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zur Differenz von Interaktion und Gesellschaft - Ludwig-Maximilians ...

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<strong>Ludwig</strong>-<strong>Maximilians</strong>-Universität München, Institut für Soziologie<br />

Hausarbeit zum Hauptseminar (Kultur- <strong>und</strong> Wissenssoziologie):<br />

Asymmetrie – Problem <strong>und</strong> Lösung<br />

Eine Kritik kulturalistischer Verkürzungen.<br />

Zum Verhältnis <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> bei<br />

Habermas <strong>und</strong> Luhmann.<br />

DozentInnen: Armin Nassehi & Irmhild Saake<br />

Verfasser: Peter Hofmann<br />

Matr.-Nr.: 47905237<br />

Hauptfach: Dipl.-Soziologie<br />

Datum: 30.10.2005


2<br />

Abstract<br />

Society is a frequently used term both in the non-scientific discourse of everyday life as<br />

well as in the discourse of social sciences. In the majority of cases the term is just<br />

accepted as a self-explanatory concept, without further explanation or definition. In the<br />

empirical praxis of the social sciences, society, as an idea of the universal coherences of<br />

social life, often looses its relevance. Because what we are able to observe are first of all<br />

individuals and interactions. But if we think about globalization for example, as “(…)<br />

an intensification of worldwide social relations, via which far away places are linked<br />

together in such a way that events in one place are affected by processes taking place<br />

many miles away, and vice-versa (…)” (A. Giddens), we have to notice that especially<br />

modern society is rather organized through absence then by agglomerations of<br />

interactions. The proposition of this paper is that sociology, without the idea of society<br />

as a concept of the whole, leads to an improper reduction of social reality. By using two<br />

universal theoretical approaches, Jürgen Habermas´ Theory of Communicative Action<br />

and Niklas Luhmanns Social Systems Theory, it will show how they respectively<br />

develop a concept of society that is neither exclusively based upon the aggregation of<br />

individuals nor of interactions or lifeworld.


3<br />

Gliederung<br />

I. Einleitung ................................................................................................................. 4<br />

II. Niklas Luhmann: <strong>zur</strong> <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>........................... 5<br />

A. <strong>Interaktion</strong>en – wahrnehmungsbasierte Kommunikation unter Anwesenden...... 6<br />

B. <strong>Interaktion</strong>en – Episoden des <strong>Gesellschaft</strong>svollzugs............................................ 7<br />

III. Jürgen Habermas: <strong>Gesellschaft</strong> als <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> System <strong>und</strong> Lebenswelt ...... 10<br />

A. Lebenswelt – mehr als nur geteiltes Hintergr<strong>und</strong>wissen.................................... 10<br />

B. <strong>Gesellschaft</strong> – Dualismus <strong>von</strong> System <strong>und</strong> Lebenswelt ..................................... 13<br />

IV. Schluss................................................................................................................ 14<br />

V. Literaturverzeichnis................................................................................................ 16


I. Einleitung<br />

4<br />

Sowohl in der Alltagssprache als auch im wissenschaftlichen Diskurs ist <strong>Gesellschaft</strong><br />

ein häufig <strong>und</strong> vieldeutig verwendeter Begriff. (Vgl. Kröner 1994, 284) Während<br />

beispielsweise die Wirtschaftswissenschaften <strong>Gesellschaft</strong> nach rein ökonomischen<br />

Kategorien konstruieren, liefert eine soziologische Perspektive keineswegs ein klares<br />

Bild für einen <strong>Gesellschaft</strong>sbegriff. Für Lexika dienen entweder vage,<br />

theorieübergreifende Definitionsversuche bzw. eine historische Perspektive auf den<br />

Begriff. Zusammengesetzt taucht der Begriff meist als nicht weiter erklärungsbedürftig<br />

auf, etwa wenn <strong>von</strong> Arbeits-, Wissens-, Risiko-, Erlebnisgesellschaft, einer<br />

traditionellen, modernen oder postmodernen <strong>Gesellschaft</strong> die Rede ist. Was ist dabei<br />

aber mit <strong>Gesellschaft</strong> eigentlich gemeint? In der empirischen Forschungspraxis gerät<br />

<strong>Gesellschaft</strong> als Begriff vom übergreifenden Ganzen tendenziell aus dem Blick, da sie<br />

in ihrem Vollzug als solche nicht direkt beobachtbar ist. Was man direkt beobachten<br />

kann, sind schließlich anwesende Individuen bzw. soziale <strong>Interaktion</strong>en, (vgl. Luhmann<br />

1984, 346f.) also immer nur kleine Ausschnitte sozialer Wirklichkeit. Bei<br />

nutzentheoretischen Ansätzen wird mehr oder weniger ganz auf einen<br />

<strong>Gesellschaft</strong>sbegriff verzichtet bzw. das Ganze als Markt identifiziert. Auch die<br />

distanzierende Rekonstruktion lokaler Praxen nach ethnomethodologischer Manier<br />

erfolgt üblicherweise aus der Situation heraus, ohne Rekursion auf <strong>Gesellschaft</strong>, als<br />

deren konditionalen Gesamtzusammenhang. Angesichts der immensen Vielfalt,<br />

Individualität <strong>und</strong> „Bodenlosigkeit kultureller Phänomene“ (Hirschauer 1997, 29),<br />

erscheint einem ein <strong>Gesellschaft</strong>sbegriff dabei geradezu als überflüssig.<br />

