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Man darf sich nicht ergeben

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<strong>Man</strong> <strong>darf</strong> <strong>sich</strong><br />

<strong>nicht</strong> <strong>ergeben</strong><br />

Der erfolgreiche Kampf der Beschäftigten von<br />

Teigwaren Riesa für Betriebsrat und Tarifvertrag –<br />

ein Beispiel für den notwendigen Aufbruch Ost


<strong>Man</strong> <strong>darf</strong> <strong>sich</strong><br />

<strong>nicht</strong> <strong>ergeben</strong><br />

Der erfolgreiche Kampf der Beschäftigten von<br />

Teigwaren Riesa für Betriebsrat und Tarifvertrag –<br />

ein Beispiel für den notwendigen Aufbruch Ost


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Impressum<br />

Herausgeberin Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten<br />

(NGG), Region Dresden-Chemnitz<br />

Text Ines Wallrodt<br />

Redaktionelle Bearbeitung Olaf Klenke, Thomas Lißner<br />

Gestaltung und Druck drucktechnik altona<br />

Danke für die finanzielle Unterstützung zum Erscheinen der<br />

Broschüre an<br />

DGB Sachsen<br />

Walter-Hesselbach-Stiftung<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt<br />

Arbeit und Leben, Sachsen<br />

IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen<br />

April 2020<br />

2


Vorwort NGG<br />

»Das Leben verändert <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong> zum Besseren, solange<br />

man <strong>nicht</strong> begreift, dass es <strong>nicht</strong> die Intelligenten sind, die<br />

uns fehlen, sondern die Mutigen.«<br />

Francoise Giroud (französische Journalistin und Frauenrechtlerin, †)<br />

TUN!<br />

Ein einfaches Wort mit drei Buchstaben.<br />

Das war das Motto der Beschäftigten von<br />

Teigwaren Riesa. Innerhalb von nur einem<br />

Jahr haben sie einen Betriebsrat gegründet,<br />

<strong>sich</strong> zu 80% gewerkschaftlich organisiert<br />

und einen Tarifvertrag erkämpft.<br />

In einem Betrieb, der aus gewerkschaftlicher<br />

Sicht bis dahin ein weißer Fleck<br />

war. In einem Bundesland, das deutschlandweit<br />

Schlusslicht bei Mitbestimmung<br />

und Tarifverträgen ist. Die Kolleginnen<br />

und Kollegen haben gespürt: Wir können<br />

etwas verändern, wenn wir uns zusammentun!<br />

Das ist die Hauptbotschaft, die<br />

von dieser Broschüre ausgeht.<br />

Uwe Ledwig<br />

Vorsitzender Landesbezirk<br />

Ost der NGG<br />

Wir müssen uns <strong>nicht</strong> <strong>ergeben</strong>!<br />

Das gilt insbesondere für den Osten der<br />

Republik. Bis heute ist der Osten in vielen<br />

Bereichen Billiglohnland. Dem gesellschaftlichen<br />

Aufbruch am Ende der DDR,<br />

dieser ostdeutschen Revolution 1989/90,<br />

folgte ein jäher Absturz: Massenarbeitslosigkeit,<br />

Degradierung von Beschäftigten,<br />

Niedriglöhne. Diese Erfahrung prägte<br />

mehr als zwei Jahrzehnte die Arbeitswelt.<br />

Es prägte uns als Gewerkschaften und<br />

es prägte die Menschen – bis heute. Die<br />

Angst, diese Spaltung und dieses immerwährende<br />

Misstrauen wurden von den<br />

Unternehmen gefördert. Und sie sind es,<br />

die oftmals heute noch von niedrigeren<br />

Löhnen und längeren Arbeitszeiten im<br />

Osten profitieren.<br />

Aber der Wind beginnt, <strong>sich</strong> zu drehen.<br />

Der Arbeitsmarkt hat <strong>sich</strong> gewandelt.<br />

Auch im Osten steht die Ware Arbeitskraft<br />

<strong>nicht</strong> mehr grenzenlos zur Verfügung.<br />

Viele Beschäftigte merken das und sind<br />

3


4


<strong>nicht</strong> mehr bereit, alles widerspruchslos<br />

hinzunehmen. Es gibt die Chancen für<br />

Verbesserungen. Aber <strong>nicht</strong>s verbessert<br />

<strong>sich</strong> von allein. Hier kommen wir Gewerkschaften<br />

ins Spiel. Wir müssen Chancen<br />

erkennen und mutiger agieren. Wir müssen<br />

den Beschäftigten und uns gemeinsam<br />

mehr zutrauen.<br />

Die richtigen Entscheidungen – zur richtigen Zeit –<br />

am richtigen Ort<br />

Die Broschüre erzählt auch diese Geschichte.<br />

Sie stellt dar, welche Höhen und<br />

Tiefen es gab. Wie wurden kritische Phasen<br />

gemeistert? Was waren erfolgreiche<br />

Instrumente und Methoden, um voranzukommen?<br />

Nichts davon ist am Reißbrett<br />

im Büro entstanden! Viel entstand in der<br />

Auseinandersetzung, im Austausch mit<br />

den Kolleginnen und Kollegen. Die Beschäftigten<br />

haben ihr Schicksal selbst in<br />

die Hand genommen. Die Beschäftigten<br />

von Teigwaren Riesa haben die Erfahrung<br />

gemacht, dass wir „hier unten“ <strong>nicht</strong> alles<br />

hinnehmen müssen.<br />

Auch nach der Gründung des Betriebsrates<br />

und dem Tarifvertrag ist <strong>nicht</strong><br />

das Paradies ausgebrochen. Die Unternehmensführung<br />

schafft tagtäglich neue<br />

Baustellen. Aber mit Betriebsrat und Gewerkschaft<br />

gibt es eine Gegenmacht. Diese<br />

Gegenmacht müssen wir nutzen. Wir<br />

müssen uns tagtäglich politisch bilden,<br />

die Herzen der Beschäftigten erreichen,<br />

sie für unsere Sache gewinnen.<br />

Die Beschäftigten aus Riesa sind Mutmacher.<br />

Für all die, deren Arbeit bis heute<br />

als Ramschware betrachtet wird, die<br />

für Armutslöhne arbeiten, die als rechtlose<br />

Arbeitsgeschöpfe behandelt werden.<br />

Riesa zeigt, wie es mit Kampfbereitschaft,<br />

Mut und Zusammenhalt gelingen kann,<br />

neue tarifliche Strukturen zu schaffen.<br />

Ich hoffe, dieser Erfolg findet viele Nachahmer.<br />

Ein Erfolg, der auch deshalb errungen<br />

wurde, weil die Beschäftigten<br />

Unterstützung von ihren Familien und<br />

Freunden erhalten haben, aus anderen<br />

Betrieben und aus anderen Gewerkschaften.<br />

Die Geschichte von Teigwaren Riesa<br />

wird immer auch eine Geschichte der Solidarität<br />

sein. Ich danke allen Unterstützerinnen<br />

und Unterstützern sowohl während<br />

des Arbeitskampfes als auch bei der<br />

Finanzierung dieser Broschüre.<br />

Kämpfen lohnt <strong>sich</strong>! Wenn wir uns zusammentun,<br />

sind wir eine Macht!<br />

Uwe Ledwig<br />

Vorsitzender Landesbezirk Ost der NGG<br />

5


6<br />

Ein Streikgruß vor dem<br />

Eingang zum Nudelcenter.<br />

Im Hintergrund<br />

der Nudelriese als<br />

Markenbotschafter.


Grußwort DGB Sachsen<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

Nudeln aus Riesa sind ein Begriff. Deshalb war es selbstverständlich,<br />

dass wir als DGB-Gewerkschaften in Sachsen den<br />

Kolleginnen und Kollegen bei Teigwaren Riesa unsere Solidarität<br />

zeigten.<br />

Sachsen hat die niedrigste Tarifbindung in Deutschland. Nur<br />

40% der Beschäftigten haben den Schutz eines Tarifvertrages.<br />

Die jahrelange Niedriglohnpolitik der Staatsregierung und Geschäftsführungen,<br />

die nur auf billige Arbeit setzten, haben dazu<br />

geführt. Bewusst wurde Angst geschürt, dass Forderungen nach<br />

mehr Lohn oder gar nach einem Tarifvertrag, Arbeitsplatzabbau<br />

nach <strong>sich</strong> ziehen. Gewerkschaftliches Engagement wurde als<br />

Einmischung von außen diffamiert.<br />

Markus Schlimbach<br />

Vorsitzender DGB Sachsen<br />

Die Kolleginnen und Kollegen der Teigwaren Riesa haben <strong>sich</strong><br />

mit ihrer Gewerkschaft NGG <strong>sich</strong> auf den Weg gemacht, einen<br />

Tarifvertrag zu erkämpfen. Dabei haben sie Unterstützung von<br />

Kolleginnen und Kollegen aus anderen Riesaer Betrieben, von<br />

Betriebs- und Personalräten aus der Region und aus ganz Sachsen<br />

erfahren. Diese gelebte Solidarität hat bestärkt und ermutigt.<br />

Diese begeisternde Erfahrung soll vielen ebenfalls Mut machen.<br />

Solidarisch ist man <strong>nicht</strong> allein!<br />

Markus Schlimbach<br />

Vorsitzender DGB Sachsen<br />

7


Februar 2019 Besuch<br />

der Streikkonferenz<br />

der Rosa-Luxemburg-<br />

Stiftung in Braunschweig<br />

(v. l.: Olaf<br />

Klenke / NGG Ost, Anja<br />

Reisky, Daniel Zielke).<br />

8


Ein wichtiger Beitrag für<br />

die Gewerkschaftsbewegung<br />

in Ost und West<br />

Hunderte Gewerkschaftsaktive lauschten auf der Streikkonferenz<br />

der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Februar 2019 in Braunschweig<br />

gebannt dem Bericht der Riesaer KollegInnen von ihrem<br />

Arbeitskampf. Auf der Suche nach innovativen Strategien<br />

schien diese ostdeutsche Auseinandersetzung dem Publikum<br />

besonders spannend.<br />

Denn die schwierige Lage der Gewerkschaften - mit geringer Tarifbindung,<br />

Union-Busting, niedrigem Organisationsgrad - zeigte<br />

<strong>sich</strong> im Osten der Republik frühzeitig und zugespitzt. Während<br />

viele offensive Ansätze oft noch von trägen gewerkschaftlichen<br />

Strukturen gebremst werden, scheint es im Osten leichter, neue<br />

Ideen und Beteiligungsprozesse auszuprobieren. Diese Erfahrungen<br />

sind ein wichtiger Beitrag für die Gewerkschaftsbewegung<br />

in Ost und West.<br />

Fanny Zeise<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

Der anhaltende Applaus auf der Streikkonferenz feierte die Riesaer<br />

KollegInnen auch dafür, gegen die schlechteren ostdeutschen<br />

Löhne und Arbeitsbedingungen aufzubegehren. Gerade<br />

in Zeiten des Rechtsrucks ist Riesa damit zu einem hoffnungsvollen<br />

Symbol einer Bewegung des demokratischen #Aufbruch-<br />

Ost von unten geworden.<br />

Fanny Zeise<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Referentin für Arbeit und<br />

Gewerkschaften<br />

9


<strong>Man</strong> muss <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong><br />

<strong>ergeben</strong>!<br />

Im Frühjahr sind die Zeitungen voll von Berichten über die<br />

24-Stunden-Streiks der IG Metall. Die SPD entscheidet <strong>sich</strong><br />

für die Große Koalition, Dieselskandal und Brexit sind Dauerbrenner,<br />

im Herbst kündigt Angela Merkel ihren Rückzug<br />

an, in Frankreich beginnen die Protestaktionen der „Gelbwesten“.<br />

Doch auch im sächsischen Riesa tut <strong>sich</strong> etwas.<br />

Die 30.000-Einwohnerstadt lebt von der Stahlindustrie und<br />

von Nudeln.<br />

* Es gab zur Wendezeit bereits einen Betriebsrat,<br />

der aber mit der Wiedervereinigung verschwand.<br />

Jeder im Osten kennt sie – Nudeln aus<br />

Riesa. Inzwischen gibt es sie mit oder<br />

ohne Ei, in Vollkorn, bio und glutenfrei,<br />

in Dino- oder Häschenform. Teigwaren<br />

Riesa ist »unangefochtener Marktführer<br />

in den neuen Bundesländern«, wirbt der<br />

Traditionsbetrieb aus Sachsen, der seit<br />

1993 dem baden-württembergischen Familienunternehmen<br />

Alb-Gold Teigwaren<br />

mit Sitz in Trochtelfingen gehört. Doch bei<br />

den Löhnen ist der Marktführer ganz und<br />

gar <strong>nicht</strong> spitze, sondern eher Schlusslicht,<br />

selbst im Ostvergleich.<br />

25 Jahre lang ist Teigwaren Riesa<br />

wie die Mehrzahl aller Betriebe in<br />

Ostdeutschland: mitbestimmungsfreie<br />

Zone. Die Beschäftigten kennen ihre direkten<br />

Kollegen, einen größeren Zusammenhalt<br />

gibt es <strong>nicht</strong>. Gegenüber der<br />

Geschäftsleitung ist man auf <strong>sich</strong> allein<br />

gestellt.<br />

Doch im Frühjahr 2018 überschlagen<br />

<strong>sich</strong> die Ereignisse. Innerhalb von nur<br />

zwei Monaten kommt es zur Gründung<br />

des ersten Betriebsrats* bei Teigwaren<br />

Riesa und damit auch in der Geschichte<br />

von Alb-Gold. Ein weiteres halbes Jahr<br />

später ist der erste Tarifvertrag unter Dach<br />

und Fach. Ende der Bescheidenheit. Aufbruch<br />

Ost! Was war passiert?<br />

10


4. MAI<br />

Erstes Treffen zwischen<br />

Riesa-Mitarbeiter*innen<br />

und der NGG<br />

5. JULI<br />

Erste Betriebsratswahl<br />

bei TWR<br />

Mai<br />

04.05.<br />

• Erstes Treffen Teigwaren Riesa-<br />

Mitarbeiter*innen und NGG bei<br />

McDonalds Döbeln<br />

• Ausgangspunkt: 4 NGG-Mitglieder<br />

in der Belegschaft<br />

07.05.<br />

• Einladung zur Wahlversammlung<br />

18.05.<br />

• Wahl des Wahlvorstands<br />

• Kündigung von zehn Mitarbeitern<br />

kurz vor Mitbestimmung<br />

Juli<br />

05.07.<br />

• Erste Betriebsratswahl bei TWR<br />

06.07.<br />

• Konstituierende Sitzung des<br />

Betriebsrats<br />

11


27. SEPTEMBER<br />

Erste Betriebsversammlung,<br />

Aufforderung zu<br />

Tarif verhandlungen<br />

22. NOVEMBER<br />

Erster Warnstreik<br />

OKTOBER<br />

NGG begrüßt 100. Mitglied<br />

September<br />

• Geltendmachung Nachtschichtzuschläge<br />

NGG<br />

• 50 %-Marke für NGG-Mitglieder<br />

im Betrieb wird erreicht<br />

27.09.<br />

• Erste Betriebsversammlung, Aufforderung<br />

zu Tarifverhandlungen<br />

Oktober<br />

• NGG begrüßt 100. Mitglied<br />

22.10.<br />

• Wahl Tarifkommission<br />

November<br />

01.11.<br />

• Erneute Aufforderung zu<br />

Tarifverhandlungen<br />

12.11.<br />

• Antwort: Geschäftsleitung<br />

will <strong>nicht</strong> mit Dritten (NGG)<br />

verhandeln<br />

22.11.<br />

• Erster Warnstreik (2 Std.)


