25.09.2019 Aufrufe

sortimenterbrief Oktober 2019

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Oktober 2019

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Oktober 2019

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

uchrezension<br />

www.mottingers-meinung.at<br />

Mottingers Meinung<br />

Definitiv keine Dystopie<br />

„Das ist keine Dystopie“, richtet die<br />

Autorin ihren Lesern via Klappentext<br />

aus, und damit hat sie definitiv recht.<br />

Frau Berg, im Wortsinn eine Sibylle,<br />

mixt auch in ihrem aktuellen Roman<br />

GRM. Brainfuck Fakt und Fiktion und<br />

jede verfügbare Verschwörungstheorie<br />

zu einem Cocktail so explosiv, wie<br />

den nach Wjatscheslaw Molotow<br />

benannten. Alles an GRM ist too<br />

much, too loud, too exaggerated, ein<br />

Überforderungsbuch, das seine Motive<br />

in Endlosschleife wiederholt, und dabei<br />

die diesen innewohnende Realsatire als<br />

Sprachschmutz verschleudert.<br />

Daher nämlich der Titel: „GRM“ klingt<br />

bei Ausruf nicht nur wie die verbitterte<br />

Entäußerung einer Comicfigur, sondern<br />

meint Grime, einen in Großbritannien<br />

erfundenen Musikstil zwischen HipHop<br />

und Dubstep, „wütende Drecksmusik<br />

für Kinder in einem Drecksleben“, und<br />

dass der Begriff Crime leise mitgroovt,<br />

ist garantiert voll Absicht. Schauplatz<br />

der Handlung: erst fucking Rochdale,<br />

„ein Ort, den man ausstopfen und als<br />

Warnung in ein Museum stellen müsste“,<br />

später London. Die Protagonisten:<br />

vier vernachlässigte, verwahrloste<br />

Jugendliche. In Kürzestsätzen und<br />

Satzfragmenten, die Wortwahl markig,<br />

die Absätze und Enden willkürlich<br />

gewählt, stellt Sibylle Berg ihre<br />

Viererbande vor:<br />

Die dunkelhäutige Don, klein, wütend,<br />

lesbisch, ohne Interesse daran,<br />

eine Ghetto-Frau zu werden; die<br />

asiatisch anmutende Hannah, mit<br />

der herausragendsten Eigenschaft<br />

Egozentrismus; die hochbegabte Karen,<br />

wegen eines Gendefekts Albino, und<br />

Autist Peter, dieser, so wird sich später<br />

herausstellen, von michelangelesker<br />

Schönheit. Berg taggt ihr sarkastisches<br />

Gegenwartsgraffiti wie den Teufel an die<br />

Wand, Unterschicht und untergehende<br />

Mittelschicht im Sozialbau, eine<br />

Generation der Abgehängten, die sich<br />

die Tristesse mittels ihrer High-Tech-<br />

„Endgeräte“ schönflimmert. Alles am<br />

48<br />

Szenario der versierten Untergangsprophetin<br />

ist desolat, deformiert, trostlos<br />

– und so nah am Heute, dass man bitter<br />

auflachen muss.<br />

Nun wird den Zweck- und Zwangsfreunden<br />

in weiterer Folge Unrecht getan.<br />

Väter in Ausweglosigkeit erhängen sich,<br />

Mütter prostituieren sich für ein reicheres<br />

Leben an der Seite eines russischen<br />

Unternehmers, Erziehungsberechtigte<br />

ertrinken in Aggression, Alkohol und<br />

Drogen. Was beispielsweise Hannah<br />

widerfährt, ist tatsächlich passiert. 2012<br />

haben pakistanisch-stämmige Jungs in<br />

Rochdale Mädchen erst vergewaltigt,<br />

dann als deren Zuhälter an Freier<br />

verkauft. Als der letzte Erwachsene<br />

aus dem Blickfeld verschwindet, macht<br />

sich das Quartett auf nach London. Im<br />

Gepäck eine abzuarbeitende Todesliste<br />

ihrer Peiniger.<br />

Dieses Handlungsgerüst umhüllt Berg<br />

mit einer neoliberalistischen Brave New<br />

World, in der sie von der Erschaffung<br />

der AI bis zur Manipulation des ZNS<br />

nichts, aber auch wirklich nichts<br />

auslässt, was es im 21. Jahrhundert bis<br />

dato an politischen, gesellschaftlichen,<br />

wirtschaftspolitischen Auswüchsen aufs<br />

Korn zu nehmen gilt.<br />

Und weil man sich grad so gut wälzt im<br />

apokalyptischen Sozialporno, serviert<br />

die Berg grenzgenialisch ein neues<br />

Feindbild – da „die große Umvolkung<br />

– der weiße Mensch, der durch den<br />

Araber ausgetauscht werden soll –<br />

nicht stattgefunden“ hat, stattdessen die<br />

Armen. Deren Slum-Gräueltaten nun<br />

medial ausgeschlachtet werden.<br />

Der brave, kleine Mann hingegen<br />

wird mit einem Chip am Handgelenk<br />

versehen, wahlweise auch mit Bodycam,<br />

ein totaler Überwachungsapparat mit<br />

einem belohnenden Punktesystem:<br />

„Der Kunde blickte in eine Kamera.<br />

Das Gesicht wurde an die Datenbank<br />

übermittelt, in Sekundenbruchteilen ein<br />

Chip mit den Daten des Betreffenden<br />

geladen. Geräte-IDs, biometrische<br />

Passangaben, Konten, Adresse, Krankheitsakte,<br />

Strafregister, sexuelle Vorlieben,<br />

Freundeskreis, Familie, soziale<br />

Auffälligkeiten, Vorstrafen.“ Der Untertitel<br />

„Brainfuck“ ist der Name einer<br />

real existierenden, esoterischen Programmiersprache,<br />

die all dies ermöglichen<br />

soll.<br />

Den Hacker-„Freunden“ gelingt es<br />

schlussendlich tatsächlich, das staatliche<br />

Überwachungssystem zu outen, und<br />

das ist der letzte traurige Höhepunkt in<br />

„Grime“. Die Leute können sich plötzlich<br />

auf den öffentlichen Bildschirmen<br />

sehen und dazu die auf ihren Chips<br />

gespeicherten Informationen lesen. Die<br />

Demokratie enttarnt sich als Fake, der<br />

neue Regierungschef agiert via Avatar.<br />

Doch, was Wunder?, statt Empörung<br />

und Aufstand freut sich jeder Geoutete<br />

über seine 15 minutes of fame in den<br />

Social Media. Womit der Begriff SM eine<br />

völlig neue Bedeutung bekommt. Und<br />

Sibylle Berg einen Roman erschaffen<br />

hat, der mit großem Zorn auf den Status<br />

Quo die Klassenfrage stellt. Ein Roman,<br />

der sein „Fuck it!“ mit einem „Kümmert<br />

euch umeinander!“ verbindet. Wie<br />

sich die Bilder gleichen. Schließlich<br />

könnte Europa bald flächendeckend so<br />

aussehen, wie die Sibylle es gesehen hat.<br />

Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift<br />

Mottingers-Meinung.at<br />

640 Seiten, Hardcover<br />

ISBN 978-3-462-05143-8<br />

€ 25,70 | Kiepenheuer & Witsch<br />

<strong>sortimenterbrief</strong> 10/19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!