ArzneimittelPROFIL Venetoclax 2019
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1. Einleitung<br />
Die Chronische Lymphatische Leukämie (CLL) ist die häufigste<br />
leukämische Erkrankung von Erwachsenen in Europa und<br />
Nordamerika. Jährlich erkranken etwa vier von 100.000 Menschen<br />
an CLL, wobei Männer fast doppelt so häufig wie Frauen<br />
betroffen sind. Das durchschnittliche Diagnosealter liegt bei<br />
etwa 70 Jahren (Hallek 2017).<br />
Die CLL zeigt ein wechselhaftes Erscheinungsbild (Onkopedia<br />
Leitlinie CLL 2017). Einige Patienten haben über Jahre keine<br />
oder nur geringe Symptome bei einer normalen Lebenserwartung.<br />
Andere Patienten hingegen weisen bereits bei Diagnosestellung<br />
Symptome auf und sterben innerhalb weniger Jahre.<br />
Der Verlauf der Erkrankung ist dabei stark von genetischen<br />
Merkmalen der Zellen abhängig (Rossi et al. 2013). Die Erkrankung<br />
ist meist durch eine deutliche Lymphozytose charakterisiert,<br />
welche häufig zufällig festgestellt wird. Mit Fortschreiten<br />
der Erkrankung treten Lymphadenopathie, Spleno- und Hepatomegalie,<br />
Knochenmarkinsuffizienz und Autoimmunzytopenien<br />
auf. Als klinische Beschwerden können B-Symptome (Fieber,<br />
Nachtschweiß, Gewichtsverlust) und eine vermehrte Infektneigung<br />
auftreten.<br />
Die CLL ist eine B-Zell-Neoplasie, charakterisiert durch<br />
die klonale Expansion und Akkumulation von reifen B-Zellen<br />
in Blut, Knochenmark, den Lymphknoten und der Milz (Hallek<br />
2017). Die Krankheit zeigt häufig den Verlust oder die Zufügung<br />
von genetischem Material, am häufigsten durch Deletionen<br />
im langen Arm von Chromosom 13 wie z.B. del(13q14.1).<br />
Weitere häufige Aberrationen sind Deletionen und/oder Trisomien<br />
von Chromosom 12, sowie Deletionen in den langen<br />
Armen von Chromosom 6, 11 und 13 (del(6q); del(11q);<br />
del(13q)) sowie Deletionen im kurzen Arm von Chromosom 17<br />
(del(17p); Hallek 2017). Der Karyotyp der CLL-Zellen ist auch<br />
von prognostischer Relevanz. Komplexe chromosomale Anomalien<br />
einschließlich Translokationen korrelieren mit einem<br />
fortgeschrittenen Erkrankungsstadium und einer ungünstigen<br />
Prognose. Eine besonders ungünstige Prognose haben Patienten,<br />
die eine Chromosom-17p-Deletion (del(17p)) aufweisen<br />
oder einen Defekt des Tumorsuppressor-Proteins 53 (TP53),<br />
welcher durch del(17p) oder Mutationen von TP53 bedingt<br />
sein kann. Hingegen scheinen Hypermutationen des IGHV-<br />
Chemische Struktur von <strong>Venetoclax</strong> Abb. 1<br />
O<br />
N<br />
H<br />
NO2<br />
O<br />
S<br />
O<br />
H<br />
N<br />
N<br />
N<br />
O<br />
O<br />
Cl<br />
N<br />
Gens, das für die variable Region der schweren Immunglobulin-Kette<br />
kodiert, mit einer günstigeren Prognose assoziiert zu<br />
sein (Hallek 2008).<br />
Zentrale Elemente der Pathogenese sind die Dysregulation<br />
der Proliferation und die Inhibition der Apoptose der neoplastischen<br />
B-Zellen. Die Akkumulation der Zellen kommt<br />
durch das Ausbleiben des programmierten Zelltods über den<br />
intrinsischen (mitochondrialen) Apoptoseweg zustande. Die<br />
molekulare Ursache hierfür ist die für die CLL charakteristische<br />
Überexpression des anti-apoptotischen Proteins B-cell<br />