Januar<br />

• Ausarbeitung von Entwürfen für<br />

<strong>Man</strong>tel-, Entgelt- und Rahmentarifvertrag<br />

4. DEZEMBER<br />

Zweiter Warnstreik<br />

15.01.<br />

• Geschäftsleitung nimmt Sanktionen<br />

gegen Zielke zurück und<br />

stimmt Tarifverhandlungen zu<br />

16.01.<br />

• Erste Tarifverhandlung<br />

28. JANUAR<br />

Dritter Warnstreik<br />

17.01.<br />

• NGG schickt tarifvertragliche<br />

Vor-Vereinbarung an Eigentümerfamilie<br />

zur Unterschrift<br />

• Betriebsrat beschließt die beantragten<br />

Sonderschichten<br />

• Eigentümer wollen Vereinbarung<br />

vom 16.1. nachträglich ändern<br />

• NGG besteht auf Verabredung aus<br />

erster Tarifverhandlung<br />

Dezember<br />

04.12.<br />

• Zweiter Warnstreik (4h)<br />

09.12.<br />

• Der Betriebsratsvorsitzende<br />

Daniel Zielke wird von seiner<br />

Tätigkeit freigestellt<br />

• Solikampagne für Daniel Zielke<br />

23.01.<br />

• Geschäftsleitung erklärt offiziell,<br />

die tarifliche Vereinbarung <strong>nicht</strong><br />

zu unterzeichnen und will Verhandlungen<br />

mit NGG <strong>nicht</strong> fortführen<br />

• Mitteilung an Belegschaft, die zugesagte<br />

7 % Entgelterhöhung auch<br />

ohne Tarifvertrag umzusetzen<br />

28.01.<br />

• Dritter Warnstreik, erstmals über<br />

alle Schichten (24 Stunden)<br />

13<br />

13


17. APRIL<br />

Dritte Tarifverhandlung mit<br />

vorläufigem Ergebnis<br />

12. FEBRUAR<br />

Geschäftsleitung stimmt<br />

tariflicher Vor-Vereinbarung<br />

zu<br />

April<br />

02.04.<br />

• Ankündigung des Unternehmens,<br />

einen Betriebsteil (Nudelcenter)<br />

ausgliedern zu wollen<br />

Februar<br />

07.02.•<br />

• Vierter Warnstreik (24 Stunden)<br />

11.02.<br />

• Fünfter Warnstreik (24 Stunden)<br />

12.02.<br />

• Geschäftsleitung stimmt tariflicher<br />

Vor-Vereinbarung zu, Absage des<br />

sechsten Warnstreiks<br />

März<br />

25.3.2019<br />

• Zweite Tarifverhandlung ohne<br />

konkretes Angebot der Arbeitgeberseite<br />

08.04.<br />

• Sechster Warnstreik (24 Stunden)<br />

10.04.<br />

• Arbeitsgericht weist Antrag der<br />

Unternehmensleitung auf einstweilige<br />

Verfügung gegen siebten<br />

Warnstreik zurück<br />

11.04.<br />

• Siebter Warnstreik (24 Stunden)<br />

und Urabstimmung über unbefristeten<br />

Streik: 96 Prozent Zustimmung<br />

17.04.<br />

• Dritte Tarifverhandlung mit vorläufigem<br />

Ergebnis<br />

14


14. MAI<br />

Unterzeichnung<br />

<strong>Man</strong>tel tarifvertrag<br />

Mai<br />

ENDE 2019<br />

Beginn Verhandlungen<br />

eines Rahmen- und<br />

Entgelttarifvertrags<br />

14.05.<br />

• Unterzeichnung <strong>Man</strong>teltarifvertrag<br />

15.05.<br />

• Mitteilung geplante Ausgliederung<br />

Nudelcenter zum 31.08., Start<br />

Petition für den Erhalt des Nudelcenters<br />

(18.05.2019)<br />

• Ursprünglich geplantes Tariffest,<br />

wird wegen der geplanten<br />

Ausgründung des Nudelcenters<br />

abgesagt<br />

August<br />

• Kein neuer Investor für Nudelcenter<br />

gefunden – es bleibt bis<br />

auf weiteres Betriebsbestandteil<br />

Ende 2019<br />

• Beginn Verhandlungen eines<br />

Rahmen- und Entgelttarifvertrags<br />

• Friedenspflicht bis 31.03.2020<br />

15


»Ich habe in<br />

all den Jahren<br />

keine einzige<br />

Weiterbildung bekommen.<br />

Weiterent wicklung war hier<br />

<strong>nicht</strong> möglich. Da habe ich<br />

gesagt: Entweder wir<br />

ziehen das jetzt durch oder<br />

ich bin gleich weg. «<br />

Daniel Zielke, 38, Vertriebsleiter und erster<br />

Vorsitzender des ersten Betriebsrats, war 7 Jahre<br />

im Betrieb.<br />

16


Wie alles begann<br />

»Die Stimmung war am Boden«, sagt Anja Reisky,<br />

Mitarbeiterin im Nudelcenter. Es ist eine Mischung aus<br />

Lohnungerechtigkeit und <strong>Man</strong>agementfehlern, die alles<br />

in Bewegung bringt.<br />

Seit dem Tod des alten Firmenchefs<br />

staut <strong>sich</strong> die Unzufriedenheit an.<br />

Denn mit seiner Frau an der Spitze<br />

ändert <strong>sich</strong> die Unternehmenskultur.<br />

Auch der „alte Freidler“ war gegen betriebliche<br />

Mitbestimmung. Dennoch erinnern<br />

<strong>sich</strong> viele Beschäftigte mit Wohlwollen<br />

an ihn. Jede Woche ist der Firmenchef<br />

aus dem Schwabenland im sächsischen<br />

Werk, er kennt jeden Mitarbeiter mit Namen,<br />

merkt <strong>sich</strong> private Gespräche. Für<br />

Probleme hatte er ein offenes Ohr. Geht<br />

eine Maschine kaputt, zieht er schonmal<br />

das Jackett aus und legt selbst Hand an.<br />

„Er hatte ein gutes Verhältnis zum Personal“,<br />

sagt Anja Reisky.<br />

Nicht so Frau Freidler, die seit 2010<br />

die Firma leitet, zusammen mit den beiden<br />

Söhnen. Sie lässt <strong>sich</strong> im Werk kaum<br />

blicken. Die Firma arbeitet auf Verschleiß.<br />

Ständig fallen Maschinen aus. Die Löhne<br />

sind selbst für ostdeutsche Verhältnisse<br />

miserabel. Durchschnittlich 11,50 Euro<br />

brutto pro Stunde gibt es bis 2018 in der<br />

Produktion. Andere ostdeutsche Nudelbetriebe<br />

wie Möwe zahlen zwei bis drei<br />

Euro mehr. Stellen bleiben deshalb immer<br />

häufiger unbesetzt. Der Fachkräftemangel<br />

macht <strong>sich</strong> bemerkbar.<br />

Mehrmals suchen Anja Reisky und<br />

Vertriebsleiter Daniel Zielke das Gespräch<br />

mit der Geschäftsführung. Für sie liegt<br />

die Lösung auf der Hand. Investitionen<br />

in Mensch und Maschine. „Wir werden<br />

nie an die Löhne in der Chemie oder der<br />

Autoindustrie herankommen. Aber wir<br />

wollen auch <strong>nicht</strong> jeden Euro dreimal<br />

umdrehen. Die Leute sollen gern hier<br />

arbeiten.« Doch es kommt keine Reaktion.<br />

Oder doch: So werden langjährige<br />

Leistungen zusammengestrichen, ohne<br />

Ankündigung, ohne Begründung. Da ist<br />

17


»Jammern konnten wir<br />

alle immer ganz gut.<br />

Viel und laut, aber<br />

davon wird ja <strong>nicht</strong>s besser.<br />

Wir mussten also handeln!<br />

Am Ende habe ich trotzdem<br />

gezögert in den Betriebsrat<br />

zu gehen. Ich dachte, mit<br />

Menschen umgehen kann<br />

ich ja ganz gut, aber das<br />

Rechtliche war bis dahin<br />

<strong>nicht</strong> so mein Ding.«<br />

Anja Reisky, 45, Nudelcenter, Verkauf und<br />

Führungen durch die Produktion, stellvertretende<br />

Betriebsratsvorsitzende<br />

Geschäftsführungen Teigwaren Riesa<br />

1993 – 2010 Herr Klaus Freidler (verstorben)<br />

2010 – 2018 Herr Oliver Freidler,<br />

Frau Irmgard Freidler<br />

Okt. – Dez. 2018 Herr Martin Steidl<br />

Dez. 2018 – März 2019 Führungslos,<br />

lt. Handelsregister Frau I. Freidler<br />

April 2019 – heute Herr André Freidler<br />

Feb 2020 – heute Herr Mike Hennig<br />

das Essen für die Samstagsschicht plötzlich<br />

<strong>nicht</strong> mehr kostenlos oder werden<br />

Zwischenlohn und Prämien für Sonderschichten<br />

abgeschafft. Das Vertrauen in<br />

die Firma schwindet.<br />

Daniel Zielke und Anja Reisky fangen<br />

an zu überlegen, wo gibt es Hebel, um<br />

etwas zu erreichen? „Uns wurde klar:<br />

Unorganisiert ist <strong>nicht</strong>s mehr möglich“,<br />

sagt Reisky. <strong>Man</strong> müsste einen Betriebsrat<br />

gründen, damit <strong>sich</strong> etwas ändert. Der<br />

hat gesetzlich verbriefte Rechte. Aber<br />

wie? Das wussten sie <strong>nicht</strong>.<br />

Der Zeitpunkt ist günstig. Die Rahmenbedingungen<br />

haben <strong>sich</strong> zugunsten<br />

der Beschäftigten verschoben. Brummende<br />

Konjunktur, Stabilisierung der ostdeutschen<br />

Wirtschaft und der allseits beklagte<br />

Fachkräftemangel – all das stärkt<br />

die Position von Arbeitnehmern. In den<br />

Jahren hoher Arbeitslosigkeit wirkte die<br />

Drohung, „draußen warten zehn andere“.<br />

Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Beschäftigten<br />

wissen um ihren Wert. Viele<br />

Firmen suchen Personal. Sie sind <strong>nicht</strong><br />

mehr so einfach ersetzbar. Das macht<br />

selbstbewusst.<br />

Daniel Zielke recherchiert im Bundesanzeiger<br />

Zahlen und Fakten zu ihrer<br />

18


Firma. Neben dem Werk in Riesa gehört<br />

zur Albgold-Gruppe das Stammwerk im<br />

schwäbischen Trochtelfingen und ein<br />

Werk in Spaichingen. Es ist ein spannendes<br />

Dokument: Dadurch erfahren sie,<br />

dass die Kollegen im Westen 25 Prozent<br />

Nachtschichtzulage bekommen - so ist es<br />

gesetzlich vorgeschrieben - während sie<br />

in Riesa zunächst mit 10, später dann mit<br />

15 Prozent abgespeist werden. Und sie<br />

erfahren, was die Leute bei Alb-Gold verdienen:<br />

nämlich rund 800 Euro mehr, für<br />

die gleiche Arbeit. „Das hat das Fass zum<br />

Überlaufen gebracht“, sagt der Vertriebsleiter.<br />

Teigwaren Riesa – das Stiefkind der<br />

Familie.<br />

Es war schon bekannt, dass das Verhältnis<br />

zwischen Belegschaft und Familie<br />

in den beiden Westbetrieben enger ist.<br />

Die verbreitete Wahrnehmung: „Aus Riesa<br />

kommen die Vorschläge, bei Alb-Gold<br />

werden sie umgesetzt.“ Die Kollegen dort<br />

müssten <strong>nicht</strong> mal fragen für Lohnerhöhungen.<br />

»Aber warum sollen wir weniger verdienen?«,<br />

fragt Zielke. Fast 30 Jahre nach<br />

der Wende. Das sehen sie <strong>nicht</strong> mehr ein.<br />

Die Firma verweist auf „regional unterschiedliche<br />

Absatzmärkte“ und betriebswirtschaftliche<br />

Gründe. Zielke lässt das<br />

<strong>nicht</strong> gelten: „7 Millionen Euro Gewinn<br />

2016. Da ist so viel Speck, die können<br />

bessere Löhne locker stemmen.“ Zudem:<br />

Miete und Nudeln kosten in Sachsen genauso<br />

viel wie im Schwabenland.<br />

Miese Löhne, Ost-West-Differenzen,<br />

Jobalternativen, all das bildet den Boden<br />

für das Aufbegehren. Aber es kommt darauf<br />

an, dass jemand das Feld bestellt.<br />

Daniel Zielke, Anja Reisky und eine weitere<br />

Frau, Carola Werner, alle drei Mitte<br />

30 bis Mitte 40, nehmen die Sache in die<br />

Hand.<br />

Frisch gewählt und voller Tatendrang – der<br />

1. Betriebsrat bei Teigwaren Riesa GmbH (o.l.: Anja<br />

Reisky, Antje Frohberg, Andreas Wolf, Carola Werner,<br />

Anke Kühne, u.l. Frank Meyer, Daniel Zielke).<br />

»Am Anfang wussten wir gar <strong>nicht</strong>s« –<br />

Oder: Wie man einen Betriebsrat gründet<br />

Die drei wenden <strong>sich</strong> an die Gewerkschaft<br />

Nahrung-Genuss-Gaststätten, kurz<br />

NGG. An einem Freitag im März findet<br />

ein erstes geheimes Treffen statt – zur Si-<br />

19


»Ich war neugierig<br />

auf die Betriebsratsarbeit.<br />

20 Jahre war<br />

ich Fernfahrer. Da kämpft<br />

jeder für <strong>sich</strong> selbst, bei<br />

Teigwaren Riesa habe<br />

ich einen Wahnsinns<br />

Zusammenhalt von 150<br />

Leuten kennengelernt.«<br />

Jirka Tartsch, 48, seit 2015 Fahrer im Lager,<br />

Mitglied des Betriebsrats<br />

cherheit <strong>nicht</strong> in Riesa, sondern im 30<br />

Kilometer entfernten Döbeln, bei McDonalds.<br />

Sie wissen weder wie man einen<br />

Betriebsrat gründet noch wie man einen<br />

Tarifvertrag verhandelt. „Aber wir wussten,<br />

was wir wollten“, erklärt Anja Reisky.<br />

Gerechte Löhne und Arbeitsbedingungen.<br />

Sie treffen dort auf Thomas Lißner,<br />

ein Gewerkschaftssekretär, der seinem<br />

Gefühl vertraut. Was er erzählt, bestärkt<br />

die Nudelwerker in ihrem Plan: „Das war<br />

Zukunft.“ Carola Werner: „Wir waren so<br />

auf 180, dass wir gleich am nächsten<br />

Tag loslegen wollten.“ Ihr Elan steckt Lißner<br />

an. Obwohl es bislang bei Teigwaren<br />

Riesa nur vier Gewerkschaftsmitglieder<br />

gibt, sagt er Unterstützung zu. Und dann<br />

geht es Schlag auf Schlag. Montag darauf<br />

lädt er offiziell zur Wahlversammlung ein.<br />

Zehn Tage später findet sie statt. Das Interesse<br />

ist groß: 120 Beschäftigte von 180<br />

sind anwesend und wählen die drei stillen<br />

Initiatoren zum Wahlvorstand. Zwei Monate<br />

später ist der Betriebsrat gegründet.<br />

Etappe 1 erfolgreich absolviert.<br />

Geschwindigkeit ist wichtig. Regelmäßig<br />

scheitern ähnliche Initiativen in<br />

Deutschland, weil Leute noch vor der<br />

Wahl des Wahlvorstands eingeschüchtert<br />

oder gar gekündigt werden. Erst dann<br />

gibt es Schutz. Viel zu spät, aber Rechtslage<br />

in einem Land, das Mitbestimmung<br />

und Koalitionsfreiheit in Feierstunden<br />

gern hochleben lässt.<br />

Bei Teigwaren Riesa scheint die Geheimhaltung<br />

erstmal unnötig. Die Firmenleitung<br />

zeigt <strong>sich</strong> konstruktiv und will<br />

mit dem Betriebsrat zusammenarbeiten.<br />

Thomas Lißner lobt den Umgang sogar<br />

öffentlich in einem Interview als gutes<br />

Beispiel, wie betriebliche Mitbestimmung<br />

funktionieren kann.<br />

Indirekt tragen die Eigner zur wachsenden<br />

Organisierung ihrer Mitarbeiter bei.<br />

Kurz vor der Wahl des Betriebsrats, Ende<br />

Juni, gibt die Geschäftsführung geplante<br />

Umstrukturierungen bekannt. <strong>Man</strong> wolle<br />

<strong>sich</strong> auf das Kerngeschäft – die Nudelproduktion<br />

– konzentrieren, heißt es. Der<br />

Gastronomiebereich wird deutlich eingeschränkt,<br />

neun Mitarbeiter einfach gekündigt.<br />

Somit konnte man die Mitbestimmung<br />

noch umgehen. Die NGG übernimmt für<br />

alle den Rechtsschutz und klagt. Einige bekommen<br />

wenigstens Abfindungen.<br />

Auch an der Wahl des Betriebsrats<br />

beteiligt <strong>sich</strong> die Belegschaft quasi geschlossen:<br />

138 von 142 wahlberechtigten<br />

20


Teigwaren Riesa – ein<br />

Betrieb mit Tradition<br />

Riesa<br />

Sachsen<br />

Jedes Kind der DDR hat Nudeln aus Riesa<br />

gegessen. Nach der Wende wird der Betrieb<br />

geschlossen. 1993 übernimmt ein westdeutscher<br />

Familienbetrieb, die Alb-Gold-Gruppe,<br />

das Werk in Riesa. Riesaer Nudeln sind bis<br />

heute „unangefochtener Marktführer“ in den<br />

neuen Bundesländern, schreibt das Unternehmen.<br />

Zur Alb-Gold-Gruppe der Familie Freidler gehört neben Teigwaren<br />

Riesa das Stammwerk im schwäbischen Trochtelfingen<br />

sowie ein Werk in Spaichingen mit jeweils um die 150 Mitarbeiter.<br />

Betriebsräte gibt es bis zum Jahr 2018 nirgendwo.<br />

Nach dem letzten veröffentlichten Konzernbericht von 2016<br />

wuchs der Gewinn der Alb-Gold-Unternehmensgruppe von 3,7<br />

Millionen Euro auf 6,7 Millionen Euro, die Umsatzrendite stieg<br />

von 4,3 Prozent auf 7,5 Prozent. Die sächsischen Nudelwerker<br />

tragen <strong>nicht</strong> unwesentlich zu diesem guten Betriebsergebnis<br />

