Online-Ausgabe 4, ET 18.04.2020
Krise, Krieg, Katastrophe: Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden, offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll, das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
Krise, Krieg, Katastrophe: Die Begriffe, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gerne verwendet werden, offenbaren schon die Unsicherheit. Da ist eine Unschärfe, die davon abhalten soll, das wahre Ausmaß der Katastrophe ins Auge zu fassen. Von Michael Zäh
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Samstag, 18. April 2020
| 21. März 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 19
April 2020
Samstag, 18. April 2020
land ist ausgeknipst – was können wir an dessen Stelle
rücken? Manche machen vielleicht den Couch-Potato
vor der Glotze, dem Computer oder dem Handy. Ist
bequem und tut nicht weh. Wann hat man das schon,
dass es auch noch ohne schlechtes Gewissen gemacht
werden kann? Ist zum Schutz der Großeltern und ja
auch staatlich verordnet.
Andere nutzen die Auszeit dafür, mal das zu
machen, an das sie sonst gar nicht denken dürfen.
Nachdenken übers eigene Leben und das der Nächsten.
Sogar über Politik und Ethik. Mal ein Buch lesen, das
tausend Seiten hat. Mal raus aus der ewigen Beschleunigung
des sonstigen Alltags, um zu sich selbst zu
finden. Quasi eine Erfrischungskur für Geist und Seele.
Und dann soll es auch jene geben, die ganz konkret
helfen wollen. So gibt es bereits spontan gegründete
Nachbarschaftshilfen für ältere Menschen, damit diese
nicht selbst einkaufen gehen müssen. Oder es gibt
Leute, die vorübergehend arbeitslos geworden sind und
sich als Babysitter anbieten, um jene zur Arbeit gehen
zu lassen, die dringend benötigt werden, vor allem im
Gesundheitssystem.
Wenn wir alle immer schön unsere Hände waschen
und es dann auch noch stimmt, dass offiziell eine Hand
die andere wäscht, weil die Regierung einfach allen
Betroffenen finanziell unter die Arme greift, könnte
am Ende etwas ganz Großartiges stehen. Das wäre fast
wie das deutsche Wirtschaftswunder in der Folge des
Zweiten Weltkriegs.
Die Frage ist allerdings, wie lange diese Solidarität
gutgehen kann. Denn angesichts existenzieller
Nöte von all jenen, die freischaffend tätig sind oder
auf öffentliches Publikum angewiesen sind, wird es
wohl nicht allzu lange dauern, bis es sogar soziale
Unruhen geben wird. Wenn in vier Wochen alles unter
Kontrolle wäre und die rigorosen Beschränkungen mit
Pauken und Trompeten alle wieder aufgehoben werden
könnten, wäre dies noch machbar. Dann würde sich
die Gesellschaft ob ihres Zusammenhalts vielleicht
sogar feiern.
Wenn es nach acht Wochen immer noch heißt,
dass kein Ende absehbar sei, sondern immer noch neue
unzumutbare Restriktionen erlassen würden, rauscht
die gesellschaftliche Depression heran. Wenn es ein
halbes Jahr, gar ein Jahr oder länger dauern sollte, wäre
die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie wir sie heute
kennen, nicht mehr wieder zu erkennen. Dann wäre es
nicht so, wie es von heute aus gedacht war, sondern
so, wie es dann gekommen ist. Es wäre der Absturz ins
Bodenlose, mit allen politischen Verwerfungen, die das
mit sich brächte.
Kurzfristig könnte es zu einer paradoxen Reaktion
kommen: Sollte es nämlich gelingen, dass durch die
drastischen Maßnahmen des Staates die Zahl der Infektionen
recht konstant auf einem niedrigen Niveau
gehalten würde und dann flach verläuft, dann würden
die Millionen Menschen, die ihre wirtschaftliche
Existenz verloren haben, sagen: Wie bitte, wegen nur
ein paar zehntausend Infektionen wurde vom Staat
der Ausnahmezustand verfügt und habe ich alles
verloren? Sollte aber umgekehrt eine gesundheitliche
Katastrophe über das Land herein brechen, weil alle
Maßnahmen es nicht verhindern konnten, dann werden
Millionen Menschen sagen, dass man dann diese
wirtschaftlich vernichtenden Verbote auch hätte sein
lassen können, da sie ja nichts bewirkt haben.
Man kann sich das ausdenken wie man will. Derzeit
werden selbst frohgemute Geister verunsichert sein
und daran zweifeln ob ein „Et hätt noch immer jot jejange“
zutrifft. Es stimmt ja außerdem auch nicht, dass
es noch immer gut gegangen ist. Eher könnte sein, dass
das Jahr 2020 ein einschneidendes in der Geschichte
der Menschheit sein wird.
Womöglich kommt es so, dass der Virus irgendwann
kontrolliert wird, aber die Weltordnung und die
globale Wirtschaft sich zwischenzeitlich stark verändert
haben werden. Könnten wir uns denken, wenn wir
nicht wüssten, was Freud gesagt hat.