lymphoma 2 (BCL-2, Roberts & Huang 2017), möglicherweise<br />
häufig verursacht durch den Verlust der negativen Regulatoren<br />
miR-15a und miR-16-1 (Cimmino et al. 2005). Hieraus eröffnet<br />
sich ein neuer Therapieansatz: eine Blockade von BCL-2 stellt<br />
die Fähigkeit der CLL-Zellen zur Apoptose wieder her.<br />
<strong>Venetoclax</strong> (Abb. 1) ist ein selektiver BCL-2-Inhibitor (Souers<br />
et al. 2013), der erste, der in der Therapie der CLL Anwendung<br />
findet.<br />
2. Wirkmechanismus<br />
Zum Verständnis des Wirkmechanismus von <strong>Venetoclax</strong> muss<br />
die Regulation der intrinsischen Apoptose genauer betrachtet<br />
werden. Dieser Apoptoseweg wird durch zellulären Stress ausgelöst,<br />
wie z.B. durch unkontrollierte Proliferation, Mangel an<br />
Wachstumsfaktoren oder durch DNA-Schädigung verursachte<br />
Aktivierung von TP53 (Anderson et al. 2014; Roberts & Huang<br />
2017; Abb. 2). Diese Stimuli führen zur Aktivierung der Effektorproteine<br />
BAX und BAK, die eine Permeabilisierung der äußeren<br />
Mitochondrienmembran und dadurch die Freisetzung<br />
von Cytochrom C und die Aktivierung von Caspasen bewirken;<br />
dies führt schließlich zum Zelltod. Ob die Apoptose in einer<br />
Zelle ausgelöst wird, hängt aber vom Gleichgewicht zwischen<br />
pro-apoptotischen BH3-only-Proteinen (z.B. BIM) und antiapoptotischen<br />
Proteinen wie BCL-2 ab. Normalerweise werden<br />
BAX/BAK nämlich durch Interaktion mit BCL-2 in einer<br />
inaktiven monomeren Form gehalten. Erst wenn stressinduzierte<br />
BH3-only-Proteine an BCL-2 binden und BAX/BAK verdrängen,<br />
können Letztere oligomerisieren (indirekte Aktivierung)<br />
und die Membran der Mitochondrien depolarisieren,<br />
sodass die Apoptose induziert wird. Manche der pro-apoptotischen<br />
BH3-only-Proteine können BAX/BAK auch<br />
direkt aktivieren.<br />
<strong>Venetoclax</strong> bindet an BCL-2, und zwar in die<br />
Bindungstasche für BH3-only-Proteine. Es wirkt so<br />
als BH3-Mimetikum, das die zelleigenen Apoptose-<br />
Aktivatoren nachahmt und die BCL-2-Funktion<br />
hemmt (Souers et al. 2013). Die Bindung von <strong>Venetoclax</strong><br />
an BCL-2 setzt gleichzeitig die BH3-only-<br />
Proteine von BCL-2 frei, sodass diese auch für die<br />
direkte Aktivierung von BAX/BAK zur Verfügung<br />
stehen. <strong>Venetoclax</strong> induziert die Apoptose somit<br />
N<br />
H<br />
durch eine Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten<br />
der pro-apoptotischen BH3-only-Proteine<br />
(Roberts & Huang 2017). Eine Spezifität für Tumorzellen<br />
entsteht dabei durch ein sogennanntes<br />
„priming“ der Tumorzellen, die sich in der Balance<br />
ihrer Zelltodmoleküle näher am Zelltod befinden<br />
(Potter & Letai 2016).<br />
Der Wirkmechanismus von <strong>Venetoclax</strong> unterscheidet<br />
sich also klar von den Inhibitoren des B-<br />
Zell-Rezeptor (BCR)-Signalwegs, wie dem<br />
Bruton’s-Kinase (BTK)-Hemmer Ibrutinib oder<br />
dem PI3-Kinase-δ-Inhibitor Idelalisib. Darüber<br />
hinaus ist <strong>Venetoclax</strong> ein First-in-Class-Molekül für<br />
die Manipulation von Signalen der BCL-2-Familie.<br />
Quelle: Souers et al. 2017<br />
4 <strong>ArzneimittelPROFIL</strong> <strong>Venetoclax</strong> April <strong>2019</strong>