bei.<br />

In Riesa ist die emotionale Bindung an den Traditionsbetrieb<br />

hoch. Jeder kennt einen, der dort arbeitet. Die Bindung an die<br />

„Nudelbude“ ist hoch, aber <strong>nicht</strong> an die Eigentümer. Denn<br />

klar ist: Satte Gewinne und eine hohe Eigenkapitalquote von<br />

90 Prozent werden gespart auf Kosten von Investitionen und<br />

Löhnen. Zwei Drittel der insgesamt 187 Arbeitnehmer bei Teigwaren<br />

Riesa verdienen bis zu ihrem Arbeitskampf knapp an<br />

der Mindestlohngrenze.<br />

21


Erste Aktivitäten des<br />

neugründeten Betriebsrates<br />

2018<br />

– Temperaturprotokolle (Hitze am Arbeitplatz)<br />

– Antrittsprämie für Sonderschichten angeschoben<br />

– Wasserspender gesperrt<br />

– Zusatzschichten <strong>nicht</strong> genehmigt<br />

– gesetzliches Einhalten der Ruhezeiten vehement<br />

gefordert und umgesetzt<br />

– Klagen zu gesetzlichen Nachtschichtzulagen mit den<br />

Mitarbeitern besprochen<br />

– Ausbildung von genügend Ersthelfern angeschoben<br />

– Betriebsversammlungen zum Vorstellen was der BR<br />

macht<br />

– Vorbereitung zur Gründung JAV<br />

– BR1 Seminar für den BR<br />

– Gründung Wirtschaftsausschuss<br />

2019<br />

– JAV Wahlen<br />

– Weitere Seminare<br />

– Einigungsstelle bzgl. BV beschlossen<br />

– Ersthelferkonzept, Brandschutzhelferkonzept<br />

– Gefährdungsbeurteilungen<br />

– Verhinderung Verkauf einer Produktionsmaschine<br />

an Schwesterunternehmen<br />

– Mitbestimmung bei der Installation neuer Kameras auf<br />

dem Firmengelände<br />

– Eingruppierungen durch den BR für TV<br />

– Stopp Preiserhöhung MA Essen (§87BetrVG)<br />

– Steuerung zum Verhindern der Ausgliederung des<br />

Nudelcenters<br />

– Temperaturen am Arbeitsplatz + Maßnahmen<br />

– Teilnahme an ASA Sitzungen<br />

»<strong>Man</strong>che Leute<br />

arbeiten hier seit 20<br />

Jahren und haben <strong>nicht</strong><br />

mal 10 Euro die<br />

Stunde. Das fand ich<br />

unwürdig.«<br />

Marcus Däbritz, 35, Schichtleiter Verpackung, seit<br />

2014 im Betrieb, Mitglied des Betriebsrats<br />

Mitarbeitern geben ihre Stimme ab. Gewählt<br />

werden 7 ordentliche Mitglieder und<br />

7 Nachrücker. Die Kandidaten sind bunt<br />

gemischt, aus allen Teilen des Betriebs,<br />

<strong>Man</strong>n, Frau, jeden Alters. Einige haben<br />

<strong>sich</strong> spontan bei der ersten Betriebsversammlung<br />

gemeldet, andere werden direkt<br />

angesprochen. „Aus jedem Bereich<br />

sollte jemand dabei sein“, erklärt Carola<br />

Werner, „um Verankerung und Kommunikation<br />

zu gewährleisten.“ Alle Kollegen<br />

sollen einen Ansprechpartner in ihrem<br />

direkten Umfeld haben. Und, ebenfalls<br />

wichtig für die spätere Durchsetzungskraft:<br />

Die Kandidaten haben Erfahrung und ein<br />

gutes Standing in der Belegschaft.<br />

Gleich am ersten Tag nach der Wahl<br />

nimmt der neue Betriebsrat seine Arbeit<br />

auf. Vorsitzender wird einer der drei Initiatoren,<br />

Daniel Zielke, 38 Jahre alt, seit<br />

sechs Jahren im Betrieb. Ein wöchentli-<br />

22


cher Sitzungsturnus wird verabredet, eine<br />

WhatsApp-Gruppe gegründet, Aufgaben<br />

werden geplant. Vorher konnte der Arbeitgeber<br />

in allen Bereichen allein bestimmen.<br />

Jetzt muss <strong>sich</strong> die Geschäftsführung<br />

mit dem Betriebsrat in vielen Fragen<br />

abstimmen, zum Beispiel was Arbeitszeit,<br />

Einstellungen und Kündigungen angeht.<br />

Über mangelndes Interesse können<br />

<strong>sich</strong> die frisch gebackenen Betriebsräte<br />

<strong>nicht</strong> beklagen. Ständig werden sie<br />

von Kollegen gefragt, was sie gerade<br />

besprochen haben. Zu viel Druck? Verantwortung?<br />

Ja, das sei auch dabei, sagt<br />

Marcus Däbritz, aber man fühle <strong>sich</strong><br />

auch gebraucht. Der Betriebsrat weiß:<br />

150 Leute stehen hinter ihnen. In diesem<br />

Wissen tritt er der Geschäftsführung<br />

gegenüber.<br />

Erstes Ziel: volle Nachtschichtzulage.<br />

„Es kommt <strong>nicht</strong> nur aufs Reden<br />

an, sondern vor allem aufs Tun“, sagt<br />

NGG-Sekretär Lißner. Systematisch werden<br />

„Schichtler“ angesprochen und dafür<br />

geworben, diese Zuschläge geltend zu<br />

machen. Dabei läuft am Anfang einiges<br />

schief, auch auf Seiten der Gewerkschaft.<br />

Aber sie geht offen mit Kritik um. Am<br />

Ende sind 25 Prozent Nachtzuschlag ordentlich<br />

im Tarifvertrag geregelt. Gemeinsam<br />

kann man etwas bewegen.<br />

»Ich war gleich<br />

Feuer und Flamme,<br />

als mich Anja für den<br />

Betriebsrat gefragt hat.<br />

Es musste <strong>sich</strong> etwas<br />

ändern. <strong>Man</strong> will ja auch<br />

ein bisschen Rente.«<br />

Anke Kühne, 48, stellvertretende Schichtleiterin<br />

Verpackung, seit 2000 im Betrieb, Mitglied des<br />

Betriebsrats<br />

„Tarifvertrag wir kommen“ bedeutet auch, dass 50 %<br />

aller Beschäftigten Gewerkschafter*innen sind.<br />

Aus 4 mach 120 – Aufbau der Gewerkschaft im Betrieb<br />

Nachtzuschläge sind wichtig. Aber die<br />

Beschäftigten wollen mehr. Mehr als zehn<br />

Euro die Stunde, mehr Weihnachtsgeld,<br />

mehr Urlaub, bessere Schichtpläne. Von


»Ich habe mich bei<br />

der 1. Betriebsversammlung<br />

direkt<br />

gemeldet. Bin dabei!<br />

Ich hatte bereits ein paar<br />

Erfahrungen: In einer<br />

Metallurgiefirma habe<br />

ich den Betriebsrat<br />

mitgegründet und auch<br />

in der Nudelbude 2014/15<br />

schon einen zaghaften<br />

Versuch gestartet. Dieser<br />

Versuch wurde leider im<br />

Keim erstickt.«<br />

Frank Meyer, 60, seit April 2013 Anlagenfahrer<br />

Produktion, Nachfolger von Daniel Zielke als<br />

Betriebsratsvorsitzender<br />

Anfang an gibt es die Idee, perspektivisch<br />

einen Tarifvertrag abzuschließen.<br />

Dafür braucht man die NGG. Aber dafür<br />

braucht die NGG Mitglieder. Nur so kann<br />

sie stark verhandeln.<br />

Warum bisher fast niemand organisiert<br />

ist? Die Antwort ist so einfach wie fatal. Die<br />

Gewerkschaft hat einfach nie den Weg der<br />

Nudelwerker gekreuzt. Nicht in diesem,<br />

aber auch <strong>nicht</strong> in früheren Betrieben.<br />

Und dann konnte man ja auch immer auf<br />

die anderen verweisen, die ja auch <strong>nicht</strong>...<br />

Zehn Mitglieder bei 150 Beschäftigten<br />

bringen ja <strong>nicht</strong>s... Doch plötzlich haben<br />

die Menschen bei Teigwaren Riesa das<br />

Gefühl, dass <strong>sich</strong> tatsächlich etwas verbessern<br />

könnte. Es gibt einen Aufbruch:<br />

„Schon ab der Wahl des Wahlvorstands war<br />

es ein Selbstläufer“, sagt Carola Werner.<br />

„Mitgliederwerbung war so leicht.“<br />

Nach und nach sprechen die Betriebsräte<br />

sämtliche Beschäftigte in allen<br />

Abteilungen persönlich an: „Nur gemeinsam<br />

werden wir etwas verbessern“, „Den<br />

Mitgliedsbeitrag habt ihr mit Tarifvertrag<br />

in einem halben Jahr wieder drin“, „Der<br />

Betriebsrat hat kein Geld. Aber die Gewerkschaft:<br />

Sie kann dir Rechtsschutz<br />

und Streikgeld geben.“<br />

Am wirksamsten war dieser Spruch:<br />

„Entweder du bist Teil der Lösung oder Teil<br />

des Problems.“ sagt Anja Reisky und lächelt.<br />

Darauf kommt es an, sagen die Betriebsratsmitglieder:<br />

persönliche Gespräche,<br />

Aufklärung, was eine Mitgliedschaft<br />

bringt. Wissen vermitteln, Ängste nehmen<br />

und ein Ziel ausgeben: Hier stehen<br />

wir jetzt, da können wir hin. Wenn du<br />

das willst, musst du eintreten. Und wenn<br />

wir das Ziel <strong>nicht</strong> erreichen, kannst du<br />

ja auch wieder austreten. Ein bisschen<br />

Schubsen und Drängeln ist auch dabei.<br />

Denn einige wollen erstmal abwarten, wie<br />

<strong>sich</strong> alles entwickelt. Dabei wird genau<br />

andersrum ein Schuh daraus: Je mehr<br />

sofort Mitglied werden, desto früher geht<br />

es los. Was wenig zieht, sind politische<br />

Grundsatzvorträge. Nein, die Gewerkschaft<br />

muss schon glaubhaft machen,<br />

dass <strong>sich</strong> mit ihrer Hilfe konkret etwas<br />

an den Lebensverhältnissen verbessert.<br />

„Und dafür müssen die Leute einen Horizont<br />

sehen“, sagt Thomas Lißner. Sie<br />

setzen ein transparentes Ziel: Bis Ende<br />

des Jahres sollen es 50 Prozent NGG-Mitglieder<br />

in der „Nudelbude“ werden. Dann<br />

fordert die Gewerkschaft zu Tarifverhand-<br />

24


lungen auf. Schon im September ist das<br />

Ziel erreicht.<br />

Aus vier Gewerkschaftsmitgliedern<br />

werden binnen eines Jahres stolze 123.<br />

Das 50. und das 100. Neumitglied wird<br />

von der NGG mit einem Präsent begrüßt.<br />

Die letzten werden während des Arbeitskampfes<br />

überzeugt. 85 Prozent der Belegschaft<br />

sind heute organisiert.<br />

»Ich war sehr skeptisch.<br />

Die Stimmung<br />

war schlecht. Ständig<br />

gab es Störungen, weil<br />

<strong>nicht</strong>s in Wartung investiert<br />

wurde. Ich hätte <strong>nicht</strong><br />

gedacht, dass alles so gut<br />

wird.«<br />

Ralf Seipel, 50, seit 2017 Anlagenfahrer<br />

Herstellung, vorher 29 Jahre bei einem kleinen<br />

Bäckereibetrieb angestellt<br />

Entwicklung der Mitgliederzahlen<br />

Ca. 150 Mitarbeiter sind durchschnittlich bei den<br />

Teigwaren Riesa beschäftigt.<br />

6 %<br />

BR-Wahl Juli 2018<br />

50 %<br />

65 %<br />

85 %<br />

März 2018<br />

September 2018<br />

1. Warnstreik<br />

November 2018<br />

Stand März 2020<br />

25


26<br />

»Drei Männer aus Chemnitz<br />

wollten einen Betriebsrat<br />

gründen. Dem Hauptinitiator<br />

wurde gekündigt, die anderen<br />

eingeschüchtert. Sie<br />

hatten zu einer Versammlung<br />

zur Wahl des Wahlvorstands<br />

eingeladen. Vor Gericht<br />

boten die Arbeitgeber<br />

mehrere Tausend Euro als<br />

Abfindung an, verbunden<br />

mit der drohenden Ansage:<br />

›Bei uns werden sie eh <strong>nicht</strong><br />

mehr glücklich und Pizza<br />

können sie auch bei anderen<br />

ausfahren‹.«


» Riesa hat auch bei uns einen<br />

Lernprozess bewirkt.«<br />

Interview mit NGG-Gewerkschaftssekretär Thomas Lißner<br />

Kein Tarifvertrag, kein Betriebsrat, Löhne<br />

knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn<br />

– das galt für Teigwaren Riesa 30 Jahre<br />

lang. Wie typisch ist das für die Ernährungswirtschaft<br />

in Sachsen?<br />

Auf jeden Fall sehr typisch. Leider. Die<br />

Tarifbindung in Sachsen ist laut einer<br />

Studie vom Mai 2019 mit 39 Prozent der<br />

Beschäftigten besonders niedrig. Das gilt<br />

über alle Branchen hinweg. Zum Vergleich:<br />

In Nordrhein-Westfalen sind fast 70<br />

Prozent der Beschäftigten tarifgebunden.<br />

Die Unternehmen in Sachsen kämpfen<br />

auch besonders engagiert gegen Gewerkschaften.<br />

Und die Politik lässt das zu.<br />

Woran machen Sie das fest?<br />

Ich erlebe das tagtäglich. Geschichten<br />

wie die eines Pizzalieferanten in Chemnitz<br />

sind überall zu finden. Drei Männer<br />

aus Chemnitz wollten einen Betriebsrat<br />

gründen. Dem Hauptinitiator wurde gekündigt,<br />

die anderen eingeschüchtert.<br />

Sie hatten zu einer Versammlung zur<br />

Wahl des Wahlvorstands eingeladen. Vor<br />

Gericht boten die Arbeitgeber mehrere<br />

Tausend Euro als Abfindung an, verbunden<br />

mit der drohenden Ansage: ›Bei<br />

uns werden sie eh <strong>nicht</strong> mehr glücklich<br />

und Pizza können sie auch bei anderen<br />

ausfahren‹. Na, und was machen Menschen,<br />

die noch nie so viel Geld hatten?<br />

Unternehmen lassen <strong>sich</strong> es einiges kosten,<br />

einen Betriebsrat zu verhindern.<br />

So ist es. Für lange Zeit wird dort niemand<br />

mehr das Wort Betriebsrat in den Mund<br />

nehmen. So funktioniert das. In der sächsischen<br />

Ernährungsindustrie gibt es viele<br />

Betriebe, aber wenig Betriebsräte und<br />

Tarifverträge. Deshalb sind tarifgebundene<br />

Firmen wie Frosta in Lommatzsch, Cargill<br />

in Riesa, Bautz‘ner Senf oder Unilever in<br />

Auerbach so wichtig. Aber auch dort wird<br />

noch weniger verdient als in vergleichbaren<br />

Betrieben im Westen.<br />

Das sind im Einzelfall?<br />

Zum Beispiel etwa 800 Euro Abstand<br />

zwischen Ost und West beim Weltkon-<br />

Thomas Lißner, 40, arbeitete 20 Jahre bei Annaberger<br />

Backwaren GmbH, einer Bäckerei im Erzgebirge<br />

mit 190 Beschäftigten, bevor er hauptamtlich<br />

zur NGG wechselte. Als langjähriger Betriebsrat<br />

weiß er, wie man Beschäftigte überzeugt und<br />

organisiert.<br />

27


Die Auseinandersetzungen und Entwicklungen<br />

im Betrieb waren in der Presse vor Ort und zum Teil<br />

auch überregional immer präsent.<br />

zern Cargill. Für die gleiche Arbeit! Das<br />

ist empörend.<br />

Beschäftigte in Ostdeutschland wehren<br />

<strong>sich</strong> zunehmend gegen diese Benachteiligung.<br />

Wie entscheidet die NGG, wann sie<br />

<strong>sich</strong> in einem Haus in den Konflikt begibt?<br />

Die Sekretäre haben einigen Spielraum.<br />

Aber es gibt natürlich Erfahrungswerte<br />

und danach braucht man einen gewissen<br />

Organisationsgrad. Als <strong>sich</strong> die Leute von<br />

Teigwaren Riesa an mich wandten, hatte<br />

ich zuerst gar keine Lust, das anzugehen,<br />

weil ich gerade einen Riesenkonflikt mit<br />

der Molkerei Ehrmann hinter mir hatte.<br />

Da reagierte die Arbeitgeberseite auch<br />

sehr aggressiv auf Tarifbindung und ich<br />

war eigentlich ziemlich durch. Aber dann<br />

dachte ich mir: Schlechter kann es eigentlich<br />

<strong>nicht</strong> mehr werden. Wir machen das.<br />

Auch bei TWR sah es am Anfang ja <strong>nicht</strong> so<br />

gut aus. Die NGG hatte nur vier Mitglieder<br />

in einer Belegschaft mit 180 Beschäftigten.<br />

Was hat Ihnen Lust gemacht, die Sache zu<br />

wagen?<br />

Wenn mir jemand sagt, er möchte einen<br />

Betriebsrat gründen, weiß ich genau:<br />

Wird das was oder wird das <strong>nicht</strong>s? Und<br />

28


»In ganz vielen Betrieben gibt es eine Mehrheit der<br />

Beschäftigten, die denkt, eigentlich bräuchten wir mal<br />

einen Betriebsrat. Aber die haben <strong>nicht</strong> den Mut, das<br />

anzuschieben.«<br />

diese drei haben mich bei unserem<br />

ersten Treffen bei McDonalds sofort<br />

überzeugt. Das war einfach so eine<br />

persönliche Vertrauenssache. Freitag<br />

war das erste geheime Treffen. Montag<br />

schrieb ich der Firmenleitung offiziell<br />

und kündigte an, dass wir bei TWR eine<br />

Wahlversammlung für einen Betriebsrat<br />

einberufen. Es ging holterdiepolter.<br />

Ist so eine offene Ankündigung <strong>nicht</strong><br />

riskant?<br />

Es gibt zwei Möglichkeiten, wer einlädt<br />

– einzelne Beschäftigte oder die<br />

Gewerkschaft. Ich habe aus der Hallo<br />

Pizza Geschichte gelernt und diesmal<br />

darauf bestanden, egal, was ihr sagt:<br />

Ich lade ein. Ihr wisst von <strong>nicht</strong>s. Wer<br />

dahintersteckt, wird erst bei der Wahlversammlung<br />

klar. Aber ab dann haben<br />

sie ja Kündigungsschutz. Zwei Monate<br />

nach dem ersten Treffen gab es bei Teigwaren<br />

Riesa wieder einen Betriebsrat.<br />

Und für den Organisationsgrad gab es gar<br />

keine Bedingungen von Ihrer Seite?<br />

Ich bin <strong>nicht</strong> der Typ, der fordert, bringt<br />

mir erstmal 15 Mitglieder, damit wir<br />

einen Betriebsrat wählen. Was ich aber<br />

schon sage: Wenn die Ziele umfassende<br />

Änderungen im Betrieb sind, dann<br />

braucht man einen Organisationsgrad<br />

von 50 Prozent, um loszulegen mit Tarifverhandlungen.<br />

Aber alle drei TWR-Kollegen<br />

haben mir gesagt: „Lass uns einen<br />

Betriebsrat wählen und dann geben wir<br />

dir Brief und Siegel: Wir organisieren<br />

dir die Bude.“ So war es dann auch.<br />

Innerhalb von vier Monaten hatten wir 80<br />

Prozent erreicht.<br />

Es wirkt so, als hätten alle nur darauf<br />

gewartet. Warum passierte so viele Jahre<br />

vorher <strong>nicht</strong>s?<br />

In ganz vielen Betrieben gibt es eine Mehrheit<br />

der Beschäftigten, die denkt, eigentlich<br />

bräuchten wir mal einen<br />

Betriebsrat. Aber die haben <strong>nicht</strong> den Mut,<br />

das anzuschieben. So war es auch bei<br />

TWR. Und dann kamen zum Glück Anja,<br />

Carola und Daniel. Und dann lief das.<br />

Einen „Glücksfall“ wird es aber doch fast<br />

überall geben.<br />

Vielleicht müssten wir als Gewerkschaft<br />

unsererseits mehr hinterher sein, einzelne<br />

Leute mit Einfluss und Standing in<br />

den Betrieben anzusprechen, die den<br />

Willen und die Durchsetzungskraft<br />

haben, solche Dinge durchzuziehen.<br />

Nach der Erfahrung in Riesa haben wir<br />

innergewerkschaftlich einige Prozesse<br />

umgestellt. Das alles hat auch bei uns<br />

einen Lernprozess bewirkt, den wir in die<br />

aktuelle Tarifrunde Ernährungswirtschaft<br />

einfließen lassen.<br />

Was hat die NGG gelernt?<br />

Mein Verständnis ist: Es ist <strong>nicht</strong> Aufgabe<br />

von Gewerkschaft zu agitieren, sondern<br />

29


»Warum soll der Osten weniger verdienen als der Westen?<br />

Unsere Tarifpolitik der letzten 20 Jahre hat zu zum Teil sehr<br />

schlechten Tarifabschlüssen wie dem sächsischen Entgelttarifvertrag<br />

geführt. Aber diese Zeiten sind vorbei.«<br />

Leuten Mut zu machen und sie zu befähigen,<br />

selbst aktiv zu werden. Es kommt<br />

darauf an, die Themen in den Betrieben<br />

zum Thema der Gewerkschaft zu machen<br />

und <strong>nicht</strong> umgekehrt. Also <strong>nicht</strong> wir<br />

müssen uns ausdenken, wo der Schuh<br />

wohl am meisten zwickt, sondern man<br />

muss die Leute in den Betrieben fragen.<br />

Was lief in Riesa anders?<br />

Wir haben die Leute viel mehr einbezogen.<br />

Das fängt schon bei kleinen<br />

Dingen an: Sonst haben wir die Plakate<br />

für die Leute gemacht. Wir wollten, dass<br />

die Gewerkschaft gut erkennbar rüberkommt.<br />

In Riesa haben das die Leute<br />

komplett selbst gemacht. Und an einem<br />

der Streiktage gab es einen Wettbewerb,<br />

in dem das schönste Plakat gekürt und<br />

prämiert wurde.<br />

Sie geben die Aktion dadurch ein stückweit<br />

aus der Hand.<br />

Klar, persönlich fand ich vielleicht die<br />

eine oder andere Formulierung etwas<br />

überzogen. Aber es war ja <strong>nicht</strong> mein<br />

Spruch, sondern Ausdruck der Wut von<br />

Mitarbeitern von Teigwaren Riesa. Es war<br />

ja <strong>nicht</strong> mein, sondern der Kampf dieser<br />

Leute. <strong>Man</strong> muss den Beschäftigten<br />

Raum lassen und im gesamten Prozess<br />

ehrlich sein. Darauf kommt es an.<br />

Die Firmenleitung fühlte <strong>sich</strong> in dem<br />

Tarifkampf ungerecht an den Pranger<br />

gestellt. <strong>Man</strong> orientiere <strong>sich</strong> ja schon am<br />