Ohne <strong>Gesellschaft</strong> definieren zu wollen, ist es Position dieser Arbeit, dass wir heute<br />

dennoch in einer <strong>Gesellschaft</strong> leben, <strong>und</strong> dass die Soziologie vor allem auch zum<br />

Gegenstand hat, wie diese unterschiedlichen <strong>und</strong> scheinbar parallel prozessierenden<br />

sozialen Praxen letztendlich in dieser einen <strong>Gesellschaft</strong> stattfinden, wechselwirken <strong>und</strong><br />

überhaupt erst ermöglicht werden. Anhand zweier großer Theoriegebäude, der Theorie<br />

des kommunikativen Handelns <strong>von</strong> J. Habermas <strong>und</strong> Niklas Luhmanns Theorie sozialer<br />

Systeme, soll gezeigt werden, wie diese sich jeweils an der Entwicklung eines<br />

<strong>Gesellschaft</strong>sbegriffs abarbeiten, welcher weder in der Aggregation <strong>von</strong> Individuen<br />

noch in <strong>Interaktion</strong>en oder Lebenswelt aufgeht.


5<br />

II. Niklas Luhmann: <strong>zur</strong> <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong><br />

Die Frage vom Verhältnis <strong>von</strong> Individuum <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> ist seit den Anfängen der<br />

Soziologie <strong>von</strong> gr<strong>und</strong>legender, wenn nicht sogar <strong>von</strong> disziplinkonstituierender<br />

Bedeutung. (Vgl. Baecker 2002, 247) Dabei war es G. H. Mead, der den Schwerpunkt<br />

auf <strong>Interaktion</strong> als die Gr<strong>und</strong>einheit des Sozialen verlagerte, womit deutlich wird, wie<br />

Individuen jeweils erst in <strong>Interaktion</strong>en prozessual hergestellt werden <strong>und</strong> keine<br />

vorsozialen Entitäten darstellen. Daraus ergibt sich entsprechend auch Bewusstsein<br />

nicht als Voraussetzung sondern als Folge <strong>von</strong> Kommunikation. (vgl. Nassehi 2003,<br />

95ff.) Im symbolischen <strong>Interaktion</strong>ismus taucht der Gegensatz <strong>von</strong> Individuum <strong>und</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> an anderer Stelle jedoch erneut auf, nämlich als eine ins Subjekt verlagerte<br />

Unterscheidung zwischen sozialer („ME“) <strong>und</strong> personaler Identität („I“). Diese<br />

Trennung wirft zunächst einige Fragen auf, wie man sich diese theoretische Trennung<br />

<strong>von</strong> „I“ <strong>und</strong> „Me“ denn praktisch vorzustellen hat. <strong>Gesellschaft</strong> kommt schließlich nur<br />

bewusstseinsimmanent als „generalisierter Anderer“ vor, welcher wiederum als schwer<br />

vorstellbares theoretisches Konstrukt erscheint. Letztendlich rekurriert die Theorie<br />

ausschließlich auf das Zusammenspiel bzw. die Koevolution <strong>von</strong> Bewusstsein <strong>und</strong><br />

<strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> kommt daher über eine sozialpsychologische Ebene nicht hinaus. Die<br />

moderne <strong>Gesellschaft</strong> lässt sich allerdings weder auf Individuen noch auf <strong>Interaktion</strong>en<br />

<strong>zur</strong>ückführen. (Vgl. Luhmann 1989, 551f.) Dafür kann spätestens heute in einer<br />

globalisierten Welt, in welcher unsere Alltagsaktivitäten <strong>von</strong> sich fernab abspielenden<br />

Ereignissen beeinflusst werden (vgl. Giddens 1997, 23), kein Zweifel mehr sein. Es gilt<br />

aber auch schon für einfachere <strong>Gesellschaft</strong>sformen, insofern sie Handlungen zwischen<br />

Abwesenden strukturell ermöglichen bzw. über ausgeprägte Rollendifferenzierung<br />

verfügen. 1<br />

<strong>Interaktion</strong>en, Organisationen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, <strong>und</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>, stellen nach Luhmann unterschiedliche Arten sozialer Systembildung dar 2 ,<br />

die weder ineinander überführbar sind, noch einander untergeordnet werden können.<br />

Die Theorie sozialer Systeme entzieht sich damit einer Zuordnung nach dem Schema<br />

einer Mikro-Makro-Unterscheidung. „(…) <strong>Gesellschaft</strong>ssysteme sind nicht<br />

1 Bei archaischen <strong>Gesellschaft</strong>en kann da<strong>von</strong> ausgegangen werden, dass sie mehr oder weniger<br />

interaktionsnah gebildet wurden, was bedeutet, dass sie sich fast ausschließlich unter Anwesenheit<br />

gesteuert haben. (vgl. Luhmann 1989, 567, 576)<br />

2 Dabei ist es wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass mit sozialen Systemen ausschließlich<br />

Kommunikation gemeint ist.


