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Zwergerl Magazin Juli/August 2019

Das Familienmagazin in der Metropolregion München. Zweimonatlich interessante Themen, spannende Berichte und wichtige Informationen rund um das Thema Familie

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s12-20_red_jul19_Layout-zm 24.06.<strong>2019</strong> 11:42 Seite 13<br />

pädagogische und tiefenpsychologische Modelle zur Erklärung kindlichen<br />

Verhaltens infrage. Bis heute fällt es manchen Fachpersonen wie Laien<br />

schwer, das Wissen zur ADHS und deren Behandlungsmethoden als ein<br />

in vielen Bereichen besseres Erklärungsmodell für häufige kindliche Verhaltensauffälligkeiten<br />

anzuerkennen. Zugleich geht es um viel Geld – für<br />

die Pharmafirmen und in noch größerem Umfang für Psychotherapie, Heilmittel<br />

und pädagogische Angebote.<br />

ZM: Können Sie das Krankheitsbild ADHS kurz erklären?<br />

Dr. J. Streif: Bei der ADHS handelt es sich um eine Störung der sekundären<br />

Verhaltenshemmung im Gehirn. Die Reaktion auf innere und äußere<br />

Reize kann aufgrund von Besonderheiten im Frontalhirn nicht in<br />

erforderlichem Maße kontrolliert werden. Deshalb sind ADHS-Betroffene<br />

leicht ablenkbar, impulsiv und ihren Bewegungsimpulsen häufig ausgeliefert.<br />

Kinder zeigen eine große motorische Unruhe, Unaufmerksamkeit<br />

und Konzentrationsprobleme in der Schule sowie ein häufig aggressivunkontrolliertes<br />

Verhalten. Bei weniger temperamentvollen und bewegungsfreudigen<br />

Kindern spricht man häufig von ADS ohne Hyperaktivität.<br />

ZM: Wie wird ADHS diagnostiziert?<br />

Dr. J. Streif: In Deutschland erfolgt die Diagnose der ADHS durch Kinder-<br />

und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendärzte oder für das Kinderund<br />

Jugendalter approbierte Psychotherapeuten. Im diagnostischen Prozess<br />

spielen neben anamnestischen Angaben, Fragebogenverfahren,<br />

computergestützten Testverfahren zur Aufmerksamkeit und Impulskontrolle<br />

sowie Verhaltensbeobachtungen auch medizinische Untersuchungen<br />

zum Ausschluss anderer Erkrankungen eine Rolle.<br />

ZM: Wie viele Kinder leiden in Deutschland an ADHS?<br />

Dr. J. Streif: Man geht in Deutschland davon aus, dass ca. fünf Prozent<br />

aller Kinder und Jugendlichen von der ADHS betroffen sind.<br />

ZM: Wie viele von ihnen werden auch medikamentös behandelt?<br />

Dr. J. Streif: Kinder im Vorschulalter eher selten, Kinder im späten<br />

Grundschulalter und während der ersten Jahre auf weiterführenden Schulen<br />

am häufigsten. In der Gruppe der 13 bis 14-jährigen fast die Hälfte.<br />

ZM: Viele Kinder und Jugendliche nehmen nur für eher kurze Zeiträume<br />

bis zu einem halben Jahr Medikamente zur Therapie ihrer ADHS ein.<br />

Dr. J. Streif: Mediziner sprechen von einer organischen Störung, Psychologen<br />

und Pädagogen von Reaktionen auf Familie und Gesellschaft. Auch<br />

genetische Faktoren werden genannt.<br />

ZM: Wie können Eltern hier den Überblick bewahren?<br />

Dr. J. Streif: Es gibt unter Wissenschaftlern und Fachleuten einen weitgehenden<br />

Konsens, dass es sich bei der ADHS um eine überwiegend genetisch<br />

vermittelte Disposition der Verhaltenssteuerung handelt. Welches<br />

Verhalten ein von der ADHS betroffener Mensch im Alltag jedoch zeigt,<br />

hängt von seiner Sozialisation ab. In Familie und Schule braucht ein<br />

ADHS-Kind daher klare Strukturen und eine konsequente erzieherische<br />

Anleitung.<br />

ZM: Kann der Arzt eine ADHS auslösende Dysfunktion im Gehirn zuverlässig<br />

diagnostizieren?<br />

Dr. J. Streif: Nein, die spezifische Hirnstruktur und -funktion eines Patienten<br />