sächsischen Tarifvertrag, den die NGG<br />

verhandelt hat, argumentierte sie.<br />

Wir wollten <strong>nicht</strong> in die Ernährungswirtschaft<br />

Sachsen, sondern haben uns<br />

an einem vergleichbaren Tarifvertrag aus<br />

dem Westen orientiert.<br />

Mit welcher Begründung?<br />

Weil es keinen Grund gibt, es <strong>nicht</strong> zu<br />

tun. Warum soll der Osten weniger verdienen<br />

als der Westen? Unsere Tarifpolitik<br />

der letzten 20 Jahre hat zu zum<br />

Teil sehr schlechten Tarifabschlüssen<br />

wie dem sächsischen Entgelttarifvertrag<br />

geführt. Aber diese Zeiten sind vorbei.<br />

Wir müssen uns <strong>nicht</strong> an den schlechtesten<br />

Tarifverträgen orientieren, wenn man<br />

einen Organisationsgrad von 85 Prozent<br />

hat.<br />

Es gab während des Gesamtprozesses<br />

einige heikle Punkte. Zum Beispiel<br />

als die Firma den Beschäftigten in Riesa<br />

sieben Prozent mehr Lohn versprochen<br />

hat, aber ohne Tarifvertrag. Kam da die<br />

Einigkeit in der Belegschaft ins Wanken?<br />

Es gab einen einzigen großen Bedenkenträger<br />

- und der war ich. Als wir<br />

bei der Betriebsversammlung verkünden<br />

mussten, dass die Arbeitgeber 7 Prozent<br />

ohne Tarifvertrag geben wollten, da hatte<br />

ich große Angst, dass jetzt die Stimmung<br />

kippt. Aber da war was los! Die Belegschaft<br />

war, anders als von mir befürchtet,<br />

ganz klar: Wir lassen uns <strong>nicht</strong> verar-<br />

30


schen, das haben wir schon die ganzen<br />

Jahre mitgemacht. Wir wollen eine Unterschrift<br />

unter einen Tarifvertrag.<br />

Fünf Warnstreiks, Zusagen, immer wieder<br />

Verzögerungen – ist die Kampfbereitschaft<br />

da <strong>nicht</strong> irgendwann auch mal ermattet?<br />

Überhaupt <strong>nicht</strong>. Die haben mich getrieben.<br />

Ich war eher der Bremser. Die<br />

TWR-Beschäftigten wollten schon viel<br />

früher die Urabstimmung über einen unbefristeten<br />

Streik. Ich habe da gezögert<br />

und gesagt, lasst uns eine Strategie machen,<br />

es ist auch eure Kohle, wir müssen<br />

die anders unter Druck setzen. Aber die<br />

Leute wollten ein schnelles Ergebnis.<br />

Warum waren Sie so vor<strong>sich</strong>tig?<br />

Ich hatte einfach Sorge: Werden die<br />

Leute wieder draußen stehen, nach den<br />

ganzen Schreiben der Geschäftsleitung,<br />

den Versprechungen? Aber die Leute haben<br />

immer wieder vorm Tor gestanden.<br />

Die waren die Bewegung.<br />

Sie mussten für den ersten Tarifvertrag<br />

einige Kröten schlucken. Sie haben Weihnachtsgeld,<br />

Urlaubstage, Nachtschichtzulagen<br />

erreicht, über ein höheres Entgelt<br />

verhandeln sie aber erst jetzt. Zugleich<br />

steht weiterhin die Drohung im Raum,<br />

einen Betriebsbestandteil - das Nudelcenter<br />

- auszugliedern. Was macht den<br />

Arbeitskampf in Riesa für Sie dennoch zu<br />

einer Erfolgsgeschichte?<br />

Für mich war TWR ein Impulsgeber für<br />

Konflikte in anderen Firmen. Und für die<br />

Leute selbst war es die Erfahrung, dass<br />

man etwas verändern kann. Die Auseinandersetzung<br />

hat ihnen Kraft gegeben,<br />

endlich mal was umzukehren. Da wurde<br />

auch ein Stück Wendefrust verarbeitet<br />

und in eine Aufbruchstimmung umgewandelt:<br />

Wir können was bewegen.<br />

Wenn ein Arbeitgeber am Ende kleinlaut<br />

sagen muss, was soll ich denn machen,<br />

ich muss ja jetzt zustimmen - wie schön<br />

ist das! Eine negative Folge hat die<br />

Geschichte: Bei anderen Betrieben bin<br />

ich jetzt vielleicht zu anspruchsvoll. Ich<br />

habe halt gemerkt, wie einfach es sein<br />

kann, wenn alle an einem Strang ziehen.<br />

Gewusst habe ich das zwar immer, aber<br />

noch nie so erlebt.<br />

31


#WirSindDieGewerkschaft<br />

Insgesamt vertreten wir 13 Branchen: Gastgewerbe,<br />

Bäckerhandwerk, Backindustrie,<br />

Fischwirtschaft, Fleischindustrie, Getränkeindustrie,<br />

Milchwirtschaft, Zuckerindustrie,<br />

Tabakindustrie, Süßwarenindustrie, Obstund<br />

Gemüseindustrie<br />

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-<br />

Gaststätten (NGG) ...<br />

ist für Beschäftigte aus der Lebensmittelindustrie<br />

und dem Gaststättengewerbe da.<br />

organisiert und vertritt Mitglieder von kleinen Lebensmittelhandwerksbetrieben<br />

und Restaurants bis zu<br />

großen Unternehmen aus der Ernährungswirtschaft und<br />

Hotelketten.<br />

streitet für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen,<br />

für Gleichberechtigung und gegen Rassismus und<br />

Ausgrenzung.<br />

schließt jedes Jahr hunderte Tarifverträge, in denen <strong>sich</strong><br />

die Vielfalt der NGG-Branchen widerspiegelt.<br />

unterstützt die Gründung und Arbeit von Betriebsräten<br />

für die Rechte und Interessen der Beschäftigten.<br />

Die NGG-Regionen des Landesbezirks Ost. Dieser<br />

umfasst bis auf Mecklenburg-Vorpommern alle<br />

neuen Bundesländer inklusive Berlin.<br />

32


Kampf für Tarifverträge<br />

im Bäckerhandwerk.<br />

Hier Warnstreik bei<br />

Annaberger Backwaren<br />

aus dem Erzgebirge in<br />

Sachsen und bei der<br />

Wiener Feinbäckerei<br />

Heberer in Weimar/<br />

Thüringen.<br />

Auf den Weg gemacht für<br />

Lohnangleichung und<br />

eine unterste Lohngruppe<br />

von mindestens<br />

12 Euro. Betriebe der<br />

Tarifgebiete Ernährungswirtschaft<br />

Sachsen,<br />

Thüringen und<br />

Sachsen-Anhalt.<br />

Fast Food Workers<br />

United: Beschäftigte<br />

der Systemgastronomie<br />

kämpfen für einen<br />

armutsfesten Lohn.<br />

Mindestens 12 Euro!<br />

Hier: Nordsee und<br />

Starbucks.<br />

Tarifbewegung in der Milchwirtschaft Ost für die<br />

Angleichung der Entgelte Richtung Westniveau<br />

brachte im Flächentarifvertrag zwischen 2017 und<br />

2020 ein Lohnplus von 20 %. Hier Warnstreik bei<br />

der Altmark-Käserei Bismark und dem DMK-Werk<br />

Erfurt (Haustarifvertrag).<br />

33


34


Der Kampf um den Tarifvertrag:<br />

Streiks und Aktionen<br />

Vom ersten Aufschlag bis zur Unterschrift – sieben Monate<br />

müssen die sächsischen Nudelwerker für bessere Arbeitsbedingungen<br />

und einen Tarifvertrag kämpfen. Eine<br />

ziemlich lange Zeit, aber gemessen an den 25 Jahren<br />

davor auch wieder <strong>nicht</strong>.<br />

Es sind anstrengende, nervenaufreibende<br />

Monate, in denen alle Beteiligten<br />

etwas zum ersten Mal in<br />

ihrem Leben machen. Sie erleben Ängste<br />

und Un<strong>sich</strong>erheit, aber auch viele euphorische<br />

Momente. Jede Aktion überzeugt<br />

ein paar Kollegen mehr <strong>sich</strong> anzuschließen.<br />

Eine motivierende Erfahrung. Am<br />

Ende zahlt <strong>sich</strong> der Stress aus.<br />

Mit dem Erreichen der 50 Prozent-Marke<br />

fordert die NGG die Geschäftsleitung<br />

unverzüglich zu Tarifverhandlungen auf.<br />

Im Rahmen einer Betriebsversammlung<br />

übergibt sie das Schreiben offiziell. Ab<br />

jetzt bekommen die Mitarbeiter Gegenwind<br />

zu spüren. Die Firmenleitung macht<br />

deutlich: Von der Betriebsratswahl wurden<br />

sie überrascht, aber ab jetzt bestimmen<br />

sie wieder die Regeln. Und eine der<br />

wichtigsten besagt: keine Gewerkschaft.<br />

Immer wieder versuchen die Eigentümer<br />

in den folgenden Monaten, einen Keil zwischen<br />

Belegschaft und Gewerkschaft zu<br />

treiben. Doch die sagt längst: #wirsindgewerkschaft.<br />

Der Arbeitskampf beginnt. Ein neuer<br />

Geschäftsführer soll für Ruhe sorgen. Martin<br />

Steidl, ein alter Hase aus dem tiefsten<br />

Westen, ist als Sanierer bekannt. Er soll die<br />

Firma auf Vordermann bringen. Auch er<br />

kein Freund von Gewerkschaften und doch<br />

klar<strong>sich</strong>tiger als die Eigentümer. Er schaut<br />

<strong>sich</strong> alle Bereiche der Firma an und legt<br />

dann ein Konzept vor, wie <strong>sich</strong> Riesa innerhalb<br />

von 5 Jahren neu aufstellen kann.<br />

Hauptpunkte dabei: Investitionen in Technik<br />

und Erhöhung der Löhne. Das fordern<br />

die Beschäftigten selbst seit Jahr und Tag.<br />

„Teigwaren Riesa ist<br />

#Unteilbar!“ Vor 40.000<br />

Teilnehmern berichteten<br />

Anja und Frank<br />

vom gemeinsamen<br />

Kampf um einen #Tarifvertrag.<br />

35


36


»Das gemeinsame<br />

Streiken hat uns zu<br />

einer Einheit<br />

geformt.«<br />

Es wird ein kurzes Intermezzo. Nach<br />

nur zwei Monaten nimmt Steidl seinen<br />

Hut. Als Grund gibt er Differenzen mit<br />

den Eigentümern an. Es habe <strong>sich</strong> herausgestellt,<br />

erklärt er der „Sächsischen<br />

Zeitung“, dass <strong>sich</strong> seine „Auffassung<br />

von Zielen, Strategien und Maßnahmen<br />

deutlich von denen der Gesellschafter<br />

unterscheidet“. Das schließe „besonders<br />

Menschenführung und den Umgang mit<br />

Betriebsrat und Gewerkschaft ein“. Offenkundig<br />

will Steidl in dem absehbar eskalierenden<br />

Konflikt <strong>nicht</strong> der Prellbock<br />

sein.<br />

Doch am Anfang, im Herbst 2018,<br />

lässt der neue Geschäftsführer erstmal<br />

ausrichten, <strong>nicht</strong> mit der Gewerkschaft<br />

über einen Haustarifvertrag zu verhandeln.<br />

„Wir – Gesellschafter und Geschäftsführung<br />

der Teigwaren Riesa haben ihren<br />

Wunsch diskutiert und die Entscheidung<br />

gefällt, keinen Entgelttarifvertrag mit der<br />

Gewerkschaft NGG abzuschließen.“<br />

Am 22. November treten die Riesaer<br />

Nudelwerker in den Ausstand - zum ersten<br />

Mal in der Firmengeschichte. Knapp<br />

die Hälfte der Belegschaft beteiligt <strong>sich</strong><br />

an dem zunächst zweistündigen Warnstreik.<br />

Bis zum Abschluss des Tarifver-<br />

#wirsinddiegewerkschaft: Wie viele andere Arbeitgeber<br />

in solchen Konflikten behauptete die Unternehmensführung,<br />

die Gewerkschaft komme als<br />

Dritter von außen, stiftet nur Unfrieden im Betrieb<br />

und spricht <strong>nicht</strong> für die Beschäftigten. Das wurde<br />

mit dieser Postkartenaktion widerlegt. Jede und<br />

jede Beschäftigte unterschrieb persönlich und<br />

stellte klar: Wir sind die Gewerkschaft!<br />

Carola Werner, 39, seit 2003 im Restaurant,<br />

Mitglied des Betriebsrats, wollte ein paar Jahre<br />

früher schonmal einen Betriebsrat gründen.<br />

Dies scheiterte damals an den vertrauenswürdigen<br />

Personen im Betrieb.<br />

37


Lohnentwicklungen in der ALB-GOLD<br />

Gruppe für das Jahr 2019<br />

Sehr geehrte Mitarbeiterinnen, sehr geehrte Mitarbeiter,<br />

auch im vergangenen Jahr 2018 konnte unsere<br />

Unternehmensgruppe wachsen und mit einem<br />

Umsatzplus von i.e. 4 % abschließen. Aufgrund von<br />

steigendem Kostendruck, insbesondere in den Bereichen<br />

Rohstoff und Personal, entwickelte <strong>sich</strong> die<br />

Ertragslage dennoch planmäßig negativ.<br />

Im Jahr 2019 stehen wir alle gemeinsam vor großen<br />

Herausforderungen. Der Markt wird immer härter<br />

umkämpft und erfordert unsere volle Konzentration<br />

auf das Kerngeschäft – dabei sind wir auf die bedingungslose<br />

und konstruktive Mithilfe von jedem<br />

Einzelnen von Ihnen angewiesen.<br />

Die Inflationsrate liegt laut dem Statistischen Bundesamt<br />

bei 1,9 % und damit noch über dem Vorjahr.<br />

Für das Jahr 2019 planen wir per Januar folgende<br />

Lohnanpassungen, um Ihnen auch über die generelle<br />

Teuerungsrate hinaus für die treue und gut Mitarbeit<br />

zu danken:<br />

– ALB-GOLD Teigwaren GmbH<br />

(inkl. ars publica GmbH): 4 %<br />

– Spaichinger Nudelmacher GmbH: 4 %<br />

– Teigwaren Riesa GmbH: 7 %<br />

*ausgenommen sind in den letzten 6 Monaten getroffene individuelle<br />

Vereinbarungen sowie vertraglich vereinbarte Stufenmodelle<br />

Die Familie Freidler verfolgt seit einigen Jahren das<br />

langfristige Ziel der Lohngleichstellung innerhalb<br />

der Unternehmensgruppe. Wir sind uns <strong>sich</strong>er, dass<br />

Sie uns in diesem Vorhaben verstehen und unterstützen.<br />

Wir freuen uns auf das bevorstehende Jahr 2019<br />

und sind uns <strong>sich</strong>er, dass wir Seite an Seite mit Ihnen<br />

jede Herausforderung bewältigen werden.<br />

Ihre Familie Freidler<br />

Großes Drama –<br />

Familienbetriebe als<br />

Verhandlungspartner<br />

So unpersönlich die Riesaer Nudelwerker<br />

ihre Chefs bis dahin kennengelernt haben,<br />

so emotional wird es während der Auseinandersetzung<br />

um einen Tarifvertrag.<br />

Da verlässt einer schon mal weinend eine Verhandlung, „wie<br />

Kinder, denen man einen Lolli weggenommen hat“, wie es vor<br />

Ort heißt. Die Familienunternehmer fühlen <strong>sich</strong> persönlich angegriffen<br />

und zeigen <strong>sich</strong> „enttäuscht“ von den Mitarbeitern.<br />

So manch kleinliche Reaktion sorgt bei diesen für Kopfschütteln.<br />

Sobald der Tarifvertrag unterzeichnet ist, erhöht die Familie<br />

den Preis für das Mittagessen von 3 auf 5 Euro. Nach einem<br />

Veto des Betriebsrats wird der Preis auf 3,30 Euro abgesenkt,<br />

allerdings die Auswahl eingeschränkt. Die Firma schneidet <strong>sich</strong><br />

damit ins eigene Fleisch. Die Folge ist: Die Leute essen hier<br />

seltener.<br />

Demokratische Mitbestimmung passt schlicht <strong>nicht</strong> ins Konzept<br />

von familiengeführten Betrieben. Sie fühlen <strong>sich</strong> als Herr<br />

im Haus. Mitreden ist <strong>nicht</strong>. In anderen Betrieben kommen<br />

<strong>Man</strong>ager in der Regel durch Qualifikation in ihre Position, im<br />

Familienbetrieb werden die Posten vererbt. Fähigkeiten in Personal-<br />

oder Betriebsführung gehören <strong>nicht</strong> notwendigerweise<br />

dazu. Auf Seiten der Gewerkschaft weiß man oft besser Bescheid<br />

über Gesetze zum Arbeitsrecht und Mitbestimmung.<br />

Andererseits erschweren Unerfahrenheit und Unprofessionalität<br />

auf Seiten der Familienunternehmer auch manch rationale<br />

Lösung. Sie müssen nun lernen, mit einem Betriebsrat zu<br />

arbeiten.<br />

Schreiben der<br />

Firmeneigner<br />

(links) zur Lohnentwicklung<br />

in den<br />

Unternehmen der<br />

Alb-Gold-Gruppe,<br />

das für Unmut<br />

sorgte. Denn in Euro<br />

waren 7 % in Riesa<br />

weniger als 4 % in<br />

den westdeutschen<br />

Standorten. Die 4<br />

% dort gab es freiwillig,<br />

um <strong>nicht</strong> den<br />

gleichen Stress zu<br />

bekommen wie in<br />

Riesa.<br />

38


Streiken muss wehtun! Im April scheiterte der Arbeitgeberverband damit, die<br />