6<br />

<strong>Interaktion</strong>ssysteme (…) <strong>und</strong> [können] auch nicht einfach als Summe der<br />

vorkommenden <strong>Interaktion</strong>ssysteme begriffen werden (…)“ (Luhmann 1989, 552).<br />

Andererseits setzen <strong>Interaktion</strong>ssysteme <strong>Gesellschaft</strong> stets voraus, können „(…) ohne<br />

<strong>Gesellschaft</strong> weder begonnen noch beendet werden (…)“ (ebd.), sind aber selbst keine<br />

<strong>Gesellschaft</strong>ssysteme. Diese Relation soll in den nächsten beiden Abschnitten genauer<br />

ins Auge gefasst werden.<br />

A. <strong>Interaktion</strong>en – wahrnehmungsbasierte Kommunikation<br />

unter Anwesenden<br />

<strong>Interaktion</strong>en zeichnen sich als Sozialsysteme besonders dadurch aus, dass sie unter<br />

Anwesenheit ablaufen <strong>und</strong> damit an einen reziproken Wahrnehmungsprozess geb<strong>und</strong>en<br />

sind. Sobald wahrgenommen wird, dass wahrgenommen wird, wird die psychische<br />

Informationsgewinnung zu einem sozialen Phänomen, <strong>und</strong> sobald es zu diesem Problem<br />

der doppelten Kontingenz <strong>und</strong> damit <strong>zur</strong> <strong>Interaktion</strong> kommt, wird unter Anwesenden<br />

kommunikativ entschieden, was als anwesend <strong>und</strong> was als abwesend zu behandeln ist.<br />

Bei bestimmten Situationen, wie z. B. einem Gespräch in einer überfüllten Cafeteria,<br />

kommt es gerade auf die Fähigkeit an, Wahrnehmbares interaktiv als abwesend zu<br />

behandeln, um die Systemgrenzen aufrechterhalten zu können. (Vgl. Luhmann 1989,<br />

564) Dabei mischen sich Wahrnehmung <strong>und</strong> Kommunikation keineswegs, erstere tritt<br />

aber quasi automatisch in die Kommunikation ein, indem Wahrgenommenes mit<br />

sozialer Relevanz versehen wird. Die <strong>Interaktion</strong> synchronisiert die Selektion der<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> die Wahrnehmung entlastet die Kommunikation, indem<br />

Wahrnehmung gegenseitig unterstellt <strong>und</strong> der Kommunikation vorausgesetzt wird. Was<br />

dann auf der Ebene der Wahrnehmung als bekannt <strong>und</strong> verstanden vorausgesetzt wird,<br />

muss nicht mehr explizit gesagt werden, extensiviert die sprachliche Kommunikation<br />

aber erheblich. Durch Erwartungserwartungen, welche die <strong>Interaktion</strong> gleichzeitig<br />

sowohl auf Wahrnehmungsebene, als auch auf der Kommunikationsebene steuern,<br />

kommt es wiederum zu engen Systemgrenzen <strong>von</strong> An- <strong>und</strong> Abwesenheit. 3 Dabei<br />

gewinnt vor allem auch die Wahrnehmung <strong>von</strong> Körpern in der <strong>Interaktion</strong> maßgeblich<br />

an Bedeutung. Sobald die nonverbale Botschaft des Körpers sich konträr <strong>zur</strong> verbalen<br />

3 Luhmann spricht <strong>von</strong> einem „Doppelprozess der Wahrnehmung <strong>und</strong> Kommunikation“ (Luhmann 1989,<br />

563), an anderer Stelle <strong>von</strong> „Doppelbasierung in Wahrnehmung <strong>und</strong> Kommunikation“ (ebd. 567).


7<br />

Äußerung verhält, wird letztere nonverbal transformiert bzw. annuliert. 4 (Asbell&Wynn<br />

1991, 33) Die Wahrnehmung fungiert bei der <strong>Interaktion</strong> als „interne<br />

Umwelt“ (Luhmann 1989, 563), die den Betrieb der Kommunikation ermöglicht, nährt<br />

<strong>und</strong> gegebenenfalls korrigiert. (Vgl. ebd.) „Auf diese Weise ist innerhalb <strong>von</strong><br />

<strong>Interaktion</strong>ssystemen eine Intensivierung der Kommunikation möglich, für die es<br />

außerhalb <strong>von</strong> Kommunikation keine Äquivalente gibt.“ (Ebd.) Dies zeigt sich im Alltag<br />

dort, wo beispielsweise in der Medizin, vor Gericht oder bei psychologischer Beratung<br />

besonderer Wert auf das persönliche Erscheinen gelegt wird.<br />

<strong>Interaktion</strong>en besitzen nach Luhmann folgende besonderen Eigenschaften: die reflexive<br />

Wahrnehmung ermöglicht erstens eine hohe Komplexität bei der<br />

Informationsaufnahme 5 bei gleichzeitiger Vagheit der Verständigung, zweitens ein<br />

hohes Tempo der Informationsverarbeitung, drittens „geringe Negierfähigkeit <strong>und</strong><br />

geringe Rechenschaftspflicht, also hohe Sicherheit der Gemeinsamkeit eines (wie immer<br />

diffusen) Informationsbesitzes“ (ebd. 561), <strong>und</strong> viertens die Unterstützung auf der<br />

Ebene der indirekten Kommunikation. (Vgl. ebd.)<br />

Bei der hermeneutischen Analyse <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong>ssystemen kann man sich <strong>von</strong> der<br />

Leistungsfähigkeit der Informationsverarbeitung in <strong>Interaktion</strong>en überzeugen. Sie sind<br />

schließlich in der Lage, Sinnverweisungszusammenhänge zu generieren, die <strong>von</strong> einem<br />

rekonstruktiven Beobachter kaum mehr vollständig erschlossen werden können <strong>und</strong> sich<br />

schnell ins Unermessliche verlieren. Trotzdem können <strong>Interaktion</strong>en niemals bei Null<br />

begonnen werden, sondern benötigen gr<strong>und</strong>sätzlich Strukturvorgaben der <strong>Gesellschaft</strong>,<br />

die ihnen eine impulsstiftende Asymmetrie <strong>zur</strong> Verfügung stellen. „Nur in <strong>Differenz</strong><br />

zum gesellschaftlich Möglichen kann die <strong>Interaktion</strong> ihr eigenes Problem gewinnen; nur<br />

so kann sie damit beginnen, sich selbst etwas zu verdanken.“ (ebd. 569) Diese<br />

