />
Rentner 2: Ja, scho was Feins, gell!<br />
Picasso: Ganz fein!<br />
Ach, so könnte es stundenlang weitergehen und das Schöne ist: wahrscheinlich<br />
tut es das auch. Dieser heilige Ernst, diese Vertieftheit in die kulinarischen<br />
Feinheiten der Region, dieses Reflektieren und die Aufmerksamkeit<br />
des Gesprächspartners und alles, und das ist das Rührende, alles ohne jede<br />
Ironie. Die älteren Herren hinter mir würden sich einer bahnbrechenden<br />
physikalischen Theorie oder einer biografischen Lebensbeichte wahrscheinlich<br />
mit derselben Passion widmen, wie der Frage nach der Lieblingswurst.<br />
Wobei das Thema der Lieblingswurst natürlich auch irgendwie biografisch<br />
ist. Oder die nach der Lieblingssuppe. Flädlesupp’ sag ich nur. Kann man sich<br />
Tragik, Not, Einsamkeit und Mühsal vorstellen, wenn es zugleich etwas wie<br />
Flädlesupp’ gibt? Kaum, zumindest nicht für die Dauer des Verzehrs.<br />
Ein anderes Kleinod des Stadtmarktes sind die Toiletten. Meines Wissens<br />
gibt es in der ganzen Stadt keine öffentlich zugänglichen Toiletten mehr, die<br />
ihrem Wesen nach denen des Stadtmarkts entsprechen. Will heißen: hier sitzt<br />
noch eine Toilettenfrau oder ein Toilettenmann vor der Tür, hinter der keine<br />
edlen Hochglanz-High-Tech-WCs warten. Hier ist die Zeit stehengeblieben,<br />
zum Glück. Die Wände sind gelb oder vielleicht auch weiß gefliest, je nachdem<br />
wie das Licht ist, aus dem Radio auf dem Tisch der Toilettenfrau oder des Toilettenmanns<br />
dringen die Verkehrsnachrichten von Bayern 1 und um die Ecke<br />
stehen die Damen von der Fleischerei und rauchen ihre Mittagspausenkippe.<br />
Sicher, auch hier ist nicht alles eitel Sonnenschein. Auch hier scheint es hie und<br />
da kleine Störungen der Harmonie zu geben. Darauf deutet zumindest der Zettel<br />
an der Toilettentür hin, aus dem sich, wenn man zwischen den Zeilen liest,<br />
eine Rüge lesen lässt.<br />
WER MIT DEN TOILETTEN NICHT ZUFRIEDEN IST, MÖGE SICH<br />
BITTE AN MICH PERSÖNLICH WENDEN! IHRE TOILETTEN FRAU<br />
Ja, vor dem inneren Auge kann man es sich gut vorstellen. Ein unguter<br />
Kunde, der aufgrund irgendeines Elements der Toiletten oder deren Pflege<br />
Gram empfand, wandte sich an eine höhere Instanz, wahrscheinlich an den<br />
verbeamteten Zufriedensheitsbeauftragten des Marktamts, und klagte. Der leitete<br />
die Beschwerde auf dem kurzen Dienstweg an die zuständige Toilettenfrau<br />
weiter, die sich den Rest des Tages, des Abends und auch der Nacht über die<br />
Rüge grämte und ihrer Verletztheit am nächsten Morgen in Großbuchstaben<br />
und mit wohlgesetzten Worten Ausdruck verlieh. Wo gibt es das denn noch?<br />
Wahrscheinlich bei den einfachen Leuten. Das ist gar nicht abwertend gemeint.<br />
Authentizität ist ja das große Modewort der Epoche. Alles soll echt sein, unverstellt.<br />
Aber natürlich soll es zugleich auch angenehm und warm und freundlich<br />
sein, gut, das schließt sich wahrscheinlich dann doch ein Stück weit aus.<br />
Ich habe zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass die Damen an den Blumenständen,<br />
weiß Gott warum, ein wenig, na, sagen wir barsch sein können.<br />