Arbeitsniederlegungen gerichtlich zu untersagen. Aber sein Antrag auf Erlass<br />

einer einstweiligen Verfügung förderte den ökonomischen Schaden der Streiks<br />

von mehreren hunderttausenden Euro zu Tage. Das war die Unternehmensführung<br />

bereit hinzunehmen, um einen Tarifvertrag zu verhindern. Erst die<br />

Ankündigung unbefristeter Streik brachte den Durchbruch.<br />

trags im April legen die sächsischen Nudelwerker<br />

fünf Mal 24 Stunden lang die<br />

Arbeit nieder, dazu noch an zwei halben<br />

Tagen. Zuletzt beteiligen <strong>sich</strong> 80 Prozent<br />

der Belegschaft, alle drei Schichten sind<br />

lahmgelegt. Alle streiken mit. Auch die<br />

Nachtschichtler bleiben noch bis lange<br />

nach Feierabend, bevor sie gegen Mittag<br />

nach Hause gehen. Zu der Zeit sind alle<br />

da, die <strong>nicht</strong> im Urlaub oder krank sind.<br />

»Wenn wir streiken, steht die Produktion<br />

still«, sagt Daniel Zielke. Es ist <strong>nicht</strong> nur<br />

ein Spruch aus dem Arbeitskampfwortschatz.<br />

Keine Nudel läuft vom Band. Das<br />

Unternehmen bestätigt einen „massiven<br />

wirtschaftlichen Schaden“ durch die<br />

Warnstreiks. 320.000 Euro Umsatz lässt<br />

es <strong>sich</strong> durch seine Verweigerung pro<br />

Streiktag entgehen. Ein Versuch, einen<br />

Streik gerichtlich zu verhindern, scheitert.<br />

Das Gericht bestätigt das Streikrecht<br />

der Nudelwerker. Die NGG kommt für die<br />

Einkommensverluste ihrer Neumitglieder<br />

auf und zahlt unbürokratisch Streikgeld.<br />

Eine Existenzfrage, gerade im Niedriglohnsektor.<br />

Es gibt <strong>nicht</strong>s Gutes, außer man tut es – zur Streikstrategie<br />

Bei Arbeitskämpfen etwa in der Metallindustrie<br />

heißt es oft, die haben diesen<br />

Streik lange im Voraus geplant. Die wollen<br />

ja nur Mitglieder gewinnen und Stärke<br />

zeigen. Das Vorgehen in Riesa folgt keinem<br />

lang gehegten Plan, sondern wird Ad<br />

Hoc beschlossen – abhängig davon, wie<br />

die Geschäftsleitung reagiert.<br />

Nach zwei Streiks Ende 2018 scheint<br />

im Januar 2019 der Durchbruch da: Die<br />

Firma erklärt <strong>sich</strong> endlich zu Tarifverhandlungen<br />

mit der Gewerkschaft bereit.<br />

Diese legt die Forderungen vor: 1,50 Euro<br />

pro Stunde mehr oder 15 Prozent, zudem<br />

Verbesserungen bei Urlaub, Weihnachtsgeld,<br />

Schichtzulagen. Orientiert hat man<br />

<strong>sich</strong> an einem Tarifvertrag einer vergleichbaren<br />

Nudelfirma in der Nachbarschaft<br />

von Alb-Gold, zurechtgestrickt auf Riesa.<br />

Bei der 1. Tarifverhandlung am 16.<br />

Januar werden 7 Prozent erreicht. Ein<br />

Kompromiss, mit dem die Belegschaft le-


40


en kann. Die Geschäftsleitung sagt ihre<br />

Unterschrift unter eine tarifliche Vorvereinbarung<br />

zu, doch macht dann einen Rückzieher.<br />

Drei Tage später kann sie <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong><br />

mehr erinnern. Immer wieder läuft das so.<br />

Hin und Her. Fristen verstreichen. Ein Spiel<br />

auf Zeit. Die Beschäftigten sind wütend<br />

über den Wortbruch und zeigen, was sie<br />

können: Innerhalb von 14 Tagen legen sie<br />

drei Mal für 24 Stunden die Arbeit nieder.<br />

Die Tage werden gezielt so gewählt, dass<br />

es wirklich weh tut. Am 12. Februar ist das<br />

Ziel erreicht: Die Firmenleitung setzt ihre<br />

Unterschrift unter die tarifliche Vorvereinbarung.<br />

Am 25. März soll alles eingetütet<br />

werden. Der 6. Warnstreik wird abgesagt.<br />

Was zu diesem Zeitpunkt keiner ahnt: Sie<br />

werden erneut hingehalten werden.<br />

Wie Solidarität entsteht<br />

Solidarität kann man <strong>nicht</strong> beschließen,<br />

die muss wachsen. „Durch die Streiks sind<br />

wir zusammengerückt“, sagt Carola Werner.<br />

Das verlorene Gemeinschaftsgefühl,<br />

im Osten nach der Wende oft beklagt, hier<br />

im Arbeitskampf wird es wiedergefunden.<br />

Und so ein Streik ist gut fürs Selbstbewusstsein.<br />

Denn nun merken die Teigwaren-Mitarbeiter,<br />

es bringt ja etwas, was wir<br />

hier tun. Die Eigentümer reagieren. Nicht<br />

sofort, wie es die Streikenden wünschen.<br />

Aber sie sind in Zugzwang, müssen handeln,<br />

können <strong>nicht</strong> mehr abtauchen, wie<br />

sie es bisher getan haben, wenn Probleme<br />

angesprochen wurden. „Natürlich hatte<br />

ich auch immer mal Angst, dass das alles<br />

<strong>nicht</strong>s wird“, sagt Marcus Däbritz. Aber<br />

solche Momente, die jeder der Aktivisten<br />

kennt, werden aufgefangen von Kolleginnen<br />

und Kollegen, die <strong>sich</strong> gegenseitig<br />

Mut machen.<br />

Die Beschäftigten in Riesa gestalten<br />

die Aktionen selbst. Sie entwerfen Plakate<br />

mit ihren Forderungen und Wünschen<br />

an die Familie Freidler, in einem Wettbewerb<br />

wird das beste Plakat prämiert.<br />

Berichte und Fotos werden über soziale<br />

Medien verbreitet. Transparenz ist wichtig.<br />

Es kommt darauf an, dass alle Bescheid<br />

wissen, <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong> übergangen<br />

Bericht über den<br />

bisherigen Weg der<br />

Auseinandersetzung<br />

im Februar 2019<br />

auf der „Konferenz<br />

gewerkschaftliche<br />

Erneuerung“ der<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

in Braunschweig.<br />

41


fühlen. Warum passiert das jetzt, was<br />

kommt als nächstes? Wöchentlich informieren<br />

Betriebsrat und Gewerkschaft<br />

per Aushang über ihre Schritte. Eine<br />

Streikzeitung wird herausgegeben. Die<br />

Gewerkschaft tut <strong>nicht</strong>s über die Köpfe<br />

der Leute hinweg. Sie hält engen Kontakt.<br />

„Wir waren immer gut einbezogen“,<br />

sagt Anja Reisky. Während des Warnstreiks<br />

am 11. Februar etwa: Zeitgleich<br />

laufen drinnen Verhandlungen zwischen<br />

NGG und Geschäftsleitung. Doch die<br />

kommen <strong>nicht</strong> weiter, die NGG schlägt<br />

einen Kompromiss vor. Darüber werden<br />

die Leute vor dem Tor noch am selben<br />

Tag informiert. Sie tragen den Verhandlungsschwenk<br />

mit. Am Ende des Tages<br />

steht das erste Tarifvorergebnis.<br />

Wie man streikt<br />

Radfahren lernt man <strong>nicht</strong> durchs Lesen,<br />

und so ist es auch mit dem Streiken. <strong>Man</strong><br />

muss es tun. Was man braucht, ist <strong>nicht</strong><br />

viel: Informationen, Schilder, Leute. Der<br />

Betriebsrat hat die Kollegen aufgefordert,<br />

<strong>sich</strong> einzubringen. „Wir haben gesagt,<br />

lasst euch was einfallen für Sprüche.“<br />

42


»Während der Streiktage haben wir viel miteinander geredet.<br />

Es haben <strong>sich</strong> Kolleg*innen kennengelernt, die <strong>sich</strong> zuvor<br />

noch nie gesehen hatten. Das war schön, man bekommt ein<br />

ganz anderes Verhältnis zu den Leuten.«<br />

Und das haben die Kollegen getan. Mit<br />

überraschenden, kreativen Ergebnissen.<br />

Von einigen hatte man das gar <strong>nicht</strong> erwartet.<br />

Alle entdecken an <strong>sich</strong> und an<br />

Kollegen ungeahnte Seiten. Für die<br />

Streiktage bringt jeder etwas mit: Zelte,<br />

Biertische, Musik, Heizgeräte. „Die Zusammenarbeit<br />

von allen war einfach sensationell“,<br />

schwärmt Carola Werner.<br />

Es gibt eine Streikzeitung und während<br />

man draußen steht, wird vor allem<br />

eines getan: Miteinander geredet, erklärt<br />

Jirka Tartsch. „Wie fühlst du dich? Was erwartest<br />

du? Machen wir das richtig grad?“<br />

Solche Fragen. Anja Reisky aus dem Nudelcenter<br />

hat dadurch Leute kennengelernt,<br />

die sie noch nie gesehen hatte. Mit<br />

der Produktion hatte sie ja nie etwas zu<br />

Unterstützung von außen<br />

Öffentlichkeit ist wichtig für den Arbeitskampf.<br />

Sie motiviert und erzeugt Druck.<br />

tun. „Das war schön, man bekommt ein<br />

ganz anderes Verhältnis zu den Leuten.“<br />

Die Betriebsräte erinnern <strong>sich</strong> nur an<br />

eine einzige unschöne Situation, als eine<br />

Mitarbeiterin an einem Streiktag tatsächlich<br />

zu ihrem Arbeitsplatz will. Sie wurde<br />

durch die Geschäftsleitung mit der Aus<strong>sich</strong>t<br />

auf einen guten Posten unter Druck<br />

gesetzt. „Natürlich haben die Kollegen<br />

ihrer Enttäuschung Luft gemacht.“ Heute<br />

sehen sie es mit Nach<strong>sich</strong>t. „Jetzt steht<br />

sie wieder auf der richtigen Seite“, sagt<br />

Frank Meyer. „Es hat <strong>sich</strong> alles wieder eingerenkt.<br />

Wenn bei 120 Gewerkschaftsmitgliedern<br />

mal einer einen Fehler macht, ist<br />

das kein Problem.“ Ihren Posten hat die<br />

Mitarbeiterin übrigens <strong>nicht</strong> bekommen.<br />

Dabei hilft die NGG mit ihren Kontakten<br />

zu Presse, Politik und zu anderen Be-<br />

»Ich überbringe Ihnen heute die besten Grüße des<br />

CDA-Landesvorstandes Sachsen, der Sie darin bestärken<br />

möchte, <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong> von der Geschäftsführung<br />

einschüchtern zu lassen. Der Kampf, den Sie<br />

führen, ist ein harter Kampf. Wir wünschen Ihnen<br />

viel Kraft dafür. Lassen Sie uns wissen, wenn wir<br />

etwas für Sie tun können.«<br />

CDA Landesverband Sachsen<br />

Fetscherstraße 32/ 34 01307 Dresden<br />

Teigwaren Riesa GmbH<br />

Betriebsrat Daniel<br />

Merzdorfer Str. 21-25<br />

01591 Riesa<br />

Solidarität mit den Beschäftigten der Teigwaren Riesa GmbH<br />

Lieber Kollege Daniel,<br />

CDA-Landesgeschäftsstelle<br />

Fetscherstraße 32/34<br />

01307 Dresden<br />

Tel. 03 51 44917-0<br />

Fax 0351 44917-60<br />

Email: markus.kranich@cdu-sachsen.de<br />

LANDESVERBAND SACHSEN<br />

Dresden, 11.12.2018<br />

die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft steht für ein faires Miteinander von Arbeitgebern<br />

und Arbeitnehmern, denen es freisteht, nach dem Betriebsverfassungsgesetz einen Betriebsrat zu<br />

wählen und Tarifverträge auszuhandeln.<br />

Mit dem Verhalten der Geschäftsführung, einen gewählten Betriebsrat von der Arbeit freizustellen<br />

und mit Hausverbot zu belegen, stellt <strong>sich</strong> die Teigwaren Riesa GmbH gegen die in Deutschland<br />

geltenden Normen der Koalitionsfreiheit, die <strong>sich</strong> aus Artikel 9 Abs. 3 unseres Grundgesetzes<br />

<strong>ergeben</strong>. Als Christlich-Soziale können wir diesen Schritt der Geschäftsführung <strong>nicht</strong> nachvollziehen<br />

– vor allem <strong>nicht</strong>, weil in den vergangenen Jahren vernünftig gewirtschaftet und gute Renditen<br />

eingefahren wurden.<br />

Nudeln aus Riesa stehen für hochwertige Nahrungsmittel aus Sachsen, für die Konsumenten gern<br />

auch mehr Geld ausgeben. Wir haben heute die Geschäftsführung Ihres Unternehmens aufgefordert,<br />

<strong>sich</strong> mit dem Betriebsrat an den Verhandlungstisch zu setzen, einen guten Tarifvertrag abschließen<br />

und so in die Belegschaft und in den guten Ruf des Unternehmens zu investieren. Es ist meine feste<br />

Überzeugung, dass das Unternehmen nur dauerhaft erfolgreich sein kann, wenn die<br />

Geschäftsführung ihrer Fürsorgepflicht nachkommt und Mitarbeiter angemessen bezahlt.<br />