Perspektive rückt zunächst vor allem die Anfangsbedingungen <strong>von</strong> sozialen<br />

<strong>Interaktion</strong>en in den Blickpunkt soziologischen Interesses.<br />

B. <strong>Interaktion</strong>en – Episoden des <strong>Gesellschaft</strong>svollzugs<br />

Wie bereits angedeutet ist die <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> keine<br />

konstante Relation, sondern eine Errungenschaft soziokultureller Evolution (Luhmann<br />

4 Der Ausspruch „scher dich zum Täufel“ z. B. wird bereits in Kombination mit dem geringsten Lächeln<br />

nicht einmal zu einer widersprüchlichen Botschaft sondern zu einem Ausdruck <strong>von</strong> Humor <strong>und</strong><br />

Zuneigung.<br />

5 Dies geht allerdings auch mit einem hohen Maß an Störanfälligkeit einher.


8<br />

1989, 589). Ihre Steigerung im Laufe der Herausbildung der modernen <strong>Gesellschaft</strong><br />

bedeutet, dass <strong>Gesellschaft</strong> als übergreifendes Sediment etablierter Sinn- <strong>und</strong><br />

Erwartungsstrukturen 6 für <strong>Interaktion</strong>en immer unerreichbarer wird (ebd. 585); was in<br />

<strong>Interaktion</strong>en passiert, ist kaum mehr in der Lage gesamtgesellschaftlich Relevanz zu<br />

erzeugen oder gar repräsentativ zu sein. (Vgl. ebd. 587) Dies steigert sowohl<br />

Abhängigkeit als auch Unabhängigkeit beider Arten sozialer Systembildung zugleich.<br />

Nur durch den gemeinsamen Horizont einer <strong>Gesellschaft</strong>, die jeweils schon vor der<br />

<strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> deren Beteiligten da war <strong>und</strong> die nötigen Strukturvorgaben liefert,<br />

können <strong>Interaktion</strong>en begonnen, eigenlogisch Strukturen aufbauen, <strong>und</strong> wieder beendet<br />

werden. Andererseits sind <strong>Interaktion</strong>en in ihrer Autopoiesis weitgehend da<strong>von</strong> entlastet,<br />

auf <strong>Gesellschaft</strong> Rücksicht nehmen zu müssen. Was unter Anwesenheit kommuniziert<br />

wird, geschieht mit hoher Indifferenz gegenüber unbestimmten Nichtanwesenden. "Das<br />

gilt in besonderem Maße für Tausch <strong>und</strong> für Konflikt. Der Tausch sieht im Prinzip<br />

da<strong>von</strong> ab, wie unter der Bedingung <strong>von</strong> Knappheit die am Tausch nicht Beteiligten dazu<br />

stehen, daß sie die getauschten Gegenstände oder Leistungen nicht erhalten."<br />

(Luhmann 1989, 573) Diese Indifferenz führt zu einem "Freiheitsgewinn" in der<br />

<strong>Interaktion</strong>, der sozusagen zum Experimentieren "einlädt" <strong>und</strong> Unwahrscheinliches<br />

wahrscheinlich macht (vgl. ebd. 591), weil die <strong>Interaktion</strong> nach Beendigung auf<br />

gesellschaftlicher Ebene mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin folgenlos, die<br />

Autopoiesis der <strong>Gesellschaft</strong> da<strong>von</strong> unbeeinträchtigt bleibt. (Vgl. ebd. 592) Der<br />

<strong>Gesellschaft</strong> wiederum dienen <strong>Interaktion</strong>ssysteme als Pool für Selektionsmöglichkeiten.<br />

"Insofern wirkt die <strong>Gesellschaft</strong> selektiv auf das, was als <strong>Interaktion</strong> vorkommt, ohne<br />

dadurch Widersprechendes <strong>und</strong> Abweichendes sicher auszuschließen." (Ebd. 588)<br />

Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, dass dieser Selektionsprozess unilateral<br />

stattfindet, so als ob die <strong>Gesellschaft</strong> als Selektionsmaschine nach einem einheitlichen<br />

Muster auf passende <strong>Interaktion</strong>ssysteme zugreift. Vielmehr handelt es sich um eine<br />

Selbstselektion sozialer Systeme nach dem Muster bewährt/unbewährt, die allerdings<br />

nur durch die <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> konditioniert <strong>und</strong> katalysiert<br />

wird. Die "(...) <strong>Gesellschaft</strong> seligiert die <strong>Interaktion</strong>en, die <strong>Interaktion</strong>en seligieren die<br />

<strong>Gesellschaft</strong>; <strong>und</strong> beides läuft im Sinne des Darwinschen Begriffs <strong>von</strong> Selektion, das<br />

heißt: ohne Autor." (ebd. 589) Schrift, Buchdruck <strong>und</strong> elektronische<br />

Kommunikationsmedien steigern die <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong>, indem<br />

6 Diese Formulierung ist problematisch, erscheint mir hier allerdings konkreter <strong>und</strong> verständlicher als:<br />

"das umfassende System gesellschaftlicher Kommunikation". (Luhmann 1989, 585)