Dabei verkaufen sie doch mit die schönsten Waren des Stadtmarkts. Aber das<br />
ist natürlich naiv. Wer denkt, dass jeder, der schön duftende Waren verkauft,<br />
auch immer nur gut drauf ist, der soll einfach mal in eine Müller Drogerie<br />
gehen. Ganz anders dagegen ist es in der Obst- und Gemüsegasse. Da wartet<br />
das pralle Leben. Erdbeeren. Tomaten. Bananen. Orangen. Auch Sellerie. Auch<br />
Mangos. Auch Clementinen. Alle strahlen einen, zumindest wenn die Sonne<br />
scheint, so prächtig an, wie es kein Hochleistungspunktstrahler über der Obst-<br />
Gemüse-Auslage im Supermarkt zustande bringt. Am liebsten würde ich, nur<br />
um des Kaufen Willens, tausenderlei verschiedene Früchte kaufen und dann<br />
„<br />
mit großen Papiertüten durch die Stadt flanieren, mich ab und an hinsetzen,<br />
eine Clementine schälen und mich gut fühlen. Von mir aus kann die Clementine<br />
dann auch 50 Cent oder mehr kosten. Den Stadtmarkt betritt man ja nicht,<br />
weil man Quantität sucht, sondern ausgesuchten Genuss.<br />
Das ist der „augsburgerischste“<br />
Ort unserer Stadt.<br />
Noch besser wäre fast, wenn ich meinen mäßig bezahlten Job als Schreiber<br />
gegen den des uniformierten Stadtmarktaufsehers oder Polizisten oder<br />
so tauschte. Den gibt es wirklich. Es ist ein mittelgroßer, gemütlich wirkender<br />
Mann in den besten Jahren, der aufmerksam durch den Stadtmarkt flaniert,<br />
immer wieder von Händlern gegrüßt wird, schaut, ob alles seinen rechten<br />
Gang geht und verhindert, dass jemand mit dem Rad das Areal durchfährt.<br />
Ich würde meine Runde wahrscheinlich morgens bei Obst, Gemüse und Blumen<br />
beginnen, mich am Duft erfreuen, eine Kirsche stibitzen, dann an der<br />
gutmütigen Eierfrau vorbei zur Stadtmarktgaststätte gehen und dort erst mal<br />
frühstücken. Dann ausruhen und weiter zur Visite in die Viktualienhalle. Ein<br />
kleiner Espresso. Beim freundlichen Griechen die Zitronenoliven probieren,<br />
anerkennend nicken. Den neuen Gewürztraminer des Weinhändlers verkosten<br />
und zufrieden die Halle verlassen. Bei den Bäckereiständen gegenüber<br />
würde ich mit den fast ausnahmslos freundlichen Bäckereifachverkäuferinnen<br />
flirten, mir ein Teilchen schenken lassen und grüßend Richtung Brunnen vor<br />
der Fleischhalle schlendern. Irgendwas müsste ich natürlich auch mal monieren,<br />
sonst wäre meine amtliche Autorität durch das Dolce Vita zu sehr infrage<br />
gestellt. Vielleicht würde ich einen der wohlhabend wirkenden Pensionäre, die<br />
immer vor der Destille sitzen und Hugo etc. trinken und um mittags herum<br />
schon deutlich erkennbar angeheitert sind, vielleicht würde ich einen davon<br />
ermahnen, namentlich, man kennt sich ja.<br />
Ich: Ja, Fritz, der wievielte Hugo ist des denn jetzt, der dritte, der vierte oder ist<br />
das Dutzend bald schon voll?<br />
Fritz: Ha, Herr Amtsoberrat, Sie machen mir Spaß. Hugos haben doch eine ganz<br />
andere Farbe!<br />
Ich: Hauptsache am Ende nicht blau, gell?<br />
Allgemeine Heiterkeit, Prost, Abgang.<br />
„<br />
Danach Mittagessen in besagter Fleischhalle und dann das ganze nochmal<br />
von vorn. Und das jeden Tag, außer Sonntag und Samstag halt nur bis zwei.<br />
Herrlich! Vielleicht in einem andern Leben...