Ich überbringe Ihnen heute die besten Grüße des CDA-Landesvorstandes Sachsen, der Sie darin<br />

bestärken möchte, <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong> von der Geschäftsführung einschüchtern zu lassen. Der Kampf, den Sie<br />

führen, ist ein harter Kampf. Wir wünschen Ihnen viel Kraft dafür. Lassen Sie uns wissen, wenn wir<br />

etwas für Sie tun können.<br />

Mit kollegialen Grüßen<br />

Alexander Krauß MdB<br />

Landesvorsitzender<br />

CDA Sachsen<br />

Internet: www.sachsen-cda.de<br />

Landesvorsitzender Alexander Krauß MdB<br />

Landessozialsekretär Markus Kranich


Wie bei einem Fußballspiel die Fans<br />

auf der Tribüne zeigten die Solidaritätsschreiben:<br />

<strong>Man</strong> kämpft <strong>nicht</strong> allein und<br />

<strong>nicht</strong> nur für <strong>sich</strong>.<br />

Solidaritätsbrief von Beschäftigten der Molkerei<br />

Hainichen Freiberg (Ehrmann/Hofmeister): Im<br />

Frühjahr 2018 führten die Beschäftigten dort<br />

einen erbitterten Arbeitskampf um Tarifbindung.<br />

Die Arbeitgeber zogen alle Register, Unionbusting<br />

(Gewerkschafts-Bekämpfung und Zerstörung) in<br />

Reinkultur.<br />

trieben. Nach und nach wird ein größerer<br />

Kreis informiert: Erst laufen die Aktionen<br />

über Facebook und einen DGB-Verteiler,<br />

dann werden die Regionalzeitungen angesprochen,<br />

später geht eine bundesweite<br />

Pressemitteilung raus.<br />

Der Kampf der Beschäftigten bei Teigwaren<br />

Riesa erhält viel Unterstützung. Solidaritätsschreiben<br />

kommen von anderen<br />

Gewerkschaften, vielen Betriebsräten und<br />

aus der Politik von Abgeordneten der Linken,<br />

SPD, der Grünen und sogar von der<br />

Arbeitnehmervereinigung der CDU. Sie<br />

fordern von den Teigwaren-Eignern, ihrer<br />

sozialen Verantwortung nachzukommen<br />

und die Belegschaft am Erfolg der Firma<br />

teilhaben zu lassen. Stahlwerker aus Riesa<br />

und Gröditz, Mitarbeiter von Goodyear<br />

Dunlop Riesa, Frosta Lommatzsch, ODW<br />

Elsterwerda, Beschäftigte von Unilever<br />

Auerbach, Wernesgrüner, der Annaberger<br />

Backwaren bis hin zu „Putzi“ drücken die<br />

Daumen. Die Molkerei Hainichen-Freiberg<br />

schickt ein Gedicht. Bei ihren Streiks<br />

können die Nudelwerker Gäste aus der<br />

ganzen Republik begrüßen.<br />

„Der praktische Druck dieser Soliadressen<br />

von Gewerkschaften oder anderen<br />

Beschäftigten sei mal dahinge-


Unterstützung Betriebsrat Annaberger Backwaren<br />

Solidaritätsgrüße der Beschäftigten aus der<br />

VW-Werkskantine Braunschweig. Dort kommen die<br />

Nudeln aus Riesa regelmäßig auf den Tisch.<br />

Aktive aus verschiedenen Betrieben der ostdeutschen<br />

Ernährungswirtschaft unterstützen ebenfalls.<br />

Zitiert aus dem Schreiben von Gregor Gysi: »... Im Artikel 14 des Grundgesetzes<br />

ist geregelt, dass Eigentum auch verpflichtet und dem Allgemeinwohl dienen<br />

soll. Dazu gehören auch die Rechte der Beschäftigten, ohne die die Produktion<br />

<strong>nicht</strong> stattfände. Ohne die Beschäftigten hätten die Inhaber des Unternehmens<br />

auch keinen Gewinn. Deshalb wäre es für beide Seiten klug, endlich einen<br />

Tarifvertrag zu schließen. Ich bringe meine Solidarität mit Ihnen zum Ausdruck<br />

und hoffe, dass Sie in Ihrem Begehren erfolgreich sind ...«


Ein treuer Unterstützer<br />

aus der Region<br />

Das Schäfchen brachte <strong>sich</strong> immer<br />

wieder mit Beiträgen und Fragen ein<br />

www.facebook.com/DasSchaefchen<br />

Grüße nach Riesa aus Auerbach. Vom Betriebsrat des dortigen Unilever-Werks,<br />

in dem Instantsuppen und Fertiggerichte herstellt werden.<br />

Schäfchens Frage an ... den<br />

Nudel-Riesen aus Riesa.<br />

stellt, aber sie waren emotional extrem<br />

wichtig für uns“, sagt Frank Meyer. Wie<br />

bei einem Fußballspiel die Fans auf der<br />

Tribüne zeigen diese Botschaften: <strong>Man</strong><br />

kämpft <strong>nicht</strong> allein und <strong>nicht</strong> nur für <strong>sich</strong>.<br />

„Wir haben dadurch das Gefühl bekommen,<br />

das Richtige zu tun. Wir sind der<br />

Teil, der vornweg marschiert. Das hat uns<br />

bestärkt.“<br />

Die Stimmen von Politikern steigern<br />

das Medieninteresse. MDR und Sächsische<br />

Zeitung begleiten den Arbeitskampf<br />

fair und positiv im Sinne der Beschäftigten.<br />

Der Firmenleitung dürfte das <strong>nicht</strong> egal gewesen<br />

sein. Wer Nudeln verkauft, braucht<br />

Kunden. Gutes Image ist im harten Wettbewerb<br />

einiges wert.<br />

Dazwischen fahren „Streikdelegationen“<br />

durch die Republik und berichten<br />

über ihren Kampf für Tarifbindung, etwa<br />

bei einer gewerkschaftspolitischen Konferenz<br />

in Braunschweig. Am Ende ist der<br />

Arbeitskampf im ostdeutschen Nudelwerk<br />

über Sachsen hinaus bekannt. Bei<br />

Betriebsratsschulungen werden die jungen<br />

Betriebsräte aus Riesa mit den Worten<br />

empfangen: Ach ihr seid das!<br />

46


Social Media<br />

Auch in den sozialen Medien war der Konflikt <strong>sich</strong>tbar! Es gab<br />