9<br />

sie interaktionsfreies soziales Handeln fördern <strong>und</strong> <strong>zur</strong> Notwendigkeit werden lassen;<br />

die moderne <strong>Gesellschaft</strong> steuert sich dabei zunehmend über Abwesenheit anstatt auf<br />

<strong>Interaktion</strong>sebene. (Vgl. ebd. 584)<br />

Im Unterschied <strong>zur</strong> Zeitabhängigkeit <strong>von</strong> <strong>Interaktion</strong>en durch die Erfordernis einer<br />

diachronen Sprechordnung, ist <strong>Gesellschaft</strong> in der Lage "simultan operierende<br />

Subsysteme" (ebd. 566) auszudifferenzieren. Diese gehen allerdings keineswegs eins zu<br />

eins in <strong>Interaktion</strong>en auf, so dass diese etwa den einzelnen Subsystemen zuordenbar<br />

wären. Dies würde der <strong>Differenz</strong> zwischen <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong> widersprechen!<br />

<strong>Gesellschaft</strong>liche <strong>Differenz</strong>ierung stellt in <strong>Interaktion</strong>en vielmehr Erwartungsstrukturen,<br />

Personen, Rollen <strong>und</strong> Programme <strong>zur</strong> Verfügung, welche wiederum über den<br />

interaktiven Sinnzusammenhang hinausreichen <strong>und</strong> damit "Bindung in Freiheit"<br />

transformieren. (ebd. 570) "Jeder Teilnehmer kann in der <strong>Interaktion</strong> Rücksicht darauf<br />

verlangen, daß er noch weitere Verpflichtungen zu erfüllen hat, <strong>und</strong> kann damit Distanz<br />

gewinnen." (Ebd.) Abweichung <strong>und</strong> Widerspruch sind in der <strong>Interaktion</strong> damit<br />

keineswegs ausgeschlossen, sondern werden durch die <strong>Differenz</strong> gerade erst möglich<br />

bzw. sogar wahrscheinlich. (Ebd. 588)<br />

<strong>Interaktion</strong>en sind zeitabhängig <strong>und</strong> letztlich nur möglich aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong><br />

Sinnablagerungen bereits vergangener Kommunikation, die Kontingenz einschränken<br />

<strong>und</strong> damit Strukturen <strong>zur</strong> Verfügung stellen, welche die <strong>Interaktion</strong> wiederum zum<br />

Aufbau <strong>von</strong> Eigenkomplexität befähigt. <strong>Interaktion</strong>en vollziehen <strong>Gesellschaft</strong>, solange<br />

sie existieren, mit, ermöglichen sich selbst wiederum aber nur in ihrer <strong>Differenz</strong> <strong>zur</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>. Beide "Systemarten verschmelzen nicht, sondern bleiben in ihrer <strong>Differenz</strong><br />

füreinander unentbehrlich." (Ebd. 566) Luhmann bezeichnet <strong>Interaktion</strong>en deshalb auch<br />

als Episoden des <strong>Gesellschaft</strong>svollzugs. Damit ist vor allem zweierlei gesagt:<br />

<strong>Interaktion</strong>en entziehen sich sowohl der situationsimmanenten Rekonstruktion ihres<br />

Sinns, als auch einem Ansatz, der sie nach Rollen- <strong>und</strong> Normschemata ex ante als<br />

gesellschaftlich determiniert ansieht.


III. Jürgen Habermas: <strong>Gesellschaft</strong> als <strong>Differenz</strong> <strong>von</strong><br />

System <strong>und</strong> Lebenswelt<br />

A. Lebenswelt – mehr als nur geteiltes Hintergr<strong>und</strong>wissen<br />

10<br />

Der ursprünglich aus der Bewusstseinsphilosophie E. Husserls stammende Begriff der<br />

Lebenswelt bezeichnet in der Soziologie einen intersubjektiv geteilten Wissensvorrat,<br />

der in Sozialisationsprozessen 7 erworben werden muss <strong>und</strong> die Subjekte dazu befähigt,<br />

den Dingen in ihrer Umwelt Bedeutung zu verleihen <strong>und</strong> sich mit Anderen darüber zu<br />

verständigen. Über die Phänomenologie A. Schütz´ bzw. die Wissenssoziologie Berger<br />

<strong>und</strong> Luckmanns wurde der Begriff in die Soziologie eingeführt <strong>und</strong> hat die<br />

Aufmerksamkeit auf ein weites Feld sozialer Wirklichkeit gelenkt: die<br />

„Selbstverständlichkeiten“ des Alltags. Es handelt sich um implizites Wissen, welches<br />

im „Gegensatz zu spezifischen Erfahrungen (...) in der natürlichen Einstellung nicht als<br />

Erfahrungskern in den Griff des Bewusstseins“ (Habermas 1995, 196) gelangt.<br />

Lebenswelt bezeichnet demnach einen gr<strong>und</strong>sätzlich nicht problematisierten<br />

Hintergr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Selbstverständlichkeiten, vor dem sich Probleme für das erlebende<br />

Subjekt überhaupt erst stellen können. Aus soziologischer Perspektive handelt es sich<br />

selbstverständlich um eine sozial konstruierte Wirklichkeit, deren Rekonstruktion damit<br />

zum Programm erklärt wird. (Vgl. Berger&Luckmann 2001) Die Konstruktion dieser<br />

Lebenswelt basiert auf kultureller bzw. generationeller Überlieferung, ist also historisch<br />

wandelbar <strong>und</strong> muss sich gleichzeitig ständig neu reproduzieren, wobei vom<br />

