ZESO 01/19: Grundbedarf
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Trotz Pleiten, Pech und Pannen eine ernstzunehmende Theatertruppe: Die «Schrägen Vögel» mit Leiterin Nicole Stehli (Mitte).<br />
Bild: Ursula Markus<br />
Die Enthusiastin<br />
PORTRÄT Nicole Stehli gründete vor zehn Jahren mit Randständigen die Theatergruppe «Schräge<br />
Vögel». Das wird nie funktionieren, warnte man sie. Ein Irrtum. Inzwischen treten die «Vögel» auch<br />
an Tagungen auf.<br />
Kirchgemeindesaal «Herz Jesu» in Zürich-<br />
Wiedikon, die «Schrägen Vögel» trudeln<br />
zum Proben ein. «Ich bin de bös Bruno»,<br />
stellt sich der bärtige Ex-Fremdenlegionär<br />
vor. Er lacht, macht Sprüche. Am Tisch sitzen<br />
lauter Charakterköpfe. «Niggi, en<br />
Kafi», ruft jemand im Rollstuhl. Und Nicole<br />
Stehli, die sanft wirkt und viel jünger als<br />
ihre 36 Jahre, bedient gleich auch noch die<br />
blinde Nicole. Unten im Proberaum leben<br />
die «Vögel» dann so richtig auf. «Wiediker<br />
Krimi» heisst ihr Stück.<br />
Schon früh sei für sie klar gewesen,<br />
dass sie einmal etwas machen wolle «mit<br />
Leuten, denen es halt nöd guet gaht», sagt<br />
Stehli später im Gespräch. Aufgewachsen<br />
in einer «sehr liebevollen Familie» im<br />
Zürcher Säuliamt, wagt sie sich trotz ihrer<br />
Schüchternheit mit 15 nach Rumänien<br />
und arbeitet zwei Wochen in einem Heim<br />
für Strassenkinder. Am liebsten wäre sie<br />
dort geblieben, macht dann aber eine Lehre<br />
als Kleinkinderzieherin. Und merkt: Zu<br />
routinehaft! So wechselt sie an eine Schule<br />
für Sozialpädagogik und bewirbt sich für<br />
ein Praktikum bei den Sozialwerken Pfarrer<br />
Sieber. «Dieses etwas Chaotische, kaum<br />
Vorhersehbare war genau das, was mir gefällt»,<br />
sagt sie.<br />
Als Abschlussarbeit entstanden dann die<br />
«Schrägen Vögel»: «Im Theater kannst du<br />
die Ressourcen jedes Einzelnen miteinbe-<br />
ziehen. Die Leute bringen ihre Geschichten<br />
ein oder helfen im Hintergrund.»<br />
Zusammen mit einem obdachlosen Ex-<br />
Schauspieler entwarf Stehli Szenen aus<br />
dem Leben eines Unbehausten. Berufskollegen<br />
warnten: Mit Leuten, die noch voll<br />
auf Drogen sind, funktioniert das nie!<br />
Die Anfänge der «Schrägen Vögel» klingen<br />
tatsächlich nach Pleiten, Pech und<br />
Pannen. Kurz vor der Premiere des ersten<br />
Stückes fiel die Hauptdarstellerin von einer<br />
Parkbank und musste notfallmässig verarztet<br />
werden. Im Vorfeld war es zu Schlägereien<br />
gekommen. «Aber», sagt Stehli,<br />
«wir schafften es immer, Streitigkeiten zu<br />
schlichten.» Die Premiere war dann ein<br />
voller Erfolg, alle wollten weitermachen.<br />
Hauptrollen für die Zuverlässigsten<br />
So bildete sich Nicole Stehli neben ihrer<br />
Funktion als Co-Leiterin des Sieberschen<br />
Pfuusbusses zur Theaterpädagogin weiter.<br />
Und sie lernte schnell: Klare Regeln setzen,<br />
kein Auswendiglernen, sondern die Stücke<br />
gemeinsam mit den Leuten entwickeln,<br />
Hauptrollen den Zuverlässigsten übertragen.<br />
Heute sind die «Schrägen Vögel» eine<br />
ernstzunehmende Theatertruppe. Man<br />
kann sie für öffentliche Anlässe buchen<br />
und dank ihrer reiseaffinen Leiterin sind<br />
sie sogar international unterwegs. Ein<br />
Highlight war 2<strong>01</strong>4 der Auftritt an einem<br />
Open Air in einem Armenviertel in Santiago<br />
de Chile. Klar, dass da die Chefin 24<br />
Stunden am Tag gefordert war.<br />
Doch die Enthusiastin legte noch einen<br />
drauf. Auf der Suche nach einem neuen<br />
Spielort war sie 2<strong>01</strong>4 im Zürcher Kirchgemeinehaus<br />
St. Jakob auf den Mittagstisch<br />
für Flüchtlinge gestossen. Das war<br />
die Geburtsstunde des Flüchtlingstheaters<br />
Malaika. «Wir merkten rasch: Die Geflüchteten<br />
können mega gut kochen, Essen ist<br />
Ausdruck ihrer Kultur.» Heute sind Kultur-<br />
Dinners mit Theater die Spezialität von<br />
Malaika; sie sind gefragt für Team-Essen<br />
und an Festen.<br />
Nur: Woher nimmt diese feingliedrige<br />
36-Jährige so viel Energie, zumal sie seit<br />
Kurzem auch Mutter ist? 18 Jahre lang,<br />
räumt Stehli ein, habe sie einen 200-Prozent-Job<br />
gemacht, sei an einem Burn-out<br />
vorbei geschlittert. Inzwischen habe sie<br />
aber super Mitarbeitende. Und das Baby<br />
sei ihre Therapie: «Mit der Kleinen muss<br />
ich das Leben viel ruhiger angehen.» Jetzt<br />
muss Nicole Stehli aber schleunigst an eine<br />
Sitzung. Spontan einberufen. Wie immer.<br />
<br />
•<br />
Paula Lanfranconi<br />
www.schraege-voegel.ch<br />
www.fluechtlingsTheater-malaika.ch<br />
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