viel Unterstützung. Das hat die Beschäftigten gestärkt und die<br />

Eigentümerfamilie manchmal ziemlich genervt.<br />

#wirsinddiegewerkschaft<br />

#solidaritätdaniel<br />

#pastazutarifvertrag<br />

Dankesvideo für<br />

Solidaritätsgrüße<br />

47


Wie man kritische Situationen meistert<br />

Durch unglaubliche Solidarität wurde Daniels<br />

Freistellung von seiner Tätigkeit als Verkaufsleiter<br />

aufgehoben.<br />

Mit dem Betriebsrat konnte man die<br />

Eigentümer-Familie noch überrumpeln.<br />

Später versucht diese, in die Offensive zu<br />

kommen. Es sind kritische Phasen in diesem<br />

Kampf für bessere Arbeitsbedingungen<br />

und Tarifbindung.<br />

Erstes Ziel der Eigner: einen der wichtigsten<br />

Köpfe in der Belegschaft schachmatt<br />

setzen. Unter einem Vorwand wird<br />

der Betriebsratsvorsitzende Daniel Zielke<br />

am 15.12. von seinen Aufgaben als Vertriebsleiter<br />

freigestellt. Für die Kollegen<br />

steht fest: Er, sie alle sollen dadurch getroffen<br />

werden. Aber das Verbot hat den<br />

gegenteiligen Effekt: Statt einzuschüchtern,<br />

bewirkt es einen enormen Mobilisierungsschub.<br />

Eine Petition wird gestartet,<br />

Abgeordnete setzen <strong>sich</strong> für den Betriebsratschef<br />

ein. Der Arbeitskampf bekommt<br />

plötzlich bundesweite Aufmerksamkeit.<br />

Entscheidender noch: Daniel Zielke<br />

hat plötzlich viel mehr Zeit. Und die nutzt<br />

er, um <strong>sich</strong> um die Belange der Beschäftigten<br />

zu kümmern. Jeden Tag kommt er<br />

für die Betriebsratsarbeit in die Firma und<br />

ist im Betrieb unterwegs. Der Geschäftsführer<br />

will ihm deshalb Hausverbot erteilen.<br />

Doch da hilft in letzter Minute ein<br />

Gespräch zwischen dem Gewerkschaftssekretär<br />

und dem Sohn der Firma, in<br />

dem diesem die gesetzlichen Strafen für<br />

Behinderung von Betriebsratsarbeit vor<br />

Augen geführt werden. Die Freistellung<br />

wird aufgehoben. Und noch mehr: Das<br />

Unternehmen gibt seinen Widerstand auf<br />

und willigt endlich in Tarifverhandlungen<br />

mit der NGG ein: Der 16.1. wird als erster<br />

Verhandlungstermin beschlossen.<br />

Heikel wird es auch, als die Firma versucht,<br />

den Protest zu spalten. So stellt<br />

sie im Januar zwar 7 Prozent mehr Lohn<br />

in Aus<strong>sich</strong>t – verlangt aber zugleich den<br />

Verzicht auf einen verbindlichen Tarifvertrag.<br />

„Es geht auch ohne“ - macht sie per<br />

Aushang bekannt. Das nennt man ein<br />

unmoralisches Angebot. Doch die Offerte<br />

verfehlt ihr Ziel. Denn die Beschäftigten<br />

werden nun richtig sauer. Sie lassen <strong>sich</strong><br />

<strong>nicht</strong> kaufen oder spalten.<br />

Sie bekommen die Lohnerhöhung.<br />

„Freiwillig“ werden die Löhne in Riesa<br />

rückwirkend zum 1. Januar erhöht. Auch<br />

die Beschäftigten in Trochtelfingen und<br />

Spaichingen, die gar <strong>nicht</strong> gefragt haben,<br />

48


12. April 2019<br />

»Bei der Urabstimmung am 11. April stimmen 96 % der<br />

Beschäftigten für den unbefristeten Ausstand. Ein klares<br />

Signal an die Arbeitgeberseite: Ihr könnt uns <strong>nicht</strong> mehr<br />

kleinhalten.«<br />

Bericht über Verlauf und Ergebnis der<br />

Urabstimmung bei Riesa Teigwaren über<br />

einen unbefristeten Arbeitskampf<br />

Für die Urabstimmung über einen unbefristeten<br />

Streik bei Riesa Teigwaren wurde der 24-Stunden-Streiktag<br />

am 11. April 2019 genutzt.<br />

Unter den 95 abgegebenen Abstimmungskarten<br />

waren Ja-Stimmen: 91, Nein-Stimmen: 4.<br />

96 % der anwesenden Streikenden stimmten für<br />

einen unbefristeten Streik.<br />

bekommen ein Geschenk. Ihre Löhne<br />

steigen um 4 Prozent. Es ist ein geschickter<br />

Schachzug der Eigentümer, um zu<br />

verhindern, dass auch hier die Leute auf<br />

die Barrikaden gehen. Zugleich stoßen<br />

die Teigwaren-Eigner ihre Mitarbeiter im<br />

Osten damit abermals vor den Kopf: Denn<br />

in der Summe sind die 4 Prozent mehr<br />

wert als die hart erkämpften sieben Prozent<br />

in Riesa. Eigentlich sollte doch der<br />

Lohnabstand verringert werden. So bleibt<br />

er mindestens gleich. Die Schutzimpfung<br />

für die Weststandorte verstärkt im Osten<br />

das Gefühl der Ungleichbehandlung: Zur<br />

Befriedung der Lage taugt die „großzügige“<br />

Maßnahme <strong>nicht</strong>.<br />

Als im März die nächste Hängepartie<br />

beginnt, als zugesagte Fristen verstreichen<br />

und die Arbeitgeberseite in der<br />

Tarifverhandlung am 25. März weiterhin<br />

kein substanzielles Angebot für einen Tarifvertrag<br />

vorlegt, ist die Stimmung angespannt<br />

wie nie. Die ausgehängten Briefe<br />

der Geschäftsführung an die Mitarbeiter<br />

werden immer aggressiver. Erst heißt es<br />

darin, wer <strong>nicht</strong> mehr hier arbeiten will,<br />

könne ja gehen. In der nächsten Woche<br />

dann die Drohung: Wird weiter gestreikt,<br />

geht die Firma pleite.<br />

„Das hat durchaus verun<strong>sich</strong>ert“, gesteht<br />

Daniel Zielke. Doch die NGG-Verhandlungsführer<br />

raten zur Gelassenheit.<br />

Sie kennen Erpressungen wie diese aus<br />

anderen Arbeitskämpfen. Ihre Erfahrung<br />

gibt dem noch jungen Betriebsrat<br />

Sicherheit. „Wir hatten jemanden<br />

an der Seite, der uns Festigkeit gibt“,<br />

sagt Anja Reisky. „Die Gewerkschafter<br />

reden mit der Geschäftsleitung auch<br />

ganz anders.“ Und dann wird 1 und 1<br />

zusammengezählt. „Alb-Gold macht 7<br />

Millionen Euro Gewinn. Ein Großteil davon<br />

wird in Riesa erwirtschaftet. Kein<br />

Unternehmen verzichtet darauf allein<br />

Am 10.4.2019 um 14.46 Uhr hatte die Geschäftsleitung<br />

ein schriftliches Angebot über<br />

den sächsischen Arbeitgeberverband Nahrung<br />

und Genuss angekündigt. Für den 11.4.2019<br />

um 17 Uhr. Wir haben daraufhin angeboten (Mail<br />

15.59 Uhr, liegt in HV Tarif vor), wenn dieses<br />

Angebot bis 22 Uhr am 10.4.2019 eingehen<br />

würde und es verhandlungsfähig ist, die Streikenden<br />

zu informieren, abzustimmen und<br />

zu entscheiden, wie mit Warnstreik und Urabstimmung<br />

weiter verfahren wird.<br />

Es erfolgte keine Reaktion der AG-Seite (AG und<br />

Verband).<br />

Am frühen Morgen des 11.4.2019 nahm<br />

Uwe Ledwig telefonisch Kontakt zum AG auf<br />

und erneuerte das Angebot zum Gespräch.<br />

Der Warnstreik lief seit 5.15 Uhr.<br />

Gegen 10 Uhr nahm der AG (André Freidler)<br />

das Gesprächsangebot an. Um 11 Uhr fand das<br />

Gespräch statt Freidler – Ledwig statt.<br />

In diesem teilte der AG mir seine Vorstellungen<br />

grob mit.<br />

Fortsetzung auf S. 44<br />

49


Ich bot ihm an, dass vor den Streikenden auch<br />

zu tun. Um 12.05 Uhr trat er vor die Streikenden<br />

und stellte sein Angebot (nur Teil MTV) vor.<br />

Auf meine Bitte im 4-Augen-Gespräch hin, deklarierte<br />

er das Angebot als Verhandlungsangebot.<br />

Es löste aber wenig bis keine Begeisterung<br />

aus. Angleichung an MTV Ernährung Sachsen<br />

bis 2022, ohne Urlaubstage zu erhöhen(27 auf<br />

30).<br />

Zu dem Zeitpunkt hatte die Nachtschicht schon<br />

die Urabstimmung durchgeführt.<br />

Die Abstimmung, ob das Angebot verhandlungsfähig<br />

ist war turbulent und eigentlich sehr deutlich,<br />

dass es <strong>nicht</strong> als Verhandlungsgrundlage<br />

geeignet ist.<br />

Nach intensiver und angespannter Diskussion<br />

wurde von der Streikversammlung entschieden:<br />

»Schon jetzt ist <strong>sich</strong>tbar, dass auch die<br />

Firma von der neuen mitbestimmten<br />

Betriebskultur profitiert: Früher gab es eine<br />

hohe Fluktuation, seit Gründung des<br />

Betriebsrats bleiben die Leute. Zufriedene<br />

Mitarbeiter – in Zeiten von Personalmangel<br />

<strong>nicht</strong> zu unterschätzen.«<br />

„Mit einem noch zu vereinbarenden Verhandlungstermin<br />

in der nächsten Woche wird einer möglichen<br />

Einigung noch eine letzte Chance gegeben.<br />

Sollte dies <strong>nicht</strong> gelingen, beginnt nach Ostern der<br />

unbefristete Streik.“<br />

Am 17.4.2019 wird nun verhandelt.<br />

aus ideologischen Gründen“, so Daniel<br />

Zielke. „Das wäre gegen jede wirtschaftliche<br />

Vernunft.“<br />

Auch dieses Vorgehen erreicht nur<br />

noch mehr Entschlossenheit. Die Beschäftigten<br />

wollen <strong>sich</strong> die Einschüchterung<br />

und das Hingehaltenwerden <strong>nicht</strong><br />

bieten lassen. Sie greifen zu ihrem letzten<br />

Mittel: der Urabstimmung über einen<br />

unbefristeten Streik.<br />

Die letzte Schlacht – gewinnen wir<br />

„Die Frage war: Ergeben wir uns unserer<br />

Angst oder ziehen wir das jetzt durch“,<br />

sagt Daniel Zielke. Das Ergebnis der Urabstimmung<br />

könnte eindeutiger <strong>nicht</strong> sein:<br />

96 Prozent der Beschäftigten stimmen am<br />

11. April für den unbefristeten Ausstand.<br />

Das Signal an die Arbeitgeberseite: Ihr<br />

könnt uns <strong>nicht</strong> mehr kleinhalten.<br />

Damit steht die Eigentümerfamilie mit<br />

dem Rücken zur Wand. Das Warenlager<br />

hat <strong>sich</strong> durch die Produktionsausfälle<br />

bereits deutlich geleert. Und die Beschäf-<br />

50


Die Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern war groß.<br />

Mit den gemeinsamen Aktionen wuchs die Belegschaft<br />

zusammen. Wichtig auch die Streikversammlungen<br />

im Vereinslokal des lokalen Fußballvereins<br />

BSG Stahl Riesa, gleich neben dem Betrieb.<br />

Ein Danke an den Verein!<br />

tigten lassen keinen Zweifel, dass sie den<br />

Laden auch vier Wochen dichtmachen<br />

würden. Doch das können <strong>sich</strong> die Eigentümer<br />

<strong>nicht</strong> leisten. Sie müssen in der 3.<br />

Tarifverhandlung am 17. April einlenken.<br />

Am 14. Mai unterzeichnen sie schließlich<br />

den ersten Tarifvertrag in der Firmengeschichte.<br />

Das bedeutet: 100 bis 200 Euro<br />

mehr im Monat, drei Tage mehr Urlaub,<br />

Schichtzulagen, besseres Weihnachtsgeld<br />

und Gutschrift von Umkleide- und<br />