Bewusstsein jeweils immer nur ein kleiner Ausschnitt aktualisiert wird. Trotzdem es<br />

sich dabei um intersubjektiv geteiltes Wissen handelt, ist dieses Wissen doch individuell<br />

jeweils unterschiedlich aufgebaut. Was für einen Buchhalter <strong>zur</strong> Alltagswelt 8 gehört,<br />

befindet sich beispielsweise für einen Kranfahrer jenseits aller Selbstverständlichkeiten<br />

<strong>und</strong> umgekehrt. Individuell kann man sich die Lebenswelt am ehesten als konzentrische<br />

Kreise vorstellen, die Vertrautes <strong>von</strong> weniger Vertrautem bzw. einem Abgr<strong>und</strong> des<br />

Unvertrauten scheiden. Intersubjektiv handelt es sich um mehr oder weniger<br />

überlappende Kreise, die aufgr<strong>und</strong> ihrer Erfahrungsabhängigkeit, jedoch niemals auch<br />

nur annähernd als identisch gedacht werden dürfen. Auch darf dieses Wissen nicht etwa<br />

als logisch konsistentes Gebilde angesehen werden, sondern kann unter Umständen<br />

äußerst widersprüchliche Formen besitzen, die erst dann zum Problem bzw. kognitiv<br />

7 Damit sind sowohl die Primärsozialisation als auch sek<strong>und</strong>äre Sozialisationen gemeint.<br />

8 Die Begriffe „Lebenswelt“ <strong>und</strong> „Alltagswelt“ werden in dieser Arbeit synonym verwendet.


11<br />

korrigiert werden, wenn sie situativ aufeinander treffen <strong>und</strong> sich dabei bewähren<br />

müssen.<br />

In seiner Theorie des kommunikativen Handelns beginnt Habermas, ausgehend vom<br />

phänomenologischen Lebensweltbegriff, diesen an verschiedenen Stellen zu ergänzen,<br />

um ihn dann schließlich als Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln zu<br />

begreifen.<br />

Zunächst wird der Lebensweltbegriff kommunikativ gewendet, indem Habermas ihn als<br />

sprachlich strukturierten Verweisungszusammenhang beschreibt, auf den <strong>von</strong> den<br />

Beteiligten, je nach Situation selektiv, kommunikativ zugegriffen wird. Die Sprache<br />

bildet dabei, als selten selbst thematisiertes 9 Medium der Verständigung, einen<br />

wichtigen Teil der Lebenswelt. Sie dient vorwiegend auch als Speichermedium <strong>und</strong> ihre<br />

semantische Kapazität „muß der Komplexität der gespeicherten kulturellen Inhalte, der<br />

Deutungs-, Wert- <strong>und</strong> Ausdrucksmuster angemessen sein.“ (Habermas 1995, 191) „Die<br />

Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher <strong>und</strong> Hörer<br />

begegnen. (…) [Sie] verständigen sich aus ihrer gemeinsamen Lebenswelt heraus über<br />

etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt“. (Ebd. 192) Die Lebenswelt ist<br />

somit die Voraussetzung für kommunikative Akte, in denen die Akteure je nach<br />

Relevanz jeweils einen bestimmten Ausschnitt der Lebenswelt aktualisieren, um sich<br />

auf die Welt zu beziehen, gegenseitig Geltungsansprüche auszutauschen <strong>und</strong><br />

„einigungsbedürftige Situationen in die inhaltlich bereits interpretierte Lebenswelt<br />

einzuordnen.“ (Ebd. 191) Die Lebenswelt gehört also selbst zunächst nicht zu den drei<br />

Weltbezügen, sie ist vielmehr der bereits vorinterpretierte Ort, <strong>von</strong> wo aus diese<br />

Weltbezüge überhaupt erst stattfinden können.<br />

Durch diese kommunikationstheoretische Gr<strong>und</strong>legung des Lebensweltbegriffs, die<br />

Habermas sich hauptsächlich <strong>von</strong> Mead <strong>und</strong> dem symbolischen <strong>Interaktion</strong>ismus<br />

herleitet, löst er den Begriff <strong>von</strong> seinem subjektphilosophischen Ursprung ab. (Vgl. ebd.<br />

198, 210) Dadurch, dass <strong>Interaktion</strong>steilnehmer sich über ihre Situation verständigen,<br />

wird kulturelles Wissen zunächst aktualisiert <strong>und</strong> gleichzeitig überliefert bzw.<br />

kommunikativ neu ausgehandelt. Entsprechend Mead geht es dabei jedoch nicht nur um<br />

das interaktive Prozessieren <strong>und</strong> die Transformation <strong>von</strong> Wissen, vielmehr dient die<br />

<strong>Interaktion</strong> durch Rollenübernahme <strong>und</strong> Selbstverobjektivierung auch der Ausbildung<br />

personaler Identitäten.<br />

9 Erst wenn sie als Medium versagt, wird sie als Medium sichtbar. (Vgl. Habermas 1995, 204)


12<br />

Damit unterzieht Habermas seinen kommunikationstheoretisch gewendeten<br />

Lebensweltbegriff einer funktionalen Analyse, die er neben Mead noch durch einen<br />

weiteren Ansatz ergänzt: neben kulturellem Wissen <strong>und</strong> personalen Identitäten<br />

reproduzieren sich in der Lebenswelt auch Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen <strong>und</strong><br />