mit ADHS kann ein Arzt nur sehr eingeschränkt und mit aufwendigen<br />

Verfahren messen. Eine solche wissenschaftliche Diagnostik ist<br />

jedoch nicht notwendig. Um ADHS-Symptome zu erfassen und eine valide<br />

Diagnose zu stellen, nutzt der Arzt präzise Schilderungen der Symptomatik<br />

sowie die eigene Verhaltensbeobachtung.<br />

ZM: Sind alle ADHS-Patienten von dieser Dysfunktion betroffen?<br />

!<br />

Dr. J. Streif: Ja, die ADHS beschreibt ein konkretes Muster an Symptomen<br />

auf Grundlage einer spezifischen neurophysiologischen Disposition.<br />

Da einzelne ADHS-Symptome auch im Fall anderer Erkrankungen auftreten<br />

können, muss jedoch die typische Einheit aus Aufmerksamkeitsstörung,<br />

Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen.<br />

ZM: In den Diagnosekatalogen sind auffällige Verhaltensweisen gelistet,<br />

wie „trödelt bei Routine-Aufgaben“, „kann nicht stillsitzen“ – sind das<br />

nicht typisch kindliche Verhaltensweisen?<br />

Dr. J. Streif: Das ist eine verkürzte Wiedergabe der Diagnosekriterien in<br />

den Manualen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) bzw. der Vereinigung<br />

der amerikanischen Psychiater (DSM-5). Hier werden Symptome<br />

wie „kann nicht stillsitzen“ mit altersspezifischen sozialen Erwartungen<br />

verknüpft. Typisch sind diese Symptome nicht in ihrem einzelnen Auftreten,<br />

sondern in ihrer spezifischen Kombination.<br />

ZM: Gibt es einen signifikanten Anstieg der Diagnosen in den letzten Jahren?<br />

Dr. J. Streif: Nein, in den letzten Jahren ist die Zahl der ADHS-Neudiagnosen<br />

in Deutschland leicht zurückgegangen. Der Anstieg der Diagnosen<br />

im Fall der ADHS ist eine natürliche Folge der zunehmenden<br />

Auseinandersetzung mit der ADHS sowie der wachsenden medizinischpsychologischen<br />

Versorgung und vermehrten möglichen Diagnose-Stellung.<br />

ZM: Im Beipackzettel von Methylphenidat und Co. sind viele mögliche<br />

Nebenwirkungen aufgeführt. Warum ist die Anwendung dennoch vertretbar?<br />

Dr. J. Streif: Der Grund für die vermehrte medikamentöse Behandlung<br />

der ADHS liegt in ihren klar erkennbaren Vorteilen wie bessere soziale Integration,<br />

größere Lebenszufriedenheit, Verbesserung der familiären und<br />

schulischen Situation. Leider wird die ADHS-Diagnostik auf die Frage der<br />

Medikation reduziert und pauschal als Modeerkrankung diskreditiert. Die<br />

pathologische Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität<br />

hat es aber schon immer gegeben, doch haben Veränderungen in der Gesellschaft<br />

dazu geführt, dass die ADHS-Betroffenen in Gemeinschaften<br />

immer auffälliger wurden. Sie brauchen in ihrer Kindheit klare familiäre<br />

Strukturen und präsente Erzieher, in ihrer Jugend möglichst störungsfreie<br />

Lernumgebungen und erkennbare Ziele.<br />

ZM: Herr Sanders, wir danken für das ausführliche Gespräch.<br />

(Das ungekürzte Interview finden Sie auf www.zwergerl-magazin.de)<br />

Die Interviews führte Katja von Wintzingerode<br />

Anmerkung der Redaktion:<br />

In der vergangenen Mai/Juni-Ausgabe hatten wir uns unter dem Titel „Fehldiagnose ADHS oder Warum ADHS keine Krankheit ist“ mit<br />

der Verfasserin Amrei Wittwer über ihr durchaus diskussionswürdiges Buch unterhalten. Und die Reaktionen ließen nicht lange auf sich<br />

warten. Von zwei der vielen Leserbriefen die uns erreichten, hatten wir die Genehmigung und haben diese zu unserem Artikel auf der<br />

Homepage veröffentlicht. Uns hatte aber die Wucht der teils sehr emotionsgeladenen Leserbriefe zu diesem Thema überrascht. Da das<br />

Buch den Untertitel trägt „Eine Streitschrift“ , sollte es auch als solches gesehen werden und bestenfalls zur Diskussion anregen und<br />

nicht den anderen verunglimpfen. In diesem Sinne wünscht die Redaktion auch beim zweiten Teil des Artikels viel Freude an der Lektüre.<br />

Diskutiert darüber, aber respektiert auch andere Meinung, so unsere Bitte an alle LeserInnen<br />

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