Wegezeiten. Mit der Übernahme des<br />

sächsischen <strong>Man</strong>teltarifvertrags in zwei<br />

Stufen zeigt die Arbeitnehmerseite Entgegenkommen.<br />

2020 wird er vollständig<br />

gelten. „Wir haben viel mehr erreicht als<br />

jemals gedacht“, sagt Daniel Zielke.<br />

Durch ihren Arbeitskampf landen die<br />

Beschäftigten im Jahr 2045. Im übertragenen<br />

Sinne - in der alten Geschwindigkeit<br />

von gelegentlichen Lohnerhöhungen<br />

hätten sie noch 30 Jahre gebraucht,<br />

um auf dieses Niveau zu kommen. Eine<br />

Kröte müssen sie schlucken. Über die<br />

7 Prozent hinaus gibt es im Jahr 2019<br />

keine weitere Lohnerhöhung. Seit Januar<br />

beträgt der Stundenlohn in der Produktion<br />

im Durchschnitt 11,80 Euro brutto.<br />

Nimmt man die besser bezahlten Bereiche<br />

wie Verwaltung und Vertrieb hinzu,<br />

sind es im Schnitt 12,30 Euro. Üppig<br />

ist das noch immer <strong>nicht</strong>. Aber die Geschäftsleitung<br />

hat <strong>sich</strong> verpflichtet, ab<br />

Ende des streikreichen Jahres über Entgelterhöhungen<br />

und Eingruppierung zu<br />

verhandeln. Bis 31. März 2020 herrscht<br />

Friedenspflicht. Eine neue Zeitrechnung<br />

in der Unternehmensgeschichte hat begonnen.<br />

Nach Laufzeiten von Tarifverträgen.<br />

Inzwischen haben die sächsischen<br />

Nudelwerker auch einen Ansprechpartner<br />

der Eigner vor Ort. Ein Sohn der Familie<br />

hat seinen Wohnsitz nach Riesa verlegt.<br />

Aus Sicht des Betriebsrats ein gutes<br />

Zeichen. Es verkürzt die Wege. Schon<br />

jetzt ist <strong>sich</strong>tbar, dass auch die Firma von<br />

51


»Riesa hat gezeigt: <strong>Man</strong> muss <strong>sich</strong> <strong>nicht</strong> <strong>ergeben</strong>.«<br />

Guter Tausch: Streikweste gegen <strong>Man</strong>teltarifvertrag.<br />

der neuen mitbestimmten Betriebskultur<br />

profitiert: Früher gab es eine hohe Fluktuation,<br />

seit Gründung des Betriebsrats<br />

bleiben die Leute. Zufriedene Mitarbeiter<br />

- in Zeiten von Personalmangel <strong>nicht</strong> zu<br />

unterschätzen.<br />

Ob in dem Familienunternehmen nun<br />

insgesamt eine neue Kultur Einzug hält?<br />

Ausgemacht ist das <strong>nicht</strong>. Kurz nach Abschluss<br />

des Tarifvertrags kündigt die Familie<br />

die Ausgliederung des Nudelcenters<br />

an. Die Zukunft dieses Betriebsteils ist seit<br />

Langem in der Schwebe. Jetzt wirkt die<br />

Ankündigung wie eine reine Retourkutsche.<br />

„Freidlers wollten zeigen, wer Herr<br />

im Haus ist“, sagt Gewerkschaftssekretär<br />

Lißner. Doch bis zum geplanten Termin,<br />

Ende August, passiert <strong>nicht</strong>s. Dafür<br />

ist absehbar, dass die Ausgliederung als<br />

Druckmittel für weitere Forderungen bleiben<br />

wird. Carola Werner wäre davon betroffen.<br />

Doch sie sieht es so: „Auch wenn<br />

wir <strong>nicht</strong> streiken, können die das jederzeit<br />

machen.“ Die Idee zum Verkauf habe<br />

schon bestanden, als von Streik noch nie<br />

die Rede war. Sie glaubt jedenfalls <strong>nicht</strong>,<br />

dass Wohlverhalten belohnt wird.<br />

52


Im Osten gewinnen<br />

Innerhalb eines halben Jahres haben <strong>sich</strong><br />

die Verhältnisse bei Teigwaren Riesa komplett<br />

verändert. Die Beschäftigten reden<br />

nun ein Wörtchen mit. Betriebsrat und<br />

Tarifvertrag haben die Arbeitsbedingungen<br />

deutlich verbessert. Dies wäre ohne<br />

den besonderen Zusammenhalt und die<br />

starke Einbindung der Belegschaft in den<br />

Arbeitskampf <strong>nicht</strong> möglich gewesen.<br />

Die Entschlossenheit der gesamten Belegschaft<br />

hat letztlich zum Einlenken der<br />

Eigentümer geführt. Daniel Zielke betont:<br />

„Den letzten Punch haben wir gesetzt.“<br />

Die Beschäftigten in Riesa sind mit<br />

ihrem Kampf Vorreiter in einer prekären<br />

Niedriglohnbranche wie der Lebensmittelindustrie.<br />

In anderen Branchen in Ostdeutschland<br />

ist es schon länger zu beobachten:<br />

Dort werden in den letzten Jahren<br />

verstärkt Betriebsräte neu gegründet und<br />

bestehende Gremien aktiver. „Wir erleben<br />

keine neue Revolution in Ostdeutschland.<br />

Aber es tut <strong>sich</strong> was“, formulierte es die<br />

Soziologin Ingrid Artus vor einiger Zeit. Die<br />

Nürnberger Professorin hat die Studie „Betriebsräte<br />

im Aufbruch? Vitalisierung betrieblicher<br />

Mitbestimmung in Ostdeutschland«<br />

verfasst. „Neue Akteure kommen in<br />

die Betriebsräte, es gibt Organisierungsprozesse<br />

in der Belegschaft mit Tarifanbindung<br />

als Ziel, Betriebsräte werden neu<br />

gegründet, auch in kleineren Betrieben.“<br />

Getragen wird dieser Aufbruch von<br />

einem neuen Selbstbewusstsein der Beschäftigten<br />

und einem neu gewachsenen<br />

Kollektivgefühl. Rückgang der Arbeitslosigkeit,<br />

demografischer Wandel und<br />

Fachkräfteengpässe fördern das Ende<br />

ostdeutscher Bescheidenheit.<br />

War für die Nachwendegeneration<br />

eine Konsensorientierung im Betrieb typisch<br />

– „Hauptsache Arbeit“ - verändern<br />

<strong>sich</strong> die Beziehungen im Betrieb nun stärker<br />

in Richtung Diskussion, Bereitschaft<br />

zum Konflikt und vor allem hin zu direkter<br />

Beteiligung. „Früher hatten wir <strong>nicht</strong><br />

den Mut“, fasst Daniel Zielke zusammen.<br />

„Jetzt haben wir gesehen: So ein Kampf<br />

ist <strong>nicht</strong>s Schlimmes. Die innere Hürde<br />

ist überwunden.“ Ihr Vorbild inspiriert andere<br />

Belegschaften. Es gibt Bewegung in<br />

vielen ostdeutschen Betrieben.<br />

Riesa hat gezeigt: <strong>Man</strong> muss <strong>sich</strong><br />

<strong>nicht</strong> <strong>ergeben</strong>.<br />

53


Das Nudelcenter gehört<br />

zur Teigwaren Riesa, wie<br />

das Loch in die Makkaroni!<br />

Als Verkaufsstelle, gastronomische Einrichtung,<br />

Nudel museum und mit Führungen<br />

durch die Gläserne Produktion ist das<br />

Nudelcenter am Werk eine Instanz in Riesa.<br />

Keine zwei Wochen nach der Unterzeichnung<br />

des <strong>Man</strong>teltarifvertrages kündigte die<br />

Geschäftsleitung am 15. Mai 2019 an, das<br />

Nudelcenter zu schließen, dann auszugründen.<br />

Dagegen formierte <strong>sich</strong> Protest.<br />

Eine gestartete Petition „Das Nudelcenter gehört zur Teigwaren<br />

Riesa, wie das Loch in die Makkaroni!“ zählte innerhalb weniger<br />

Tage fast 1.500 Unterschriften. Unterstützung kam vor<br />

allem aus der Region, wie die über 400 hinterlassenen Kommentare<br />

zeigten.<br />

Zur Seite der Petition und den<br />

Kommentaren im Internet.<br />

Danach passierte länger <strong>nicht</strong>s. Nach Angaben der Geschäftsleitung<br />

sollte nach „Alternativkonzepten“ gesucht werden. Zu<br />

Beginn 2020 erfolgte schließlich hinter dem Rücken der Beschäftigten<br />

und des Betriebsrates die Ausgründung. Der Betriebsrats<br />

nutzt eine Widerspruchsfrist zum Betriebsübergang<br />

und die Beschäftigten können <strong>nicht</strong> glauben, dass die Einheit<br />

von Nudelcenter und Nudelwerk auseinandergerissen werden<br />

soll. Aber die Chancen stehen schlecht, auch weil in Deutschland<br />

gegen so eine „autonome“ Unternehmensentscheidung<br />

<strong>nicht</strong> gestreikt werden <strong>darf</strong>.<br />

54


Diese Seiten bitte entfernen, wenn wieder eingliedert!<br />

Mai 2019<br />

»Solidarität mit den Beschäftigten bei RIESA Nudelwerken!<br />

Die Inhaberfamilie soll soziale Verantwortung übernehmen.<br />

Mit Auslagerung von Arbeitsplätzen nach Abschluss eines<br />

Tarifvertrages zu drohen, ist dreist und unverantwortlich!«<br />

NC soll erst geschlossen werden/ dann soll<br />

nach alternativen Konzepten gesucht werden<br />

(Ausgliederung/Betriebsübergang)<br />

Stimmen zur Petition<br />

23.01.2020 Eintragung der Firma im Handelsregister<br />

07.02.2020 Betriebsübergangsvertrag zwischen TWR und<br />

Nudelcenter<br />

08.02.2020 (Samstag) das Schreiben an die MA ist datiert<br />

09.02.2020 (Sonntag) Übergang von TWR zum Nudelcenter<br />

GmbH<br />

10.02.2020 (Montag) Übergabe des Schreibens an die<br />

Mitarbeiter, die anwesend sind.<br />

26.02. 2020 Betriebsversammlung NC mit unserem Anwalt<br />

04.03.2020 Verhandlung über BV/ Eckpunktepapier zum<br />

Betriebsübergang- bis zum heutigen Zeitpunkt<br />

keine Einigung<br />

04.03.2020 Verlängerung der Widerspruchsfrist zum<br />

Betriebsübergang auf den 31.03.2020<br />

23.03.2020 Verlängerung der Widerspruchsfrist zum<br />

Betriebsübergang auf den 30.04.2020<br />

»Und wieder würde<br />

etwas auseinander gerissen<br />

werden, was definitiv<br />

zusammen gehört.«<br />

In der Corona-Krise<br />

holt das Unternehmen<br />

die unsinnige<br />

Entscheidung, das<br />

Nudelcenter auszugliedern,<br />

ein.<br />

Stimmen zur Petition<br />

55


»Teil der Lösung oder Teil des<br />

Problems – es liegt an Dir!!!«<br />

Leitender Spruch der Beschäftigten von Teigwaren Riesa während der Auseinandersetzung<br />

www.ngg.net/mitglied-werden<br />

Danke an unsere Unterstützerinnen und Unterstützer


EINER FÜR ALLE!<br />

So hat es im 19. Jahrhundert angefangen.<br />

Zigarrenarbeiter bestimmten einen der Ihren zum „Vorleser“.<br />

Dieser las aus Zeitungen, politischen und ökonomischen<br />

Schriften vor. So erwarben die Zigarrenarbeiter Wissen und Bildung,<br />

erkannten die Ursachen ihrer menschenunwürdigen Lage<br />

und machten den Arbeit gebern Dampf.<br />

In Erinnerung daran ist „der Vorleser“ heute das offizielle<br />

Symbol der Gewerkschaft NGG. Am 27. Dezember 1865 wurde<br />

in Leipzig der „Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein“<br />

gegründet als direkte Vorläuferorganisation der NGG. Diese ist<br />

damit die älteste deutsche Gewerkschaft.<br />

Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)<br />

Region Dresden-Chemnitz<br />

Schützenplatz 14<br />

01067 Dresden<br />

Telefon: 0351 4977276-0<br />

www.ngg.net/ost<br />

www.facebook.com/NGGimOsten

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