Gruppensolidarität. Habermas leitet dabei Durkheims Begriff des Kollektivbewusstseins<br />

aus einer Teilnehmerperspektive her. „Während die <strong>Interaktion</strong>steilnehmer, >>der<br />

Welt


13<br />

sozialisationstheoretisch verkürzter Lebensweltbegriff. (Ebd. 210) Kommunikative<br />

Handlungen können eben nicht nur als interaktive Interpretationsvorgänge beschrieben<br />

werden, „bei denen kulturelles Wissen einem Test an der Welt ausgesetzt wird; sie<br />

bedeuten zugleich Vorgänge der sozialen Integration <strong>und</strong> der Vergesellschaftung.“ (Ebd.<br />

211) Je nachdem, inwieweit die drei genannten Reproduktionsprozesse ihre Funktion<br />

nur un<strong>zur</strong>eichend erfüllen, leitet Habermas Störungen in der <strong>Gesellschaft</strong> durch einen<br />

Mangel an akzeptierten Deutungsschemata, an gesellschaftlicher Solidarität oder an<br />

„Ich-Stärke“ ab. (Vgl. ebd. 213ff.)<br />

In der Rationalisierung der Lebenswelt sieht Habermas schließlich die Chance, die<br />

Reproduktion der Lebenswelt einer diskursiven Steuerung zu unterziehen. Je weiter<br />

bisher unbewusst reproduzierte bzw. schlicht als gegeben hingenommene<br />

Lebensweltstrukturen in den Sog des kommunikativen Handelns gerieten, desto mehr<br />

würde sich unsere Lebenswelt auf rational motivierter Verständigung aufbauen. Die<br />

„(…) Reproduktion der Lebenswelt wird nicht mehr nur durch das Medium<br />

verständigungsorientierten Handelns hindurchgeleitet, sondern den<br />

Interpretationsleistungen der Aktoren selber aufgebürdet (…)“. (Ebd. 219) Habermas<br />

spricht in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> der Autorität des Heiligen, welche durch die<br />

Versprachlichung des Sakralen dem Zwang des besseren Arguments ausgesetzt wird.<br />

Dies könne umso besser erfolgen, je weiter die drei Reproduktionsmechanismen der<br />

Lebenswelt auseinander treten bzw. ihre Funktionen sich ausdifferenzieren. Als Beispiel<br />

führt Habermas u. a. die seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzende „Pädagogisierung <strong>von</strong><br />

Erziehungsprozessen (…) [an], die ein <strong>von</strong> imperativen Mandaten der Kirche <strong>und</strong> der<br />

Familie entlastetes Bildungssystem möglich macht.“ (Ebd. 221) Er distanziert sich<br />

allerdings ausdrücklich <strong>von</strong> dem Gedanken, dass eine fortschreitende Rationalisierung<br />

der Lebenswelt um so störungsfreier abliefe; lediglich das Niveau, auf dem diese<br />

Störungen auftreten, verschiebe sich. (Vgl. ebd. 211)<br />

B. <strong>Gesellschaft</strong> – Dualismus <strong>von</strong> System <strong>und</strong> Lebenswelt<br />

Habermas definiert seinen Lebensweltbegriff auf der Gr<strong>und</strong>lage dreier Präsuppositionen,<br />

die er selbst als Fiktionen bezeichnet. Die Existenz einer auf kommunikativ vermittelter<br />

Kooperation aufbauenden Lebenswelt basiert erstens auf der Unterstellung der<br />

Autonomie der Handelnden, zweitens der Unabhängigkeit der Kultur <strong>von</strong> äußeren


14<br />

Zwängen <strong>und</strong> drittens der vollständigen Transparenz <strong>von</strong> Kommunikation für die<br />

Beteiligten. (Vgl. Habermas 1994, 224) Neben der Lebenswelt sieht Habermas<br />

allerdings einen weiteren Mechanismus, welcher Handlungen nicht über Prozesse der<br />

Verständigung, sondern über funktionale Zusammenhänge steuert. „Im einen Fall wird<br />

das Handlungssystem durch einen, sei es normativ gesicherten oder kommunikativ<br />

erzielten Konsens, im anderen Fall durch die nicht-normative Steuerung <strong>von</strong> subjektiv<br />

unkoordinierten Einzelentscheidungen integriert.“ (Ebd. 226) Die materielle<br />

Reproduktion der <strong>Gesellschaft</strong> erfolgt schließlich über systemische Integrationsformen;<br />

als deren wichtigstes Beispiel fungiert die Regelung <strong>von</strong> Märkten über Angebot <strong>und</strong><br />

Nachfrage. Daraus folgt, dass die Beteiligten, indem sie auf Märkten agieren, einen<br />

Steuerungsmechanismus aufrechterhalten, der sich der diskursiven Verständigung<br />

entzieht <strong>und</strong> nur deshalb als solcher funktionieren kann. <strong>Gesellschaft</strong> besteht nach<br />

Habermas ausdrücklich in einem Dualismus <strong>von</strong> System <strong>und</strong> Lebenswelt.<br />

Handlungszusammenhänge werden also sowohl durch Sozial-, als auch durch<br />

Systemintegration gesteuert. „[Die] eine setzt an den Handlungsorientierungen an,<br />

durch die die andere hindurchgreift.“ (Ebd. 226) Dies bedeutet, dass eine Soziologie,<br />

die <strong>Gesellschaft</strong> ausschließlich mit Lebenswelt identifiziert, über die oben genannten<br />

Fiktionen nicht umhinkommt, während eine Soziologie, die ausschließlich auf<br />

