sortimenterbrief Oktober 2019
Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Oktober 2019
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uchrezension<br />
www.mottingers-meinung.at<br />
Mottingers Meinung<br />
Definitiv keine Dystopie<br />
„Das ist keine Dystopie“, richtet die<br />
Autorin ihren Lesern via Klappentext<br />
aus, und damit hat sie definitiv recht.<br />
Frau Berg, im Wortsinn eine Sibylle,<br />
mixt auch in ihrem aktuellen Roman<br />
GRM. Brainfuck Fakt und Fiktion und<br />
jede verfügbare Verschwörungstheorie<br />
zu einem Cocktail so explosiv, wie<br />
den nach Wjatscheslaw Molotow<br />
benannten. Alles an GRM ist too<br />
much, too loud, too exaggerated, ein<br />
Überforderungsbuch, das seine Motive<br />
in Endlosschleife wiederholt, und dabei<br />
die diesen innewohnende Realsatire als<br />
Sprachschmutz verschleudert.<br />
Daher nämlich der Titel: „GRM“ klingt<br />
bei Ausruf nicht nur wie die verbitterte<br />
Entäußerung einer Comicfigur, sondern<br />
meint Grime, einen in Großbritannien<br />
erfundenen Musikstil zwischen HipHop<br />
und Dubstep, „wütende Drecksmusik<br />
für Kinder in einem Drecksleben“, und<br />
dass der Begriff Crime leise mitgroovt,<br />
ist garantiert voll Absicht. Schauplatz<br />
der Handlung: erst fucking Rochdale,<br />
„ein Ort, den man ausstopfen und als<br />
Warnung in ein Museum stellen müsste“,<br />
später London. Die Protagonisten:<br />
vier vernachlässigte, verwahrloste<br />
Jugendliche. In Kürzestsätzen und<br />
Satzfragmenten, die Wortwahl markig,<br />
die Absätze und Enden willkürlich<br />
gewählt, stellt Sibylle Berg ihre<br />
Viererbande vor:<br />
Die dunkelhäutige Don, klein, wütend,<br />
lesbisch, ohne Interesse daran,<br />
eine Ghetto-Frau zu werden; die<br />
asiatisch anmutende Hannah, mit<br />
der herausragendsten Eigenschaft<br />
Egozentrismus; die hochbegabte Karen,<br />
wegen eines Gendefekts Albino, und<br />
Autist Peter, dieser, so wird sich später<br />
herausstellen, von michelangelesker<br />
Schönheit. Berg taggt ihr sarkastisches<br />
Gegenwartsgraffiti wie den Teufel an die<br />
Wand, Unterschicht und untergehende<br />
Mittelschicht im Sozialbau, eine<br />
Generation der Abgehängten, die sich<br />
die Tristesse mittels ihrer High-Tech-<br />
„Endgeräte“ schönflimmert. Alles am<br />
48<br />
Szenario der versierten Untergangsprophetin<br />
ist desolat, deformiert, trostlos<br />
– und so nah am Heute, dass man bitter<br />
auflachen muss.<br />
Nun wird den Zweck- und Zwangsfreunden<br />
in weiterer Folge Unrecht getan.<br />
Väter in Ausweglosigkeit erhängen sich,<br />
Mütter prostituieren sich für ein reicheres<br />
Leben an der Seite eines russischen<br />
Unternehmers, Erziehungsberechtigte<br />
ertrinken in Aggression, Alkohol und<br />
Drogen. Was beispielsweise Hannah<br />
widerfährt, ist tatsächlich passiert. 2012<br />
haben pakistanisch-stämmige Jungs in<br />
Rochdale Mädchen erst vergewaltigt,<br />
dann als deren Zuhälter an Freier<br />
verkauft. Als der letzte Erwachsene<br />
aus dem Blickfeld verschwindet, macht<br />
sich das Quartett auf nach London. Im<br />
Gepäck eine abzuarbeitende Todesliste<br />
ihrer Peiniger.<br />
Dieses Handlungsgerüst umhüllt Berg<br />
mit einer neoliberalistischen Brave New<br />
World, in der sie von der Erschaffung<br />
der AI bis zur Manipulation des ZNS<br />
nichts, aber auch wirklich nichts<br />
auslässt, was es im 21. Jahrhundert bis<br />
dato an politischen, gesellschaftlichen,<br />
wirtschaftspolitischen Auswüchsen aufs<br />
Korn zu nehmen gilt.<br />
Und weil man sich grad so gut wälzt im<br />
apokalyptischen Sozialporno, serviert<br />
die Berg grenzgenialisch ein neues<br />
Feindbild – da „die große Umvolkung<br />
– der weiße Mensch, der durch den<br />
Araber ausgetauscht werden soll –<br />
nicht stattgefunden“ hat, stattdessen die<br />
Armen. Deren Slum-Gräueltaten nun<br />
medial ausgeschlachtet werden.<br />
Der brave, kleine Mann hingegen<br />
wird mit einem Chip am Handgelenk<br />
versehen, wahlweise auch mit Bodycam,<br />
ein totaler Überwachungsapparat mit<br />
einem belohnenden Punktesystem:<br />
„Der Kunde blickte in eine Kamera.<br />
Das Gesicht wurde an die Datenbank<br />
übermittelt, in Sekundenbruchteilen ein<br />
Chip mit den Daten des Betreffenden<br />
geladen. Geräte-IDs, biometrische<br />
Passangaben, Konten, Adresse, Krankheitsakte,<br />
Strafregister, sexuelle Vorlieben,<br />
Freundeskreis, Familie, soziale<br />
Auffälligkeiten, Vorstrafen.“ Der Untertitel<br />
„Brainfuck“ ist der Name einer<br />
real existierenden, esoterischen Programmiersprache,<br />
die all dies ermöglichen<br />
soll.<br />
Den Hacker-„Freunden“ gelingt es<br />
schlussendlich tatsächlich, das staatliche<br />
Überwachungssystem zu outen, und<br />
das ist der letzte traurige Höhepunkt in<br />
„Grime“. Die Leute können sich plötzlich<br />
auf den öffentlichen Bildschirmen<br />
sehen und dazu die auf ihren Chips<br />
gespeicherten Informationen lesen. Die<br />
Demokratie enttarnt sich als Fake, der<br />
neue Regierungschef agiert via Avatar.<br />
Doch, was Wunder?, statt Empörung<br />
und Aufstand freut sich jeder Geoutete<br />
über seine 15 minutes of fame in den<br />
Social Media. Womit der Begriff SM eine<br />
völlig neue Bedeutung bekommt. Und<br />
Sibylle Berg einen Roman erschaffen<br />
hat, der mit großem Zorn auf den Status<br />
Quo die Klassenfrage stellt. Ein Roman,<br />
der sein „Fuck it!“ mit einem „Kümmert<br />
euch umeinander!“ verbindet. Wie<br />
sich die Bilder gleichen. Schließlich<br />
könnte Europa bald flächendeckend so<br />
aussehen, wie die Sibylle es gesehen hat.<br />
Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift<br />
Mottingers-Meinung.at<br />
640 Seiten, Hardcover<br />
ISBN 978-3-462-05143-8<br />
€ 25,70 | Kiepenheuer & Witsch<br />
<strong>sortimenterbrief</strong> 10/19