Systemintegration rekurriert, die „bestandswichtigen Strukturen, mit denen die Identität<br />

der <strong>Gesellschaft</strong> steht <strong>und</strong> fällt (…), weil es Strukturen einer Lebenswelt sind (…)“ (ebd.<br />

227), nicht in den Blick bekommt.<br />

IV. Schluss<br />

Trotz unterschiedlicher Theorieanlagen kommen Habermas <strong>und</strong> Luhmann in vielen<br />

Dingen zu den selben Ergebnissen. Beide setzen zunächst an elementaren Vorgängen<br />

sozialen Geschehens an, wollen aber ausdrücklich <strong>Gesellschaft</strong>stheorie sein, ohne auf<br />

<strong>Interaktion</strong>s- oder Organisationstheorie <strong>zur</strong>ückzufallen. Sie stellen sich damit einer<br />

enormen Komplexität <strong>und</strong> versuchen <strong>Gesellschaft</strong> nicht schon <strong>von</strong> Beginn an durch eine<br />

verengte Fassung theoretisch zu reduzieren. Dies macht beide Theorien zu einer schwer<br />

überschaubaren Angelegenheit, bietet aber, im Gegensatz zu kleiner angelegten<br />

Theorien, interessante Möglichkeiten, <strong>Gesellschaft</strong> nicht nur bruchstückhaft zu erfassen,<br />

sondern in ihrem Gesamtzusammenhang in den Blick zu bekommen. Gerade angesichts<br />

der hohen Komplexität der modernen <strong>Gesellschaft</strong>, kommt es darauf an, nicht davor


15<br />

<strong>zur</strong>ückzuschrecken <strong>und</strong> sich ausschließlich auf Beschreibungen auf der Mikroebene zu<br />

beschränken, sondern die unterschiedlichen sozialen Praxen gerade in ihrer <strong>Differenz</strong><br />

<strong>und</strong> Gleichzeitigkeit zu erfassen.<br />

Habermas hat versucht, <strong>Gesellschaft</strong> als differenzierte Einheit aus Sozial- <strong>und</strong><br />

Systemintegration zu beschreiben, dabei aber gerade gezeigt, wie beide Seiten nicht<br />

isoliert <strong>von</strong>einander funktionieren, sondern als Steigerungszusammenhang begriffen<br />

werden können. Märkte beispielsweise funktionieren keineswegs nur aufgr<strong>und</strong> eines<br />

simplen Mechanismus, der sich durch Angebot <strong>und</strong> Nachfrage reguliert. Das<br />

Zustandekommen eines einfachen informellen Vertragsschlusses setzt bereits ein hohes<br />

Maß an wechselseitigem Vertrauensvorschuss voraus, was seine Gr<strong>und</strong>legung<br />

wiederum in der Lebenswelt findet. Habermas´ <strong>Gesellschaft</strong>sbegriff orientiert sich<br />

schließlich an einer Emanzipationsidee, welche auf das Verständigungs- <strong>und</strong><br />

Einigungspotential kommunikativen Handelns setzt. Beide Voraussetzungen erscheinen<br />

selbstverständlich als höchst fraglich. Während Habermas die Teilnehmerperspektive<br />

nie vollständig verlässt, gewinnt Luhmann seine Faszination aus der reinen<br />

Beobachterperspektive. Mit Luhmann lässt sich dann insbesondere zeigen, wie<br />

verschiedene Rationalitäten ihre Logik aus der je eigenen Perspektive gewinnen <strong>und</strong><br />

nicht ineinander überführt werden können. Darüber hinaus erscheint Konsens<br />

systemtheoretisch immer nur als kommunikativ hergestellte Konstruktion.<br />

Bei beiden Theorien bleibt trotzdem recht vage, was <strong>Gesellschaft</strong> letztlich ist <strong>und</strong><br />

insbesondere Luhmann informiert mehr darüber, was <strong>Gesellschaft</strong> nicht ist, anstatt<br />

konkretere Aussagen zu treffen. Beide Theorien bleiben darauf angewiesen,<br />

weiterentwickelt zu werden, um auch in empirischer Forschung gewinnbringend<br />

eingesetzt werden zu können. Es kommt schließlich darauf an, deren Potential, Mikro-<br />

<strong>und</strong> Makroebene miteinander zu verschmelzen, für die empirische Sozialforschung<br />

freizulegen <strong>und</strong> nutzbar zu machen.


V. Literaturverzeichnis<br />

- Asbell, Bernhard & Karin Wynn: Du bist durchschaut! Hamburg, Ernst Kabel<br />

Verlag (1991);<br />

- Baecker, Dirk (Hrsg.): Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie.<br />

16<br />

Heidelberg, Carl-Auer-System Verlag (2002);<br />

- Berger, Peter L. & Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der<br />

Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt, Fischer (2001);<br />

- Giddens, Anthony: Jenseits <strong>von</strong> links <strong>und</strong> rechts. Frankfurt. Suhrkamp (1997);<br />

- Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1). Frankfurt,<br />

Suhrkamp (1995);<br />

- Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnologischen<br />

Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt, Suhrkamp (1997);<br />

- Kröner, Alfred (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart, Kröner (1994);<br />

- Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Gr<strong>und</strong>riß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt,<br />

Suhrkamp (1984);<br />

- Nassehi, Armin: Geschlossenheit <strong>und</strong> Offenheit. Studien <strong>zur</strong> Theorie der modernen<br />

<strong>Gesellschaft</strong>. Frankfurt, Suhrkamp (2003);

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